Das Frosch-Paradoxon
Vorwort
Der deutsche Fußball boomt. Die Fernsehverträge sind von Mal zu Mal höher dotiert, die Umsätze der Erstligisten steigen, die Spielzeit 2016/17 brachte einen neuen Zuschauerrekord für die 1. Liga. Das ist die glitzernde Seite des Fußballs. Auf der anderen Seite wenden sich unzählige Menschen von dieser Glitzerwelt ab. Die einen, weil sie sich im Liga-Alltag nach immer absurderen Sicherheitsdebatten zunehmend wie Schwerverbrecher behandelt fühlen. Andere, weil ihnen das stetige Drehen an der Kommerzialisierungsschraube auf die Nerven geht oder sie sich die Ticketpreise nicht mehr leisten können. Und alle, weil sie das Gefühl haben, dass sie als Claqueure und gutmütige Konsumenten wohlgelitten sind, dass aber die Schranken runtergehen, wenn sie mit entscheiden wollen, was mit ihrem Verein passieren soll. Einem Verein, mit dem sie in aller Regel weit mehr verbindet als Spieler und Funktionäre, die schon nach ein paar Monaten einem anderen Klub zur Loyalität verpflichtet sind. Viele dieser Enttäuschten kommen in diesem Buch zu Wort
Dort, wo – wie bei Dynamo Dresden oder dem FC St. Pauli – Fans ernst genommen werden, ist es in den zurückliegenden Jahren vorangegangen. Und zwar sportlich und wirtschaftlich. Dort, wo Alleinherrscher aus der Wirtschaft jeden Widerspruch als feindlichen Akt interpretierten, wo viel von »Effizienz« und »Modernisierung« die Rede war, ging es sportlich bergab: Sowohl bei Hannover 96 als auch beim Hamburger SV und bei 1860 München wurden dutzende Millionen verbrannt. Das sollte den selbst ernannten Modernisierern zu denken geben. Doch stattdessen wird nur weiter nach mehr Kapital und mehr Investoren geschrien.
Immer mehr Fans fragen sich, wohin der Fußball in Deutschland steuert. Geht es manchem nicht eigentlich darum, die langjährigen Fans endlich loszuwerden? Sie durch die vielen tausend Jetset-Fans zu ersetzen, die auf den Asien- und USA-Reisen der großen Vereine geworben werden? Im Mittelpunkt der derzeitigen Fanproteste stehen einige Forderungen, die hauptsächlich Ultras betreffen. Vor allem aber sind sie ein letztes Aufbäumen der Stadionbesucher gegen die Alleinherrschaft der TV-Interessen.
In der Premier League hat ein absurd hoch dotierter Fernsehvertrag Milliarden in die Liga gespült, mit schlimmen Auswirkungen auf die Bundesliga, wo solide wirtschaftende Vereine wie Mainz oder Freiburg zusätzlich unter Druck geraten und die Lobbys immer vehementer die Axt an die 50+1-Regel legen. Doch während englische Fußballfans neidisch nach Deutschland blicken, hecheln manche Offizielle und Lobbyisten, die damit oft nur ihre eigenen Interessen verbinden, der Premier League hinterher und schreien nach mehr Kapital und mehr Investoren.
Auch bei den Verbänden wird hinter vorgehaltener Hand zugegeben, dass der Fußball vor einem epochalen Wandel steht. Schon bald dürfte die 50+1-Regel gekippt werden. Dann bekommt St. Paulis Manager Andreas Rettig recht, der davor warnt, dass die Bundesliga zur »Forbes-Liga« wird. Einer Forbes-Liga mit Helene Fischer in der Halbzeitpause und Anstoßzeiten, die sich dann ausschließlich an den Bedürfnissen einer weltweiten Zuschauerschaft orientieren. Das ist eine Horrorvision. Und zwar eine, die schon bald Realität werden könnte.
Bereits jetzt werden tausende von Amateurvereinen allenfalls mit Krümeln vom Tisch der großen Gelage in der 1. Liga abgespeist. »Unsere Amateure – echte Profis«: Diesen Slogan hat der DFB als Zeichen seiner Anerkennung auf eine Plakette drucken lassen und an all seine Mitgliedsvereine versandt. In diesem Buch kommen Menschen zu Wort, die das als Gipfel der Heuchelei empfinden.
Gute Fans, böse Funktionäre? So einfach ist es allerdings nicht. Denn am großen Rad der Kommerzialisierung drehen alle. Funktionäre, TVAbonnenten, Journalisten, selbst die Ultras. Und natürlich kennen die Fußballmacher ihre Klientel. Die eingefleischten Fußballfans schätzen es nicht besonders, wenn man mit der Tür ins Haus fällt, doch wenn die Tür jede Saison ein paar Zentimeter weiter geöffnet wird, ist das kein Problem. Hier eine zehnprozentige Erhöhung der Ticketpreise, dort ein bisschen mehr Gängelung, hier ein Montagsspiel mehr, dort eine Werbedurchsage: All das wird geschluckt. Mit dem Fußballfan ist es nämlich, wie im Frosch-Paradoxon beschrieben: Wirft man einen Frosch in einen Topf mit kochendem Wasser, springt er entsetzt wieder heraus. Setzt man ihn allerdings in einen Topf mit kaltem Wasser und erhöht die Temperatur Stück für Stück, bleibt er im letztlich kochenden Wasser sitzen, bis er tot ist.
Christoph Ruf, Karlsruhe im September 2017
Coca-Cola, McDonald’s, Schalke 04 – wenn Fußball vereine zur globalen Marke werden
Der deutsche Fußball steht vor epochalen Umbrüchen. Deren Folgen erahnen viele Fans erst allmählich. Dabei ist es nur die logische Konsequenz der Politik der letzten Jahre, dass Chinas U20 demnächst in der Regionalliga Südwest mitkickt.
Wer als Journalist versucht, ein Meinungsbild über den deutschen Fußball einzuholen, macht eine merkwürdige Entdeckung. Denn nirgendwo wird so vehement bestritten, dass es dem deutschen Fußball eigentlich doch sehr gut geht, wie bei den Spitzenverbänden DFB und DFL. Im Grunde findet man dort, dass noch gehörig Luft nach oben sei. Und wer das anders sieht, bekommt schnell eine apokalyptische Warnung zu hören: »Selbst wenn es gerade ganz gut läuft – wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, hat das noch immer bereut.«
Dabei sind alle, auch die Vertreter der Vereine, mit dem neu ausgehandelten Fernsehvertrag hochzufrieden. Auch ist man aufrichtig der Meinung, dass hierzulande die Balance zwischen Kommerz- und Faninteressen noch halbwegs gewahrt sei: die Eintrittspreise günstiger als in England, die Stehplätze noch nicht abgeschafft. Interne Studien, heißt es in Frankfurt gerne, wiesen zudem eine hohe Zufriedenheit der Fanbasis aus – angeblich auch mit der Spieltagsgestaltung. Wobei off the record auch niemand bestreitet, dass es natürlich die große Masse der TV-Zuschauer ist, die zufrieden mit der Zersplitterung der Spieltage ist. Und dass »nur« für die sechsstellige Zahl der Stadiongänger – vor allem die jeweiligen Auswärtsfans – das Gegenteil gilt. Laut würde das niemand sagen, aber bei dieser Güterabwägung sind die Interessen von ein paar Auswärtsfans nun mal zweitrangig.
Denn der deutsche Fußball steht vor ganz anderen Herausforderungen, national wie international. Die mediale Revolution, weiß man in Frankfurt, wird auch diesmal wieder den Fußball verändern. Schon bei der Einführung der Fußballbundesliga 1963 war das Fernsehen ein wichtiger Akteur – und letztlich der Schrittmacher der kommerziellen Entwicklung. In den letzten 50 Jahren ist die wechselseitige Abhängigkeit stetig gestiegen. Bis zum heutigen Punkt, an dem eigentlich niemand mehr bestreiten kann, dass so gut wie alle elementaren Aspekte des Sports nach dem Kriterium der TV-Tauglichkeit gestaltet werden.
Warum das so ist, kann niemand besser erklären als der Berliner Philosophieprofessor Gunter Gebauer. In seinem Buch Das Leben in 90 Minuten schreibt er: »Die serielle Erregung der Fußballspiele überlagert die Alltäglichkeit der Arbeitswoche. Die Routine des Lebens wird von einem Fest in Permanenz eingerahmt. Durch den Fußball hat das Fernsehen eine Dimension gewonnen, die weit über seine gewöhnlichen Sendungen hinausgeht. Es zeigt eine Wirklichkeit, die nach normalen Maßstäben unwahrscheinlich ist, aber durch seine Bilder die Botschaft vermittelt: Was du jetzt hier siehst, geschieht wirklich! In der mit Fiktionen vollgestellten Fernsehlandschaft erscheinen die Spielberichte, neben der Tagesschau und Heute, als letzte Botschaften aus der wirklichen Welt.«
Verlierer des globalen Wettrennens
So mancher Vertreter von Vereinen und Verbänden weist auf eine weitere Parallele zu den 1960er Jahren hin. Schon damals seien genau zu dem Zeitpunkt, als sich mit Einführung der Bundesliga die damals modernen Medien durchsetzten, zahlreiche Traditionsvereine wie Westfalia Herne oder Borussia Neunkirchen von der großen Bühne verschwunden. Es deute vieles darauf hin, dass der Fußball im Moment wieder auf eine ähnliche Entwicklung zusteuere. Das Gefühl, dass sich im Fußball gerade wirklich etwas Grundsätzliches verändert, haben also nicht nur die Fans, sondern auch die Offiziellen.
Wobei es einen entscheidenden Unterschied zu den Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens gibt. Natürlich gab es auch in den 1960er Jahren Vereine, die nach der gescheiterten Qualifikation für die Bundesliga den Anschluss an die Moderne verpassten und sich davon seither nicht mehr erholt haben. Doch das waren Einzelfälle, deren Abstürze wenig mit systemischen Gründen und viel mit Misswirtschaft zu tun hatten. Heute droht sehr vielen Vereinen der Absturz – nämlich all denen, die vom Fernsehgeld abgeschnitten sind, und all denen, die nur noch die Rücklichter der Großen sehen.
Denn heute klaffen im deutschen Fußball gleich mehrere Lücken – zwischen einzelnen Ligen, aber auch innerhalb der 1. Liga. Und beides hat nichts damit zu tun, dass die Manager der jeweils Abgehängten hinter dem Mond leben würden und die wichtigen Entwicklungen verschlafen hätten. Es hat schlicht strukturelle Gründe. Dass die Großen noch größer werden, ist die logische Folge der Politik seit einigen Jahren: Es sind die Champions-League-Vereine, die deutlich überproportional von den Fernsehgeldern profitieren. »Die Bundesliga war doch nur deshalb so erfolgreich, weil die Digitalisierung nach Content verlangte und es keinen besseren Content gibt als Fußball«, sagt ein Verbandsvertreter. Und führt den Gedanken weiter aus: Wenn die Digitalisierung weitergehe, und das wird sie, könnten auch bald Premier-League-Spiele live in Deutschland einem Massenpublikum gezeigt werden, also im Hauptprogramm und nicht wie bisher bei DAZN. Die technische Entwicklung würde es möglich machen, dass der deutsche Fernsehzuschauer dabei auf ihn zugeschnittene Werbebanden sieht, während der Zuschauer in Liverpool oder London selbst auf die Originalbanden schaut. Gut möglich also, dass sich deutsche Großbrauereien oder Baumärkte, die derzeit noch die Banden zwischen Hamburg und Dresden bestücken, dann fragen, ob sie das Geld nicht lieber in Liverpool als in Leverkusen investieren sollen. Kein unlogischer Gedanke, wo doch die Kids heute auch in Leverkusen mit United- und PSG-Trikots zum Bolzen gehen. Das wäre, so raunt der offizielle Fußball, Geld, das der Liga dann fehlen würde.
Nun wird klar, was gemeint war mit dem Satz am Anfang, wonach man sich nicht auf den eigenen Lorbeeren ausruhen dürfe. Also muss die Liga weiter expandieren, immer bessere TV-Verträge abschließen, um den Abstand zu den Engländern nicht noch größer werden zu lassen. Doch da der nationale Fernsehmarkt schon annähernd gesättigt ist – und einen noch höher dotierten Vertrag dürfte Sky nicht mehr abschließen wollen oder können –, sind die einzigen Märkte, die weiteres Wachstum versprechen, in fernen Ländern.
Zum Beispiel in Japan und in China. Genau das ist der Grund, warum Schalke, Bayern und Dortmund große Teile ihrer Sommervorbereitung auch 2017 nach Fernost verlegten. Alle drei wählten dabei Reiserouten um die 20.000 Kilometer, der BVB unternahm von China aus gleich noch einen Abstecher nach Tokio. Dabei ist die Saisonvorbereitung jedem Profitrainer der Welt eigentlich heilig. Einen Fehlstart in die Saison will man unbedingt vermeiden, von den konditionellen Grundlagen, die im Sommer gelegt werden, zehrt man im Idealfall bis zum Saisonende. Da wird schon mal das Hotel gewechselt, wenn sich der vorher von der eigenen Delegation als Teppich angepriesene Rasen doch als nicht ganz so toll erweist. Journalisten dürfen keinesfalls im gleichen Hotel übernachten, der Essensplan ist strikt, über die Einhaltung der Nachtruhe wird streng gewacht. »Optimale Bedingungen« müssen es sein. Keine Wendung hört man im Juni und Juli öfter von Trainern und Managern.
Von optimalen Bedingungen ist man in Shanghai oder Hongkong allerdings weit entfernt, bereits die Luftverschmutzung ist legendär. Hinzu kommen Temperaturen um die 40 Grad, der Jetlag nach geschlagenen 10.000 Kilometern Anreise, die extrem hohe Luftfeuchtigkeit von rund 90 Prozent. Kurzum: Die Bedingungen sind alles in allem so weit weg vom Optimum, dass der damalige Schalke-Trainer Markus Weinzierl laut Kicker 2016 in geschlossenen Hotelräumen trainieren ließ. Doch darum geht es auch gar nicht, denn die Reisen sind nur ein sehr langer, sehr kostspieliger, sehr strapaziöser PR-Termin. Die konditionellen Grundlagen und der Feinschliff stehen nach der Rückkehr aus Fernost auf dem Programm.
»Die neuen Märkte beackern«
Kein Manager würde all das in Kauf nehmen, wenn er nicht ganz sicher wäre, dass es sich x-fach lohnt. Und es lohnt sich ja auch, zumindest in der Perspektive, in der heute im Fußball gedacht wird. Für die Großen geht es höchstens noch als kurzfristiges Ziel darum, den Meistertitel im nationalen Wettbewerb zu holen, und selbst ein Champions-League-Gewinn ist nur ein Etappenziel. Worum es eigentlich geht, ist, eine weltweit dominierende Marke aufzubauen. Deswegen leisten sich Real Madrid und Barcelona Ronaldo und Messi, und weil sie sich die beiden leisten, ist wiederum die spanische Liga eine Marke (hier passt der Begriff mal), die mit der Premier League und der Bundesliga Schritt hält. Deswegen kaufen manche Vereine extra Spieler aus Fernost, um die Aufmerksamkeit in deren Heimatland auf sich zu lenken. Deswegen unterhält der FC Bayern Büros in Shanghai und New York, und deshalb muss Uli Hoeneß nicht lange überlegen, wenn er gefragt wird, warum sein Team strapaziöse Asienreisen auf sich nimmt: »Wenn Sie die großen Mannschaften auf diesem Planeten – Real Madrid, FC Barcelona, Manchester City – betrachten: Die sind alle unterwegs. Wenn du die neuen Märkte beackern willst, dann musst du da hin.« Man mag schlucken bei solchen Aussagen, die, wenn man sie isoliert liest, auch von Managern stammen könnten, die Autos oder Limonade statt Fußball verkaufen.
Doch Uli Hoeneß hat schlicht und einfach recht. Die genannten Vereine sind längst globale Marken, deren Insignien am Strand von Ko Samui genauso getragen werden wie im Yellowstone-Nationalpark oder in Kapstadt. Tausende Japaner, angefixt von ihren Fernsehkanälen, kaufen Trikots und Schals aus Vorfreude auf die seltsame Mannschaft aus Deutschland mit dem noch seltsameren Namen Schalke 04, bevor sie sich deren Spiele in Shanghai anschauen. Und selbstredend fliegt eine globale, interkontinentale Elite gerne zu den Heimspielen von PSG, ManCity oder Liverpool und deckt sich dort mit den neuesten Trikots von Neymar oder Firmino ein. Wer diese Vereine in all ihrer Unterschiedlichkeit vor 20 Jahren erlebt hat oder gar ihr Fan ist, dürfte traurig und wehmütig darüber sein, wie aus charismatischen Klubs, die immer wieder auch Ausdruck des Lebensgefühls in ihren Städten waren (und deren Probleme reflektierten), austauschbare Fußballkonzerne für den internationalen Konsumenten-Jetset wurden. Aber darf man diese Entwicklung deren Managern vorwerfen? Sie tun das, wofür sie bezahlt werden. Sie melken die Kühe, die auf der Weide stehen. Und die Kühe werden immer mehr.
Kein Wunder also, dass die DFL über eine eigene Tochter verfügt, die sich ums Auslandsgeschäft kümmert: die Bundesliga International GmbH. Deren Vorsitzender Jörg Daubitzer kann dann auch gut erklären, warum China zum Sehnsuchtsort der Bundesligamanager geworden ist. »China ist der Fußball-Wachstumsmarkt weltweit. Die Vereine profitieren durch den neuen Medienvertrag mit Suning und PPTV, mit dem wir die Einnahmen aus China signifikant steigern konnten. Darüber hinaus sind Zuwächse im Sponsoring und Merchandising zu erwarten.«
Die meisten Bundesligamanager gehen mit ihren Tagträumen allerdings aus gutem Grund deutlich sensibler um, als es Adidas-Chef Kasper Rorsted tat, der bereits laut überlegte, ob man nicht ein paar prestigeträchtige Fußballspiele im Ausland stattfinden lassen könne: »Was spricht dagegen, wenn künftig ein DFB-Pokalfinale statt in Berlin auch einmal in Shanghai ausgetragen würde?« DFLChef Christian Seifert erteilte diesen Plänen prompt eine Abfuhr. Ob aus grundsätzlicher Opposition oder nur, weil er es für unklug hält, den dritten Schritt vor dem ersten zu machen, sei dahingestellt. Letzteres ist allerdings nicht ganz unwahrscheinlich, denn natürlich kennen die Fußballmacher ihre Klientel. Die eingefleischten Fußballfans mögen es nicht, wenn allzu heftig an der Kommerzialisierungsschraube gedreht wird. Eine 50-prozentige Erhöhung der Ticketpreise erregt Unmut, die chinesische U20 in der Regionalliga auch. Aber eine zehnprozentige Erhöhung der Ticketpreise hier, dort ein bisschen mehr Gängelung, hier ein Montagsspiel, dort eine Werbedurchsage mehr: All das schluckt der deutsche Fußballfan. Grummelnd, aber er schluckt es. Genau wie der Frosch aus der eingangs erwähnten Parabel bleibt er so lange reglos sitzen, bis es zu spät ist.
Worms, Trier, Offenbach, Chinas U20 … Finde den Fehler!
Im Juni 2017 hat der DFB die Temperatur ein bisschen kräftiger erhöht. Und das war dann schon ein kleiner Schock für all die Fußballfreunde, die immer noch nicht so richtig begriffen haben, was genau China denn nun mit dem Pokalfinale oder mit Wormatia Worms zu tun hat. Damals wurde jedenfalls publik, dass der DFB für seine Regionalliga Südwest eine Kooperation mit dem chinesischen Fußballverband anstrebt. Die Aufregung war groß. In der 19er-Liga soll jeweils der Verein, der gerade spielfrei hat – mal Wormatia Worms, mal Astoria Walldorf –, ein Freundschaftsspiel gegen die chinesische U20 austragen. 15.000 Euro bekommt dafür jeder Klub pro Jahr. Und zuvor jede Menge Ärger, mit dem auch die Vereine nicht gerechnet hatten, die vorab telefonisch ihr Einverständnis gegeben hatten.
Auch wenn eine Partie gegen die Chinesen »eine gute Vermarktungsmöglichkeit« biete, »sollte man den regionalen Bezug nicht komplett verlieren«, erklärte Waldhof-Geschäftsführer Markus Kompp, der behauptete, er habe diese Bedenken auch am Telefon geäußert. Verständlich auch der Ärger des FK Pirmasens, der gerade äußerst unglücklich abgestiegen war. »Sechs Mannschaften steigen ab, und nun holt der DFB die chinesische Nationalmannschaft. Wir müssen das wohl hinnehmen, aber für mich ist das purer Kapitalismus«, sagte Geschäftsstellenleiter Christoph Radtke bei Zeit online. Radtke hat recht: Es ist »purer Kapitalismus«. Der herrscht nämlich immer dann, wenn die großen Jungs bei den Verbänden die wichtigen Dinge regeln. Er habe, so Radtke weiter, »einen Antrag gestellt, die Liga auf 20 Teams aufzustocken, weil auch unser U23-Team als Achter der Oberliga absteigen muss, wenn wir absteigen. Aber statt uns zu behalten, wird nun offenbar, man muss es wohl so sagen, eine Geldquelle aus China ausgewählt. Eine Horrormeldung.«
So sahen es auch die Fans, vor allem die der Traditionsvereine, für die das Ende der Fahnenstange erreicht war. »Die Pläne, eine sportlich nicht qualifizierte Mannschaft in die Regionalliga einzukaufen, widersprechen dem Grundgedanken des sportlichen Wettbewerbs. Das Herkunftsland der Mannschaft spielt dabei nicht die geringste Rolle. Auch Mannschaften aus Katar, den USA oder Russland würden auf unsere Ablehnung stoßen«, sagte »PRO Waldhof«-Vorstand Achim Schröder. Der DFB wolle »mit klammen Traditionsvereinen wie dem 1. FC Saarbrücken, dem SSV Ulm, Kickers Offenbach, Hessen Kassel, TuS Koblenz und unserem Waldhof in Fernost Geld verdienen, und alle sollen dafür jeweils 15.000 Euro bekommen. Glauben diese Funktionäre in der Frankfurter Zentrale denn, mittlerweile alles und jeden kaufen zu können?«
Ähnlich sah es der Kickers-Offenbach-Fan Thilo Leutung, der sich direkt an den Verein und dessen Geschäftsführer wandte: »Der DFB schafft es seit Jahren nicht, das Problem des Auf- und Abstiegs in der Regionalliga vernünftig zu lösen. Und dann kommt China, wedelt mit ein paar Geldscheinen, und auf einmal ist alles möglich!? Muss man denn wirklich alles, was vom DFB kommt, einfach schlucken? Im aktuellen Fall ziehe ich meinen Hut vor Waldhof Mannheim. Die wollen sich nämlich nicht an dieser Marketingaktion beteiligen. Völlig zu Recht, wie ich finde. Was hat ein Team aus China in einer deutschen, regionalen Liga zu suchen? Ich werde auf jeden Fall, sollte es dazu kommen, alle Fans der Offenbacher Kickers aufrufen, dieses Spiel zu boykottieren.«
Die DFB-Oberen reagierten aufrichtig überrascht über die Reaktionen der Fans. Und tatsächlich ist es ja nichts Neues, dass der gesamte deutsche Fußball, in noch viel stärkerem Maße die DFL, China Avancen macht. Was auch vollkommen in der Logik der Politik der vergangenen Jahre liegt, die zu einer stetigen Erhöhung der Fernsehgelder für die DFL-Vereine geführt hat. Auch im Fall der chinesischen U20 dürfte es weniger darum gehen, unmittelbar Geld mit deren Regionalliga-Engagement zu verdienen. Es geht darum, ein Klima zu schaffen, das Interesse für den deutschen Fußball weckt. Wenn nur ein Prozent von 1,3 Milliarden Chinesen sich vielleicht das Spiel der U20 gegen Saarbrücken im Fernsehen anschaut, sind das eben 13 Millionen Menschen. Vor allem sind sie potenzielle Käufer von Schalke-, Bayern- oder Wolfsburg-Trikots wie auch dankbare Abnehmer der Früchte von künftigen chinesisch-deutschen Fernsehdeals.
Denn eine Zahl ist schon interessant: 220 Millionen Euro. Umgerechnet so viel zahlt China per annum für die Übertragungsrechte an der Premier League – das ist mehr Geld als die Bundesliga insgesamt durch die Auslandsvermarktung erlöst. Aus Sicht von DFL und DFB war es also nur logisch, Ende 2016 einen Kooperationsvertrag mit China zu schließen. DFL-Geschäftsführer Christian Seifert begründete dies im Interview mit der Sport Bild sehr ausführlich: »Den chinesischen Markt zu vernachlässigen, wäre fahrlässig. … Sicher ist, dass der deutsche Fußball und damit die Bundesliga und ihre Klubs durch diese Kooperation eine andere Wahrnehmung in China erfahren werden.« Eine Wahrnehmung, die sich ebenfalls in Zahlen niederschlagen soll. »Der FC Bayern ist bei Instagram mit Abstand der führende deutsche Klub mit rund 8,5 Millionen Followern. Der FC Barcelona hat mehr als 42 Millionen. Bei Twitter haben Real und Barça rund 20 Millionen Follower, die stärksten deutschen Klubs liegen im einstelligen Millionenbereich. Es geht also darum, in einem für die Zukunft sehr bedeutsamen Land unsere ohnehin gute Marktposition weiter zu stärken.« Stellt sich nur die Frage, wer genau mit »uns« gemeint ist. Waldhof Mannheim nicht, Greuther Fürth nicht und sicher primär auch nicht Augsburg, Hannover oder Freiburg. Bayern oder Dortmund aber durchaus.
»Purer Kapitalismus«
Mehr Erlöse aus Fernost werden also eine Entwicklung weiter forcieren, die die Champions League schon sehr massiv befördert hat: die, dass die Topklubs sich immer mehr von den normalsterblichen Bundesligisten – und die sich wiederum von den Zweitligisten – entfernen. Denn natürlich bekommt auch Augsburg mehr Geld als noch vor fünf Jahren. Doch im Vergleich zu den Gewinnen der Großen hinken die Durchschnittsvereine immer weiter hinterher. Anders gesagt: Während sich die Vereine aus dem Tabellenmittelfeld freuen, dass sie statt mit einem klapprigen Kinder- nun mit einem schicken Tourenrad unterwegs sind, haben sich die Topklubs Ferraris und Porsches zugelegt. Es dürfte nicht allzu schwer zu erraten sein, wer die Strecke über 34 Runden schneller zurücklegt.
Allzu viel Mitleid verbietet sich allerdings, schließlich sorgen die Vereinsvertreter aus der 1. und 2. Liga ja dafür, dass sie mit ihren Rädern auch ganz gut im Rennen sind, zumindest wenn sie statt nach vorne nach hinten schauen. Denn die Vereine von der 3. Liga abwärts sind meist zu Fuß unterwegs. Wie sagte doch der Pirmasenser Manager so schön: »purer Kapitalismus«. Dessen wichtigste Regel gilt im Fußball wie im echten Leben: Immer schön nach unten treten.