Umschlag

Bernd Flessner, 1957 in Göttingen geboren, studierte in Erlangen Germanistik, Medienwissenschaft und Geschichte. Heute arbeitet er an der Uni Erlangen als Zukunftsforscher, aber auch als Wissenschaftsjournalist und Autor. Er hat zahlreiche Bücher unterschiedlicher Genres bei verschiedenen Verlagen von Emons bis Suhrkamp veröffentlicht.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: dioxin/photocase.de
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-211-3
Originalausgabe

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1

Moos, Blätter, Steine, Zweige.

Eine Pfütze.

Ein Felsen.

Ein gewagter Sprung.

Er ließ sich auf den Waldboden fallen, rollte sich zur Seite und kroch unter die Wedel eines Adlerfarns.

Das Blut hämmerte in seinen Schläfen; er keuchte so heftig, dass er kurz die Luft anhalten musste, um in den Wald hineinhorchen zu können.

Die Rufe waren leiser geworden.

Vermutete er.

Hoffte er.

Ein sonderbar kaltes Echo verfing sich zwischen Stämmen und Felsen.

Peter Wittmann konnte weder die Entfernung der Rufer ausmachen noch die Richtung bestimmen, aus der sie kamen.

Irgendwo knackte es oder brach ein morscher Ast.

Irgendwo schrie ein aufgescheuchter Vogel.

Er verkroch sich noch tiefer zwischen den gefiederten Blättern der Farne, die zwischen den mächtigen Felsblöcken wuchsen. Hinter einem unsichtbaren Horizont gab die Sonne bereits den Tag auf. Das könnte seine Chancen verbessern.

Der Waldboden stank faulig. Jedenfalls kam es ihm so vor. Oder war es der Farn? Noch immer keuchte er, pumpte Luft in seine Lungen, die schnelle Waldläufe nicht gewohnt waren. Schweiß rann aus seinen Haaren, tropfte auf das ohnehin nasse Moos vor seinen Füßen.

Wieder hallte das Echo eines menschlichen Lautes durch den Wald.

Wittmann erhob sich langsam aus seinem grünen Versteck und lauschte angestrengt.

Sie waren wieder näher gekommen.

Er sah sich um. Die Farnwedel, unter denen er kauerte, waren ihm nicht sicher genug. Wie war er bloß auf die Idee gekommen, sich zwischen diesen Blättergerippen zu verkriechen? Nein, er durfte hier nicht ausharren, er musste weg, musste raus aus diesem feuchten, stinkenden Labyrinth, musste zu seinem Wagen. Wenn er bloß sein Smartphone nicht verloren hätte.

Die Rufe wurden lauter. Sie waren ihm auf der Spur. Er hatte keine Ahnung, wie sie das geschafft hatten. Wahrscheinlich hatten sie einfach nur Glück gehabt.

Wittmann sprang auf, sah sich um und rannte los. Weit kam er nicht, denn das nasse Moos auf einem der Steine verweigerte der Sohle seines rechten Schuhs festen Halt. Wie ein Pfeil schoss sein Fuß in die Luft und raubte ihm das Gleichgewicht. Als er auf dem Stein aufschlug, stieß er einen kurzen Schrei aus. Auch sein linkes Knie schrie auf, doch diesen Schrei konnte nur er hören. Er holte ein paarmal tief Luft und zwang seinen Körper, sich vom Boden zu erheben. Nicht nur sein Knie wehrte sich, auch sein rechtes Handgelenk leistete Widerstand. Ein weiterer kurzer Schrei entfuhr ihm, als er den Schmerz spürte. Aber er schaffte es, sich wieder aufzurichten und das lädierte Knie zu bewegen. Nach wenigen qualvollen Schritten hatte er das gefingerte Grün verlassen und einen schmalen Pfad erreicht, der durch die Türme führte, die von der Natur in unzähligen Jahrtausenden errichtet worden waren. Wie riesige Baumkuchen sahen diese sonderbaren Felsformationen aus. Geologen machten für diese skurrilen Formen komplizierte Erosionsprozesse verantwortlich, die sie Wollsack- oder Matratzenverwitterung getauft hatten. Doch das war ihm in diesem Augenblick scheißegal. Er wollte nur weg.

Trotz des schmerzenden Knies und des Dämmerlichts kam er auf dem schmalen Pfad gut voran. Zwei- oder dreimal hatte er ihn schon als argloser Wanderer besucht, wenn auch vor Jahren. Wirklich ortskundig war er also nicht. Dennoch wuchs seine Hoffnung. Bis zum Auto müsste er es schaffen, bevor die Nacht sich ihm ernsthaft in den Weg stellte.

Das Echo gab nicht auf, raste mit Schallgeschwindigkeit durch den Wald und kroch in seine Ohren. Wenn er sich nicht täuschte, hatte sich der Abstand wieder etwas vergrößert.

Wittmann intensivierte seinen Kampf, verlangsamte aber seine Schritte gleich wieder. Sein Knie lehnte ein schnelleres Tempo vehement ab.

Links neben ihm spielte ein Bach mit seinem Bett, gluckste und plätscherte ab und zu. Und er verschlang seine Schritte, indem er sie übertönte. Ein kleiner Vorteil.

Unvermittelt änderte der Pfad seine Richtung und stieg auch noch einen Hügel hinauf, auf dem rechts einer der steinernen Wollsackkolosse thronte, den die Erosion vergessen hatte.

Der Aufstieg fiel ihm so schwer, dass er mehr kroch, als aufrecht zu gehen. Immer wieder musste er kurze Pausen einlegen, in denen seine Hände das Knie bearbeiteten, als wollten sie ihm gut zureden. Der Schmerz aber ließ sich nicht so leicht korrumpieren. Eine Träne kullerte über seine Wange.

Irgendwann erreichte er dennoch den Gipfel, hinter dem der Wald lichter wurde. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu seinem Auto, für das er ein gutes Versteck gewählt hatte. Außerdem hatte er nach seiner Ankunft einen Bogen geschlagen und sich aus einer anderen Richtung genähert. Diese billige Karl-May-Idee, die ihm spontan in den Sinn gekommen war, machte sich jetzt bezahlt. Ihm den Weg abzuschneiden war nicht möglich. Dazu hätten sie ihn kennen müssen.

Ein fremder, unbekannter Laut erreichte ihn. Ob er menschlicher oder tierischer Natur war, konnte er nicht sagen. Es war eine Art verzerrtes Jaulen, das ihn dazu nötigte, das Tempo wieder zu erhöhen. Doch nach den ersten Schritten wurde ihm bewusst, dass der Abstieg seinem Knie ebenso zusetzte wie der vorangegangene Aufstieg. Aus dem erhofften Tempo wurde nichts. Einen weiteren Sturz konnte er nicht riskieren.

Am Fuß des Hügels erwartete ihn der vertraute Pfad, der jetzt allerdings durch das Unterholz mäanderte wie ein unbegradigter Fluss. Ein Schwarm Mücken schloss sich ihm an, während sich die Nacht hier und da bereits mit den Schatten der Felstürme vereinte. Im fahlen, sonderbar gelben Licht schienen die steinernen Ungetüme zum Leben zu erwachen. Aber dieser Eindruck war natürlich der menschlichen Phantasie zu verdanken.

Der Pfad büßte sein Gefälle endgültig ein, Wittmann unternahm einen neuen Versuch, seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Diesmal mit Erfolg. So aggressiv der Schmerz auch war, er hatte sich mit ihm arrangiert. Fast wie ein Jogger kam er nun voran.

Aber seine Verfolger waren zäh und unerbittlich. Der Laut, den er diesmal hörte, war definitiv ein menschlicher und nicht weit hinter ihm ausgestoßen worden. Vielleicht sogar auf dem Gipfel des Hügels, der ihn gerade so viel Kraft gekostet hatte. Wittmann beschleunigte ein weiteres Mal, ohne jede Rücksicht auf sein Knie. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, suchte einen passenden Rhythmus, zwang sich, ruhig zu atmen. Der Pfad kroch vor ihm durch das Labyrinth, änderte plötzlich die Richtung, nur um gleich darauf wieder zur alten Route zurückzukehren. Sein Knie rebellierte. Hinter dem nächsten großen Felsenmonster musste sein Auto stehen. Seine rechte Hand glitt in seine Hosentasche und ertastete den Schlüssel. Den hatte er Gott sei Dank nicht verloren. Erleichtert schloss er für einen kurzen Moment die Augen und spielte seine nächsten Schritte durch. Auf keinen Fall durfte er nach Hause fahren. Er musste umgehend und direkt 

Der nasse Zweig eines Nadelbaums klatschte wütend in sein Gesicht und seine Gedanken. Der Boden wurde mit jedem Schritt weicher und gab schmatzende Geräusche von sich. Er hatte den Pfad verloren.

Wittmann blieb stehen und sah sich um. Aus den Bäumen und Felsen waren schwarze abstrakte Plastiken eines irren Bildhauers geworden, aus der Abendsonne ein Fächer letzter Strahlen, die wie Finger nach ihm griffen. Den Pfad aber zeigten sie ihm nicht. Nach kurzer Überlegung glaubte er, den Weg zurück zu kennen. Der Boden schmatzte noch immer. Sonst war nichts zu hören.

Abrupt hielt er wieder inne. Die Laute, die Rufe. Sie waren verstummt. Der Wald stand schwarz und schwieg. Er wartete mit spitzen Ohren, bevor er den nächsten Schritt machte, blieb aber gleich wieder stehen, denn das Schmatzen hallte verräterisch durch das Zwielicht. Abwarten kam jedoch nicht in Frage. Er musste sein Auto finden, solange dies noch möglich war. Nach einigen Metern war ihm klar, dass er den Pfad verpasst hatte. Der Boden gab noch mehr nach. Mit zusammengekniffenen Augen lotete er die Schattenwelt vor sich aus, suchte fieberhaft nach einem Anhaltspunkt, nach einem Ausweg. Wo hatte sich die Sonne verabschiedet? Wo war Westen, wo Osten? Wittmann machte eine langsame Drehung und stapfte weiter über einen Boden, dem er zunehmend misstraute. Längst hatte er nasse Füße. Aufsteigender Modergeruch ließ ihn erneut innehalten.

Noch immer schwieg der Wald. Als hätte er jegliches Leben ausgehaucht. Als hätte Wittmann eine andere Welt betreten.

Er wandte sich von dem Modergeruch ab und änderte seinen Kurs. Sein Knie hatte er vergessen. Der Schmerz war noch da, erreichte ihn jedoch nicht mehr. Diesmal hatte er Glück und schon nach wenigen Schritten wieder festen Boden unter den Füßen. Von rechts kam eines der steinernen Monster auf ihn zu. Da es die Dunkelheit des Himmels überbot, konnte Wittmann dessen Form nicht nur erkennen, sondern auch wiedererkennen. Noch gut hundert Meter und er hatte den Parkplatz erreicht. Plötzlich schob sich auch wieder der Pfad unter seine Füße, verblasst, ergraut, verdunkelt, aber vorhanden. Tastend bewegte er sich auf den schwarzen Granit zu und stellte sich der kleinen Anhöhe, die er noch überwinden musste. Sein Knie nutzte die Gelegenheit, sich wieder in Erinnerung zu rufen, schaffte es aber nicht, ihn aufzuhalten. Schon hatte er den Gipfel erreicht, legte keine Pause ein, sondern machte sich vorsichtig an den Abstieg.

Ein gespenstischer Schimmer schwebte etwa hundert Meter vor ihm in der unvollendeten Dunkelheit. Doch Wittmann wusste, dass nichts Übernatürliches im Spiel war. Irgendein Licht, das sich durch die Dunkelheit nicht hatte irritieren lassen, hatte die Scheiben oder Lampen erreicht. Jedenfalls hatte er sein Auto gefunden, worüber er sich nach seiner Odyssee durch die urzeitliche Landschaft zu wundern begann. Schließlich war er mehr gestürzt, gestolpert und gehumpelt als zielsicher im Laufschritt geflüchtet. Egal, er war ihnen dennoch entkommen, das Glück war auf seiner Seite gewesen.

Ein letztes Mal befragten seine Ohren den Wald, erhielten aber keine Antwort.

Das Gefälle erwies sich als harmlos, nach wenigen Minuten wurde der Boden wieder plan. Fast gelassen marschierte er zu seinem Auto, das sich langsam schemenhaft in Szene setzte. Ein zwanzig Jahre alter Golf, den sein Vater mehrfach herablassend als Gehhilfe bezeichnet hatte. Dabei hatte ihn der Wagen noch nie im Stich gelassen.

Wittmann zog den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss.

Das war das Letzte, was er sah. Denn mit einem Schlag, von kräftiger Hand und gezielt geführt, wurde die Dunkelheit für ihn absolut und endgültig.

2

Torsten Zitterbart sah zum wiederholten Mal auf die große Studiouhr, die rechts neben den Schminkspiegeln an der Wand hing und erbarmungslos Ereignisse schuf und verhinderte.

Acht nach acht.

»Dieser Mistkerl!«

Da der Beschimpfte nicht anwesend war, adressierte er seine Wut an den Mann, der ihm gegenüber im Spiegel zu sehen war und ihm einen finsteren Blick zuwarf.

»Dass der nie pünktlich sein kann! Ich wette, der hat die neuen Texte nicht gelernt.«

»Aber geschickt hast du sie ihm doch?«, fragte Reni Ehrl, seine Freundin, die schräg hinter ihm mutlos in der Garderobe auf einem Barhocker saß und ihre Haare mit den Händen knetete. Wie ihr Freund hatte auch sie innerlich längst aufgegeben.

»Natürlich. Und das nicht nur per Mail, sondern sogar als Ausdruck. Den habe ich ihm gestern noch höchstpersönlich in den Briefkasten gestopft. Du kennst ihn ja. Wenn der seinen Blues hat, ruft er seine Mails nicht ab.«

»Versuch’s doch noch einmal. Ein letztes Mal.«

Zitterbart zog widerwillig sein Smartphone vom Schminktisch und tippte mit dem Finger auf den Namen, auf den er an diesem Abend schon mehrmals getippt hatte.

»Sinnlos. Die Mobilbox.«

In diesem Augenblick erschien ein nervöser Mann um die dreißig in der Tür, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und bestand auf einem pünktlichen Beginn der Veranstaltung. Karl Rohrmöller, Inspizient und Moderator in einer Person.

»Also was ist jetzt, Torsten?«

»Was soll schon sein? Peter lässt mich hängen. Ist ja nicht das erste Mal. Aber keine Panik. Ich hab noch das alte Soloprogramm. Da baue ich einfach ein paar aktuelle Nummern ein.«

»Okay. Was soll ich sagen?«

»Dass er krank ist«, schnaufte Zitterbart und stand langsam auf. »Er ist krank. Das reicht doch und ist in letzter Konsequenz noch nicht einmal gelogen. Wenn Peter seinen Blues hat, ist er krank.«

Der Mann nickte, ließ die Tür offen stehen und ging zur Bühne. Zitterbart folgte ihm ohne große Begeisterung. Seine Freundin rollte mit den Augen und schlurfte hinterher, blieb aber in gebührendem Abstand am Bühnenrand zurück.

Der Saal des Amberger Congress Centrums war zu etwa zwei Dritteln gefüllt. Damit konnte der Kabarettist an diesem sommerlichen Herbsttag eigentlich zufrieden sein. Die lange Unentschlossenen und noch Kartenlosen hatten sich wohl doch in letzter Minute für den Biergarten entschieden. Durchaus verständlich. Genau dort würde er jetzt auch gerne sitzen. In der Nähe eines warmen Heizpilzes.

Zitterbart atmete tief durch. Es fiel ihm schwer, sein Auftrittsgesicht abzurufen, aber es gelang ihm. In letzter Sekunde. Aber zunächst trat Karl ans Mikrofon und begrüßte das Publikum, bevor er die schlechte Nachricht überbrachte.

»Leider ist Peter Wittmann plötzlich erkrankt, sodass wir heute nicht das Duo Zitterbart & Wittmann mit seinem aktuellen Programm ›Bayerns Resterampe‹ erleben werden. Wünschen wir Peter Wittmann von hier aus gute Besserung und freuen uns auf ein ebenso aktuelles Soloprogramm von Torsten Zitterbart!«

Verhaltener Begrüßungsapplaus erreichte die Bühne, den Zitterbart zur Staffelübergabe nutzte. Ohne ein weiteres Wort über seinen Partner zu verlieren, wählte er die jüngsten Äußerungen des Ministerpräsidenten über einen möglichen Bayxit als Einstieg.

»Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, aber die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung für das Königreich dauert nun einmal mehrere Stunden. Und ich bin ja Niedersachse, wie Sie wissen. Da dauert die Prozedur noch länger. Schon allein der Wissenstest zur bayerischen Leitkultur: Weißwurstanstich, Straußzitate, Starkbiertaufe, Jodeldiplom …«

Zitterbart brauchte diesmal fast eine halbe Stunde, bis er sich warmgeredet hatte und die geschriebenen Texte verließ, um zu improvisieren. Das war seine Stärke. Und das konnte er am besten, wenn er allein auf der Bühne war. Auf das Duoprogramm hatte er sich nur eingelassen, weil Wittmann ein idealer Stichwortgeber war. An guten Tagen spielten sie sich die Bälle zu wie Tennisprofis, den Becker-Hecht inklusive.

Schon oft war Zitterbart gefragt worden, wie er zu seinem Künstlernamen gelangt sei. Dabei war Zitterbart sein bürgerlicher Name, der wiederum in seiner Heimatstadt Göttingen keine Seltenheit war. Dort war er nach einem abgebrochenen Soziologiestudium, einer Karriere als Taxifahrer, Möbelpacker, Werbetexter und Schauspieler – ein Theaterregisseur hatte ihn auf der Straße für eines seiner avantgardistischen Projekte »entdeckt« – als Mittdreißiger auf den Kabarettisten in sich gestoßen. Das heißt, eigentlich war nicht er es gewesen, sondern jener Regisseur, der zum Freund geworden war. Er hatte auch das erste Programm mit ihm einstudiert und es auf die Bühne gebracht. Dabei war es geblieben.

Nach einer langen Zeit der Suche und des Taumelns war er plötzlich an einem Ziel angekommen, das er nie ins Auge gefasst hatte. Nicht er hatte also dieses Ziel gefunden, sondern das Ziel ihn. Sein Freund hatte ihm lapidar einen Satz des griechischen Dichters Pindar als Erklärung angeboten: »Werde, der du bist.« Ob der Grieche damit recht hatte, wusste Zitterbart nicht, wohl aber, dass seine Leidenschaft bislang ausgereicht hatte, um seit nunmehr acht Jahren erfolgreich auf der Kleinkunstbühne zu stehen. Noch nie hatte er es in einem Beruf so lange ausgehalten. Und es sah nicht so aus, als würde sich das in naher Zukunft ändern.

Nach Regensburg hatte ihn dann die Museumspädagogin Renate Ehrl gelockt, die er Reni nannte und die ihre Beziehung einmal als schwebend bezeichnet hatte. Eine Analyse, die ihn schwer getroffen hatte, denn für ihn war Reni ein Volltreffer. Sie aber rieb sich an seinem Beruf, der so ganz anders war als der ihre. So unstet, so unregelmäßig, so unterwegs, so unsicher.

»… unser Ministerpräsident leider kein Wittelsbacher ist. Bayern bleibt also – wohl oder übel – eine Wahlmonarchie.«

Applaus brandete auf, kein überschwänglicher, aber ein durchaus begeisterter. Es war ihm gelungen, den Abend und somit auch seinen Ruf zu retten. Mit Sicherheit hatten viele Besucher das Duo erleben wollen und seinen Partner vermisst. Aber er hatte den Ausfall aufgefangen, hatte die Löcher im Programm improvisatorisch gestopft. Er glaubte, die Kraft, die er dafür hatte aufbringen müssen, auch körperlich zu spüren. Seine Beine, sein Rücken, sein Nacken, sogar seine Arme taten ihm weh.

Nach einer letzten Verbeugung griff er zum Handtuch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm einen Schluck aus dem Plastikbecher, den ihm irgendjemand hingestellt hatte. Das Wasser war warm und schmeckte abgestanden.

Der Vorhang schloss sich, Reni kam auf die Bühne gerannt und nahm ihn in die Arme, erdrückte ihn fast.

»Das war der Wahnsinn, Torsten! Wie machst du das nur? Als hättest du schnell einen anderen Text gelernt!«

Küsse trafen ihn, das längst feuchte Handtuch surfte durch sein Gesicht. Ihm war nach anderem zumute, aber daran trug Reni keine Schuld. Also rang er seine Emotionen nieder, lächelte sie an und ließ alles über sich ergehen. Außer einem erneuten Schluck aus dem Becher.

»Die werden hier doch wohl ein kaltes Bier haben.«

Reni hob kurz ihre Achseln. Der Inspizient, der sich am Mikrofon zu schaffen machte, schüttelte den Kopf.

»Sind alle schon weg. Und der Automat ist kaputt.«

»Ein rundum gelungener Abend«, sinnierte Zitterbart. »Es hätte gar nicht besser laufen können. Ich bin schon gespannt auf morgen.«

»Ach du dicker Kürbis!«, hauchte seine Freundin und ließ endlich das klebrige Handtuch sinken. »Die Fernsehaufzeichnung!«

Zitterbart sah sie mit ernster, nachdenklicher Miene an.

»Wenn er da nicht pünktlich auf der Matte steht, ist endgültig Schluss. Dann mach ich den Peter platt. Ich leg ihn um, ich schwör’s dir. Komm, lass uns verschwinden.«

Nach einem kurzen Zwischenstopp in der Garderobe und ein paar Worten mit dem Veranstalter und einem zu spät gekommenen Journalisten marschierten sie zu seinem Wagen, einem dunkelblauen Volvo 240 Kombi mit über dreihundertzwanzigtausend Kilometern auf dem Tacho, der oft schon beim ersten Versuch ansprang. Jedoch nicht an diesem Abend.

»Wie ich schon sagte: Es hätte gar nicht besser laufen können«, raunte Zitterbart und quälte den Anlasser, bis der Motor endlich nachgab und willig aufheulte.

»Du willst nicht nach Hause, stimmt’s?«, fragte Reni, nachdem sie Schwandorf passiert und die A 93 erreicht hatten.

»Natürlich nicht«, antwortete Zitterbart. »Ich muss zu ihm.«

»Aber doch nicht jetzt. Es ist doch schon viel zu spät, und du stehst unter Strom. Komm, lass uns nach Hause fahren. Schlaf eine Nacht drüber und geh morgen zu ihm. Das ist besser. Glaub mir.«

Er glaubte ihr nicht, was ihm seine Freundin auch ansah. Eine Antwort war also nicht nötig. Sie wusste, dass er nicht von seinem Vorhaben abzubringen war.

»Dann setz mich aber vorher bei mir ab.«

Zitterbart nickte, ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen, über die hier und da herbstliche Nebelschwaden trieben.

Renate Ehrl fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare, die schon oft und zu Recht als Mähne bezeichnet worden waren. Für sie war der Abend gelaufen. Wieder einmal. Und wieder einmal lag es am Beruf ihres Freundes, um den sich fast alles drehte. Ihre Arbeit als Museumspädagogin war ihm kaum ein Gespräch wert. Wie oft hatte sie ihn eingeladen, wie oft war er nicht erschienen? Wegen eines Interviews, einer Signierstunde oder eines Treffens mit Kollegen.

Zitterbart hielt in der Holzländestraße, die an der Donau entlanglief. Bis zum Keplerhaus und zur berühmten Steinernen Brücke war es nicht weit. Reni stieg aus, hinterließ ihm noch einen Kuss und verschwand in einer der Gassen der Altstadt. Hinter ihr gab jemand Gas, dem die Wut in den Knochen steckte.

Peter Wittmann wohnte ebenfalls in der Altstadt. Allerdings musste Zitterbart mehrere enge Kurven meistern, bevor er mit seinem langen Kombi einen Parkplatz in der Nähe fand. Den Rest ging er zu Fuß. Die Luft war kalt und passte zum spätsommerlichen Hochdruckeinfluss, der tagsüber die Temperaturen auf über zwanzig Grad ansteigen ließ. Nachts aber fiel die Kälte aus dem sternenklaren Himmel, den auch Johannes Kepler schon bewundert hatte.

Zitterbart schloss seinen Trenchcoat, denn die Kälte kroch schneller als gedacht in sein Hemd. Niemand kam ihm entgegen. Regensburg schien ausgestorben. Nachdem er zwei jahrhundertealte Hausecken passiert hatte, stand er vor der Haustür eines schmalen Fachwerkhauses. Einige herbstlich verfärbte Weinblätter hatten es sich davor bequem gemacht und hielten ihm stolz ihre blutroten Adern entgegen. Er schloss daraus, dass sein Kollege entweder nicht zu Hause war oder seine Wohnung länger nicht verlassen hatte, wobei er auf Letzteres tippte. Wittmann hatte sich wohl wieder einmal in sein inneres Schneckenhaus zurückgezogen, um sich seinem Weltschmerz hinzugeben.

Gerade wollte Zitterbart seinen rechten Zeigefinger lange, kraftvoll und unnachgiebig auf den Klingelknopf drücken, als sein Blick auf das Hufeisen fiel. Ein ganz gewöhnliches Hufeisen, dem auch kein Alter anzusehen war. Es war sauber und rostfrei. Jemand hatte es mit einem Hufnagel an die grüne Holztür geschlagen. Daher war es ihm auch nicht gleich aufgefallen, denn es hatte entfernt Ähnlichkeit mit einem Türklopfer. Einen solchen hatte die Tür aber nie besessen.

Zitterbart kehrte zum Klingelknopf zurück und kannte keine Gnade. Minutenlang ließ er den kleinen Klöppel arbeiten, der draußen zu hören war, wenn auch leise. Als sich keine Reaktion einstellte, gab er auf, ohne dass seine Wut verraucht war. Er unternahm einen letzten Versuch mit seinem Smartphone, der jedoch keinen Erfolg zeigte. Noch immer lief die Mobilbox.

»Feigling!«, schimpfte er und wechselte die Tür.

Trotz der Uhrzeit drückte er auf den Klingelknopf, jedoch weitaus zurückhaltender als beim Nachbarhaus. Er kannte den Bewohner flüchtig, wie Zitterbart ein Zugereister – ein Preuße, wie noch immer und immer wieder in Bayern zu hören war –, jedoch einer aus Cornwall. Warum Mr. Tregennis vor langer Zeit nach Regensburg gekommen war, wusste er nicht. Es war ihm in dieser Nacht auch egal. Nach der zweiten, nun doch etwas ungeduldigen Betätigung des Klingelknopfes wurde es hell hinter der vergilbten Gardine des kleinen Türfensters.

»Wer ist da?«, fragte eine heisere, aber laute Stimme mit deutlichem Akzent.

»Torsten Zitterbart. Sie kennen mich. Ich bin der Partner von Peter Wittmann.«

Hinter der alten Tür, die einen Anstrich vertragen konnte, tat sich etwas. Türketten und Riegel wurden entfernt, ein Schloss war zu hören. Langsam wurde die Tür geöffnet, allerdings nur einen Spaltbreit. Zwischen Türblatt und Rahmen erschien das fahle, grauhaarige, unrasierte, kantige Gesicht eines Mannes um die sechzig.

»Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«

»Das weiß ich«, antwortete Zitterbart mit gespielter Freundlichkeit. »Aber es ist wirklich wichtig, Mr. Tregennis. Ich muss dringend mit Peter Wittmann sprechen. Wissen Sie zufällig, ob er zu Hause ist?«

Der Mann aus Cornwall vergrößerte den Türspalt und stülpte nachdenklich seine Unterlippe vor.

»Heute war er nicht da. Ich habe ihn nicht gehört. Sonst höre ich ihn immer. Er hat gute Boxen. Aber ein schlechte Musikgeschmack.«

»Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

Wieder kam die Unterlippe zum Einsatz, die an mehreren Stellen spröde und aufgesprungen war.

»Gesehen habe ich ihn schon länger nicht. Aber gehört. Vorgestern hat er Musik gespielt. Ja, vorgestern. Deutsche Folkmusic. Terrible. Bloodcurdling. Brenda Wootton sollte er hören. Nicht diese traurige Krautfolk.«

»Können Sie sich noch an die Uhrzeit erinnern?«

»Mittag. Es war um die Mittagszeit. Er hat mit die Tür geschlagen. Dann habe ich ihn nicht mehr gehört.«

»Danke, Mr. Tregennis. Und entschuldigen Sie bitte die späte Störung.«

»Ist okay. Gute Nacht.«

Enttäuscht schlenderte Zitterbart zurück zu seinem Wagen. Er hatte den Schlüssel schon in der Hand, als ihm Peters Auto einfiel. Ein VW Golf. Mindestens so alt wie sein Volvo. Und für sein Auto hatte Peter einen reservierten Anwohnerparkplatz. Zitterbart machte auf der Stelle kehrt und ging noch einmal zurück zu dem schmalen Fachwerkhaus. Eine Hausecke weiter parkte der Golf, dessen grüner Lack im Laufe der Jahre stumpf geworden war. Er war abgeschlossen, was keine Selbstverständlichkeit war. In der Regel vergaß sein Partner diese Kleinigkeit. Aber der Wagen war da, Peter konnte also nicht weit sein. Wahrscheinlich saß er in einer der Kneipen der Altstadt, die zu zahlreich waren, als dass er sie jetzt hätte absuchen können.

Zitterbart trennte eine Seite aus seinem schwarzen Notizbuch und schrieb seinem Partner ein paar mahnende Sätze, die er hinter dem Scheibenwischer deponierte. Für den Fall, dass er seine Mobilbox nicht abhörte. Als Zitterbart sich über den Wagen beugte, stieg ihm ein ungewohnter, fauliger Geruch in die Nase, den er auf den Dreck zurückführte, der an den Reifen und Felgen klebte. Peter musste mit seinem Auto über eine feuchte Wiese oder einen Waldweg gefahren sein. In der Fahrertür war ein kleines Stück von einem Blatt eingeklemmt. Im fahlen Licht der Straßenlaterne glaubte Zitterbart, ein Farnblatt zu erkennen.

3

»Ich glaub es einfach nicht!«, schimpfte Zitterbart und legte sein Smartphone zurück auf den Schminktisch.

»Wenn ihm etwas passiert ist?«, fragte Lizzy Aumeier, die neben ihm von einer Maskenbildnerin fernsehtauglich geschminkt wurde.

»Dem ist nichts passiert! Noch nicht! Der ist bloß abgestürzt. Der kreist mal wieder um sich selbst. Du kennst ihn doch. Der hat sich irgendwo verkrochen und bemitleidet sich.«

»Und ich dachte, das ist vorbei«, vermutete seine Kollegin.

»Es ist auch vorbei«, konstatierte Zitterbart. »Ich halte das jedenfalls nicht mehr aus. Du kennst ja den Spruch: So kann ich nicht arbeiten! Er mag banal klingen, trifft es aber auf den Punkt. Ich kann mit Peter nicht mehr arbeiten. Basta!«

Aumeier nickte verständnisvoll, was der Maskenbildnerin gar nicht gefiel, die ihre Instrumente umgehend zurückzog und vorsichtig einen neuen Versuch riskierte, Farbe auf die Wangen zu bringen.

»Vielleicht könnten wir zwei …? Mit Otti hat es ja auch hingehauen.«

Zitterbart sah zur Seite und suchte Augenkontakt, der im Moment jedoch nicht möglich war.

»Ernsthaft?«

»Ich bin immer ernsthaft. Du kennst mich doch.«

»Lizzy, ich nehm dich beim Wort«, sagte Zitterbart, während ein Kamm durch seine spärlichen Haare fuhr. »Aumeier & Zitterbart. Das klingt doch schon verführerisch.«

»Moment! Verführerisch bin nur ich«, lächelte die Kabarettistin. »Immerhin bin ich eine Sexgöttin und du nur ein untergewichtiges kleines Nordlicht.«

»Zugegeben«, pflichtete Zitterbart ihr schmunzelnd bei. »Aber denk doch mal an die Möglichkeiten, die wir hätten.«

»Was hättet ihr denn so für Möglichkeiten? Eine Sexgöttin und ein schmächtiger Mann?«, mischte sich eine vertraute Stimme ein, die Bernd Regenauer gehörte, der gerade erst die Garderobe der Regensburger Brettlbühne betreten hatte, in der die Fernsehsendung »Kabarett aus der Oberpfalz« aufgezeichnet werden sollte.

»Mehr, als du dir jemals wirst vorstellen können«, antwortete Aumeier. »Aber Spaß beiseite: Der Peter ist verschollen.«

»Was meinst du mit verschollen?«, fragte der fränkische Kabarettist und stellte sich zwischen seine beiden Kollegen.

»Er ist gestern nicht nach Amberg gekommen. Und ich glaube nicht, dass er heute noch kommen wird«, erklärte Zitterbart. »Ich kann ihn seit Tagen nicht erreichen.«

»Dann hat’s ihn wieder mal erwischt«, meinte Regenauer. »Schwer erwischt.«

»Zu schwer«, sagte Zitterbart. »Mir reicht es. Ich steige aus. Das Duo ist Geschichte.«

»Gut. Wenn das so ist, dann steig doch bei mir ein. Ich wollte schon lange einmal –«

»Kommt gar nicht in die Tüte, Bernd«, maulte Aumeier. »Ladys first!«

»Ach, so ist das!«, grinste Regenauer. »Du hast natürlich gleich zugeschlagen. Klar, den konntest du dir nicht entgehen lassen. Klein und unterernährt, wie er ist.«

»Du sagst es«, sagte Aumeier. »Das ist der Vorteil, wenn man eine Sexgöttin ist.«

»Ich störe nur ungern«, sagte Petra Schneckenreiter, die Redaktionsleiterin, die für die TV-Aufzeichnung verantwortlich war, »aber wie sieht es jetzt mit Peter aus?«

»Schlecht«, antwortete Zitterbart. »Ich kann ihn nach wie vor nicht erreichen. Reni ist sogar noch einmal zu ihm nach Hause gefahren. Er ist nicht da oder macht nicht auf.«

»Dann ist die Entscheidung gefallen.«

»Ich könnte eine Nummer aus dem letzten Programm bringen«, schlug Zitterbart vor. »Das hat gestern in Amberg auch funktioniert.«

»Tut mir leid, aber das ist mir schon zu abgehangen. Du weißt genau, wie sehr wir auf Aktualität Wert legen, Torsten. Ich hatte es dir ja schon am Telefon gesagt. Außerdem haben wir einen Vertrag mit einem Duo geschlossen.«

»Ich weiß, aber ich könnte doch die Bayxit-Nummer aus diesem Programm machen oder einfach im–«

»Nein, kannst du nicht. Vor der Kamera wird nicht improvisiert. Redaktion und Regie brauchen einen Text«, erklärte die Redakteurin unmissverständlich. »Wir brauchen alles schwarz auf weiß.«

»Weil ihr Angst habt«, entgegnete Zitterbart.

»Wie bitte?«

»Angst, dass wir die wirklich relevanten Dinge auch mal beim Namen nennen könnten.«

»Das ist nicht fair, Torsten«, sagte Schneckenreiter. »Hier gibt es keine Zensur. Wir bewahren euch bloß ab und zu vor Schaden. Schließlich tragen wir ja auch Verantwortung gegenüber dem Publikum.«

»Und den Politikern.«

»Vergiss es«, konterte die Redakteurin. »Und das gilt auch für deinen Auftritt. Wir haben umdisponiert und Helmut Brunner als Ersatz engagiert. Der hatte spontan Zeit.«

»Den Zoigl?« Lizzy Aumeier drehte sich verwundert um. »Diesen drittklassigen Comedian? Das ist nicht dein Ernst!«

»Das Publikum liebt ihn«, widersprach Schneckenreiter mit einem überzeugten Grinsen.

»Wenn es ein Maß für Qualität gibt, dann ist es das Interesse des Publikums«, kommentierte Regenauer mit unüberhörbarer Ironie.

»Offenbar habe ich größeren Respekt vor dem Publikum als du«, entgegnete die Redakteurin. »So, und jetzt ist Schluss mit der Debatte. In dreißig Minuten will Edi mit den Proben beginnen. Servus, Torsten. Tut mir leid. Ich ruf dich an. Beim nächsten Mal bist du wieder dabei. Jetzt aber los. Wir müssen, Kinder.«

Nachdem sich die Garderobentür der Kleinkunstbühne wieder geschlossen hatte, sahen sich die drei Kollegen erstaunt an.

»Der Zoigl?«, fragte Regenauer schließlich. »Gehört habe ich schon von dem. Jedes dritte Wort von dem soll ›brunzen‹ sein. Meint sie den?«

»Genau das ist er. Abgestandener Fäkalhumor«, sagte Zitterbart. »Geschmacklos in jeder Hinsicht. Aber leider hat die liebe Petra recht. Ein bestimmtes Publikum liebt ihn.«

»Diarrhö kann auch ein Programm sein«, meinte Regenauer. »Und was bei Wahlprogrammen funktioniert, kann auch auf der Bühne klappen.«

»Ausgerechnet der Peter hat den Zoigl als Totengräber des Kabaretts bezeichnet«, sagte Zitterbart. »Und jetzt hilft er mit, ihn ins Fernsehen zu hieven.«

»Das wäre früher oder später sowieso passiert«, stellte Aumeier nüchtern fest. »Ich glaube, die Petra schielt schon länger auf den. Für die ist doch die Quote alles. Die nutzt nur die Gelegenheit.«

»Lass mal, der Peter kann nichts dafür«, sagte Regenauer. »Es stimmt schon, was die Lizzy sagt. Das war nur eine Frage der Zeit.«

»Ja, ja, ist schon okay. Aber den Peter, den knöpfe ich mir trotzdem vor. Irgendwann muss der ja aus seinem Loch gekrochen kommen«, sagte Zitterbart ärgerlich, räumte seinen Platz und verstaute sein schon stark ramponiertes Manuskript in einer großen Ledertasche.

Lizzy Aumeier schob die Hand der Maskenbildnerin zur Seite, stand auf und nahm Zitterbart in den Arm, der das Angebot erwiderte. Bernd Regenauer wollte sich anschließen, wurde jedoch durch die auffliegende Tür an seiner freundschaftlichen Abschiedsgeste gehindert.

»Hallo, Kollegen!«, tönte eine kräftige, helle Stimme. Sie gehörte einem großen Mann mit breiten Schultern, imposantem Brustkorb und tätowierten Armen, die aus einem knappen, schwarzen, mit einem Totenkopf bedruckten T-Shirt ragten. Helmut Brunner, Künstlername »der Zoigl«, war Anfang vierzig und dennoch ein Newcomer, der sich bislang mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten hatte. Sein schon fast kahler Kopf steckte in einem roten Tuch, seine schwarze Lederhose und sein Bauch wurden von roten Hosenträgern gehalten, sein Blick war der eines Eroberers. Ihm dicht auf den Fersen war eine um gut zehn Jahre jüngere blonde Frau, ebenfalls in schwarzem Outfit, ebenfalls mit komplett tätowierten Armen.

»Jetzt geh schon weiter!«, drängelte die Frau, die mehrere Taschen zu schleppen hatte.

»Nur die Ruhe! Ich muss doch erst die Kollegen begrüßen! Also, ich bin’s, der Zoigl!«

Er griff sich jede Hand, zog sie an sich heran, schüttelte sie, sah kurz in die Gesichter, lächelte die Maskenbildnerin an und okkupierte einen der beiden Stühle, indem er seine Lederjacke über die Lehne warf.

»Ich bin der Ersatz für die zwei, von denen nur einer gekommen ist. Das bist wohl du, oder?«

Zitterbart nickte distanziert.

»Wie hat der Genscher so schön gesagt? Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!«, grinste Brunner und klopfte ihm auf die Schulter. »Kleiner Scherz, Kollege, kleiner Scherz. Man sieht sich! Man sieht sich!«

»Bestimmt«, sagte Zitterbart und zwängte sich an der blonden Frau vorbei in den engen Gang, der zur Bühne führte. Dort drängten sich Kameraleute, Aufnahmeleiter und ein Regisseur, der mit dem Finger auf den Boden wies, wo Positionsmarken klebten, die ihm offenbar nicht gefielen.

»… aber der Zoigl kommt von rechts, er kommt von rechts und stellt sich auf diese Marke. Dann erst übernimmt ihn die Kamera drei. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen!«, kommandierte der Regisseur, ohne Zitterbart, der vor seinen Augen die kleine Bühne überquerte, eines Blickes zu würdigen. Auch die anderen Mitarbeiter des Senders ließen ihn unbehelligt passieren.

Zwei Türen später stand er im Freien vor dem Bühneneingang und fühlte sich noch stärker hintergangen und verraten als am Abend zuvor in Amberg.

»Der Peter kennt doch das Geschäft«, dachte er laut, während er zu seinem Wagen schlich. »Der weiß doch, wie schnell das geht. Jeder ist zu ersetzen, jeder ist austauschbar. Alles andere ist eine große romantische Illusion.«

Zitterbart fehlte trotz aller Wut der Elan, ein weiteres Mal das kleine Fachwerkhaus aufzusuchen. Die Aufkündigung der Partnerschaft hatte er innerlich längst vollzogen, es fehlte lediglich der entsprechende formale Akt. Der Schlusssatz. Der Schlussstrich. Zitterbart dachte zunächst an eine schriftliche Version auf Papier, dann an eine Mail oder SMS. Am Ende kehrte er zu einem persönlichen Gespräch zurück. Schließlich waren sie so etwas wie Freunde. Nein, sie waren richtige Freunde.

Also entschied er, noch ein Glas Wein trinken zu gehen, die Nacht abzuwarten und frisch und ausgeruht bei Peter vor der Tür zu stehen. Die Erfolgsaussichten schätzte er als sehr gut ein, da in den nächsten Tagen kein Auftritt im Terminkalender stand. Peter hatte bislang nie an freien Tagen mit dem Blues gekämpft, immer nur kurz vor Auftritten.

Bei einem späten Film von Jacques Tourneur, den er auf Arte zufällig gefunden hatte, blieb es dann doch nicht bei einem Glas Wein. Während John Holden dem zwielichtigen Julian Karswell auf die Schliche kam, spielte Zitterbart wieder und wieder das Gespräch mit seinem zukünftigen Ex-Partner durch, ohne mit einer Version zufrieden zu sein. Die Nacht verbrachte er auf dem Sofa, geplagt von wilden Träumen, in denen er die grüne Tür von Wittmanns Wohnung aufbrach und seinen Freund gewaltsam aus dem Bett zerrte.

4

Mit gefühlt vergrößertem Kopf und leerem Magen stand Zitterbart am nächsten Tag um kurz nach elf vor der grünen Tür. Am liebsten wäre er einfach auf dem Sofa liegen geblieben. Bis zum Mittag. Aber er hatte sich dann doch aufgerafft, um die Sache zu beenden. Er wollte den Schlussstrich, wollte ihn nicht aufschieben, wollte sich nicht drücken, wie sein Freund es mit Sicherheit getan hätte. Er war nicht das, was man auf Neudeutsch einen Prokrastinator nannte. Erst nach dem Schlussstrich wollte er frühstücken. Dann, so hoffte er, würde sein Magen auch wieder aufnahmebereit sein.

Er holte tief Luft, schloss kurz die Augen und drückte auf den Klingelknopf.

An diesem Tag brauchte er seinen Finger nur kurz einzusetzen. Zu seiner Verblüffung wurde die Tür umgehend geöffnet, als hätte ihn jemand erwartet. Im Rahmen erschien jedoch nicht Peter Wittmann, sondern eine ihm unbekannte Frau, die etwa in seinem Alter war. Kurze dunkle Haare über einem schmalen, fast zierlichen Gesicht. Auch die Figur war zierlich und steckte in einem hellblauen Hemd und einer schwarzen Hose.