Herausgegeben von Alessandra Viola
Aus dem Englischen übersetzt von Katja Wallner
Originaltitel: Il sogno del caffè, von Andrea Illy
Copyright: © Codice Edizioni Torino, 2015, © illycaffè Spa, 2015, © Andrea Illy, 2015
Titel der englischen Ausgabe, die der deutschen Übersetzung zugrunde liegt:
A coffee dream, by Andrea Illy, edited by Alessandra Viola, translation by Gail McDowell
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Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Maria-Christine Leitgeb
Umschlagherstellung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT
Umschlagfotos: Cover: Massimo Gardone/Azimut, hintere Umschlagklappe:
Stefano Guindani Foto
Buchgestaltung: Bellissimo/Luca Ballarini, Cristina Ortali
Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
Gesetzt aus der 10,5/11,5 Adobe Caslon Pro
Printed in the EU
ISBN 978-3-99050-106-1
eISBN 978-3-903083-84-4
»Viele sehen die Welt, so wie sie ist,
und fragen ›warum?‹.
Ich träume von einer Welt, die noch nie da war,
und frage ›warum nicht?‹.«
Robert F. Kennedy
Einleitung | Drei Worte
KAPITEL 1
Träume vom Kaffee
Mein erster Kaffee
Der Stoff, aus dem die Träume sind
Traumhändler
DIE CHEMIE DES ESPRESSO
KAFFEE IN ITALIEN
WIENER KAFFEEHÄUSER
Kulczycki
Großvater Francescos drei Lieben
Den besten Kaffee der Welt anbieten
TRIEST
ILLETTA
Das Aroma der Welt bewahren
Eine Begegnung, die nie stattfand
Ernesto
RÖSTEN
DAS ÜBERDRUCKVERFAHREN
Vom Fiat Topolino zum American Dream
Die Kunst des Komplementären
0,07
Ein Unternehmen ist wie ein Flugzeug
Eine Frage der Chemie
ILLY, DIE FAMILIE UND DAS UNTERNEHMEN
KAPITEL 2
Das Streben nach dem Guten
Madeleine
FAKTOREN DES GENUSSES
Am Ursprung von Geschmack und Aroma
WIE WIR GESCHMACK WAHRNEHMEN
Die Eleganz des Guten
Der perfekte Blend
DER ERNESTO-ILLY-PREIS
Die Partitur der Qualität
Unterwegs in Japan
DER ILLY BLEND
MONOARABICA
VOLLKOMMENE QUALITÄT
Qualität kann man lernen
Kaizen
Jenseits der Zertifizierungen
DIE UNIVERSITÀ DEL CAFFÈ
QUALITÄT IN EINER TASSE
ZERTIFIZIERUNGEN VON ILLYCAFFÈ
Laurina: Eine besondere Pflanze
Innovation lernen
Was war zuerst da, das Ei oder das Marketing?
Die beste Küche der Welt
Drei Bohnen und drei Tassen in Palmanova
KAFFEE IN ZAHLEN
Kaffee, prêt-à-porter
Kaffee könnte das Leben verlängern
DIE VORTEILE VON KAFFEE
Kaffee und Tee: zwei langlebige Zwillinge
NACHGEWIESENE EFFEKTE VON KAFFEE AUF UNSERE GESUNDHEIT
DER KOFFEINGEHALT IN EINER TASSE ESPRESSO
Kaffee und Gesundheit
Gut im ethischen Sinne
Kaffee oder Koka anbauen?
Das Ziel eines Unternehmens
DIE ARBEITSBEDINGUNGEN IN DER KAFFEEWIRTSCHAFT
Die Wertschöpfungskette
KAPITEL 3
Wird Schönheit die Welt retten?
Verlorene Liebe
NEUROÄSTHETIK
Die Schönheit des Kaffees
Kalokagathía
MATHEMATISCHE SCHÖNHEIT
Eau de … caffè
Der Sternenhimmel über mir
Ein maßgeschneidertes Kleid
DEKORATIONEN AUF PORZELLAN
Das Kentridge-Syndrom
DIE ILLY ART COLLECTION
Der Schlüssel zum Geheimnis
Sprechende Tassen
Triest-Pop
In allem das Beste
»Ascension«
Schönheit in der Kaffeebar
GALLERIA ILLY
Eudaimonie des Espresso
SYNÄSTHESIE
Ein integratives Getränk
Socken und Erdbeerkaffee
ALTAGAMMA
Die schönste Kaffeemaschine der Welt
Wenn Espresso wie Design ist
Lovemarks
KAPITEL 4
Der Geschmack von Glück
Ein gelbes Fahrrad
Phillysophie
EUDAIMONIE
HEDONISMUS
Der Weg nach Italien
Fellini, Coppola und ein Espresso
Die mangelnde Nachhaltigkeit der Gegenwart
Die rosarote Brille des Glücks
DIE GAIA-HYPOTHESE, DER LEBENDE PLANET
Singularität
DIE KOMPLEXITÄTSTHEORIE
Komplexität
Egoistischer Altruismus
POSITIVE VOLKSWIRTSCHAFTSLEHRE
Das Maß des Glücks
GLÜCKLICH … VON RECHTS WEGEN
Das dritte Paradies
BIP ODER BNG?
DAS RECHT AUF GLÜCK
Eudaimonie in Kaffeebohnen
WIE GLÜCKLICH SIND WIR?
DER GLÜCKLICHSTE MANN DER WELT
SPIEGELNEURONEN
Spiegelneuronen in Äthiopien
Die erste Kaffeerevolution
DIE NEUROBIOLOGIE DES GLÜCKS
Die schwierigen 1990er-Jahre
Eine Zunahme des Konsums und eine Abnahme der Armut
DIE SECHS REGELN FÜR GLÜCKLICHEN KAFFEE
Mein »Komplize« Sebastião Salgado
DIE INTERNATIONALE KAFFEEORGANISATION
Ausklang | Die neue Kaffeerevolution
Danksagung
Abbildungsnachweis
Ich wuchs in einer Familie auf, die großen Wert auf Kaffee legte. Es schien, als ob alles von Kaffee abhing. Ein Familienbetrieb wie unserer hat nicht nur eine Mission, sondern auch eine authentische »Mission-Passion-Obsession« für seine Kunden und seine Werte und – in erster Linie – für Kaffee. Als Kind fragte ich mich manchmal, ob es in der Welt noch etwas anderes gab außer Kaffee, oder ob er wirklich so wichtig und komplex war.
Ironischerweise entschloss ich mich Jahre später dazu, Chemie zu studieren, und ich begann, mein Leben dem Kaffee zu widmen. Etwa zehn Jahre danach besuchte ich auf einem meiner ersten Ausflüge mit meinem Vater Brian Arthur, den renommierten Ökonomen, der die Theorie der zunehmenden Erträge formuliert hatte. Dies war ein entscheidender Moment, denn hier sah ich zum ersten Mal in meinem Leben meinen Vater sichtlich bewegt. Er war ansonsten ein zurückhaltender Mann, doch als er Arthur erklärte, dass er seine Hilfe bräuchte, um den Wohlstand zwischen den Ländern, die Kaffee konsumieren, und jenen, die ihn herstellen, gerechter aufzuteilen, stutzte er, und er wurde emotional, als er versuchte, die unzumutbaren Lebensverhältnisse der Bauern zu beschreiben. Ich war sehr betroffen und werde diesen Moment nie vergessen. Denn dies war für mich die Bestätigung, dass Kaffee wirklich ein verdammt wichtiges Thema ist.
Als ich etwa dreißig Jahre alt war, quälten mich neue Bedenken: Tat ich genug? Hatte ich wirklich all meine Ressourcen für mich und meine Mitmenschen so gut wie möglich genutzt? Instinktiv suchte ich die Antwort in meiner Arbeit. War es genug, meinen Beruf so gut, wie ich konnte, auszuüben, ohne mich zu schonen und all meine Energie zu investieren? Wie viele Menschen würden außer mir davon profitieren? Um meine Frage zu beantworten, versuchte ich sie zu zählen: Schon damals waren es mit allen Konsumenten, Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern einige Millionen. Wenn wir den Betrieb vergrößern könnten, könnte die Zahl auf zehn, vielleicht sogar hundert Millionen Menschen ansteigen. Ich glaube, dass das der Moment war, in dem ich erkannte, was mein Lebenswerk sein würde: Ich würde mit Kaffee die Welt verbessern.
Als ich zehn Jahre später erstmals Bilanz zog, fragte ich mich, warum Kaffee nicht das gleiche Ansehen wie Wein genoss, obwohl er so wichtig war. Also kontaktierte ich einige erstklassige französische Kommunikationsspezialisten und Experten für Savoir-faire und – mit etwas Wortwitz – für faire savoir du savoir-faire. Seltsamerweise stellten mir zwei der drei dieselbe Frage: »Was ist der Traum von illy?« Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
Danach dachte ich scheinbar endlos darüber nach, bis ich mich an einem Sonntag, als ich meine Hunde spazieren führte, fragte, wie ich das übersehen hatte können: Da war ein Traum, und was für einer! Es war der Traum meines Großvaters Francesco, als er illycaffè gründete, der Traum, den besten Kaffee der Welt anzubieten. Drei Worte: anbieten (im altruistischen Sinne wie »darreichen« oder »widmen«), besten (mit der tugendhaften Konnotation von »stark« oder »mutig«) und Welt (mit der doppelten Bedeutung »der Welt« und »für alle Welt«). Doch ein wichtiger Teil fehlte: Wie würde ich diesen Traum weitergeben? Wie würde ich ihn verwirklichen?
Die Antwort ist in diesem Buch.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich meinen ersten Kaffee getrunken habe. Die Küche war mit Sonnenlicht durchflutet. Ich hatte noch nie zuvor so intensives Licht gesehen. Ich war etwa vier Jahre alt und sah zu, wie meine Mutter mit unserer großen Kaffeemühle Kaffeebohnen mahlte. Das sperrige Gerät machte ein metallisches und zugleich fröhliches Geräusch. Es war außer meiner Reichweite auf einem Möbelstück und füllte das Haus mit einem Duft, der mir schon damals wie der beste Geruch der Welt vorkam.
Damals dauerte es eine Dreiviertelstunde, manchmal sogar eine ganze Stunde, um eine gute Tasse Kaffee zuzubereiten. Es war ein komplexer und heikler Vorgang, ein Ritual. Für mich waren es magische Momente, und die Zeit verging in einem Wimpernschlag, während ich auf die Erlaubnis wartete, den Kaffee zu kosten. Meine Mutter wog die Kaffeebohnen auf einer kleinen Waage. Dann mahlte sie diese und untersuchte das Ergebnis gründlich. Danach warf sie oft alles weg und begann von Neuem. Diese älteren Kaffeemühlen produzierten nie richtig fein gemahlenes Kaffeepulver. Sie konnte es mit einem kurzen Blick bewerten. Daher nannte ich sie »die Ingenieurin«. Für mich war es so, als ob sie eine unglaublich schwierige Aufgabe bewältigte, die viel Aufmerksamkeit und Präzision erforderte, und Messungen, die für mich unbegreiflich waren. Erst später verstand ich, wie grundlegend das war, um die Qualität zu erreichen, die meine Mutter anstrebte und die ihr Elixier zum begehrtesten Getränk in unserer Familie machte.
Endlich gab es an diesem sonnigen Nachmittag ein paar kleine Löffel Kaffee für mich. Als der Moment gekommen war, brachte ich sie vorsichtig an meine Lippen, sodass kein Tropfen verloren ging. Wenn ich an diesen Moment zurückdenke, erinnere ich mich noch daran, wie ich die aromatische, bittere Flüssigkeit genossen habe. Ich schloss meine Augen und spürte, wie Tausende mir unbekannte Aromen von weit entfernten, exotischen Orten durch meinen Mund tanzten, und ich fragte mich, ob ich sie jemals besuchen würde. Ich stellte mir gerne vor, dass mich jeder Löffel an einen anderen Ort brachte, und ich weiß noch ganz genau, dass meine Mutter vor mir stand, als ich nach diesen flüchtigen Gedankenreisen meine Augen öffnete. Sie lächelte mir zu und gab mir das Gefühl, für immer sicher zu sein.
Ich glaube, dass es dieser Moment war, in dem »schön« und »gut« für mich zu einem einzigen Gefühl verschmolzen. Zum ersten Mal hatte ich den verschwommenen und zugleich intensiven Eindruck, dass Kaffee möglicherweise mehr sei als ein kochend heißes, köstliches Getränk aus fernen Ländern. Es war etwas, das meinem Leben einen Sinn verleihen würde. Als ich in der Küche neben meiner Mutter am Kaffee nippte, schmeckte er wie der Traum von einer perfekten Welt. Seitdem versuche ich, diesen Traum in und durch Kaffee zu verwirklichen, den Traum von einer Welt, die gerecht, schön und gut ist, in der der Duft von Kaffee ein Symbol von Harmonie ist. An diesem Tag erwachte in mir eine Passion, die bis heute meine Arbeit beeinflusst: den Traum wahr werden zu lassen.
Doch was ist ein Traum? Für unsere Vorfahren waren die Visionen in unserer Tiefschlafphase göttliche Botschaften. Heute nennen wir sie Träume und sehen sie als Ergebnisse psychischer Prozesse. Laut Freud sind sie Zeichen unterbewusster geistiger Tätigkeit, die dazu dient, unser Verlangen zu erfüllen. Doch aus philosophischer Sicht gab es immer nur eine Frage: Wie kann man Träume von der Realität unterscheiden? Platon schrieb in seinem Werk Theaitetos, dass Träumen nicht weniger real sei als das wahre Leben und dass »die Ähnlichkeit der beiden Zustände erstaunlich« sei. Auch für Schopenhauer sind Träume und das Leben »Seiten aus demselben Buch«.
Dies sind die Ideen, die mich inspirierten: Träume sind nicht weit entfernt und unerreichbar, sondern ein anderer Aspekt der Realität. Auch das kognitive Modell scheint Träume und Realität als zwei verschiedene Erkenntnisquellen zu sehen und nicht mehr als Gegensätze. Beide sind als Ganzes funktionelle Teile des Geistes. Tagträume sind und bleiben von Vorstellungskraft genährt. Sie dienen dazu, Sehnsüchte zu erfüllen, und sind daher dazu bestimmt, Wohlbefinden, Freude und Schönheit zu kreieren, in einem Wort: Glück, und zwar dasselbe Glück, das man durch den Geschmack und die Schönheit von Kaffee empfinden kann. Jede einzelne Tasse enthält eine ganze Welt. Kaffee ist mehr als ein ausgereiftes und köstliches Produkt, er zeugt von einer ganzen Kultur oder besser noch – von vielen kombinierten Kulturen. Er verströmt den Duft und die Exotik seines wunderbaren Herkunftsortes. Er zeugt von einem Jahrtausend voller Geschichte, Geografie, Kunst und von Familien von Tausenden von Menschen, ja von gesamten Nationen. Ein Kaffee enthält etwa 1000 Aromastoffe und fünfhundert andere Substanzen. Er wird in über siebzig verschiedenen Ländern hergestellt und gibt etwa hundert Millionen Menschen weltweit und fünfundzwanzig Millionen Familien allein in den Herstellerländern Arbeit (Quelle: ICO). Kaffee ist ein komplexes Getränk, das unglaublichste der Welt. Besonders Espresso basiert auf einer Art Equilibrium, das durch einen kritischen Punkt reguliert wird. Er ist ein echtes Unikat unter den Getränken.
Ein gut zubereiteter Espresso ist ein wahres Meisterwerk. Ich glaube nicht, dass man es anders beschreiben kann. Kein anderes Produkt auf unserem Tisch ist so komplex und so schwierig zuzubereiten, auch wenn wir es möglicherweise als alltägliche und beinahe banale Tätigkeit ansehen. Doch das wirklich Wunderbare am Kaffee ist, dass wir beim Genießen all das vergessen und einfach die Energie und die Inspiration, die er entfacht, genießen können.
Kaffee ist zweifelsohne ein Getränk der Träume, und das nicht nur, weil er so köstlich ist und von außerordentlich schönen Orten kommt. Seit über tausend Jahren inspiriert er die Kreativität der besten Köpfe. Einer davon ist Baba Budan, dessen Geschichte mir mein Vater erzählt hat. Im 17. Jahrhundert hüteten Jemen und Äthiopien eifersüchtig ihre gut ausgebaute Kaffeeproduktion und wollten ihr Monopol aufrechterhalten, um ihren bereits blühenden Handel mit Europa zu kontrollieren. Etwa ein Jahrhundert lang konnten sie verhindern, dass die fruchtbaren Kaffeekirschen ihre Länder verließen, indem sie diese so lange kochten, bis sie unfruchtbar waren. Im Jemen wurde zusätzlich jeder enthauptet, der versuchte, sie zu exportieren. Im Jahr 1670 schaffte es jedoch Baba Budan, einer der zahlreichen Pilger, die jedes Jahr nach Mekka reisten, durch eine List und unter Einsatz seines Lebens, einige Kaffeekirschen über die Grenze zu schmuggeln und nach Indien zu bringen. Er schluckte sieben rote Kaffeebohnen und pflanzte sie, nachdem er sie wiedererlangt hatte, in Südindien an den Hängen von Chikmalagur im Bundesstaat Karnataka ein. Seitdem verbreitete sich Kaffee auch erfolgreich in Indonesien, zuerst auf der Insel Java und dann auf Celebres, Sumatra und Timor. Baba Budans Geste wurde so gewürdigt, dass er sogar heiliggesprochen wurde und das gesamte Gebiet, in dem er die Kaffeebohnen angepflanzt hatte, nach ihm benannt wurde: Baba Budan Giri. Heute ist es eine Pilgerstätte und wird sowohl von Hindus als auch von Muslimen verehrt, was wirklich ein seltenes Phänomen ist.
Eine weitere beispielhafte Geschichte erzählt, wie Kaffee in die französischen Kolonien Martinique, Guadeloupe und Santo Domingo kam. Dies war dem überaus genialen Geist von Gabriel de Clieu (1687–1774) zu verdanken, der Guadeloupe beinahe zwanzig Jahre lang regierte. Laut dem Bericht, den er in den Année littéraire im Jahr 1774 veröffentlichte, transportierte de Clieu eine oder mehrere Kaffeepflanzen, die die französische Regierung von Holland geschenkt bekommen hatte, nach Martinique. Laut anderen Quellen hatte er die Pflanzen aus dem Land geschmuggelt. Während der langen Überquerung des Atlantiks hatte er sogar seinen dürftigen Trinkwasservorrat mit ihnen geteilt, um sicherzustellen, dass sie überleben würden.
Hinter der Ankunft des Kaffees in Brasilien im Jahr 1727 scheint eine Liebesgeschichte zu stecken. Der Vizekönig Brasiliens hatte Francisco de Melo Palheta mit der Aufgabe betraut, ihm einige der kostbaren Samen aus Guyana zu bringen, wo sie eifersüchtig gehütet wurden. Laut einer Geschichte erhielt er sie durch sein diplomatisches Geschick und aufgrund des ausgezeichneten Eindrucks, den er auf den Herrscher des Landes gemacht hatte. Eine andere Geschichte erzählt, dass sich der Herrscher weigerte, ihm die Samen zu geben, und dass sich alles ganz anders abspielte. Laut dieser Version erhielt Francisco die Samen aufgrund seines Charmes: Es scheint, als ob sich die Frau des Herrschers in Francisco verliebt hatte. Da sie wusste, wie wichtig ihm die Samen waren, versteckte sie sie in einem Blumenstrauß, den sie ihm vor seiner Abreise gab. Die Keime dieser Saat des Verrats trugen nicht sofort Früchte. Der Anbau begann in Brasilien erst zwanzig Jahre später und das Land wurde erst 1840 zum führenden Hersteller – ein Rekord, der bis heute steht.
Aus chemischer Sicht ist Espresso zugleich eine Lösung, eine Emulsion, eine Suspension und eine Gärung. Im Wesentlichen ist er ein kleines Wunder aus Chemie und Physik. Die Lösung besteht aus den chemischen Substanzen von Kaffee (inklusive seiner Aromen), die in Wasser aufgelöst sind (Kohlehydrate, Säuren, Koffein). Die Öle in den Kaffeebohnen (und somit im Kaffeepulver) emulgieren mit dem Wasser. Sie schmelzen nicht sofort, sondern lösen sich aufgrund der hohen Temperatur und der mechanischen Wirkung der Extraktion im Wasser in winzige Tröpfchen auf. Die Crema entsteht durch das Vorhandensein einer Gasphase (vor allem Kohlendioxid) im Wasser, die während der Vorbereitung eingeschlossen wird und an der Oberfläche des Espresso als Schaumschicht wieder auftaucht. Die Suspension erfolgt durch das Vorhandensein winziger Feststoffteilchen von gemahlenem Kaffee, die im Getränk bleiben und manchmal in hellem Schaum als winzige dunkle Punkte (Tigerstreifen) zu sehen sind. Ein perfekter Espresso ist ein kleines Wunder. Um dieses Ergebnis zu erreichen, müssen ein Dutzend Variablen perfekt kalibriert sein, darunter die Menge an Kaffee, die in den Filter kommt, und sogar der Filter selbst, das Tampern, das Mahlen, der Härtegrad, die Qualität, die Temperatur und der Druck des Wassers sowie die Extraktionszeit.
Kaffee hatte seinen ersten Auftritt in Italien im Jahr 1615 in Venedig dank Reisender, die aufgrund einer Vielzahl von Gründen von dort aus in Richtung Orient in See stachen. Nachdem der Kaffee auf Schiffe im Hafen an der jemenitischen Küste des Roten Meeres geladen worden war, wurde er zurück nach Venedig transportiert und zunächst in Apotheken zu exorbitanten Preisen als Medizin verkauft.
Es scheint, dass Pietro della Valle (1586–1652), ein Autor und Musiker, der nach einem romantischen Rückschlag in den Orient gereist war, nach seiner Rückkehr das Kaffeetrinken beschrieb und es in venezianischen Kreisen einführte. Kaffee war bereits von Prospero Alpino (1553–1617), einem Mediziner, der als Erster die Pflanze beschrieben und ihre nützlichen therapeutischen Eigenschaften hervorgehoben hatte, nachdem er sie in Kairo gesehen hatte, erwähnt worden sowie vom Venezianer Gian Francesco Morosini (1537–1596), dem Botschafter Venedigs beim Sultan von Konstantinopel. Er berichtete im Jahr 1585, dass die Türken die Gewohnheit hatten, in der Öffentlichkeit, in Geschäften und auf der Straße »schwarzes Wasser« zu trinken, das von einem Samen namens Qavhé kam und angeblich Menschen »ziemlich wachhalten« konnte.
Eines ist sicher: Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts waren Kaffeehäuser in Venedig bereits weitverbreitet und wurden »Geschäfte des Wassers und Eises« genannt. Ihr Erfolg verursachte bald den einen oder anderen Streit. Kaffee wurde von so manchen als »Erfindung des Teufels« bezeichnet, da er aus arabischen Ländern stammte und von Muslimen getrunken wurde. Der Papst wurde sogar gebeten, ihn zu verbieten. Doch Clemens VIII. (1536–1605) wollte das Getränk zuerst kosten – und es schmeckte ihm. Man erzählt, dass er so begeistert davon war, dass er sagte, es wäre eine Sünde, nur Ungläubige ein so köstliches Getränk genießen zu lassen. Statt Kaffee zu verbieten, gab er ihm seinen Segen. Nach der päpstlichen Genehmigung wurde Kaffee in Venedig reichlich konsumiert, und 1624 lernten die Venezianer das Röstverfahren. Im Jahr 1676 wurde der erste Kaffeeladen in Venedig errichtet. Er wurde zu Ehren seines Besitzers, Floriano Francesconi, Caffè Florian genannt. Das Caffè Lavena wurde 1750 eröffnet. Im Jahr 1759 gab es in Venedig 206 Kaffeeläden, wovon sich dreißig am Markusplatz befanden.
Wiener Kaffeehäuser sind dank der literarischen Aura, die sie umgibt, weltberühmt, und auch heute noch sind sie ganz besondere Orte. Jedes Detail wird sorgfältig beachtet und der Kaffee wird immer mit einem Glas Wasser serviert. Kunden sitzen auf den berühmten geschwungenen Stühlen aus Buchenholz von Michael Thonet und lesen Zeitungen an Tischen mit Marmorplatten. Abends werden musikalische Vorträge und Lesungen gehalten.
Viele österreichische Intellektuelle des 19. und 20. Jahrhunderts fanden in der gemütlichen Eleganz dieser Kaffeehäuser eine Atmosphäre vor, die ihre Kreativität förderte. Das niveauvolle Ambiente inspirierte die Gattung, die als Kaffeehausliteratur bekannt ist. Darunter sind Werke von Autoren wie Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Stefan Zweig und Peter Altenberg, der angeblich sogar seine Post ans Café Central zustellen ließ, zu finden.
Im Jahr 2011 wurde das Wiener Kaffeehaus von der österreichischen Kommission der UNESCO als immaterielles Kulturerbe nominiert. Es wurde als Ort, »wo Raum und Zeit konsumiert werden, aber nur Kaffee auf der Rechnung steht«, beschrieben.
Sicher ist, dass die kreativsten Köpfe tausend Jahre lang durch Kaffee inspiriert wurden, den sie in großen Mengen tranken. Dies war wahrscheinlich kein Zufall, denn wie zahlreiche Gelehrte bemerkt haben, traf der weitverbreitete Kaffeekonsum in Europa mit der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts und später mit der Aufklärung zusammen. Die anregenden Eigenschaften von Kaffee, die die Aufmerksamkeitsspanne und die gedankliche Klarheit verbessern, machen ihn zu einem ausgezeichneten Helfer für Kreativität, Konzentration und Aufmerksamkeit. Während der Aufklärung wurde dieses »Getränk der Vernunft«, dieser Inbegriff der Moderne und des Fortschritts, zum Getränk erster Wahl der Wissenschaftler, Intellektuellen, Händler und Beamten, was die Verbreitung eines neuen Rationalismus widerspiegelte.
Venedig, Triest, London: Innerhalb kurzer Zeit hatten Kaffeehäuser Europa erobert und sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Wien, dem Herzen des Kontinents, durchgesetzt. Dies verdanken wir Jerzy Franciszek Kulczycki (1640–1694), einem orthodoxen ukrainischen Adligen. Er war Händler, Diplomat, Soldat und Spion und wird von den Wienern als Lokalheld angesehen. Sein Name ist mit dem ersten Wiener Kaffeehaus verbunden. Es heißt, dass Kulczycki während der Türkenbelagerung im Jahr 1683 in der österreichischen Hauptstadt war. Die Stadtbewohner waren erschöpft und ausgehungert. In türkische Tracht gekleidet und osmanische Lieder singend überquerte er die feindlichen Linien und bat Karl V., Herzog von Lothringen, um Hilfe. Danach kehrte er nach Wien zurück und brachte der Stadt die Botschaft ihrer baldigen Rettung. Daher beschlossen die Bewohner, weiterhin Widerstand zu leisten. Die Ankunft der christlichen Truppen wendete die Schlacht und Kulczycki wurde mit einer beträchtlichen Menge des Kaffees belohnt, der im Lager der besiegten türkischen Armee gefunden wurde. Er eröffnete ein Kaffeehaus in Wien, das bald sehr beliebt war und wo er seine Gäste persönlich in türkischer Kleidung bediente. Er war auch der Erste, der vorschlug, Kaffee mit Milch zu trinken. Wien gedenkt ihm mit einer Statue, und jeden Oktober organisieren die großen Wiener Kaffeehäuser eine Feier zu seinen Ehren. Die Anzahl der Kaffeehäuser in Wien ist seitdem gewachsen. Innerhalb eines Jahrhunderts sind sie zum Symbol einer Ära geworden, organisieren Zusammenkünfte von und erinnern an Schlüsselfiguren der mitteleuropäischen Kultur.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte mein Großvater, Francesco Illy, in einem Wiener Kaffeehaus ähnlich dem von Kulczycki den Kaffee für sich. Er wurde 1892 als Sohn eines Zimmermanns in Timişoara geboren, das heute zu Rumänien gehört, damals jedoch noch in Ungarn lag. Als er etwa sechzehn Jahre alt war, beschloss er, seine Heimat zu verlassen und sein Glück anderswo zu suchen. Er zog nach Wien, damals eine der kommerziellen und kulturellen Hauptstädte Europas.
Ich weiß nicht viel über diese frühe Zeit seines Lebens, aber sicher ist, dass er im Alter von zwanzig Jahren bereits der Verwaltungschef zweier großer Firmen war. (Er arbeitete für eine am Morgen und für die andere am Abend.) Ich stelle mir gerne vor, wie er jung und neugierig durch die Straßen Wiens schlendert und beschließt, welche Zukunft er sich aufbauen wird. Ich kann beinahe sehen, wie er in einem Kaffeehaus sitzt oder ein Schaufenster betrachtet, den duftenden Zauber genießt, sich umsieht und sich dabei immer mehr in das Getränk und seine Zubereitung verliebt, jenes Getränk, das bereits so viele Europäer für sich gewonnen hat.
Seine Bestimmung erfüllte sich einige Jahre später beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er ging zur österreichisch-ungarischen Armee und ließ sich nach Kriegsende in Triest nieder. Er hätte dasselbe tragische Schicksal wie so viele andere Veteranen erleiden können, doch stattdessen fand er die drei Lieben seines Lebens: die Stadt Triest, deren Charme er ins Herz schloss; Kaffee mitsamt den historischen Cafés und dem Hafen, der bereits der Haupthafen für Kaffeehandel des Mittelmeers und ein Grundpfeiler des gesamten europäischen Handels und Konsums war; und zu guter Letzt die schöne Doris, die seine Ehefrau werden und mit der er die Familie gründen sollte, die das Unternehmen illycaffè bis heute führt. So beschloss Francesco, der bis kurz vor 1950 staatenlos gewesen war, sich in Italien niederzulassen und die italienische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Er handelte zuerst mit Gewürzen, dann mit Schokolade und schließlich mit Kaffee. Triest war der ideale Ort für diese Tätigkeit und für die kosmopolitische Berufung meines Großvaters, die sich in dieser Stadt vollkommen widerspiegelte.
Im Jahr 1933 gründete er mit einem Partner die Firma Illy-Hausbrandt, die Kaffee und Schokolade herstellte und verkaufte. Die beiden Geschäftspartner hatten verschiedene Hintergründe und unternehmerische Ideen, doch sie teilten von Beginn an das Ziel, einen bedeutenden Betrieb aufzubauen. Sie kombinierten ihre Talente (zusammen mit dem Patent meines Großvaters für das Überdruckverfahren) und alles verlief etwa zwanzig Jahre lang reibungslos: Der Betrieb wuchs, machte Gewinn, expandierte. Er überstand sogar die schreckliche Kriegszeit praktisch unversehrt. Doch ab den 1960er-Jahren kamen die unterschiedlichen Geschäftsperspektiven, die die Bemühungen der beiden Partner belebten, verstärkt zum Vorschein, und ihre Wege trennten sich später. Francesco Illy wollte all seine Ressourcen dafür einsetzen, seinen Traum zu verwirklichen. Dieser kam von einer scheinbar einfachen Idee, die sich als revolutionär herausstellte: den besten Kaffee der Welt anzubieten.
Am Anfang ihrer Zusammenarbeit teilten mein Großvater und sein Partner, der ein Kaffeeröster war, die Verkaufsgebiete auf. Francesco, der bereits viel in Europa gereist war und viele Sprachen beherrschte, behielt die am weitesten entfernten Gegenden für sich. Die internationale Ausrichtung des heutigen Unternehmens leitet sich möglicherweise aus dieser ursprünglichen Entscheidung ab. Doch bereits zu dieser Zeit und lange danach war Süditalien einer der wichtigsten inländischen Märkte. Dort wurde mehr Kaffee getrunken und, noch wichtiger, die Gegend hatte eine besser entwickelte Kultur des Kaffees. Um den interessantesten Markt des Landes für sich zu gewinnen, beschloss Illy-Hausbrandt von Anfang an, die höchste Qualitätsstufe anzustreben: Exzellenz. Dieses Streben nach Perfektion treibt uns durch die ständige Forschung und Innovation jeden Tag einen Schritt voran. Doch schon damals war das Unternehmen durch die vielen Erfindungen meines Großvaters gewissermaßen konkurrenzlos.
Francesco hatte keinen wissenschaftlichen Hintergrund, doch er erkannte den Wert technischer Innovation. Er vereinte eiserne Selbstbestimmung, vollständige Klarheit über seine Vorhaben und eine ungewöhnliche Fähigkeit zu kreieren und zu konstruieren in sich. Ich halte ihn für ein absolutes Genie, er hatte ja tatsächlich einige unglaubliche Eingebungen wie beispielsweise die zum Bau einer neuen Espressomaschine oder, besser gesagt, »der« Espressomaschine. Es waren bereits einige am Markt vorhanden, doch basierten sie auf einer Technik, die der von Mokkakannen ähnelte: Es wurde Wasser gekocht und dann durch den Dampfdruck durch die Platte gedrückt, die den Filter enthielt. Das Problem war, dass das Wasser zu heiß war und der Kaffee dadurch anbrannte und zu bitter wurde. Außerdem behinderte der niedrige Druck die Extraktion der Aromen, was in einer wässrigen Flüssigkeit resultierte. Francesco beschloss, zuerst den bitteren Geschmack in Angriff zu nehmen: Die Qualität des Kaffees war so gut, dass sein wahrer Geschmack hervorgebracht werden musste, aber wie? Durch Experimentieren bemerkte er, dass Kaffee, der bei niedrigen Temperaturen gekocht wurde, weniger bitter und viel aromatischer war. Doch das andere Problem, das er lösen musste, war der Druck, der durch den Dampf des kochenden Wassers entstand. Die Lösung konnte nicht von innen kommen, denn die höchstmögliche Temperatur, die ein Maximum an Aromen ermöglichte, waren 90 °C (194 °F).
Daher suchte und fand mein Großvater die Lösung außen in Form eines verstellbaren Luftkompressors, der den nötigen Druck liefern konnte. So wurde die Illetta geboren. Sie ist die Großmutter der heutigen Espressomaschine. Wir haben sie restauriert und zur Expo in Mailand gebracht.
Die Illetta war eine bahnbrechende und avantgardistische Erfindung, doch illycaffè sah sich bald gezwungen, sie aufzugeben. Obwohl das Unternehmen den Zweiten Weltkrieg überlebt hatte, hatte es in der Nachkriegszeit wirtschaftliche Schwierigkeiten (wie die italienische Industrie allgemein) und konnte keine Fortschritte im Markt der Kaffeemaschinen machen, der inzwischen schnell expandiert und viel Konkurrenz angelockt hatte. Es waren harte Jahre. Während des Krieges hatten Sanktionen den Import von Kaffee blockiert, und der Transport im Mittelmeer war riskant gewesen. Rohmaterialien waren so knapp gewesen, dass illy an einem bestimmten Punkt sogar gezwungen war, Zichorie zu rösten!
Daher beschloss mein Großvater, zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Er gab die Herstellung von Espressomaschinen auf, was bedeutete, dass dieses Abenteuer ein vorzeitiges Ende fand. Doch das Illetta-Patent hatte bereits die Samen einer Innovation gesät, die in den 1980er-Jahren und in den drei nachfolgenden Generationen weiterhin Früchte tragen würden.
Kaffee hat eine besondere Beziehung zu Triest, einer stolzen, kosmopolitischen und offenen Stadt, die ihrer Internationalität sogar in den Zeiten des glühenden Nationalismus treu blieb.