Allan Stratton
Dark Dogs
Aus dem Amerikanischen von Heike Brandt
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© Credit Fotograf
Allan Stratton , geboren in Ontario/Kanada, arbeitete als Schauspieler und Autor von Theaterstücken. Später begann er, Romane für Erwachsene und Jugendliche zu schreiben. Sein Jugendbuch ›Worüber keiner spricht‹ wurde mehrfach ausgezeichnet. Heute lebt Allan Stratton, nach diversen Zwischenstationen in Nordamerika und Europa, in Toronto.
Heike Brandt , geboren 1947 in Jever, wuchs auf in Berlin, wo sie auch heute lebt. Sie studierte Pädagogik, arbeitete in einer Obdachlosensiedlung und einem Kinderbuchladenkollektiv. Seit 1986 ist sie als Übersetzerin, Autorin und Rezensentin von Kinder- und Jugendliteratur tätig. Sie hat alle auf Deutsch erschienenen Titel von Allan Stratton übersetzt.
HÖRST DU DIE HUNDE IN DER NACHT?
Schon wieder eine neue Stadt, schon wieder eine neue Schule – und das nur, weil Camerons Mom fürchtet, dass sein Vater sie finden könnte. Cameron kann sich kaum an ihn erinnern. Da ist nur noch die Angst seiner Mutter, die die beiden diesmal in ein altes Farmhaus führt. Dort glaubt Cameron Jacky zu sehen, der vor fünfzig Jahren spurlos verschwand. Verstört und fasziniert zugleich gräbt er den alten Fall aus und stellt eigene Nachforschungen an. Als er auch noch das Heulen der Hunde hört, von denen die Jungen in der Schule ständig reden, zweifelt er an seinem Verstand. Und weil ihm niemand glaubt, trifft Cameron eine fatale Entscheidung …
Deutsche Erstausgabe
2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2015 Allan Stratton
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Dogs,
2015 erschienen bei Andersen Press Limited, London
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: buxdesign, München
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
eBook-Herstellung im Verlag
eBook ISBN 978-3-423-43489-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74038-8
Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website
www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423434898
Für meinen Stiefvater Alex, den besten Vater der Welt
Es ist zehn Uhr abends. Mom steht am Wohnzimmerfenster und starrt auf das Auto auf der anderen Straßenseite. Seit einer Stunde macht sie das. Von draußen kann sie keiner sehen, weil bei uns im Haus kein Licht brennt.
Ich bin im Keller im Hobbyraum und spiele Zombie Attack. Ohne Ton. Mom soll nichts merken, aber ich glaube, sie weiß es sowieso. Je länger diese Stille im Dunkeln anhält, desto unheimlicher wird mir.
Mom bildet sich das ein.
Aber wenn nicht? Ich konzentriere mich auf die Zombies. Die Stille dröhnt.
»Ist bestimmt nichts!«, rufe ich nach oben.
»Psst. Sei leise!«
»Ich bin unten im Keller, Mom. Meinst du, man kann mich von draußen hören?«
»Sei still, Cameron. Mach das Spiel aus und geh ins Bett …«
»Manno …«
»Cameron.«
Ein Zombie springt hinter einem Baum hervor und reißt mir den Kopf ab. Danke, Mom. Das war echt hilfreich. Ich schalte das Spiel aus und gehe nach oben ins Wohnzimmer.
Mom umklammert ihr Handy. »Ich ruf die Polizei.«
»Warum?« Ich gebe mir Mühe, ganz normal zu klingen. »Dauert doch ewig, bis die kommen. Bis dahin ist der längst weg, wer immer das ist.«
»Das ist nicht Wer-immer. Sondern er. Das weiß ich.« Sie tippt schon die Nummer.
»Mom, das da ist eine Straße. Da parken Leute ihre Autos.«
»Aber nicht, wenn sie da nicht wohnen. Und nicht immer genau gegenüber demselben Haus, drei Nächte hintereinander. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er was macht. Hallo? Ist da die Polizei?«
Das Atmen fällt mir schwer. Ich gehe nach oben und putze mir die Zähne, während Mom ihren Namen und ihre Adresse einem Polizisten durchgibt, der schwerhörig sein muss. Und beruhigen kann er sie auch nicht, sie wird immer wütender.
Geh ins Bett. Alles in Ordnung.
Moms Zimmer geht nach vorne raus. Ich schleiche zu ihrem Fenster und gucke runter. Das Auto steht auf der anderen Straßenseite, im Schatten der Bäume. Sitzt wirklich jemand drin?
Und selbst wenn? Der könnte auf einen Freund warten.
Die ganze Nacht?
Ist doch nicht verboten, in einem Auto zu sitzen.
Darum geht’s doch gar nicht.
Hör auf. Du redest wie sie.
Das Auto fährt weg, genau wie gestern Abend und den Abend davor. Ich gehe in mein Zimmer und krieche unter die Decke. Zwei Stunden später kommt die Polizei.
Mom ist außer sich. »Ich habe vor Stunden angerufen! Wir könnten längst tot sein.«
»Tut mir leid, Ma’am. War viel los heute Abend. Haben Sie das Kennzeichen?«
»Nein. Habe ich nicht. Er stellt sich immer unter die Bäume, wo es dunkel ist. Soll ich vielleicht rausgehen, um die Nummer aufzuschreiben? Da wartet der doch bloß drauf!«
Die Polizisten stellen noch mehr blöde Fragen. Ich stecke mir die Finger in die Ohren und bete, dass es schnell vorbeigeht.
Die Polizisten ziehen ab. Mom knallt die Haustür zu. Und schon sitzt sie an meinem Bett und hält meine Hand. »Cameron, mein Schatz. Wir müssen weg. Pack dein Zeug zusammen.«
»Weg? Was? Jetzt?«
»Ich weiß nicht, wie viel Zeit wir haben.« Sie steht auf und geht zur Tür. »Er könnte überall sein, gleich um die Ecke, was weiß ich. Vor allem kommt er wieder, darauf kannst du dich verlassen. Und die Polizei wird zu spät kommen.«
»Mom …«
»Es gibt Dinge, die verstehst du nicht, Cameron.«
Ach ja? Ich verstehe eine Menge, Mom. Auf jeden Fall verstehe ich, dass ich Angst habe. Aber warum? Weil er uns gefunden hat? Oder weil du verrückt bist?
Meine Klamotten sind bereits in einem Koffer, der unter dem Bett steht; ich musste schon vor zwei Tagen packen, für alle Fälle. Im Auto ist Platz für unsere Koffer und Taschen, ein paar Mäntel und Jacken, eine Kiste mit Geschirr, etwas Bettwäsche, ein paar Handtücher und einen kleinen Fernseher. Den Rest werden meine Großeltern bei sich im Keller unterstellen; viel ist es sowieso nicht, wir mieten immer möbliert. Am liebsten wäre ich zu Grandma und Grandpa gegangen, aber Mom meint, das geht nicht. Sie sagt, da würde er zuallererst suchen.
Er – der Typ in dem Auto: Dad.
Mom lässt unseren Wagen rückwärts auf die Straße rollen. Ich werfe einen letzten Blick auf das Haus, an das ich mich im Laufe des letzten Jahres gewöhnt hatte. Genau wie an die Stadt. In der Schule hatte ich sogar Freunde gefunden. So viel dazu.
Langsam fahren wir los, ohne Licht.
Mom hat Dad verlassen, als ich acht war. Sie sagt, dass er sich eigentlich schon immer sonderbar verhalten hätte. Ich habe ein paar Erinnerungsfetzen an ihn, weiß aber nie genau, was wirklich war, was ich geträumt oder was ich bei Gesprächen zwischen meiner Mom und meinen Großeltern aufgeschnappt habe.
Jedenfalls ist Mom mit mir weggezogen, weit weg; Dad hat sich ein paarmal mit mir getroffen, unter Aufsicht, in einer Behörde. Dann sind wir plötzlich wieder umgezogen. Weil Dad Dinge getan haben soll, von denen Mom mir später erzählen wird, wenn ich älter bin. Aber, Mom – wann bin ich denn älter? Das ist jetzt unser fünfter Umzug und es hat sich nichts geändert, außer dass ich noch kaputter bin.
Mom sagt, jede Veränderung ist eine Chance: »Nutze sie!« Das ist so was wie ihr Motto. Das heißt, sie plant unsere Flucht schon, bevor wir überhaupt ausgepackt haben. Sie erkundet von vornherein, wohin wir »im Notfall« fliehen könnten. Daher wundert es mich kaum, dass sie genau weiß, wohin wir fahren.
Als wir anhalten, tanken und Donuts kaufen, zeigt sie mir auf dem Laptop unser Ziel. »Ein perfekter Ort. Achthundert Meilen weit weg – ideal zum Untertauchen – die Miete ist geschenkt und das Haus ist möbliert. Was meinst du?«
»Rate mal.«
»Bitte, gib dir Mühe.«
»Mom, das ist ein Bauernhof!«
Sie tut so, als hörte sie mich nicht. »Der Makler sagt, der Besitzer lebt auf dem Hof nebenan, falls es irgendwelche Probleme geben sollte. Er nutzt die Äcker, die zu unserem Hof gehören, hält sich aber ansonsten fern. Wir sind also ungestört, aber sicher. Ist das nicht toll? Denk mal an die frische Luft, die Natur ringsum. Stell dir vor, was für einen Spaß es dir machen wird, den Wald hinter den Feldern zu erkunden.«
»Und wie soll ich da Freunde finden?«
»Ganz in der Nähe ist eine kleine Stadt, direkt an einem See, es gibt einen Freizeitpark und eine neue Schule und …«
»Hallo! Ich habe keinen Führerschein. Ich muss gleich nach der Schule mit dem Bus nach Hause fahren.«
»Viele Kinder fahren mit dem Schulbus.«
Ich wende mich ab.
»Cameron. Du musst es versuchen.«
»Schön. Mach ich. Hat der Bauer nebenan Kühe? Dann kann ich mich ja mit denen anfreunden.«
Mom klappt ihren Laptop zu. »Ich weiß, dass das schwer ist. Aber wenn wir auf dem Land leben, ist die Chance kleiner, dass wir Leuten begegnen, die jemanden kennen, den er kennt. Und er kann sich nicht so leicht unbemerkt anschleichen.«
»Ja, klar, schon gut.«
»Cameron, guck mich nicht so an. Bitte. Du weißt, was er auf Facebook gemacht hat. Wir können gar nicht vorsichtig genug sein.« Sie drückt sich die Serviette an die Augen.
»Bitte, Mom.«
»Tut mir leid. Ich kann’s nicht ändern.«
Mom geht aufs Klo und macht sich frisch, holt sich noch einen Kaffee und dann fahren wir in den nächsten Tag hinein. Ich will mich auf der Rückbank ausstrecken, aber ich bin nicht mehr so klein wie früher, also zocke ich. Mom sagt, das ist schlecht für meine Augen, wegen des Gewackels beim Fahren, aber ich habe meine Ohrstöpsel drin und tu so, als hörte ich sie nicht.
Irgendwann schlafe ich doch ein. Ich wache auf, als die Sonne untergeht. Schummriges Licht, überall Maisfelder. »Kannst du mal anhalten? Ich muss pinkeln.«
»Kleinen Moment. Wir sind gleich da!«
Was? Hier sollen wir wohnen?
Zehn Minuten später tauchen aus dem Nichts eine Schule und ein Footballplatz auf. Ein paar Hundert Yards dahinter hält Mom vor einem alten Motel. Die Wände sind aus weißen Schindeln, im Anbau ist ein kleines Restaurant und am Bürofenster leuchtet ein rotes Schild: »Zimmer frei«.
Ein Stück vor uns sehe ich eine alte Eisenbrücke, die über eine Schlucht zu einem Ort führt. WILLKOMMEN IN WOLF HOLLOW steht auf einem Schild an der Straße.
Unser Zimmer ist ziemlich schäbig, alles in Beige und ramponiert, es gibt zwei einzelne Betten, ein Telefon, einen Fernseher und eine Kaffeemaschine.
Mom ruft Grandma und Grandpa von ihrem Handy aus an und sagt ihnen, dass es uns gut geht. Wir benutzen nie Hoteltelefone oder überhaupt irgendein fremdes Telefon. Auch das ist eine Regel: »Über die Motel-Nummer kann uns dein Vater finden, falls er Grandmas und Grandpas Telefon angezapft hat.« Mom hat unsere Rufnummern unterdrückt, sodass sie nicht auf dem Display erscheinen, wenn wir jemanden anrufen. Mein Handy muss ich immer bei mir haben, sagt Mom, das ist lebenswichtig. »Du musst Hilfe holen können, falls dein Vater plötzlich aufkreuzt.«
»Also, uns geht’s gut«, sagt Mom zu Grandma und Grandpa. Sie hat das Telefon laut gestellt. »Wir sind in einem sehr hübschen Motel und ich habe schon einen Besichtigungstermin für ein fantastisches Haus. Morgen fahren wir mit dem Makler hin.«
»Oh, wie schön«, sagt Grandma. »Und wie geht’s Cameron?«
Ich blicke von meinem Spiel hoch. »Cameron geht’s gut. So gut wie nie.«
Mom blickt mich scharf an. Ich soll immer fröhlich klingen, wenn wir mit Grandma und Grandpa telefonieren, sonst machen sie sich Sorgen. Also, wenn ich an deren Stelle wäre, würde ich mir trotzdem Sorgen machen, zum Beispiel würde ich mich fragen: Wie kann’s den beiden so gut gehen, wenn sie vor einem Verrückten davonlaufen?
»Ernsthaft, Grandma, ist super hier«, sage ich mit meiner Ich bin so glücklich, dass ich es kaum glauben kann-Stimme. »Ihr müsst uns mal besuchen kommen. Ich freu mich schon.«
»Vielleicht Weihnachten?«, meint Grandpa. Genau. Wer’s glaubt, wird selig.
»Mal sehen, wie’s im Herbst aussieht«, sagt Mom.
Selbst wenn wir über Skype reden, fühle ich mich bei solchen Gesprächen immer sehr einsam, denn alles, was wir sagen, ist falsch. Wir lügen, damit wir so tun können, als wäre alles gut. Ich meine, ich verstehe schon, dass Grandma und Grandpa sich keine Sorgen machen sollen, und ich verstehe, dass wir ihre Sorgen nicht spüren sollen. Aber gerade weil wir nicht ehrlich sind, machen wir uns alle doch nur noch mehr Sorgen. Wenn aus allem ein Geheimnis gemacht wird, wer weiß denn dann noch, was wirklich ist? Wir nicht.
Die Großeltern, an die ich mich erinnere, waren echte Menschen. Die, mit denen ich jetzt spreche, sind Pappfiguren. Je öfter ich mit den Pappfiguren rede, desto weniger erinnere ich mich an die echten Menschen.
»Wir rufen nächsten Sonntag wieder an«, sagt Mom.
Ende der Durchsage.
Mom sitzt auf dem Beifahrersitz, neben dem Makler Mr »Hallo-ich-bin-Ken« Armstrong. Er trägt Designer-Jeans und Cowboystiefel.
Cowboystiefel hat uns nach dem Frühstück abgeholt und will uns unser »neues« Zuhause zeigen. Mom sagt, es ist noch nichts entschieden, wir gucken erst mal, aber mir kann sie nichts vormachen. Ich hänge einfach auf der Rückbank ab und bin gespannt, wie weit raus der Typ uns wohl noch fahren wird.
Cowboystiefel ist superlaut und fröhlich, obwohl es so früh am Tag ist. Und obwohl wir in einem Auto sitzen. Er klingt wie ein Typ im Fernsehen, der einen Supersonderausverkauf anpreist. Aber bei Cowboystiefel ist das nicht bloß ein Zehn-Sekunden-Werbespot, der plappert ohne Ende. Und wegzappen kann ich ihn auch nicht.
»Die Stadt heißt Wolf Hollow«, sagt er. »Aber seit die ersten Siedler den Wald gerodet haben, gibt’s hier keine Wölfe mehr. Kojoten schon, aber die werden Sie kaum zu sehen kriegen. Trotzdem – wenn Sie Haustiere haben, sollten Sie die lieber im Haus behalten.«
»Kein Problem, wir haben keine«, sagt Mom.
»Was Sie aber in jedem Fall zu sehen kriegen werden, ist Schnee.« Cowboystiefel grinst. »Meistens nicht vor November, aber manchmal schneit es schon Ende Oktober. Ganz wunderbar für Langlauf. Art Sinclair, der Vermieter, hat in der Scheune noch ein altes Schneemobil stehen. Das können Sie benutzen, hat er gesagt.«
Mom schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Wird dir bestimmt Spaß machen, mit so einem Ding zu fahren, oder?«
Sie klingt, als wäre ich fünf und sie wollte mich mit Karussellfahren ködern. Ich schaue aus dem Fenster. »Bestimmt.«
»Noch was, Cameron«, verkündet Cowboystiefel, »die Stadt hat eine neue Schule und ein Freizeitzentrum. Und einen See gibt es auch – der ist ziemlich kalt, aber im Sommer kann man da gut schwimmen.«
Ich seufze gerade so laut, dass Mom es zwar hört, aber mich nicht unbedingt ermahnen muss. »Ja, hab ich schon gehört.« Als würde sich Cowboystiefel für mich interessieren. Der will doch bloß bei Mom Eindruck schinden. Macht einen auf supercool, der Typ, mit seinen Stiefeln, der Lederjacke und den gebleichten Zähnen.
»Da sind wir!«, verkündet Cowboystiefel verheißungsvoll, als wäre Weihnachten. Wir biegen auf einen Schotterweg ab. Rechts und links ist der Mais so hoch gewachsen, dass ich nicht viel sehe, bis wir vor dem Haus anhalten und aus dem Auto steigen. Dann –
Boah! Hilfe! Was für ein schrottiges Teil! Es hat zwei Stockwerke, wie auf dem Foto, aber im richtigen Leben sieht man Sachen, die auf der Website nicht zu erkennen waren. Die Ziegel zum Beispiel sind nicht echt, sondern auf die Teerpappe gedruckt, die sich unterhalb der Regenrinne kringelt. An der Tür und an den Fensterrahmen blättert die Farbe ab. Und der Hof, der bis zu einem wackeligen Lattenzaun hinter dem Haus reicht, ist ein löchriger Sandplatz voller Steine und Fingergras. An der Scheune dahinter fehlen ein paar Bretter und ihr oberer Teil neigt sich nach links.
Ich werfe Mom einen Echt, wir wollen doch nicht wirklich hier einziehen-Blick zu. Sie antwortet sofort mit einem Komm zur Vernunft Cameron-Funkeln.
»An dem Haus müsste schon noch was gemacht werden«, sagt Mom höflich. »Wir wollen es ja nicht kaufen.«
»Art kümmert sich drum«, sagt Cowboystiefel schnell. »Sein Hof ist nebenan. Als er klein war, hat sein Vater den Hof hier übernommen und damit seinen Besitz verdoppelt. Ich glaube, später hat Art eine Zeit lang hier gelebt, aber vor ungefähr zehn Jahren, als seine Eltern starben, ist er wieder in sein ursprüngliches Zuhause gezogen. Wie Sie sehen können, hat er dann das Haus hier etwas vernachlässigt. Selbst die Scheune wird nicht genutzt.« Cowboystiefel grinst. »Deshalb ist die Miete so günstig.« Wenn der ein Restaurant hätte, würde er gegrillte Scheiße als Steak verkaufen.
Wir gehen über die Veranda und betreten eine riesige Küche mit Blümchentapete und getüpfeltem Linoleum, einem Metalltisch und sechs Stühlen mit karierten Vinylbezügen.
Links führt eine schmale Treppe nach oben und eine Tür in den Keller, rechts ein bogenförmiger Durchgang zum Wohnzimmer und eine Tür zum Bad. Uns gegenüber ist eine Spüle mit einem Fenster darüber, durch das man die Scheune sieht, sowie eine Tür nach draußen.
Irgendwas fehlt. Ein Geschirrspüler. Jetzt mal im Ernst. Wo ist der Geschirrspüler?
»Sehr geräumig«, sagt Mom. »Ich mag große Küchen.«
»Hier in der Gegend verbringen die Leute den größten Teil des Winters in der Küche«, erklärt mir Cowboystiefel, als ob mich das interessieren würde. »Wenn du genau hinguckst, sieht du, wo das Loch war, durch das früher die Schlafzimmer geheizt wurden. Mr Sinclair hat es zugemacht.« Er blickt Mom an: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Rest.«
Die Räume im Erdgeschoss sind alle miteinander verbunden. Wir gehen quer durch die Küche nach hinten rechts zum Bad. Cowboystiefel macht viel Wind um die Badewanne mit den Klauenfüßen und die Waschmaschine mit dem integrierten Trockner. Mom braucht zum Wäschewaschen nicht mal in den Keller zu gehen. Durch eine zweite Tür kommen wir ins Schlafzimmer.
»Und – wie gefällt Ihnen das?« Er zieht das Rollo hoch.
»Tolle Aussicht«, sagt Mom. »Die Felder und dahinten der Wald!«
Cowboystiefel nickt. »Und tolles Licht!«
Hinter der Tür auf der anderen Seite des Schlafzimmers ist ein zweiter, schmaler Treppenaufgang und dahinter das Wohnzimmer. Mom gefällt der zweite Aufgang. »Ist schon gut, wenn man mehr als einen Fluchtweg hat … falls es mal brennt«, meint sie. Aber ich weiß, was sie wirklich meint.
Im Wohnzimmer stehen alte Möbel und ein gigantisches Klavier. Die Sofakissen riechen muffig. Am anderen Ende ist der bogenförmige Durchgang zur Küche. Wir sind einmal im Kreis gegangen.
Mom und Cowboystiefel wollen sich das obere Stockwerk ansehen, ich bleibe lieber in der Küche. Ich glaube, Mom ist froh, dass ich mich ausgeklinkt habe. Wenn ich schlechte Laune habe, sieht man mir das sofort an. Mom ist das peinlich: »Du blamierst mich, und dich selbst auch.«
Ich gucke aus dem Fenster über der Spüle. Was kann ich sonst machen?
Vielleicht den Keller checken?
Ich mache die Kellertür auf und knipse den Lichtschalter an. Die Stufen knarren, die Decke ist niedrig, die Tapete zerfleddert. Es ist, als würde ich in eine Gruft hinuntersteigen. Sofort stelle ich mir vor, dass hier ein Irrer eine Leiche vergräbt.
Mom sagt, meine Angst kommt von meiner blühenden Fantasie. Wo ich die wohl herhabe? Egal. Falls hier unten wirklich ein irrer Killer sein sollte, kann ich Mom und Cowboystiefel rufen.
Der Keller ist kalt und feucht und geht über die gesamte Fläche des Hauses. Ich knipse auch noch die Glühbirne an, die von der Decke hängt. Schon tanzen die Schatten der Balken, der Heizungsrohre, des herumliegenden Gerümpels und der bis zur Decke hochgestapelten Pappkartons durch den ganzen Raum.
Ich stelle mir vor, dass hinter dem Schornstein Mutanten-Messies hocken und mich beobachten. Super. Jetzt muss ich da hingehen, um mir zu beweisen, dass ich kein Weichei bin.
Ich schiebe mich um einen rostigen Kinderwagen und krieche unter den Heizungsrohren auf die andere Seite durch, wo ich eine verriegelte Tür entdecke. Ich stelle mir vor, dass dahinter ein Totenschädel liegt und sich aus dem Boden eine Knochenhand reckt. Ich atme einmal tief durch, steige über eine Kiste mit Porzellanzwergen und über eine Spielzeugtruhe und lege meine Hand auf den Riegel.
Na los, mach auf.
Aber wenn dahinter nun wirklich ein Schädel ist?
Ist das dein Ernst?
Ich schlage die Tür auf. Dahinter ist ein winziger Verschlag, dunkel und dreckig. Vielleicht wurden hier Kohlen gelagert.
Meine Nackenhaare stellen sich auf. Hinter mir ist jemand, beobachtet mich.
»Mom?«
Stille.
Ich drehe mich langsam um. Niemand zu sehen. Aber hier unten ist jemand. Das spüre ich. »Wer ist da?«
Im Kohlenverschlag raschelt es. Ich stürze hinaus, verriegele die Tür, rase auf die Treppe zu und stolpere dabei über ein Dreirad.
»Cameron?«, ruft Mom aus der Küche. »Cameron, was machst du da unten?«
»Nichts.«
Plötzlich ist alles wieder normal. Die Augen, die mich angestarrt haben? Einbildung. Das Geräusch im Kohlenverschlag? Eine Maus vielleicht oder auch gar nichts.
Mom und Cowboystiefel kommen die Kellertreppe runter. »Cameron, du weißt doch, dass du solche Situationen vermeiden sollst.«
Super, Mom. Und du meinst, ich würde dich blamieren? »Tut mir leid.«
Mom entdeckt das Gerümpel. »O je!« Ich sehe, wie in ihr der dringende Wunsch aufkommt, ihre Hände zu desinfizieren.
Cowboystiefel reagiert sofort: »Ich werde Art bitten, das Zeug wegzuschaffen.«
»Gut.«
Cowboystiefel kichert: »Art ist schon ein eigenartiger Mensch. Überzeugter Junggeselle. Ich wette, einiges von dem Zeug liegt schon hier, seit seine Eltern das Haus gekauft haben.«
Was? Seit den Sechzigern? Ein geheimes Gruselkabinett!
»Cameron«, sagt Mom. »Oben gibt es zwei Zimmer. Du kannst dir eins aussuchen.«
Ich verdrehe die Augen. »Also werden wir wirklich hier einziehen?«
Mom nickt. »Das Haus hat was.«
Genau. Was zum Gruseln.
Mittwoch. Heute muss ich in die Schule.
Ich hasse den ersten Tag an einer neuen Schule. Der läuft immer ab wie so ein Albtraum, in dem man zu einer Prüfung muss, aber den Raum nicht findet. Bloß ist der erste Schultag kein Albtraum, sondern Wirklichkeit. Wo ist welcher Raum? Wer ist wer? Was will ich eigentlich hier? Schlimmer noch, es ist Oktober, da sind alle schon in irgendeiner Clique. Und die Leute hier sind wahrscheinlich schon seit dem Kindergarten in derselben Clique.
Doch das Schwierigste ist, den Überblick über meine Lügen zu behalten. Neue werden immer total ausgequetscht, aber ich darf ja nicht die Wahrheit sagen, weil Mom Panik schiebt, Dad könnte uns finden. Immerhin kann ich wegen meiner Schulakte meinen Namen behalten; Mom sagt, das ist okay, weil er sehr geläufig ist und weil Dad keinen Zugriff auf meine Akte hat. Aber alles andere? Frei erfunden.
Erst mal muss ich mir merken, was ich über meinen Vater gesagt habe. Damit es nicht zu kompliziert wird, sage ich immer, dass Dad gestorben ist. Nur kommen dann gleich die Fragen: Woran ist er gestorben? Wie war das für dich? Wie alt warst du? Wenn ich sage, es ist schon eine Weile her, wollen sie wissen, ob ich einen Stiefvater habe oder ob Mom einen Freund hat. Wenn ich sage, es ist vor Kurzem passiert, darf ich in den nächsten Monaten nicht lächeln oder irgendwie fröhlich sein.
So zu tun, als wäre Dad tot, ist ziemlich schräg. Wenn ich so tue, als wäre er tot, und er stirbt wirklich, werde ich dann ein schlechtes Gewissen kriegen, weil ich seinen Tod herbeigeredet habe?
Jedenfalls gehe ich die ganze Geschichte noch mal im Kopf durch, während ich an der Straße auf den Schulbus warte und dabei hin und her laufe. Mom hat mir angeboten, mich zu fahren, aber das kommt überhaupt nicht infrage. Da halten die mich ja gleich für ein Weichei.
Als ich in den Bus steige, glotzen alle neugierig. Die Mädchen vorne gucken zwar zur Seite, aber ich höre sie tuscheln, sobald ich an ihnen vorbei bin. Ich wette, es geht um den Pickel auf meiner Backe. Die Jungs in der letzten Reihe blasen sich auf. Der Typ auf dem Mittelplatz sieht ziemlich fies aus. Ich senke den Kopf und will mich auf einen der freien Fensterplätze setzen. Die Leute, die am Gang sitzen, tun so, als sähen sie mich nicht, vielleicht halten sie die Plätze für ihre Freunde frei. Schließlich finde ich zwei freie Plätze, ein paar Reihen vor den Jungs ganz hinten.
»Kommt der von Sinclairs Schrottplatz?«, fragt der fiese Typ, so laut, dass es alle hören können.
»Bestimmt«, sagt einer seiner Freunde. »Die Hunde, Cody. Vielleicht ist er Hundefutter.«
Cody lacht. »Klar, der ist Hundefutter. Genau.«
Offenbar ist das komisch.
Einfach ignorieren, dann geht’s vorbei, sagt Mom. Das ist der blödeste Rat, den man sich denken kann. Ignorieren macht alles nur schlimmer. Hat sie nicht genau das über Dad gesagt? Egal. Mir bleibt ja gar nichts anderes übrig. Ich kann mich doch nicht mit einer ganzen Clique anlegen.
Beim nächsten Halt steigt ein pummeliger Junge ein. Sind alle freien Plätze für Freunde reserviert? Selbst wenn, der Typ gehört jedenfalls nicht dazu. Als er durch den Bus geht, quieken Cody und seine Jungs: »Komm, kleines Schweinchen, komm.«
Der Junge lässt sich auf den Platz neben mir fallen. Er riecht nach Schweiß und Milch. Ich halte mir so unauffällig wie möglich die Hand vor die Nase. »Wenigstens gibt es in meiner Familie keine Verrückten«, murmelt er. Ich sage nichts. Er blickt mich an und zwinkert. »Hey, du bist ja ein Neuer.«
Nein, ich fahre schon seit Ewigkeiten mit diesem Bus, aber ich habe Superkräfte, die mich unsichtbar machen. »Genau.«
»Ich bin Benjie. Benjie Dalbert.«
»Cameron Weaver.« Ich hoffe, hiermit ist das Gespräch zu Ende, und checke meine Fingernägel. Cody und seine Jungs machen immer noch Grunzlaute. Wenn die sehen, dass ich mich auf den Typen einlasse, gehen die bestimmt wieder auf mich los.
Warum bin ich so ein Feigling?
Feigling? Ich kenn doch den Typen gar nicht. Wieso soll ich da nett zu ihm sein? Er stinkt. Und mich haben sie Hundefutter genannt, da hat auch keiner was gesagt.
Genau. Also soll ich das machen, was alle machen?
»Und – wo kommst du her, Cam?«, fragt Benjie.
»Cameron. Aus Calgary.« Stimmt nicht.
Benjie rückt näher. Zwischen seinen Zähnen stecken Reste von Cornflakes. »Ich habe einen Cousin in Calgary. Wo hast du denn gewohnt?«
Ich versuche, nicht zu atmen. »Na ja, mehr so außerhalb von Calgary, in einem kleinen Ort. Ich sage bloß Calgary, weil das alle kennen.«
Bitte halt die Klappe, Benjie. Hör auf, mit mir zu reden.
»Okay, aber wie heißt der Ort? Cochrane? Chestermere? Mein Cousin wohnt in Chestermere.«
»Cochrane.«
»Cool.« Ein Spuckekügelchen landet an Benjies Kopf. Die Clique lacht. Benjie dreht sich um. »Hört auf.«
»Warum denn, Schweinchen?«, höhnt Cody. »Was willst du machen?«
Benjie wird rot. »Arschlöcher«, flüstert er. »Die denken, die können über alle bestimmen. Cody Murphy ist das größte Arschloch. Geschieht dem ganz recht, was die alles mit ihm gemacht haben. Stell dir vor, seine Mom hat ihn weggegeben. Daran denke ich immer, wenn er mir was an den Kopf wirft, und sofort bin ich happy.«
»Was hat seine Mom gemacht?«
»Sie hat ihn weggegeben. Super, oder?« Benjie zwinkert wieder mehrmals. »Da war er acht oder so. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter hat wieder geheiratet und ihn dann einfach aus der Stadt hierher zu seinen Großeltern abgeschoben.«
»Krass.«
»Nicht krass genug.« Benjie grinst. »Egal. Aber wie kommst du hierher? Ich meine, du bist doch nicht hier geboren. Und die Höfe rund um Wolf Hollow werden eigentlich nie verkauft. Haben sich deine Eltern getrennt? Wohnst du bei Verwandten?«
»Mom hat ein Haus gemietet.« Ich blicke aus dem Fenster.
»Du wohnst im alten Haus von Mr Sinclair?«
»Psst. Nicht so laut. Ja. Woher weißt du das?«
»Weil ich schon immer hier wohne und es das einzig freie Haus auf der Schulbusroute ist. Sag mal – spukt es da wirklich?«
Ich drehe mich zu ihm. »Was?«
»Also, ich denke, da müsste es spuken«, sagt Benjie. »Der Typ ist echt schräg.«
»Wer?«
»Sinclair. Wer denn sonst? Pass bloß auf, dass du nicht mit ihm alleine bist.«
»Wieso das?«
»Er hat in der Scheune eine Wurstmaschine. Damit kann der Hackfleisch aus dir machen.«
»Du spinnst ja!«
»Wird jedenfalls so erzählt. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
Zwei Mädchen steigen in den Bus und setzen sich nach vorn zu ihren Freundinnen. Cody und seine Jungs kichern und buhen. Ich blicke aus dem Fenster und lasse die Felder an mir vorbeiziehen, während Benjie sich lang und breit über seinen Gesundheitsverein auslässt. Im Herbst gibt es Wettbewerbe für Jugendliche, die machen richtig Spaß, und ich soll doch mitmachen, sein Großvater war Vereinsvorsitzender, bis er durch einen Schlaganfall gelähmt wurde und in ein Heim kam. Bla, bla, bla. Immerhin hält das Benjie davon ab, mir noch mehr Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum?-Fragen zu stellen.
Der Bus fährt auf den Parkplatz vor der Schule. Benjie bleibt mit gesenktem Blick sitzen und lässt Cody und seine Jungs vorgehen. Dabei knallen »versehentlich« ein paar Sporttaschen an Benjies Kopf. Er tut so, als würde er es nicht bemerken.
Wir sind die Letzten. Als wir ausgestiegen sind, steht Codys Clique am Straßenrand und raucht.
»Sehen wir uns beim Mittagessen?«, fragt Benjie auf dem Weg zum Schuleingang.
»Klar, kann sein.« Super, noch ein Problem: Entweder ich enttäusche ihn oder ich gehöre schon gleich am ersten Tag zu den Losern. Tue ich ja sowieso.
Der Vormittag verschwimmt in einem Nebel aus Einweisungen im Sekretariat, einer Führung durch die Schule und den ersten beiden Unterrichtsstunden. An der Schule sind viel mehr Leute, als ich gedacht hatte: Wolf Hollow mag ja ein kleines Nest sein, aber die Schule ist für den ganzen Kreis, deshalb steht sie auch auf der anderen Seite der Brücke.
Mittags gehe ich in die Cafeteria und konzentriere mich so auf meine Infoblätter, dass ich Benjie locker übersehen kann, der mich zu seinem Tisch winkt. Die Typen, mit denen er da sitzt, riechen bestimmt genauso, wie sie aussehen. Ich setze mich in eine Ecke, mit dem Rücken zu allen anderen, und nehme mein Sandwich und meine Cola aus dem Rucksack.
In der Cafeteria ist es ziemlich laut. Stühle quietschen über die Fliesen. Aus dem Lautsprecher schallen Ansagen, über die alle hinwegbrüllen. Und irgendwo lacht jemand so schrill, als hätte er Helium eingeatmet. Wie lange muss ich diese Scheiße aushalten, bevor Mom und ich wieder umziehen?
Plötzlich bin ich von Codys Clique umzingelt. Er und ein Kumpel pflanzen sich auf die Stühle rechts und links von mir und glotzen mich herausfordernd an. Ich glotze zurück. Nicht besonders lang, aber lang genug, um ihnen zu zeigen, dass ich keine Angst habe, was natürlich nicht stimmt – und das wissen sie auch.
»Also, Cam«, sagt Cody. »Heißt du so, Cam?«
Cameron. »Klar.«
»Na dann, Cam, warum bist du nicht bei deinem Kumpel Schweinchen?«
Keine Ahnung. Warum bist du nicht bei deiner Mutter, Cody?
»Warum sollte ich?«, sage ich.
Codys Freunde kichern.
»Der stinkt, stimmt’s?«, tönt Cody.
»Woher soll ich das wissen?«
»Du hast neben ihm gesessen.«
»Er hat neben mir gesessen.«
»Egal. Vielleicht riechst du Gestank ja gar nicht? Kann das sein? Schließlich wohnst du ja auf Sinclairs Schrottplatz, oder, Cam?«
Ich zwinge mich, nicht zu zittern. »Warum machst du das?«
»Was denn?«
»Ja, was denn?«, echot der Typ rechts von mir.
»Das weißt du genau.«
Cody legt seinen Arm um meine Schulter. »Du bist neu. Wir wollen dich kennenlernen, das ist alles. Ich bin Cody. Das hier sind Brandon, Mark, Stu, Dave. Wir wollen dir nur zeigen, wer wir sind und was Sache ist.«
»Schön«, sage ich und nicke, als würde das einen Sinn ergeben.
»Also, Cam«, sagt Cody, ganz leise, »was wir von dir wissen wollen … hörst du die Hunde in der Nacht?«
»Was für Hunde?«
»Na, die Hunde.«
»Keine Ahnung.« Ich schlucke. »Erklär’s mir.«
»Was? Hast du Angst, Cam?«
Seine Kumpels lachen, aber nicht so, als wäre irgendwas lustig.
»Nein«, lüge ich. »Wovor soll ich denn Angst haben?«
Cody presst mich kurz an sich. »Du wohnst auf Sinclairs Schrottplatz. Du wirst das schon rausfinden.« Er steht auf und latscht aus der Cafeteria. Seine Kumpels folgen ihm, lachen und bellen.
Alle Leute starren mich an. Finden die das auch zum Lachen? Ich schmeiße meinen Abfall in den Mülleimer, schließe mich auf dem Klo am Ende des Ganges ein und stelle die Füße auf den Klodeckel, sodass mich von außen keiner sieht.
Cody. Seine Clique. Mir ist schlecht. Aber mal ganz abgesehen davon: Was hat das mit Sinclair und den Hunden zu bedeuten?
Nichts hat das zu bedeuten. Cody wollte mir bloß Angst einjagen, mir zeigen, wer der Boss ist. Typen wie der machen so was.
Trotzdem …
Mein Handy klingelt. Mom. »Hab ich dich beim Mittagessen erwischt?«
»Na ja. Fast.«
»Wie läuft dein erster Tag?«
»Okay. Hör mal, ich bin gerade auf dem Klo …«
Mom lacht. »Dann will ich dich nicht stören. Ich wollte dir nur sagen, dass ich vielleicht nicht da bin, wenn du nach Hause kommst. Ich bin mit Mr Armstrong verabredet.«
Was will sie denn bei Cowboystiefel? »Ziehen wir um?«
»Ach was, nicht doch. Ken will mir nur die Stadt zeigen, weiter nichts.«
»Ken?« Ich verdrehe die Augen. »Ist der jetzt dein Freund oder was?«
»Um Himmels willen, Cameron, er ist einfach hilfsbereit. Wenn man wissen will, wo eine Stelle frei wird und wann, braucht man Kontakte. Ich denke, ich bin gegen fünf zu Hause.«
Nach der Schule ist Moms Auto tatsächlich nicht da. Ich gehe ins Haus und will erst fernsehen, aber dann habe ich eine bessere Idee: Solange Mom nicht da ist, kann ich in Ruhe herumschnüffeln. In unserem letzten Haus habe ich Moms Zimmer durchsucht, weil ich dachte, sie hätte vielleicht eine Waffe, wegen Dad und so, aber nein, alles nur langweiliges Zeug, abgesehen von den Tabletten. Also mache ich mich jetzt lieber an die Kisten im Keller. Den habe ich ja schon auf Psychos und Mutanten gecheckt, warum also nicht. Lange wird das Zeug nicht mehr dableiben und vielleicht finde ich ja was Schönes.
Ich schlüpfe die Treppe runter ins Schattenland. Die Luft ist immer noch kühl. Die Spinnweben sind tropfnass. Wenn ich in die Stille lausche, kommen mir bestimmt komische Gedanken, also mache ich mich gleich an die Arbeit. Als Erstes gucke ich in die Kisten mit den Büchern. Nur Liebesromane und Bauernkalender.
Dann die Kisten mit den Klamotten. Hosen und lange Unterhosen sind darin, ein paar Babysachen – vermutlich von einem Jungen, denn sie sind alle hellblau – und jede Menge Wollpullover mit braunen Reiskörnern drauf. Nein, Moment mal. Das ist kein brauner Reis, das ist Mäusekacke. Ich wische mir die Hände an meinen Jeans ab – und stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich wirklich in ein Mäusenest gefasst hätte.
Als Nächstes nehme ich mir die Spielzeugtruhe hinter der Heizung vor. Da finde ich noch mehr Jungssachen – einen ramponierten Hockey-Puck und einen abgegriffenen Basketball. Dazu ein Jo-Jo, einen Gummiball, der mit einem elastischen Band an einem Schläger befestigt ist, einen kleinen Spiegel, ein Vergrößerungsglas und ein paar Murmeln.
Ich wische den Staub vom Vergrößerungsglas und halte es vor meine Hand. Also hat hier ein Kind gelebt, denke ich, während ich meine Poren betrachte. Warum hat die Familie die Sachen nicht mitgenommen, als der Hof verkauft wurde? Ich überlege, was wohl aus dem Jungen geworden sein mag. Der wäre jetzt so alt wie Grandpa. Abgefahren.
»Was machst du denn hier?«
Ich fahre herum. Unter die Rohre geduckt steht ein alter Mann und glotzt mich an. Er ist dürr, aus der Nase und den Ohren wachsen ihm Haare.