Bernardine
Evaristo

MÄDCHEN, FRAU ETC.

Aus dem Englischen
von Tanja Handels

Tropen

Impressum

Die Übersetzung wurde mit einem Exzellenzstipendium
des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Girl, Woman, Other«
im Verlag Hamish Hamilton, London

© 2019 by Bernardine Evaristo

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net unter

Verwendung der Daten des Originalverlags

Illustration: © Artwork Made by Karan

Übersetzungslektorat: Johanna Schwering

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50484-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11646-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren
& die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn
& unsere Brüder, Brethren & Bredrin & Brothers & Bruvs
& unsere Männer, Men & Mandem
& die LGBTQI*-Mitglieder
unserer Menschenfamilie

Erstes Kapitel

Amma

1

Amma

geht an der Promenade des Wasserlaufs entlang, der ihre Stadt zerteilt, frühmorgendliche Frachtkähne ziehen langsam vorbei

links von ihr liegt die nautisch gestaltete Fußgängerbrücke mit dem schiffsdeckhaften Weg und den Segelmast-Pylonen

rechts von ihr die Biegung im Fluss, wo er vorbei an der Waterloo Bridge nach Osten fließt, hin zur St. Paul’s Cathedral

sie spürt die Sonne aufgehen, noch ist es luftig, bevor Hitze und Abgase die Stadt verstopfen

weiter vorne auf der Promenade spielt jemand etwas passend Erhebendes auf der Geige

heute Abend hat Ammas Stück, Die letzte Amazone von Dahomey, im National Theatre Premiere

sie denkt daran zurück, wie sie mit dem Theater angefangen hat

wie sie und ihre Komplizin Dominique sich den Ruf erwarben, Stücke zu stören, die ihr politisches Empfinden verletzten

hinten aus dem Parkett ihre kraftvollen Schauspielerinnenstimmen hören ließen, um dann schleunigst zu verschwinden

Protest, glaubten sie, müsse öffentlich sein, penetrant und absolut nervtötend für die, denen er galt

sie weiß noch, wie sie einem Regisseur, in dessen Stück sich halbnackte schwarze Frauen aufführten wie die Bekloppten, ein Glas Bier über den Kopf geleert hat

um sich dann in die Gassen von Hammersmith zu verdrücken

mit Gebrüll

danach verbrachte Amma Jahrzehnte im Off, schleuderte als Rebellin Handgranaten auf das Establishment, das sie ausschloss

bis der Mainstream zu schlucken begann, was mal radikal war, und sie auf einmal hoffte, Teil davon zu werden

was aber erst geschah, als vor drei Jahren eine Frau das künstlerische Ruder am National übernahm

und der Anruf kam, nach so langer Zeit höflicher Absagen all ihrer Vorgänger, eines Montagmorgens gleich nach dem Frühstück, als Ammas Leben sich leer vor ihr erstreckte und sie sich auf nichts als Internetserien freuen konnte

ein tolles Stück, müssen wir machen, würden Sie auch die Regie übernehmen? ich weiß, es ist kurzfristig, aber vielleicht hätten Sie ja diese Woche mal Zeit für einen Kaffee?

Amma trinkt von ihrem Americano, wie üblich mit einem Extra-Espresso für den richtigen Kick, auf dem Weg zu dem brutalistisch grauen Theaterbau

immerhin wird der bunkerhafte Beton inzwischen mit neonhellen Displays belebt, und die Bühne hat den Ruf, eher progressiv zu sein als traditionalistisch

früher musste sie immer damit rechnen, wieder rauszufliegen, sobald sie sich durch diese Türen wagte, damals, als die Leute sich fürs Theater noch richtig in Schale warfen

und alle schief anguckten, die nicht korrekt gekleidet waren

sie will, dass die Leute ihren Stücken mit Neugier begegnen, egal, was sie tragen, sie hat ja selbst ihren eigenen Scheiß-drauf-Stil, der sich, schon richtig, wegentwickelt hat vom Klischee der Jeanslatzhosen, Che-Guevara-Mützen, Palästinensertücher und des allgegenwärtigen Buttons mit den beiden verschränkten Venussymbolen (das Herz nicht auf der Zunge, sondern am Revers)

inzwischen trägt sie im Winter silberne oder goldene Sneakers, im Sommer ihre getreuen Birkenstocks

im Winter schwarze Hosen, schlabbrig oder eng, je nachdem, ob ihr in der Woche gerade 40 oder 42 passt (obenrum immer eine Größe kleiner)

im Sommer gemusterte Pluderhosen, die knapp unterm Knie enden

im Winter bunte, asymmetrische Hemden, Pullis, Jacken, Mäntel

die wasserstoffblonden Dreadlocks das ganze Jahr über darauf getrimmt, hochzustehen wie die Kerzen einer Geburtstagstorte

silberne Creolen, klobige afrikanische Armreifen und pinken Lippenstift

das ist ihr immerwährender, persönlicher Statement-Style

Yazz

hat diesen Stil unlängst als »voll der Verrückte-Alte-Look, Mum« bezeichnet, fleht sie an, zu Marks & Spencer zu gehen wie jede normale Mutter, lehnt es ab, mit ihr gesehen zu werden, auch wenn sie eigentlich zusammen unterwegs sind

dabei weiß Yazz ganz genau, dass Amma nie auch nur ansatzweise normal sein wird, und alt ist sie mit Anfang fünfzig noch lange nicht, aber das erklär mal einer Neunzehnjährigen; fürs Altwerden braucht man sich jedenfalls definitiv nicht zu schämen

erst recht nicht, wo doch die komplette Menschheit mit drinhängt

auch wenn es ihr manchmal vorkommt, als wäre sie im Freundeskreis die Einzige, die das Älterwerden feiern will

weil es doch so ein Privileg ist, nicht vor der Zeit zu sterben, erklärt sie den anderen am Küchentisch ihres kuschligen Reihenhäuschens in Brixton, wenn die Nacht hereinbricht

und sie sich über das Essen hermachen, das alle mitgebracht haben: Kichererbseneintopf, mariniertes Hähnchen, griechischer Salat, Linsencurry, Ofengemüse, marokkanisches Lamm, Safranreis, Rote-Bete-Grünkohl-Salat, Jollof-Quinoa und glutenfreie Pasta für die richtig nervigen Prinzipienreiter

wenn sie sich Wein einschenken, Wodka (weniger Kalorien) oder irgendetwas Leberfreundlicheres, falls ärztlich verordnet

dann erwartet sie Beifall von ihnen, weil sie sich gegen den Trend des Lebensmitte-Lamentos auflehnt, erntet aber nur erstauntes Lächeln, und was ist mit den ersten Arthritissymptomen, der Vergesslichkeit und den Hitzewallungen?

Amma geht an der jungen Fiedlerin vorbei

lächelt dem Mädchen aufmunternd zu, was dieses erwidert

angelt ein paar Münzen aus der Tasche, wirft sie in den Geigenkasten

noch nicht bereit, das Rauchen aufzugeben, lehnt sie sich an die Ufermauer und zündet sich eine an, verabscheut sich selbst dafür

ihrer Generation hat die Werbung noch weisgemacht, sie würden dadurch erwachsen wirken, glamourös, mächtig, klug, begehrenswert und vor allem cool

dass es letzten Endes tötet, hat ihnen kein Mensch gesagt

sie schaut auf den Fluss hinunter, spürt den warmen Rauch durch die Speiseröhre wandern, die Nerven beruhigen, den Adrenalinrausch des Koffeins niederkämpfen

beinahe vierzig Jahre voller Premieren, und sie macht sich immer noch ins Hemd

was, wenn sie verrissen wird? wenn sie nur Ein-Stern-Bewertungen bekommt, was hat sich das große National Theatre bloß dabei gedacht, sich diese hundsmiserable Hochstaplerin ins Haus zu holen?

klar weiß sie, dass sie keine Hochstaplerin ist, sie hat fünfzehn Stücke geschrieben und bei mehr als vierzig Regie geführt, und wie stand es einmal in einer Kritik: auf Amma Bonsu ist Verlass, sie scheut kein Risiko

was, wenn das Publikum bei der Voraufführung mit seinen Standing Ovations nur nett sein wollte?

ach, halt die Klappe, Amma, du bist ein altgedientes Schlachtross, schon vergessen?

schau

die Besetzung ist fantastisch: sechs erfahrene Schauspielerinnen (sturmerprobte Veteraninnen), sechs in der Mitte ihrer Laufbahn (die bis hierher durchgehalten haben) und drei neue Gesichter (naive Hoffnungsträgerinnen), darunter die hochtalentierte Simone, die grundsätzlich mit glasigem Blick in die Probe getapst kommt, wieder einmal vergessen hat, das Bügeleisen auszustöpseln, den Herd auszuschalten oder das Schlafzimmerfenster zu schließen, und dann wertvolle Probenzeit damit vergeudet, in heller Panik ihre Mitbewohnerinnen anzurufen

vor ein paar Monaten hätte sie für ein Engagement wie dieses noch ihre Großmutter in die Sklaverei verkauft, jetzt gibt sie die verwöhnte kleine Primadonna, die vor zwei Wochen, als sie zufällig allein im Probenraum waren, allen Ernstes ihre Regisseurin abkommandieren wollte, ihr einen Caffè Latte mit Karamell zu holen

ich bin ja so fertig, jammerte Simone und ließ dabei durchblicken, das sei allein Ammas Schuld, weil die sie so hart rannahm

unnötig zu erwähnen, dass sie Little Miss Simone Stevenson die Meinung gegeigt hat

Little Miss Stevenson – die glaubt, nur weil sie frisch von der Schauspielschule am National gelandet ist, stünde sie schon mit einem Fuß in Hollywood

na, das wird sie

noch sehen

in solchen Momenten vermisst Amma Dominique, die sich vor Ewigkeiten nach Amerika abgesetzt hat

eigentlich müssten sie ihren Durchbruch doch teilen

sie lernten sich in den Achtzigern kennen, beim Vorsprechen für einen Film, der in einem Frauengefängnis spielen sollte (wo sonst?)

beide ernüchtert, weil sie nur für Rollen wie Sklavinnen, Hausangestellte, Prostituierte, Kindermädchen oder Kriminelle in Frage kamen

und die Rolle dann doch nie kriegten

schimpften sie auf ihr Schicksal in diesem versifften Café in Soho, wo sie Spiegeleier mit Speck zwischen zwei Scheiben labbrigem Weißbrot mampften und Tee mit Milch und Zucker dazu tranken, umgeben von Sexarbeiterinnen, die da draußen auf der Straße ihrer Tätigkeit nachgingen

lange bevor Soho zum trendigen Schwulenviertel wurde

schau mich doch an, sagte Dominique, was Amma tat, und sie wirkte kein bisschen unterwürfig, mütterlich oder kriminell

sie war obercool, absolut umwerfend, größer als die meisten anderen Frauen, schlanker als die meisten anderen Frauen, mit messerscharfen Wangenknochen und verhangenen Augen mit langen Wimpern, die buchstäblich Schatten auf ihr Gesicht warfen

trug Leder, das Haar kurz bis auf den langen schwarzen Pony, den sie zu einer Seite kämmte, und kurvte mit einem verbeulten alten Lastenfahrrad durch die Stadt, das jetzt draußen angeschlossen stand

sehen die denn nicht, dass ich eine wandelnde Göttin bin? rief Dominique mit großer Geste, warf ihren Pony zurück und verharrte in sinnlicher Pose, während alles im Raum sich zu ihr umdrehte

Amma war kleiner, Hüfte und Schenkel typisch afrikanisch

wie gemacht zur Sklavin, hatte ein Regisseur einmal zu ihr gesagt, als sie kam, um für ein Stück über Sklavenbefreiung vorzusprechen

worauf sie gleich wieder kehrtmachte

Dominique wiederum bekam einmal, als sie für einen viktorianischen Spielfilm vorsprechen wollte, vom Besetzungschef zu hören, sie verschwende seine Zeit, damals habe es doch noch gar keine Schwarzen in Großbritannien gegeben

sie sagte, doch, habe es, bezeichnete ihn als ungebildet und ging dann ebenfalls wieder

wobei sie noch die Tür hinter sich zuknallte

Amma erkannte, dass sie in Dominique eine Seelenverwandte gefunden hatte, mit der zusammen sie die Szene aufmischen konnte

und dass sie beide ziemlich unvermittelbar sein würden, sobald sich das herumsprach

sie gingen in einen Pub in der Nähe, wo das Gespräch sich fortsetzte und der Wein in Strömen floss

Dominique war im Stadtteil St. Pauls in Bristol geboren, als Tochter einer afro-guyanischen Mutter, Cecilia, die ihren Stammbaum bis in die Sklaverei zurückverfolgen konnte, und eines indo-guyanischen Vaters, Wintley, dessen Vorfahren als Kontraktarbeiter aus Kalkutta nach Guayana gekommen waren

Älteste von zehn Geschwistern, die alle eher schwarz als indisch aussahen und sich auch so definierten, zumal sich ihr Vater mit den Afrokaribiern, mit denen er aufgewachsen war, gut verstand, nicht aber mit den Indern, die frisch aus Indien eintrafen

Dominique kam ihren sexuellen Vorlieben schon in der Pubertät auf den Grund, behielt sie aber wohlweislich für sich, weil sie nicht einschätzen konnte, wie ihre Familie und ihr Freundeskreis darauf reagieren würden, und nicht zur sozialen Außenseiterin werden wollte

ein, zwei Mal versuchte sie es mit Jungs

ihnen gefiel es

sie ertrug es

mit sechzehn und dem Ehrgeiz, Schauspielerin zu werden, brach sie nach London auf, wo die Leute ihre Außenseiter-Identität stolz auf Abzeichen vor sich hertrugen

sie pennte im Freien, unter den Arkaden des Embankment und in Ladeneingängen am Strand, sprach bei einer Wohnungsvermittlung für Schwarze vor, wo sie log und schluchzend berichtete, auf der Flucht vor ihrem prügelnden Vater zu sein

die jamaikanische Vermittlungsangestellte zeigte sich unbeeindruckt, so, dann hast du also ein paar Schläge gekriegt?

Dominique erweiterte die Anklage auf sexuellen Missbrauch väterlicherseits und bekam ein Notfallzimmer in einem Wohnheim; nach achtzehn Monaten und wöchentlichen tränenreichen Telefonaten mit der Wohnungsbehörde ergatterte sie eine Einzimmerwohnung in einem kleinen Genossenschaftswohnblock aus den Fünfzigern in Bloomsbury

ich habe getan, was nötig war, um eine Wohnung zu bekommen, erzählte sie Amma, keine meiner Sternstunden, zugegeben, aber es ist ja nichts passiert, mein Vater wird nie davon erfahren

sie widmete sich ganz der Mission, sich in schwarzer Geschichte, Kultur, Politik und Feminismus weiterzubilden, entdeckte die alternativen Buchläden von London

betrat Sisterwrite in Islington, wo jedes einzelne Buch von Frauen verfasst war, und stöberte dort stundenlang; Geld, um sich etwas zu kaufen, hatte sie nicht, las aber Home Girls: A Black Feminist Anthology von vorn bis hinten durch, im Stehen und in wöchentlichen Tranchen, außerdem alles von Audre Lorde, was sie in die Finger bekam

die Buchhändlerinnen schien das nicht zu stören

als ich schließlich an einer sehr konventionellen Schauspielschule genommen wurde, Amma, da war ich längst politisiert und stellte alles dort in Frage

als einzige Nichtweiße der Schule

sie wollte wissen, warum männliche Shakespeare-Rollen nicht von Frauen gespielt werden könnten, und von ethnisch diverser Rollenvergabe fangen wir mal gar nicht erst an, schrie sie dem Kursleiter entgegen, während alle anderen stumm blieben, auch die Studentinnen

da ist mir klar geworden, dass ich auf mich allein gestellt bin

am nächsten Tag nahm mich der Schulleiter beiseite

Sie sollen hier Schauspielerin werden, nicht Politikerin

wenn Sie weiter Probleme machen, werden Sie gehen müssen

das ist die letzte Warnung, Dominique

hör mir auf, entgegnete Amma, still sein oder verschwinden, stimmt’s?

ich für meinen Teil habe meinen Kampfgeist von meinem Vater Kwabena, der sich als Journalist für die Unabhängigkeit Ghanas engagiert hat

bis er mitbekam, dass sie ihn wegen Volksverhetzung einbuchten wollen, da hat er sich hierher abgesetzt und bei der Eisenbahn angefangen, wo er am Bahnhof London Bridge meine Mutter kennenlernte

er Schaffner, sie Bürokraft im Gebäude hinter der Bahnhofshalle

er deichselte es immer so, dass er ihr Ticket kontrollieren konnte, sie deichselte es immer so, dass sie als Letzte aus dem Zug stieg, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln

Mum, Helen, ist Mischling, 1935 in Schottland geboren

ihr Vater war ein Student aus Nigeria, der verschwand, kaum dass er sein Studium an der Universität von Aberdeen beendet hatte

einen Abschied gab es nicht

Jahre später fand ihre Mutter heraus, dass er zu Frau und Kindern nach Nigeria zurückgegangen war

sie hatte nicht einmal gewusst, dass es Frau und Kinder gab

Mum war nicht der einzige Mischling im Aberdeen der Dreißiger und Vierziger, aber doch selten genug, dass man sie das spüren ließ

sie ging früh von der Schule ab, lernte Sekretärin und machte sich genau zu der Zeit nach London auf, als es sich zusehends mit afrikanischen Männern bevölkerte, die zum Studieren oder Arbeiten herkamen

Mum ging zu ihren Tanzveranstaltungen und in die Clubs von Soho, kam gut an mit ihrer helleren Haut und dem locker fallenden Haar

sie sagt, sie habe sich hässlich gefühlt, bis sie von afrikanischen Männern hörte, sie sei es nicht

du solltest mal sehen, wie sie damals aussah

eine Mischung aus Lena Horne und Dorothy Dandridge

also echt, total hässlich

Mum hätte gehofft, beim ersten Date ins Kino zu gehen und dann weiter in ihren Lieblingsschuppen, den Club Afrique, genau hier in Soho, Andeutungen hatte sie genug gemacht, sie tanzte wahnsinnig gern zu Highlife und westafrikanischem Jazz

stattdessen nahm er sie mit zu einem seiner Sozialistentreffen ins Hinterzimmer eines Pubs in Elephant and Castle

wo eine Gruppe Männer ihr Bier kippte und über politische Unabhängigkeit diskutierte

sie saß dabei, versuchte, sich interessiert zu geben, war beeindruckt von seinem Intellekt

während ihn, wenn du mich fragst, ihr fügsames Schweigen beeindruckte

sie heirateten und zogen nach Peckham

ich war ihr letztes Kind und das erste Mädchen, erläuterte Amma und pustete ihren Qualm in den bereits dicht vernebelten Raum

von meinen drei älteren Brüdern wurden zwei Anwälte, einer Arzt, und weil sie die Erwartungen unseres Vaters so folgsam erfüllten, gab es für mich keinen Druck, es ihnen gleichzutun

für mich hatte er nur Heiraten und Kinder im Sinn

meine Schauspielerei hält er für ein Hobby für zwischendurch

Dad ist Sozialist, er will die Revolution zum Wohle des ganzen Menschengeschlechts

des männlichen zumindest

ich sage Mum immer, sie habe einen Patriarchen geheiratet

sieh es mal so, Amma, sagt sie dann, dein Vater ist als Junge im Ghana der Zwanzigerjahre zur Welt gekommen und du als Mädchen im London der Sechziger

heißt was?

du kannst wirklich nicht erwarten, dass er »schnallt, wer du bist«, wie du das ausdrückst

ich gebe ihr zu verstehen, dass sie das Patriarchat verteidigt und sich dadurch mitschuldig macht an einem System, das alle Frauen unterdrückt

sie sagt, Menschen seien nun mal komplex

ich sage ihr, sie soll nicht so herablassend mit mir reden

Mum hat Acht-Stunden-Tage als Festangestellte gearbeitet, vier Kinder großgezogen, den Haushalt am Laufen gehalten, dafür gesorgt, dass der Patriarch jeden Abend sein Essen auf dem Tisch und jeden Morgen seine frisch gebügelten Hemden hatte

während er auszog, um die Welt zu retten

seine einzige Haushaltspflicht bestand darin, das Fleisch für den Sonntagsbraten vom Metzger zu holen – so die kleinbürgerliche Jäger-und-Sammler-Nummer

ich weiß, dass Mum sich unausgefüllt fühlt, jetzt, wo wir alle aus dem Haus sind, denn entweder putzt sie den ganzen Tag oder sie räumt alles um

sie hat nie über ihr Schicksal geklagt und auch nie mit Dad gestritten, ein klares Indiz dafür, wie unterdrückt sie ist

mir hat sie erzählt, am Anfang habe sie mal Hand in Hand mit ihm gehen wollen, aber er habe sie abgeschüttelt und ihr erklärt, solche Zärtlichkeiten seien nur was für verzärtelte Engländer, und sie hat es nie wieder versucht

trotzdem kauft er ihr jedes Jahr die kitschigste Valentinskarte, die er finden kann, und er liebt schmalzige Country-Musik, sitzt sonntagabends in der Küche und hört Platten von Jim Reeves und Charley Pride

in der einen Hand ein Glas Whisky, wischt er sich mit der anderen die Tränen weg

Dad lebt dafür, Versammlungen und Demos zu organisieren, Streikposten vors Parlament zu stellen und auf dem Markt in Lewisham den Socialist Worker zu verkaufen

ich bin aufgewachsen mit seinen Predigten, immer abends beim Essen, über das Unheil des Kapitalismus und des Kolonialismus und die Segnungen des Sozialismus

der Küchentisch war seine Kanzel und wir die Gemeinde in Geiselhaft

als würde er uns mit seiner politischen Haltung buchstäblich zwangsernähren

wahrscheinlich wäre er längst ein wichtiger Mensch, wenn er nach der Unabhängigkeit nach Ghana zurückgegangen wäre

stattdessen ist er Präsident auf Lebenszeit in unserer Familie

klar weiß er nicht, dass ich Lesbe bin, spinnst du? Mum hat gesagt, ich soll es ihm nicht erzählen, es war schon schlimm genug, es ihr zu sagen, sie meinte, ihr wäre der Verdacht gekommen, als Bleistiftröcke und Dauerwelle in Mode waren und ich anfing, Levi’s für Männer zu tragen

sie ist überzeugt davon, dass es nur eine Phase ist, was ich ihr wieder aufs Brot schmieren werde, wenn ich mal vierzig bin

Dad hat nichts übrig für »Schwuchteln« und lacht über die ganzen homophoben Witzchen, die die Komiker am Samstagabend in der Glotze reißen, wenn sie nicht gerade ihre eigene Schwiegermutter oder Schwarze beleidigen

Amma erzählte, wie sie im Abschlussjahr an der Schule das erste Mal zu einer schwarzen Frauengruppe gegangen sei, in Brixton, die Info-Zettel lagen in der Stadtteilbibliothek aus

die Frau, die ihr öffnete, Elaine, trug den perfekten Afro-Heiligenschein und hatte ihre geschmeidigen Glieder in enge, hellblaue Jeans und ein ebenso enges Jeanshemd gehüllt

Amma wollte sie auf den ersten Blick und folgte ihr in ein großes Zimmer, wo auf Sofas, Sesseln, Sitzkissen und im Schneidersitz auf dem Boden Frauen hockten und Kaffee oder Cider aus Tassen tranken

nervös nahm sie sich von den herumgereichten Zigaretten, setzte sich auf den Boden, an einen katzenmalträtierten, tweedbezogenen Ohrensessel gelehnt, und spürte Elaines warmes Bein am Arm

sie hörte zu, während alle diskutierten, was es hieß, eine schwarze Frau zu sein

was es hieß, Feministin, aber bei den Organisationen weißer Feministinnen nicht willkommen zu sein

wie es sich anfühlte, Nigger genannt oder von rassistischen Schlägern verprügelt zu werden

wie es war, wenn weiße Männer weißen Frauen die Tür aufhielten oder ihren Sitzplatz in öffentlichen Verkehrsmitteln freimachten (sexistisches Verhalten), ihnen hingegen nicht (rassistisches Verhalten)

Amma konnte diese Erfahrungen nachvollziehen, stimmte immer öfter in den Refrain ein: verstehen wir, Sister, haben wir alle schon erlebt, Sister

sie fühlte sich, als wäre sie aus der Kälte ins Warme gekommen

am Ende dieses ersten Abends verabschiedeten sich die anderen Frauen, und Amma bot an, noch zu bleiben und mit Elaine die Tassen und Aschenbecher zu spülen

sie machten auf einem der klumpigen Sofas rum, im Schein der Straßenlaterne, zum Klang der Martinshörner vorbeirasender Streifenwagen

nie war Amma so nah dran gewesen, mit sich selbst zu schlafen

es war ein weiteres Nach-Hause-Kommen

beim Treffen in der nächsten Woche

knutschte Elaine mit einer anderen Frau

und ließ Amma komplett links liegen

sie ging nie wieder hin

Amma und Dominique blieben, bis sie rausgekehrt wurden, und pflügten sich durch etliche Gläser Rotwein

sie beschlossen, wenn sie Schauspielerinnen sein wollten, müssten sie wohl ihre eigene Theatertruppe gründen, weil sie beide nicht bereit waren, ihre politische Haltung zu verraten, um Arbeit zu bekommen

oder den Mund nicht aufzumachen, um sie zu behalten

es war der logische nächste Schritt

sie kritzelten Namensvorschläge auf kratziges Klopapier, das sie aus dem Waschraum klauten

Bush Women Theatre Company fing ihr Vorhaben am besten ein

sie wollten ihre Stimme da erheben, wo es im Theater bisher still gewesen war

die Geschichten schwarzer und asiatischer Frauen würden ein Forum finden

sie würden zu ihren eigenen Bedingungen Theater machen

das wurde das Motto der Truppe

Zu Unseren Bedingungen

oder Gar Nicht.

2

Wohnzimmer wurden zu Probebühnen, alte Rostbeulen zu Requisitentransportern, die Kostüme kamen aus Secondhandläden, die Kulissen vom Sperrmüll, sie riefen Freundinnen zu Hilfe, lernten gemeinsam bei der Arbeit, aus dem Stand, warfen alles zusammen, was sie hatten

tippten Förderanträge auf alten Schreibmaschinen, denen Tasten fehlten, Finanzpläne waren Amma mindestens so fremd wie Quantenphysik, sie weigerte sich, an den Schreibtisch gefesselt zu werden

brachte Dominique zur Weißglut, wenn sie zu Orga-Treffen zu spät kam und früher ging und Kopfweh oder PMS vorschützte

Zoff gab es, als sie einmal einen Schreibwarenladen betrat und auf dem Absatz umdrehte, weil das angeblich eine Panikattacke bei ihr ausgelöst hatte

dafür aber Dominique runterputzte, wenn diese das Stück, das sie schreiben sollte, nicht rechtzeitig abgab, weil sie im Club versumpft war, oder mitten im Stück den Text vergaß

ein halbes Jahr nach Gründung lagen sie sich ständig in den Haaren

sie hatten auf Anhieb Freundschaft geschlossen, jetzt stellten sie fest, dass sie nicht zusammen arbeiten konnten

Amma berief eine Alles-oder-nichts-Sitzung bei sich zu Hause ein

sie setzten sich mit Wein und Essen vom China-Imbiss hin, und Dominique gestand, dass es ihr mehr Spaß mache, Tourneen für die Truppe zu planen, als sich vor ein Publikum zu stellen, und dass sie lieber sie selbst sei als jemand anderen zu spielen

Amma gestand, dass sie liebend gern schreibe, Verwaltungskram aber hasse, und tauge sie überhaupt zur Schauspielerin? Wut beherrschte sie großartig – aber darin erschöpfte sich ihre Bandbreite auch schon

Dominique wurde Geschäftsführerin der Truppe, Amma die künstlerische Leiterin

sie engagierten Schauspielerinnen, Regisseurinnen, Bühnenbildnerinnen und Bühnenpersonal, organisierten landesweite Tourneen, die über Monate gingen

ihre Stücke Frau sein ist alles, Genitalverstümmelung: Das Musical, Zwanglos verheiratet und Total Vaginal wurden in Stadtteilzentren, Büchereien und Freien Theatern gezeigt, bei Frauenfestivals und -konferenzen

sie verteilten ihre Flyer vor und nach Veranstaltungen an das Publikum, hängten bei Nacht und Nebel nicht genehmigte Plakate an Litfaßsäulen

wurden in den alternativen Medien rezensiert und brachten sogar ihr eigenes monatliches Bush Women-Bulletin heraus

aber weil es sich erbärmlich schlecht verkaufte und ehrlicherweise auch erbärmlich schlecht geschrieben war, hielt es sich nur für zwei Ausgaben nach der glanzvollen Premiere an einem Sommerabend im Sisterwrite

wo eine Gruppe Frauen auflief, um sich den billigen Fusel schmecken zu lassen und draußen auf der Straße herumzustehen, sich Kippen anzuzünden und sich gegenseitig anzugraben

Amma besserte ihr Einkommen in einem Burgershop am Piccadilly Circus auf

verkaufte Hamburger aus recycelter Pappe, mit einem Belag aus rehydrierten Zwiebeln und Gummikäse

das alles konnte sie in ihren Pausen gratis essen – und bekam Pickel davon

der Anzug und die Mütze aus orangefarbenem Nylon, die sie dort trug, führten dazu, dass die Kunden sie als uniformierte Dienstbotin betrachteten

nicht als die großartige, hochindividuelle, rebellische Künstlerin, die sie war

sie freundete sich mit den ausgebüxten jungen Strichern an, die rund um den U-Bahnhof im Einsatz waren, und steckte ihnen knusprige Teigtaschen mit einer klumpigen, nach Apfel schmeckenden Zuckerfüllung zu

nicht ahnend, dass sie schon wenige Jahre später auf ihrer Beerdigung stehen würde

sie wussten nicht, dass ungeschützter Sex einem Tanz mit dem Tod gleichkam

das wusste niemand

ihr Zuhause war eine baufällige Fabrik in Deptford, mit Betonmauern, einsturzgefährdetem Dach und einer Rattenpopulation, die sich allen Versuchen der Ausrottung widersetzte

später bewohnte sie eine Reihe ähnlich heruntergekommener Häuser, bis sie schließlich im begehrtesten besetzten Haus von ganz London landete, einem ehemaligen Büroblock von sowjetischen Ausmaßen hinter dem Bahnhof King’s Cross

sie hatte das Glück, als eine der Ersten davon zu hören, bevor er sich füllte

und harrte auch aus, als das Räumungskommando dem Haupttor mit einem Hydraulikbagger zu Leibe rückte

was gewaltsame Gegenmaßnahmen nach sich zog und Haftstrafen für die Knallköpfe, die meinten, ein am Boden liegender Vollstreckungsbeamter habe noch ein paar saftige Tritte verdient

man nannte es die Schlacht von King’s Cross

das Haus selbst hieß fortan Republik Freedomia

sie hatten Glück, denn der Besitzer der Immobilie, ein gewisser Jack Staniforth, der steuerfrei in Monte Carlo lebte und durch die Erlöse eines familieneigenen Werks für Sheffielder Schneidewaren stinkreich war, zeigte sich der Sache zugänglich, als ihn die Nachricht über seine Immobilien-Holding erreichte

er hatte selbst mit den Interbrigaden im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft

und eine solche Fehlinvestition von Gebäude in einem der verkommensten Bezirke von London war für ihn nur eine kleine Fußnote in der Buchführung

wenn sie sich also um das Haus kümmern würden, schrieb er

könnten sie mietfrei dort wohnen bleiben

sie stellten das illegale Stromabzapfen ein und beantragten einen Anschluss

gleiches geschah mit dem Gas, das bis dato über eine einzelne in den Zähler geklemmte Münze geflossen war

sie mussten ein Verwaltungssystem etablieren und versammelten sich eines Samstagmorgens, um sich darüber zusammenzuraufen

die Marxisten verlangten die Gründung eines Zentralkomitees für die Arbeiterrepublik Freedomia, was Amma dann doch ein wenig heftig fand, nachdem sich die allermeisten von ihnen nur aus Prinzip gegen »die tollwütigen Hunde des Kapitalismus« stellten, um nicht arbeiten zu müssen

die Hippies machten den Vorschlag, eine Kommune zu gründen und alles zu teilen, waren aber dermaßen locker und relaxt, dass alle anderen sie niederredeten

die Umweltschützer wollten Sprays, Plastiktüten und Deos komplett verbannen und brachten damit alle anderen gegen sich auf, sogar die Punks, die sonst nicht gerade für ihren minzfrischen Duft bekannt waren

die Vegetarier verlangten eine Verpflichtung zu Fleischlosigkeit, die Veganer wollten diese noch um Milchprodukte erweitern, die Makrobiotiker schlugen vor, alle sollten nur noch gedünsteten Weißkohl zum Frühstück essen

die Rastas wollten die Legalisierung von Cannabis und einen festen Platz auf dem Gelände hinter dem Haus, wo sie ihre Nyabinghi-Treffen abhalten konnten

die Hare Krishnas wollten, dass alle noch am selben Nachmittag trommelschlagend durch die Oxford Street zögen

die Punks wollten die Erlaubnis, ihre Brüllmusik zu spielen, und wurden dafür gehörig niedergebrüllt

die Schwulen wollten in der Verfassung des Gebäudes ein Gesetz gegen Homophobie verankert sehen, worauf die anderen entgegneten, welche Verfassung?

die radikalen Feministinnen wollten einzelne Trakte nur für Frauen reservieren, inklusive genossenschaftlicher Selbstverwaltung

die radikal feministischen Lesben wollten ihre eigenen Trakte in gebührender Entfernung von den radikal feministischen Nicht-Lesben, ebenfalls inklusive genossenschaftlicher Selbstverwaltung

die radikal feministischen schwarzen Lesben wollten das Gleiche, allerdings unter der Bedingung, dass Weißen jeglichen Geschlechts der Zutritt verwehrt bliebe

die Anarchisten verließen demonstrativ die Versammlung, weil jegliche Form der Verwaltung einen Verrat an allem darstellte, woran sie glaubten

Amma war eher für den Alleingang und für die Allianz mit anderen, die nicht versuchten, allen ihren Willen aufzuzwingen

am Ende wurde ein ganz schlichtes, rotierendes Verwaltungskomitee aufgestellt sowie diverse Regeln, die Drogendeals, sexuelle Belästigung und das Wählen von Tory-Politikern untersagten

das Grundstück hinter dem Haus wurde zum Gemeinschaftsort voller Skulpturen aus Altmetall

mit freundlicher Genehmigung der Künstlerinnen und Künstler

Amma sicherte sich ein Großraumbüro, so riesig, dass sie darin joggen konnte

mit eigener Toilette und eigenem Waschbecken, die sie selig sauber hielt und mit Blumenduft besprühte

Wände und Decke strich sie in einem markanten Blutrot, riss den firmengrauen Teppichboden heraus, verteilte ein paar Bastmatten auf dem Holzboden, beschaffte sich einen Herd aus zweiter Hand, einen Kühlschrank, Sitzsäcke, einen Futon und eine Badewanne vom Schrottplatz

ihr Zimmer war groß genug für Partys und groß genug, dass bei Bedarf auch mal jemand dort pennen konnte

die Discobeats von Donna Summer, Sister Sledge, Minnie Riperton und Chaka Khan drehten sich auf dem Plattenteller und brachten ihre Partys in Schwung

Roberta, Sarah, Edith, Etta und Mathilde Santing lieferten den Soundtrack zu ihren spätnächtlichen Verführungskünsten

hinter dem schwarzen, chinesischen Lackholzparavent aus dem achtzehnten Jahrhundert, den sie aus einem Container vor der alten chinesischen Botschaft gerettet hatte

sie arbeitete einen Großteil der Frauen von Freedomia ab

sie wollte One-Night-Stands, die meisten anderen wollten mehr

es kam der Punkt, an dem sie sich schon fürchtete, ihren verflossenen Eroberungen auf dem Flur zu begegnen, Maryse zum Beispiel, einer Übersetzerin aus Guadeloupe

die, wenn sie nicht mitten in der Nacht an Ammas Tür klopfte und um Einlass bettelte, draußen auf der Lauer lag, um alle zu schikanieren, die bekamen, was Maryse wollte

das steigerte sich zu Schimpftiraden aus ihrem Zimmerfenster, wann immer sie Amma nach Hause kommen sah, und erreichte den Gipfel, als sie eines Tages einen Eimer Gemüseschalen über Amma ausleerte, als diese unter ihrem Fenster vorbeiging

womit sie sowohl die Umweltschützer als auch das Verwaltungskomitee erzürnte, das sich daraufhin gezwungen sah, Amma schriftlich aufzufordern, sie möge es unterlassen, »im eigenen Revier zu wildern«

Amma schrieb zurück, es sei hochinteressant, wie schnell sich Menschen in totalitäre Faschisten verwandelten, sobald sie ein bisschen Macht bekämen

aber sie hatte ihre Lektion gelernt und konnte sich über einen Mangel an Angeboten auch sonst nicht beklagen; die Groupies standen Schlange bei ihr und Dominique als den Hauptakteurinnen des Bush Women Theatre

von Junglesben unter zwanzig bis hin zu Frauen, die ihre Mütter hätten sein können

Amma war nicht wählerisch, vor ihren Freundinnen prahlte sie mit ihrem genuin egalitären Geschmack, der über Kultur-, Klassen-, Meinungs-, Hautfarben-, Religions- und Generationsgrenzen hinwegsah

wodurch ihr Spielfeld glücklicherweise größer wurde als bei den meisten

(ihre Vorliebe für große Brüste verschwieg sie, weil es als antifeministisch galt, einzelne Körperteile zum sexuellen Lustobjekt zu erheben)

Dominique differenzierte stärker und war monogam, in Serie, sie stand auf Schauspielerinnen, fast immer Blondinen, deren mikroskopisches Talent von ihrer makroskopischen Schönheit überstrahlt wurde

oder auf Models, bei denen das Aussehen das Talent war

sie hingen in Frauenkneipen herum

dem Fallen Angel, dem Rackets, dem Bell, montags in der Bar des Drill Hall Theatre, wo der Große Lesbenrat tagte, freitags im Pearl’s, einer Spelunke in Brixton, betrieben von Pearl, einer nicht mehr ganz jungen Jamaikanerin, die ihren Keller ausgeräumt und ein Soundsystem installiert hatte und seither an der Tür Eintritt verlangte

Amma empfand es als Freiheitsentzug, sich an einen einzigen Menschen zu binden, schließlich war sie doch nicht auf der Suche nach einem Leben in Freiheit und Abenteuer von zu Hause weggegangen, um sich dann von den Wünschen einer anderen Person fesseln zu lassen

wenn sie mehr als zwei, drei Mal mit einer Frau schlief, blieb die in den meisten Fällen nicht mehr reizvoll unabhängig, sondern wurde zunehmend bedürftig

das dauerte keine Woche

schon war Amma der einzige Quell ihres Glücks, und sie machte ihre Autorität über Ammas Autonomie geltend, mit allen Mitteln

Schmollen, Tränen, Selbstsuchts- und Herzlosigkeitsvorwürfen

Amma lernte, den Frauen zuvorzukommen, ihre eigenen Absichten von vornherein zu benennen, nie öfter als zwei oder, wenn’s hochkam, drei Mal mit derselben zu schlafen

auch dann nicht, wenn sie es gern getan hätte

Sex war ein schlichtes, harmloses, menschliches Vergnügen, und bis sie Ende dreißig war, bekam sie ihn in rauen Mengen

wie viele es gewesen waren? hundert, vielleicht nochmal fünfzig drauf? mehr aber doch sicher nicht?

ein paar Freundinnen regten an, sie solle es mit einer Therapie versuchen, um sesshafter zu werden, sie entgegnete, sie sei doch praktisch Jungfrau im Vergleich mit männlichen Rockstars, die mit mehreren Tausend Eroberungen angaben und dafür noch bewundert wurden

sagte denen etwa jemand, sie sollten sich auf die Psychocouch legen?

dummerweise sind ein, zwei frühe Eroberungen neuerdings dazu übergegangen, Amma in den sozialen Medien zu schikanieren, wo die Vergangenheit ja nur darauf wartet, einen hinterrücks anzuspringen

so wie diese Frau, die gepostet hat, Amma sei ihre erste Liebhaberin gewesen, als sie vor fünfunddreißig Jahren mit ihr im Bett war, und habe sie vollgekotzt, weil sie so besoffen gewesen sei

das war so traumatisch, ich bin nie darüber hinweggekommen, jammerte sie

oder die Frau, etwa aus derselben Zeit, die ihr auf der Regent Street nachgelaufen war und ihr hinterherbrüllte, sie habe damals nie zurückgerufen

wofür hältst du dich eigentlich, du arrogante, aufgeblasene Theatertusse? ein Nichts, das bist du, ein Nichts

hast wohl wieder deine Pillen nicht genommen, Schätzchen, brüllte Amma zurück und flüchtete sich in die unterirdischen Gewölbe von Topshop

Amma hat das Interesse am Herumvögeln längst verloren; mit der Zeit wuchs in ihr der Wunsch nach der Intimität, die entsteht, wenn man einem anderen Menschen emotional, aber nicht zwingend exklusiv nahekommt

heute sind offene Beziehungen ihr Ding, oder heißt das jetzt Polyamorie? so nennt es Yazz, aber so, wie Amma es sieht, entspricht das in allem, bis auf den Namen, einer offenen Beziehung, mein liebes Kind

heute hat sie Dolores, Grafikdesignerin mit Sitz in Brighton, und Jackie, Ergotherapeutin aus Highgate

sie sind seit sieben respektive drei Jahren Teil ihres Lebens, zwei unabhängige Frauen mit einem erfüllten Leben (und Kindern) jenseits der Beziehung zu ihr

sie klammern nicht, sind weder bedürftig noch eifersüchtig oder besitzergreifend und mögen einander sogar, so dass sie sich hin und wieder tatsächlich eine kleine Ménage-à-trois gönnen

wenn es sich ergibt

(Yazz wäre entsetzt, wenn sie das wüsste)

Amma in ihrer Lebensmitte verspürt manchmal Nostalgie, wenn sie an frühere Jahre zurückdenkt, an das eine Mal, als Dominique und sie ihre erste und einzige Pilgerfahrt ins legendäre Gateways unternahmen

das die letzten Jahre seines fünfzigjährigen Daseins versteckt in einem Keller in Chelsea fristete

es war praktisch leer, am Tresen zwei mittelalte Frauen mit Männerfrisur und Anzug, die aussahen wie direkt den Seiten von Quell der Einsamkeit entsprungen

die Tanzfläche war schummrig beleuchtet, zwei sehr alte und sehr kleine Frauen, die eine im schwarzen Anzug, die andere in einem Kleid im Stil der Vierzigerjahre, tanzten dort eng umschlungen zu Dusty Springfields »The Look of Love«

und an der Decke drehte sich nicht einmal eine glitzernde Discokugel, die sie mit Sternenstaub berieselt hätte.

3

Amma wirft den Kaffeebecher in den Müll und geht direkt auf das Theater zu, vorbei an der graffitiverzierten Betonrampe für die Skateboarder

es ist noch viel zu früh für die Jugendlichen und ihre todesmutigen Sprünge und Drehungen, ganz ohne Helm oder Knieschoner

diese Jugend, die so furchtlos ist

wie Yazz, die ohne Helm Fahrrad fährt

und wütend abdampft, wenn ihre Mutter ihr erklärt, ein Helm könne eventuell darüber entscheiden, ob man

a) nur Kopfschmerzen bekomme oder

b) das Sprechen neu lernen müsse

sie geht durch den Bühneneingang, grüßt den Wachmann, Bob, der ihr viel Glück für den Abend wünscht, sucht sich ihren Weg durch die Flure, die Treppe hoch und schließlich auf die höhlenhafte Bühne

blickt hinaus in die leere Weite des fächerförmigen Zuschauerraums, gestaltet nach dem Vorbild griechischer Amphitheater, die dem gesamten Publikum einen ungehinderten Blick aufs Geschehen verschafften

über tausend Menschen werden heute Abend auf diesen Plätzen sitzen

dass sich so viele Menschen zusammenfinden, um ihre Inszenierung zu sehen, ist völlig unvorstellbar

die ganze Spielzeit praktisch ausverkauft, ehe auch nur die erste Rezension erschienen ist

wer sagt da noch, es gebe keine Nachfrage nach etwas völlig Neuartigem?

Die letzte Amazone von Dahomey, Buch und Regie: Amma Bonsu

dort dienten im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert Kriegerinnen dem König

Frauen, die auf den königlichen Ländereien lebten und mit Speisen und Sklavinnen versorgt wurden

denen immer, wenn sie den Palast verließen, eine junge Sklavin voranging und eine Glocke schlug, damit die Männer wussten, dass sie den Blick abzuwenden oder ihr Leben zu lassen hatten

die zur Palastgarde wurden, weil Männern immer zuzutrauen war, dem König den Kopf abzuschlagen oder ihn im Schlaf mit einem Buschmesser zu entmannen

die zur Abhärtung darauf getrimmt wurden, nackt stachelige Robinien zu erklimmen

die neun Tage lang in den gefahrvollen Wald geschickt wurden, um dort allein zu überleben

die Meisterschützinnen an der Muskete waren und ihre Feinde mühelos enthaupteten und ausweideten

die die Yoruba von nebenan ebenso bekämpften wie die Franzosen, die sie kolonisieren wollten

die zu einer sechstausendköpfigen Armee anwuchsen und alle offiziell mit dem König verheiratet waren

denen keine anderweitigen geschlechtlichen Beziehungen erlaubt waren und deren neugeborene Kinder getötet wurden, wenn sie männlich waren

als Amma zum ersten Mal von ihnen hörte, kam sie zu dem Schluss, dass sie es untereinander getrieben haben mussten, passierte so etwas nicht immer, wenn die Geschlechter voneinander getrennt wurden?

und die Idee zu ihrem Stück war geboren

die letzte Amazone ist Nawi, und sie betritt die Bühne als wehrlose junge Braut, die dem König zugeführt wird; weil sie kein Kind von ihm empfangen kann, verstößt er sie aus seinem Schlafgemach und zwingt sie, sich seinen weiblichen Kampftruppen anzuschließen, wo sie die beschwerliche Initiation übersteht und auf Grund ihrer körperlichen Kraft und ihrer gewieften Strategien rasch zur legendären Generalin der Amazonen aufsteigt und Beobachter aus dem Ausland mit ihrer unerschrockenen Grausamkeit entsetzt

Amma zeigt auch Nawis Loyalität zu ihren zahlreichen Liebhaberinnen, für die sie sorgt, auch wenn sie ihrer längst überdrüssig ist, ihnen vom König leichte Hausarbeiten zuweisen lässt, damit sie nicht aus dem Palast geworfen und einem Leben im Elend überantwortet werden

am Ende des Stücks besinnt sich Nawi, alt und allein, wieder auf ihre einstigen Geliebten, die ihr, der Holographie sei Dank, als Geister erscheinen und wieder verschwinden