Arye Sharuz Shalicar erzählt von seinem Leben im Berliner Wedding in den 1990er Jahren. Obwohl er keinerlei Bezug zu seiner Religion hatte, war er als Heranwachsender aufgrund seiner iranisch-jüdischen Wurzeln ständig antisemitischen Angriffen ausgesetzt – bis er sich einer muslimischen Jugend-bandenszene anschloss und eine Graffitigang gründete. Wirklich zugehörig fühlte er sich dennoch nirgendwo: »Für die Deutschen war ich ein Kanake, für die Moslems ein Jude, für die Juden ein krimineller Jugendlicher aus dem Wedding.« Ein solches Leben zwischen allen Stühlen wollte er nicht auf Dauer führen. Er lernte Hebräisch, befasste sich mit seinem Glauben und wanderte 2001 nach Israel aus.
Dieses Buch widme ich meinen Eltern, Shlomo und Rose, und meiner langjährigen Freundin Janica, die ich nochmals um Verzeihung bitte, dass ich von ihnen gehen musste.
In Liebe zu meiner Frau Liel Lena
Wann erscheint mir als gelungen,
Mein Bemühen auf dieser Erde?
Wenn aus armen Judenjungen,
Stolze junge Juden werden.
Theodor Herzl
Es ist der letzte Satz dieses Berichts, der den Weg weist: »Doch das erlösende Licht wird sich ausbreiten, früher oder später!« – Ein Satz voller Hoffnung, ein Satz voller Illusionen? So mag man denken, wenn man den Tatsachenbericht, die Autobiografie des jungen Shalicar liest. Wäre dies ein Roman, so müsste man ihn unwillkürlich in das Genre des »Bildungsromans« einordnen. Doch dieser Bericht ist kein Roman, sondern der Versuch ein Stück deutsche Realität abzubilden, das, was in einem Teil Deutschlands vor sich geht, den man heute neudeutsch als »Parallelgesellschaft« bezeichnet und ihn damit auf Distanz hält, als nicht wirklich zu Deutschland zugehörig. Doch Wedding, Kreuzberg oder all die anderen »Ausländerghettos« in der Bundesrepublik sind ein Teil Deutschlands. Und was sich dort abspielt, hat uns zu interessieren, denn die Jugendlichen, die dort aufwachsen, werden in irgendeiner Form Deutschland mitprägen.
Also ist das Buch ein Bericht über deutsche Gewalt? Über deutschen Rassismus? Doch eher ein Bericht über Gewalt in Deutschland, über Rassismus und – ja, natürlich – Antisemitismus in Deutschland. Nicht von »ethnischen Deutschen«, sondern von »Ausländern«, egal nun, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht. Diese jungen Türken, Palästinenser, Inder, Araber, Kurden, Bosnier – sie werden als Ausländer gesehen. Und ihr Hass auf den Juden Shalicar ist nicht der Hass des europäischen Antisemiten, es ist der Hass, der aus dem Nahen Osten kommt, sozusagen die Fortsetzung des Nahostkonflikts in Europa. Was das bedeutet, wissen wir längst: Attentate auf Juden, Synagogen, die brennen – in Frankreich, in England ist dies längst soweit, in Deutschland zum Glück nur ab und zu.
Und inmitten dieses Irrsinns der kleine Judenjunge, der keine Ahnung hat, dass er ein Jude ist, der später zwar weiß, dass er einer ist, aber nicht weiß, was das ist – »ein Jude«. Und der natürlich das alte jüdische Spiel der Diaspora spielt: Ich mache mit bei der Mehrheitsgesellschaft, ich mache irgendwie mit, um akzeptiert zu werden. Verständlich und traurigerweise: sinnlos. Denn es ist zugleich immer auch ein Absturz, diese Verleugnung der eigenen Identität, es ist dieses doppelte Spiel, das ein Jude in der Diaspora wohl seit Anbeginn der Zeiten spielte wie uns die Thora bereits erzählt: Als Abraham mit seiner Frau nach Ägypten geht, da muss er lügen – und gibt sie als seine Schwester aus. Um sich und sie zu schützen. Shalicar will sich schützen und zugleich ist dies der Weg zu seiner wahren Identität. Seiner wahren Identität?
Das, was am meisten in ihm, an ihm gehasst wird, wird seine Hauptidentität: Das Jude-Sein. Wer kann ihm das verdenken? Es ist die Reaktion auf das, was nicht sein darf. Es ist die Emanzipation aus dem Mahle, aus dem Ghetto. Und so ist sein Weg vorbestimmt, so hat er nur einen Aus-Weg: Israel. Dort beginnt die Freiheit. Beginnt sie dort wirklich? Für den Deutschen, der er auch ist, für den Perser, der er auch ist …
Shalicar deutet es in seinem Bericht an: Auch dort ist die Engstirnigkeit, das Vorurteil, der Rassimus präsent: Ashkenasim gegen Sefardim, Orthodoxe gegen Säkulare, Juden gegen Araber. Es ist das Antlitz des Menschen, das sich auch in der israelischen Gesellschaft widerspiegelt: Vorurteil und Angst, Mehrheit gegen Minderheit, Starke gegen Schwache. Der ewige Kreislauf menschlicher Geschichte. Ohne Ausweg?
Doch Shalicars Bericht gibt Hoffnung: Es gibt einen Weg aus der Hölle, die wir Menschen uns selbst bereiten – es gibt das erlösende Licht, daran glaubt der Autor ganz fest. Und es gibt in diesem eindrucksvollen Text, der den deutschen Leser an die Hand nimmt und ihm eine ganz andere Seite seines eigenen Landes zeigt – und auch eine ganz andere Seite des Antisemitismus – es gibt in diesem eindrucksvollen Text eine Lichtgestalt: Janica. Die junge Frau, die Jugendliebe des kleinen persischen Juden, verkörpert das wahrhaft Menschliche, das, wofür es sich zu leben lohnt, wie Behnaz, seine persisch-jüdische Verwandte ihm in Los Angeles erklärt. Janica liebt Arye. Für das, was er ist. Und sie ist bereit, Grenzen zu überschreiten – für die Liebe. Sie ist bereit, Jüdin zu werden, um diese Liebe leben zu können. Shalicar selbst schreibt, dass er sich gegen sie entscheidet. Mit seinem Verstand, nicht seinem Herzen. Vielleicht hat er in dieser Welt recht, sich so zu entscheiden? Vielleicht ist es vernünftig? Man ist versucht an Hermann Hesses ›Siddhartha‹ zu denken, an die vielen Häutungen, die der junge Gautama in seinem Leben durchleben musste, um bei sich anzukommen.
Shalicar hat eine erste wichtige Häutung hinter sich. Es ist ein Bekenntnis zu einem sehr alten Teil in ihm. Und konsequent führt ihn sein Weg nach Israel. Doch er selbst deutet zum Schluss an, dass dies nur ein erster Schritt ist. Er will vielleicht in die Politik, schreibt er.
Wer weiß? Er hat so viel, was man im heutigen Israel braucht, um Frieden schließen zu können mit seinem Feind, mit sich selbst: Er weiß, was es heißt, unterdrückt, verfolgt, verachtet zu werden. Er weiß um die Mentalität der Menschen aus dem Nahen Osten. Er weiß, was es heißt, Jude in der Diaspora zu sein, und was es nun heißt, Jude im jüdischen Staat zu sein. Er weiß, was Gewalt ist und was Rassismus, was Engstirnigkeit und was Hass. Und er weiß, was Liebe ist. Wer weiß – vielleicht ist Arye Sharuz Shalicar der Hoffnungsträger für einen friedvollen Nahen Osten? Wer meint, ich übertreibe, der sei daran erinnert, dass vor 49 Jahren sich auch kein Mensch vorstellen konnte, dass ein kleiner Junge aus Hawaii eines Tages als Präsident der Vereinigten Staaten versucht, die Welt ein wenig friedlicher zu machen.
Wäre das so schlecht für Deutschland? Wenn ein Junge aus Wedding eines Tages dasselbe im Nahen Osten versuchen würde? Ich glaube an Märchen? Mag sein. Zumindest in diesem Punkt halte ich mich gerne an Theodor Herzl: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen!«.
Der junge Arye Sharuz ist erst am Anfang. In Wedding waren seine Lehrjahre. In Israel haben seine Wanderjahre begonnen. Man darf gespannt sein auf Shalicars Meisterjahre.
Richard C. Schneider
Tel Aviv, Juli 2010
Alles hat seine Stunde und seine Zeit für jedes Vorhaben unter dem Himmel
Buch Prediger (Kohelet), Kapitel III
Im jüdischen Morgengebet heißt es: »Gesegnet seiest Du, Herr, unser Gott, König der Welt, dass Du mich nicht als Heiden erschaffen hast.« Täglich danken mehrere Millionen gläubige Juden in der Welt G’tt dafür, dass sie nicht als Heiden, als Menschen ohne Religion, das Licht der Welt erblickt haben. Ich hätte bis vor einigen Jahren noch denjenigen gehasst, dem ich es zu verdanken hatte, nicht als Heide zur Welt gekommen zu sein. Man kann es als Heide ziemlich leicht haben. Abgesehen von einigen Extremfällen, auf die man vorbereitet sein sollte. Wenn man Heide ist, gibt es keine Essensvorschriften zu beachten, noch muss man seine Zeit in Gotteshäusern »verschwenden«, nur weil die Eltern es für richtig halten. Vor allem braucht man sich als Heide normalerweise nicht vor Beleidigungen, Schlägen, Tritten und Vertreibungen fürchten, denen man, wie die Geschichte lehrt, als Gläubiger ausgesetzt ist. Und zwar in erster Linie von Andersgläubigen.
Wenn ich zurückdenke an meine Kindheit, und das tue ich häufig, erinnere ich mich an Zeiten, in denen ich alles aß, was mir in die Hände geriet. Ich war mit Freunden oft am Imbiss Currywurst essen. Brot, das ich heute wie Gold behandle, warf ich weg, wenn es nicht mehr ganz so weich war wie beim Einkauf. Und Weihnachten war für mich wie für alle meine Freunde die schönste Zeit im Jahr. Nicht aus religiösen Gründen, sondern wegen der Weihnachtsbäume, der Lichter und Geschenke.
Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr war ich ein kleiner Junge ohne jegliches Gefühl für Religion. Ich fühlte mich vollkommen frei von jeglicher Verpflichtung und empfand keine Andersartigkeit. Sehr langsam, Schritt für Schritt, von einem Erlebnis zum nächsten, musste ich begreifen, dass ich doch »anders« bin. Dass ich etwas verkörpere, dass ich Mitglied einer Religionsgemeinschaft bin, ob ich will oder nicht. Einer Religionsgemeinschaft, die für viele Menschen abstoßend ist und sie dazu veranlasst, einen anders anzusehen, nicht mehr zu akzeptieren. Die Freunde plötzlich zu Feinden macht, von einem Tag auf den anderen.
Es geht hier nicht um die traurige Geschichte der Juden Spaniens während der Reconquista gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Noch handelt es sich um die Chmielnitzki-Massaker des 17. Jahrhunderts. Es geht auch nicht um einen der vielen Pogrome, denen Juden, mal hier, mal da, ausgesetzt waren während der letzten Jahrhunderte, ja, man kann ruhig Jahrtausende sagen. Ausnahmsweise geht es auch nicht um die geplante Ausrottung des Weltjudentums in den Jahren des Dritten Reiches. Obwohl meine Geschichte im Herzen der Hauptstadt des ehemaligen Nazireiches spielt.
Meine eigene wahre Geschichte spielt in der heutigen Zeit, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, in der Hauptstadt Deutschlands. In Berlin, wo ich mein Kindheit verbracht habe, wo ich zur Schule ging. Dieser Stadt habe ich heute den Rücken gekehrt. Mein Berlin war nämlich nicht das Berlin der Nachrichten, der Touristen oder der Künstler. Ich habe ein Berlin des Hasses und der Vorurteile erlebt, und das über Jahre. Ich fühlte mich bedrückt und gequält. Ich fühlte mich nicht mehr frei. Ich fühlte mich nie mehr so frei, wie ich mich gefühlt hatte, bis ich dreizehn wurde. Dann zogen wir in den Wedding.
Wie oft wurde ich gefragt: »Was bist du? Türke? Araber? Muslim?«
Wie oft haben sich meine Antworten geändert. Von »Perser« bis »halb Deutscher, halb Perser«, von »halb Israeli, halb Perser« bis »Jude«. Irgendwann zwischendurch antwortete ich auf diese Frage, und ich fand es nicht einmal lächerlich, mit Prozentangaben: »30 Prozent Deutscher, weil ich hier geboren bin und den deutschen Pass besitze, 30 Prozent Perser, da meine Eltern aus dem Iran stammen und wir zu Hause persisch sprechen und essen, und 40 Prozent Jude.« Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon das Gefühl, dass meine »jüdische Identität« das Ausschlaggebende war. Ursprung, Kultur, Volk!
Die Entwicklung zog sich über mehrere Jahre hin. In dieser Zeit wuchs mein Stolz darauf, jüdisch zu sein. Nun werden Sie sich vielleicht fragen: Wie kann man in der heutigen Welt darauf stolz sein, Mitglied gerade dieses Volkes, gerade dieser Religion zu sein? Und ich möchte Sie fragen: Sind die Juden nicht schon immer bekannt dafür gewesen, dass sie sehr stolze Menschen sind? Dass ihnen das »Jüdisch-Sein« als das Allerwichtigste galt und gilt? Dass sie lieber in den Tod gingen, bevor sie sich zum Konvertieren zwingen ließen? Das kam oft genug vor. Beim Bar-Kochba-Aufstand im 2. Jahrhundert, in Spanien und Portugal gegen Ende des 15. Jahrhunderts oder in der iranischen Stadt Maschhad Mitte des 18. Jahrhunderts.
Warum waren bzw. sind all diese Menschen so stolz auf das G’tt gegebene Juden-Dasein? Die Motive unterscheiden sich nicht so sehr von meinen Motiven. Sie haben um ihr Leben fürchten müssen wegen der Gewalt von Menschenhorden, die von einer unglaublichen Dummheit gelenkt wurden. Sie mussten aufpassen, wann sie auf welcher Seite der Straße liefen, um eventuellen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Sie wurden angespuckt und getreten, verflucht und öffentlich gedemütigt. Täglich. Wieder und wieder. Nicht weil sie Mörder waren, nicht weil sie Kinder misshandelten. Sicher nicht, weil sie dreckig und verlaust waren. Sondern nur aus einem simplen Grund: dem G’tt gegebenen Juden-Dasein.
All diese Demütigungen haben sie stolz gemacht. Sie haben sie stark gemacht, stark genug, um alles zu überstehen. Genauso erging es mir. Genau das hat auch mich stolz gemacht. So stolz, dass ich mich heute als Gewinner betrachte. Denn heute weiß ich, wo ich wirklich hingehöre. Vorbei sind die Jahre des Zweifels über mein »wahres Ich«. Vorbei die vielen langen Momente, in denen ich das Jude-Sein gehasst habe.
Ich habe lange gebraucht, bis ich so weit war. Ich musste viel lesen. Ich musste viele Kurse an der Universität besuchen. Ich musste den klugen Ratschlägen meiner Mutter folgen und lange, sehr lange Diskussionsabende mit meinem Vater überstehen. Um all das zu verstehen, was ich anfangs überhaupt nicht verstand. Aussagen wie »Ihr Juden seid alle nur geldgeil« oder »Juden sind alle intelligent«. Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass die Menschen ihre Vorurteile in der Regel von ihren Eltern und ihrem Umfeld beigebracht bekommen. Vorurteile werden von Generation zu Generation weitergegeben. Deshalb wollte ich weg aus dem Wedding, weg aus Berlin. Ich wollte nicht, dass meinen Kindern womöglich eines Tages dasselbe passiert. Dass sie in einem Umfeld leben müssen, in dem mindestens jeder Zweite einen sekundenlang mustert, wenn er hört, dass man Jude ist. Und man dann genau weiß, was in seinem Kopf vorgeht. In einem Umfeld, in dem ein Mädchen wie meine Freundin Janica sich auf der Straße fragen lassen muss, warum sie denn mit »diesem dreckigen Juden« zusammen sei. Wirklich frei konnte ich mich nur noch im Urlaub fühlen. Manchmal trug ich dort sogar wieder den Davidstern an einer Kette um den Hals. Nur um zu erfahren, wie ich deswegen angesehen würde. Und ich wurde nicht mit hasserfüllten Blicken durchbohrt, egal, wo ich war, in den USA oder in Kroatien, Italien oder Belgien.
Eine Frage wurde mir allerdings auch außerhalb Deutschlands öfter gestellt: Ob ich als Jude denn keine Probleme mit den Deutschen hätte, die vor einigen wenigen Jahrzehnten alle Juden ausrotten wollten? Es gibt auch in Deutschland noch Orte, in denen Deutsche gerne mal »den Juden über den Marktplatz jagen würden«. Ich hatte jedoch, G’tt sei dank, nie die Gelegenheit, »diese Deutschen« kennenzulernen. Stattdessen wurde ich von jungen Muslimen durch die Straßen gejagt. Diesen neuen muslimischen Antisemitismus in den Straßen Deutschlands habe ich jahrelang am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Als Jude im Wedding.
Deshalb habe ich mich mit 23 Jahren dazu entschlossen, das Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, zu verlassen und aus Deutschland wegzuziehen. In ein anderes Land, weit weg von meiner Jugendzeit. In ein Land, wo ich als Mitbürger vollständig akzeptiert würde. In ein jüdisches Land, in dem ich frei bin als das, was ich bin und bis zu meinem letzten Tag sein werde: ein Jude.
Keine noch so brutale Unterdrückung und keine noch so raffinierte Verleumdung wird die Sehenden darüber täuschen, was für geistige und moralische Werte in dem Volk der Juden stecken.
Albert Einstein
Spandau ist der westlichste Bezirk Berlins. Dort habe ich meine Kindheit verbracht. Es ist eine Stadt für sich. Mit verschiedenen Siedlungsgebieten, riesigen Parkanlagen, langen Wasserstraßen, einem großen Fußballstadion, in dem auch internationale Spiele ausgetragen werden, vielen Schulen und Freizeitheimen und einer netten Mischung von Menschen, die von überall her nach Spandau gezogen sind, um in diesem Bezirk glücklich zu werden.
Während der sechs Jahre meiner Grundschulzeit war ich am engsten befreundet mit Erdal, einem Türken, wie ich in Deutschland geboren. Und mit Tim, einem Jungen, dessen Mutter es irgendwie geschafft hatte aus Jena nach Westberlin zu ziehen. Bis heute ist mir nicht wirklich klar, wie ihr das Anfang der 80er-Jahre gelungen war. Tim wohnte nur einige Häuser weiter. In der Grundschule waren wir in derselben Klasse und dort noch mit einigen anderen Jungs, einem Kurden namens Asif, einem Tschechen namens Janos und einem Kroaten, der Mirko hieß, befreundet.
Manchmal rief man sich statt mit dem Namen mit dem Land, aus dem die Eltern oder man selbst gekommen waren. Dann hieß Tim Ossi, Mirko wurde Jugo genannt und mich nannten alle gerne Perser, weil meine Eltern aus dem Iran stammen. Unser gemeinsames Hauptanliegen während der ganzen Grundschuljahre waren weder die Mathestunden noch die Englischstunden oder sonst irgendwelche Stunden, sondern die Pausen. Wir alle gingen in den Unterricht nur mit dem einen Gedanken »Wann ist endlich Pause?«. Dann rannten wir alle so schnell wie möglich hinaus, um, wenn auch nur für wenige Minuten, Fußball zu spielen. Nach der Schule ging es weiter mit dem Fußballspielen bis spät in den Abend hinein.
In der Grundschule war ich ein durchschnittlicher Schüler. Einer von der Sorte, die sich über jede Freistunde freuen. Am besten fand ich deshalb an meinem Wochenstundenplan, dass ich wöchentlich zwei Freistunden mehr hatte als fast alle Anderen aus meiner Klasse. Alle hatten zwei Mal wöchentlich Religionsunterricht. Alle außer Erdal, Asif, drei türkischen Mädchen und mir. Ich habe das mit Freude so hingenommen. Ich habe nie nachgefragt, wieso ich der kleinen Gruppe von glücklichen Schülern angehörte, die mehr Freizeit hatten als der Großteil der Klasse. Ich vermutete, dass man mich für einen Türken hielt, und aus welchen Gründen auch immer mussten eben Türken diesen Unterricht nicht besuchen. Irgendwann fragte mich meine Klassenlehrerin, wo ich denn eigentlich ursprünglich her sei. Ich war etwas irritiert, doch ich merkte, dass sie wissen wollte, aus welchem Land meine Eltern stammten, und sagte es ihr. Das änderte nichts an meinem Status. Vom Religionsunterricht blieb ich weiterhin ausgeschlossen. Wegen der dunklen Haut, den dunklen Haaren und den dunklen Augen wurde ich anscheinend mit Erdal und Co. in einen Topf geworfen. Dass dieser Unterricht ein christlicher Religionsunterricht war und ich als Nichtchrist davon ausgeschlossen war, wusste ich nicht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was das Wort Christ bedeutete oder das Wort Religion. Diese beiden Wörter tauchten weder bei mir zu Hause noch auf dem Fußballplatz auf.
Vor den Sommerferien war ich immer in Hochstimmung. Mein Ferienprogramm, wenn wir nicht verreisten, bestand darin, jeden einzelnen Tag, egal bei welchem Wetter, den Supersommerferienpass einzustecken und diesen Tag im Gatower Schwimmbad zu verbringen. Dort kannte mich fast jeder. An Weihnachten gab es zu Hause Jahr für Jahr dieselbe merkwürdige Diskussion, aus der ich nie so richtig schlau wurde. Jedes Jahr vor Weihnachten erzählte ich meinen Eltern, dass alle meine Freunde bei sich einen Weihnachtsbaum hatten und Geschenke in Massen bekamen. Das war zumindest der Fall bei Tim, der immer eine lange Liste mit all seinen Wünschen zusammenstellte. Er steckte die Liste in einen Schuh und wartete darauf, vom Weihnachtsmann beschenkt zu werden. Offensichtlich war Tim ein guter Junge, denn er bekam alle Wünsche erfüllt. Das posaunte er jedenfalls herum. Ich war neidisch und ich wollte und konnte nicht verstehen, wieso meine Eltern sich weigerten, auch bei uns zu Hause einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Was war schlimm an einem Tannenbaum mit vielen Lichtern dran?
Zu Ostern suchten meine Freunde Eier, was ich sehr lustig fand und auch machen wollte. Also wollte ich, dass meine Eltern ebenfalls bunte Eier versteckten, die wir drei Kinder dann suchen konnten. Es gab jedes Mal ein Riesentheater, weil meine Eltern der Meinung waren, dass das Osterfest, wie auch Weihnachten, nicht unsere Feste seien. Unsere Feste? Ihre Feste? Wenn Weihnachten nicht auch mein Fest ist, fragte ich daraufhin immer, was ist dann unser Fest und was bedeutet das überhaupt, »unser Fest«? Waren wir denn anders als die Anderen? Wenn ja, wie anders? Niemand war bereit, mir meine Fragen richtig zu beantworten.
»Gefällt dir dieser Quatsch mit Lichteranzünden und Geschenkekriegen zu Weihnachten wirklich so sehr? Du kriegst auch so genug Geschenke zwischendurch, wieso muss es denn unbedingt zu Weihnachten sein?«, fragte mein Vater. »Weil alle meine Freunde Geschenke zu Weihnachten bekommen und ich nicht einsehe, wieso ich keine bekommen sollte«, antwortete ich. Ganze drei Jahre diskutierte ich mit meinen Eltern – Geschenke zu Weihnachten hin, Geschenke zu Weihnachten her, Weihnachtsbaum hin, Weihnachtsbaum her. Ein schön geschmückter Weihnachtsbaum wie bei allen andern stand nie bei uns zu Hause, doch Geschenke gab es von da ab jedes Jahr und zwar zu Chanukka. Das war anscheinend unser Fest und es fiel auf die Weihnachtszeit. Was genau Chanukka war, wollten sie mir nicht erklären. Tim und Erdal hatten auch keine Ahnung, als ich sie fragte, ob sie wüssten, was Chanukka ist. War mir auch vollkommen egal. Es ging mir eigentlich nur um die Geschenke, die ich von da ab immer bekam. Das reichte mir für die nächsten Jahre. Jetzt konnte auch ich damit angeben, dass ich alle Wünsche erfüllt bekommen hatte. Ich war eben ein kleiner Junge.
Kurz vor Abschluss der Grundschule machten wir einen Klassenausflug zur Carlo-Schmid-Oberschule. Alle sechsten Klassen Spandaus waren zu einer Anne-Frank-Ausstellung, die in dieser Schule stattfand, eingeladen. Unsere Klassenlehrerin bereitete uns am Tag vorher auf die Ausstellung vor. Sie erzählte uns, dass die Ausstellung von einem jüdischen Mädchen handelte, das mit seiner Familie zur Zeit des Holocaust Zuflucht im Hinterhaus der Firma ihres Vaters Otto Frank gefunden hatte, und dass Anne Frank ein Tagebuch geschrieben hatte, in dem sie ihr Leben im Versteck beschrieb. Kurz vor Ende der Naziherrschaft wurde sie dann von den Nazis entdeckt und ermordet. Ich war zwölf Jahre alt und ein fanatischer Fußballspieler, der absolut keine Lust hatte, auf irgendwelchen Ausstellungen abzuhängen. Ganz bestimmt war ich nicht begeistert vom Besuch in geschlossenen Räumen an einem netten Sommertag, an dem man ein noch viel netteres Fußballspiel hätte haben können. Auf der Ausstellung lungerte ich mit Tim und Erdal in einer Ecke herum. Es wurde ein Diafilm abgespielt und überall in der Schule waren Bilder und Gegenstände aus der Zeit des Holocaust ausgestellt, die in Verbindung zu Anne Frank standen. Den Film sah ich mir erst gar nicht an und die Bilder nur ganz flüchtig. Betroffen oder angesprochen vom Schicksal der Anne Frank fühlte ich mich nicht. Warum sollte ich als Deutsch-Perser mich dafür interessieren, was in irgendeinem schlimmen Krieg einem Volk widerfahren war, das sich Juden nannte.
Das Programm ging bis in den Nachmittag hinein. Das haben Tim, Erdal und ich allerdings erst am nächsten Tag von unserer Lehrerin erfahren. Wir hatten uns nämlich schon gegen Mittag aus dem Staub gemacht, um das Wetter zum Fußballspielen zu nutzen. Unsere Lehrerin war sehr verärgert, dass wir früher als alle anderen die Ausstellung verlassen hatten und so wenig Interesse zeigten. Dass uns ein ganz normales Fußballspiel am Nachmittag wichtiger war als das Schicksal einer Person, die weltweit bekannt wurde mit ihrem Tagebuch. Nach der Standpauke verließen wir ihr Büro und lachten darüber. Was will die Alte überhaupt von uns? Meint die etwa, wir hängen da den ganzen Tag rum und langweilen uns. »Was interessieren uns irgendwelche Juden?«
Nach der Grundschule wechselte ich auf das Carl-Friedrich-von-Siemens-Gymnasium in Siemensstadt, das zwischen Spandau und Charlottenburg liegt. Morgens setzte ich mich in die U-Bahn und fuhr die sieben U-Bahn-Stationen zur Schule und am Nachmittag fuhr ich dieselben sieben Stationen wieder zurück, ohne irgendetwas Interessantes gelernt zu haben. Danach ging ich Fußball spielen und am Abend guckte ich Fernsehen. Das ging eine Weile gut, bis dann etwa eine Woche vor Abschluss der 7. Klasse ein blauer Brief bei mir zu Hause auf dem Tisch lag. Darin wurde mit mehr oder weniger netten Worten erklärt, dass mein Notendurchschnitt nicht ausreichte und ich deshalb das Jahr zu wiederholen hätte.
Das zweite Mal in der 7. Klasse fühlte ich mich zwar älter und cooler als die »Oberschul-Neulinge«, doch die Noten sahen immer noch schlecht aus. Außerdem stand ich mit meinem frechen Benehmen bei einigen Lehrern auf der Abschussliste. Eine Lehrerin hatte es besonders auf mich abgesehen. Wie schon in der ersten 7. Klasse hatte ich auch in der zweiten die Fächer Erdkunde und Geschichte bei ihr. Und wie schon ein Jahr zuvor wollte sie mir im Wiederholungsjahr wieder Fünfen geben. In beiden Fächern. Gegen Ende des Jahres riss ich mich jedoch zusammen, schrieb einige gute Tests und dachte, ich sei meine Sorgen los. Doch kurz vor Zeugnisausgabe las sie im Unterricht Tendenzen vor und da hieß es bei mir »zwischen Vier und Fünf, gefährdet in beiden Fächern«. Noch am selben Abend riefen mein Vater und ich bei ihr an und schafften es während eines sehr langen Telefongespräches, in dem es an Beleidigungen und Schreiereien nicht fehlte, sie davon zu überzeugen, dass sie sich für die Note Vier entschied. Zumindest in einem Fach. Bis zum heutigen Tag liegt mir im Magen, was ich ihr damals am Telefon zuschrie: »Geschichte ist das Letzte auf Erden, wofür ich mich interessiere. Ich weiß jetzt schon, dass ich nie, bis ans Ende meines Lebens, wirklich nie eine Sekunde damit verlieren werde, über die Geschichte eines Volkes nachzudenken.« Ich schaffte das Jahr dann doch, mit Ach und Krach.
Danach flogen wir alle nach Israel in den Urlaub. Und zwar zu meiner Familie, meinen zwei Großmüttern, meinem Großvater, mehreren Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins. Es war das vierte oder fünfte Mal, dass ich mit im Flugzeug saß und zu meinen Großmüttern in ein Land weit weg von meiner Heimat flog. Es war eben meine engste Verwandtschaft. Wen interessierte schon, warum sie in welchem Land lebten. Eigentlich freute ich mich immer sehr auf Israel. Ich liebte das Meer, die Sonne und den Strand. Das hatte ich in Berlin nicht. Ich genoss es sehr, mit meinen Cousins ans Meer zu gehen.
Dieses Mal jedoch stellte ich mir die Frage, wieso meine Familienmitglieder eigentlich fast alle statt in deren Heimat Iran in Israel lebten. Und wieso ich selber nie die Heimat meiner Eltern besuchte und stattdessen regelmäßig ein Land, das mir per se gar nichts bedeutete. Ich sprach meine Eltern darauf an. Sie erzählten mir von einem schlimmen Regime im Iran, das von vermummten ultrareligiösen Figuren, den Ayatollahs, geleitet werde und den Iran wieder ins Mittelalter zurückwerfe. Frauen seien vieler Freiheiten beraubt worden und müssten wieder den Tschador oder das Kopftuch tragen. Alles, was mit der modernen westlichen Welt zu tun habe, sei verboten. »Man lebt dort in einer rückständigen Welt und man hat keine Meinungsfreiheit«, erklärten sie. In Israel hingegen hatte man seine Freiheit, zumindest sah ich keine Frauen mit Kopftuch. Und so dachte ich mir, dass der Großteil meiner Verwandten einfach eine neue Heimat gefunden hatte, die eben Israel hieß, genauso wie meine Eltern eine neue Heimat namens Deutschland für sich entdeckt hatten.
Während unserer Aufenthalte in Israel war immer wieder mal die Rede davon, ob dieses Sommerland auch irgendwann meine Heimat sein würde. Natürlich konnte ich mir vorstellen, eines Tages in diesem schönen Palmenland zu leben und jeden Tag mit meinen Cousins ans Meer zu gehen. Diese Idee fand ich sehr reizvoll. Vielleicht konnte ich Erdal und Tim auch überreden, mit nach Israel zu ziehen. Dann könnten wir im Meer schwimmen statt in Gatow rumzuhängen. Außerdem war ich gerade dabei herauszufinden, dass ich jedes einzelne israelische Mädchen gutaussehend fand. In Israel zu leben, mit seiner ewigen Sonne, seinem wunderschönen Meer, dem endlosen Strand, den Tausenden Palmen, meiner Familie und den wunderschönen Mädchen, was gab es Besseres auf Erden?
Meine Großeltern und einige Onkel und Tanten versuchten, meine Eltern zu überzeugen, nach Israel einzuwandern. Doch meine Eltern meinten immer, dass es ihnen in Deutschland ziemlich gut gehe und dass man sehen werde, was die Zukunft so bringt.
Ich genoss die Zeit und war schon Tage vor unserer Rückkehr ziemlich bedrückt, weil ich alle und alles verlassen musste, woran ich mich in meinen Sommerferien gewöhnt hatte. Als der Abschied kam, war ich blind vor Tränen. Alle Familienmitglieder waren noch einmal zusammengekommen, alle weinten und umarmten sich. Wir wurden mit Geschenken verwöhnt: Hummus, Bananenlikör, israelische Würste, Kekse. Doch ich bekam etwas ganz Besonderes, und zwar jeweils eine Goldkette von jeder Großmutter. An einer Kette hing ein Goldanhänger, ein viereckiges Stück Gold, in das zwei »S« eingraviert waren, die Anfangsbuchstaben meines Namens. Der zweite Anhänger war jedoch weitaus interessanter. Es waren zwei Dreiecke, ein smaragdgrünes und ein bordeauxfarbenes, wie verkehrt herum miteinander verbunden, ein Stern, eine schöne Figur. Natürlich wollte ich wissen, warum meine Großmütter mir so teuren Schmuck schenkten. Ich fragte meine Großmutter väterlicherseits und sie erklärte mir, dass ich diese Goldketten zu meinem 13. Geburtstag nachträglich bekommen hätte. Der 13. Geburtstag, so sagte sie, sei etwas ganz Besonderes bei uns. Ich sei jetzt ein erwachsener Mann und es solle ein Andenken sein an meine Bar-Mitzwa. Eine Bar-Mitzwa, die nie stattfand.
Ich bin ein Deutscher und ich bin Jude, das eine so sehr und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen.
Jakob Wassermann, Juden in Deutschland (1921)
Kurze Zeit nach unserer Rückkehr beschlossen meine Eltern, ein Geschäft zu übernehmen, eine Boutique mit Änderungsschneiderei. Das hatte positive und negative Aspekte. Positiv war vor allem, dass meine Mutter mehr zu tun hatte als einzukaufen, zu kochen und zu Hause auf ihre Kinder und ihren Ehemann zu warten. Jetzt war sie eine selbstständige Unternehmerin, die die alleinige Verantwortung für das Geschäft trug. Mein Vater arbeitete weiterhin bei Karstadt, wo ihm seine Position sehr gefiel. Positiv war auch das größere Einkommen. Ich sah meine ersten Nike-Schuhe endlich in Reichweite. Negativ war jedoch, dass meine Eltern das Geschäft ziemlich weit entfernt gekauft hatten, in einer ganz anderen, uns allen nicht bekannten Ecke Berlins. Es dauerte ungefähr eine Stunde, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von Spandau dorthin zu kommen. Man musste mehrere Bus- und Bahnlinien benutzen.
Nun waren nicht nur meine Eltern den ganzen Tag getrennt, sondern auch meine Mutter und zumindest wir älteren Kinder. Mein Vater arbeitete im Bezirk Neukölln bis um 19 Uhr und meine Mutter bis 18 Uhr im Bezirk Wedding. Sie fuhr mit meinem kleinen Bruder Richard täglich dorthin. Richard schickten sie auf eine Grundschule, die um die Ecke vom Geschäft meiner Mutter lag. Er war deshalb nach der Schule bis zum Abend mit ihr zusammen. Meine Schwester besuchte dieselbe Grundschule, auf der auch ich vorher gewesen war, in unmittelbarer Umgebung unserer Wohnung in Spandau. Ich selbst ging nach der Schule oftmals trainieren. Dann war auch ich erst am Abend zu Hause.
Einige Monate vergingen. Meine Mutter begann täglich davon zu schwärmen, wie schön es doch wäre, wenn wir alle mehr in ihrer Nähe wären. Sie vermisse ihre Kinder. Meine jüngere Schwester Shabnam Leital und ich waren von der Idee umzuziehen nicht sehr begeistert. Wir hatten alle unsere Freunde in Spandau. Das interessierte meine Eltern jedoch wenig. Freunde kann man immer wieder neu finden und die alten Freunde kann man jederzeit besuchen. Bald waren wir auch schon mitten im Umzug. Es waren wieder Sommerferien und wir zogen von Spandau nach Wedding.
Unsere neue Wohnung gefiel mir sehr. Sie hatte zwei Etagen, eine eigene Terrasse und einen eigenen Hauseingang und war schon fast wie ein Häuschen für sich. Ich meldete mich auf dem Diesterweg-Gymnasium in der Pankstraße an. Meine neue Schule war drei Straßen von unserem Zuhause entfernt. Im Bezirk Wedding fühlte ich mich anfangs sehr fremd. Überall sah ich Jugendliche miteinander reden und Jungs und Mädchen miteinander spielen. Doch ich war ganz allein. Ich kannte niemanden. Sogar mein kleiner Bruder kannte mehr Leute als ich. Er ging ja seit einem halben Jahr auf die dortige Rudolph-Wissel-Grundschule. Verreisen wollten wir dieses Jahr wegen des Umzugs nicht. Die Schulen waren noch für über einen Monat geschlossen. Deshalb konnte ich nicht einmal Freundschaften in meiner neuen Klasse schließen. Wo hatte ein Neuankömmling wie ich die Gelegenheit Gleichaltrige kennenzulernen? Natürlich auf dem Fußballplatz.
Aber irgendwie war alles anders als in Spandau. Mir fiel auf, dass es kaum richtige Deutsche gab in meiner Nachbarschaft. Die meisten Menschen, die ich auf der Straße herumlaufen sah, ähnelten eher mir als Tim. Damit meine ich, dass fast alle meine Nachbarn schwarze Haare und dunkle Haut hatten. Das Bild war keineswegs anders auf dem Fußballplatz zwei Straßen weiter. Nicht nur, dass es dort kaum Deutsche gab, es wurde nicht einmal deutsch gesprochen. Das war für mich überhaupt kein Grund, vom Fußballfeld Abstand zu halten. Ganz im Gegenteil. Ich war sehr interessiert daran herauszufinden, ob mein Spandauer Fußball besser war als deren Weddinger Fußball. Die ersten Jugendlichen, die ich auf dem Fußballfeld kennenlernte, waren fast alle entweder türkischer oder kurdischer Abstammung. Einige waren jugoslawisch, polnisch oder arabisch. Sehr außergewöhnlich war, wenn jemand »nur« deutsch sprechen konnte bzw. nicht in der Lage war, eine andere Sprache zu sprechen, weil er nun mal »nur« deutsch war.