Deutsche Erstausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2021
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2021 Ravensburger Verlag GmbH
Text © 2021 Lyla Payne
Umschlaggestaltung: unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock (janniwet, emi13, Lukasz Szwaj und MrVander)
Übersetzung: Sabine Tandetzke
Lektorat: Tamara Reisinger, www.tamara-reisinger.de
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-473-47159-1
www.ravensburger.de
Josephine
Der Wecker schrillte wie jeden Morgen um die gleiche Zeit. Und wie jeden Morgen stellte ich ihn ab, bevor er zum zweiten Mal losgehen konnte.
Obwohl ich eigentlich eine Frühaufsteherin war, reckte ich mich schlaftrunken und drehte mich stöhnend auf die andere Seite. Ich wünschte, mein Freund hätte nicht gehen müssen, nachdem ich eingeschlafen war. Dann könnten wir jetzt gemeinsam aufwachen und uns gegenseitig wärmen.
In den Nächten, in denen er neben mir einschlief, wurde ich morgens von seinen weichen Lippen auf meiner Schulter geweckt – eine wesentlich angenehmere Art aufzuwachen, als durch den durchdringenden Alarm meines Handys.
Mein Herz schlug schneller, als ich an seine Lippen dachte, an seine Hände und an sein Lächeln. Ich konnte immer noch nicht fassen, wie viel mir an ihm lag und wie unwahrscheinlich mir das alles noch vor ein paar Monaten vorgekommen war.
Trotz allem, was ich schon durchgemacht hatte, trotz der Probleme wegen meiner Eltern und trotz allem, was mein Leben in der Middle School auf den Kopf gestellt hatte, hatte ich doch noch einen Weg gefunden, wieder jemandem zu vertrauen.
Jetzt lag die Zukunft strahlend hell vor mir. Vielleicht war das schon immer so gewesen, und ich hatte es bloß nicht sehen können, aber mit ihm an meiner Seite war es keine Frage mehr.
Vielleicht würde es nicht immer einfach sein, aber ich wusste, dass ich mit allem klarkommen konnte, solange wir zusammen waren.
Bei diesem Gedanken durchflutete mich ein aufgeregtes Kribbeln, und wieder wünschte ich, er wäre hier, um mich zu wecken.
Ich wusste, dass ich ihn in weniger als einer Stunde in der Schule sehen würde. Wahrscheinlich würde er wie fast jeden Tag unter der Virginia-Eiche auf mich warten, und doch fehlte er mir heute Morgen irgendwie.
Gähnend setzte ich mich auf und griff nach meinem Handy.
Seine Worte entlockten mir ein Lächeln. Er kannte mich so gut wie ich selbst. Manchmal sogar besser.
Er war immer früh dran – sogar früher als ich, was wahrscheinlich einer der Gründe war, warum wir beide uns ein heißes Rennen um den Titel des Jahrgangsbesten lieferten.
Unwillkürlich musste ich kichern, obwohl mir bei dem Gedanken, was er außer einem vorgetäuschten Schmollen mit seinen Lippen noch so alles anstellen konnte, ein Schauer über den Rücken lief. Die Sehnsucht, ihn so schnell wie möglich zu küssen, brachte mich dazu, mein Handy neben mir aufs Bett zu werfen und eine Mega-Kurzversion meiner Morgenroutine durchzuziehen. In Rekordzeit war ich geduscht, hatte mir die Haare geföhnt und Make-up aufgelegt. Dann schlüpfte ich in den Pulli mit U-Boot-Ausschnitt, der ihm so gut gefiel. Ich hatte eigentlich schon vorgehabt, ihn auszumustern, als mir aufgefallen war, wie fasziniert mein Freund die Stelle zwischen Hals und Schlüsselbein anstarrte.
Beim Gedanken an diesen Blick wurde mir ganz heiß. Die Aussicht, ihn in wenigen Minuten vor der Schule im Café zu treffen – endlich wieder sein Lächeln zu sehen, seine Lippen auf meinen zu spüren –, machte mich vor Aufregung ganz kribbelig. Und ehe ich mich versah, war ich auch schon unterwegs.
Josephine
Voller Angst stürmte ich durch die Haustür, ließ meine Tasche fallen und kickte mir die Schuhe von den Füßen. Dann verstaute ich sie in dem Regal, das meine Mutter in den Flur gestellt hatte, als ich noch klein war. Sie hasste es nämlich, wenn jemand im Haus Straßenschuhe trug – oder sie vor dem Eingang liegen ließ.
Genauso, wie ich den Gedanken hasste, mit meiner Mutter über irgendetwas einer Meinung zu sein. Doch die wissenschaftlich bewiesene Tatsache, dass nach nur einem Tag außer Haus mikroskopisch kleine Mengen an Hundekacke und anderen unschönen Dingen an den Sohlen klebten, hatte mich schließlich davon überzeugt, meine trotzige Haltung aufzugeben.
»Dad?«, sagte ich laut und versuchte, den panischen Unterton in meiner Stimme zu unterdrücken.
Auch wenn mir diese Selbstkontrolle inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war, hatte ich es gründlich satt, jedes Mal vor Angst fast zu sterben, wenn er nicht antwortete.
So wie jetzt auch.
Ich warf einen Blick in die Küche, auch wenn er keinen Grund hatte, sich dort aufzuhalten, und flitzte dann vom Wohnzimmer in die Waschküche, bevor ich ihn schließlich im Gästebad fand.
»Dad«, stieß ich erleichtert hervor, bis ich den blutigen Kratzer auf seinem Unterarm entdeckte. Obwohl er gar nicht so schlimm aussah, rutschte mir vor Schreck das Herz in die Hose. »Was ist passiert?«
Als er abwinkte, zitterte und zuckte seine Hand, als würde sie einem Achtzigjährigen gehören und nicht jemandem, der gerade fünfundsechzig geworden war.
»Mir geht’s gut. Ich bin bloß gestürzt, als ich die Post reinholen wollte, das ist alles.«
»Dad, ich habe dir doch gesagt, dass ich das mache, wenn ich von der Schule, von der Arbeit oder vom Matheclub nach Hause komme. Jeden Tag. Versprochen.«
»Ich wollte einfach mal etwas tun, anstatt bloß vor dem Fernseher einzuschlafen, Josephine«, fauchte er mich an.
Er war wütend, weil er hingefallen war, und wahrscheinlich auch, weil er es nicht schaffte, seine Wunde zu säubern, ohne die Gaze fallen zu lassen – seit ich hereingekommen war, hatte er sie bereits zum dritten Mal aufgehoben –, aber er war nicht wütend auf mich.
Das wusste ich. Doch obwohl ich ihn nun schon seit mehreren Jahren pflegte und hautnah erlebte, wie es mit ihm stetig bergab ging, brachte es mich immer noch auf die Palme, dass er sich weigerte, es langsamer angehen zu lassen und zuzugeben, dass er Hilfe brauchte.
Mit ein paar tiefen Atemzügen gelang es mir, mich zu beruhigen und meinen Ärger hinunterzuschlucken. Dieses ohnmächtige Gefühl, diese Wut spürte ich öfter, als ich mir eingestehen wollte. Öfter, als es okay gewesen wäre.
Ich nahm Dad den Alkoholtupfer aus der zitternden Hand und wischte damit sanft über den blutigen Kratzer. Er hinderte mich nicht daran, doch ich wusste, wie erniedrigend das für ihn sein musste. Bei dem Gedanken ballten sich die ungeweinten Tränen zu einem dicken Kloß in meiner Kehle zusammen.
Nachdem ich die Verletzung gesäubert hatte, sah sie gar nicht mehr so schlimm aus. Ich klebte eine Kompresse darauf und drückte Dad kurz mit einem Arm an mich – eine stumme Entschuldigung dafür, dass ich zu spät gekommen war und dass ich ihn wieder mal daran erinnert hatte, dass es jeden Tag mehr Dinge waren, bei denen er Hilfe brauchte, als Dinge, die er alleine bewältigen konnte.
Daran konnte ich jedoch nichts ändern. Es war mein gutes Recht, ihn zu bitten, es uns beiden zu ersparen, ihn nach solchen Situationen wieder zusammenflicken zu müssen – und mir den Schmerz zu ersparen, wenn ich das nächste Mal vielleicht nicht dazu in der Lage war.
Aber er tat mir trotzdem leid.
Als ich den Arm um Dad legte, um ihm in die Küche zu helfen, wo ich ein Auge auf ihn haben konnte, spürte ich wieder, wie knochig seine Schultern geworden waren, sein einst hochgewachsener, kräftiger Körper gebeugt und bezwungen. Daran war nicht nur seine Parkinsonerkrankung schuld, sondern vor allem die Depression, die er entwickelt hatte, nachdem ihm klargeworden war, dass diese Krankheit ihn nach und nach alles kosten würde.
Nachdem meine Mutter die Diagnose des Arztes gehört und im Internet über Parkinson recherchiert hatte, hatte sie sich mit ihrem Treuhandfonds und ihrem siebenstelligen Gehalt einfach aus dem Staub gemacht. Dabei hatte sie es nicht mal für nötig gehalten, den Suchverlauf auf unserem Familiencomputer zu löschen.
Immerhin hatte sie ein ganzes Jahr gewartet, bevor sie die Scheidung einreichte und wieder heiratete. Einen Mann mit drei Kindern, die alle jünger waren als ich.
Eine komplett neue, gesunde Familie.
Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass es nicht richtig war, völlig Fremden den Tod oder etwas anderes Schlimmes an den Hals zu wünschen, aber ein kleiner schwarzer Teil meiner Seele wollte dennoch, dass sich so etwas wie Parkinson in das perfekte neue Leben meiner Mutter schlich.
Schnell schüttelte ich die dunklen Gedanken ab und half Dad, sich an den Küchentisch zu setzen. »Ich werde uns etwas beim Chinesen bestellen«, sagte ich, als der Kloß in meiner Kehle sich wieder weitgehend aufgelöst hatte.
»Das können wir uns nicht leisten«, murmelte Dad. Seine Finger zuckten unruhig, als wäre er am liebsten aufgestanden und hätte irgendetwas getan. Stattdessen fummelte er an seinem Pullover und seiner Brille herum.
Wir konnten es uns tatsächlich nicht leisten, Essen zu bestellen, aber ich hatte heute Spätschicht und musste in einer Stunde im Burrow’s sein. Die Vorstellung, jetzt noch schnell einen Topf Spaghetti zu kochen, war mir auf einmal zu viel.
»Ich weiß, aber ich schiebe dieses Wochenende eine Extraschicht. Wir kommen schon klar. Außerdem ist heute Donnerstag, das heißt, es gibt Rindfleisch mit Brokkoli. Dein Lieblingsgericht.«
Seine Hände, die vor zwei Jahren noch nicht so verkrümmt und knotig gewesen waren, wurden plötzlich ganz ruhig, als er sie ausstreckte und auf meine legte. »Du bist ein gutes Mädchen, Josephine. Ich verdiene dich gar nicht.«
Vielleicht hatte er recht. Aber vielleicht hatte ich es auch nicht verdient, in der siebten Klasse mit einem langsam sterbenden Elternteil alleingelassen zu werden.
Im Grunde hatte keiner von uns irgendetwas von dem verdient, was seit dieser Diagnose mit uns geschehen war, aber so war das Leben. Meiner begrenzten Erfahrung nach hatte es Stiefel mit Stahlkappen und einen fiesen Charakter.
Allerdings nur einigen Leuten gegenüber.
Das Leben war nun mal nicht fair – wer auch immer das als Erstes gesagt hatte, hatte definitiv recht.
»Red keinen Quatsch«, sagte ich zu meinem Vater und gab ihm einen Kuss auf die Wange, deren raue, rötliche Haut papierdünn geworden war, ohne dass ich hätte sagen können, wann das passiert war. Sie erinnerte mich immer mehr an die meiner Urgroßmutter, kurz vor ihrem Tod. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, wie seltsam ihre Haut aussah. Irgendwie spröde, als würde sie abblättern und bei der nächsten Böe davonwehen.
Während Dad lustlos die Zeitung durchblätterte, rief ich beim China-Restaurant an und räumte in der Küche die Reste seines Mittagessens weg. Da er nicht kochen sollte, wenn ich nicht zu Hause war, handelte es sich dabei um den Rest eines Sandwiches, ein Apfelgehäuse und ein paar Chipskrümel.
Wir näherten uns unaufhaltsam dem Zeitpunkt, wo er gar nicht mehr alleine bleiben konnte, und da er keine private Krankenversicherung hatte, bezweifelte ich stark, dass Medicare die Kosten für eine häusliche Pflegekraft übernehmen würde. Zusammen mit seinem Job hatte Dad nämlich auch seine Krankenversicherung verloren, und da Mom sich aus dem Staub gemacht hatte, war er auch nicht mehr über ihre Familienpolice abgesichert.
Im Gegensatz zu mir. Was echt großzügig von ihr war.
Ich unterdrückte ein Seufzen und fing an, im Kopf meine Stunden im Café zusammenzurechnen und die offenen Rechnungen davon abzuziehen. Wie üblich blieb auf der Haben-Seite verdammt wenig übrig. Ich konnte unmöglich noch mehr Schichten annehmen, ohne aus dem Matheclub auszusteigen – und aus dem Rennen um den Titel des Jahrgangsbesten.
Streng genommen waren all diese Dinge nicht lebenswichtig, aber der Gedanke, sie aufgeben zu müssen, trug nicht gerade dazu bei, meine Laune zu verbessern.
Ein Klingeln an der Tür riss mich aus meinen Gedanken, und wenig später stand das Essen zwischen uns auf dem Tisch.
Das Gericht war heiß und köstlich, dennoch konnte ich es nicht richtig genießen, weil Dad es schweigend und in düsterer Stimmung in sich hineinschaufelte. Sobald ich aufgegessen hatte und Dad ins Wohnzimmer gegangen war, flüchtete ich mich für ein paar Minuten in mein Zimmer, um meine Arbeitskleidung anzuziehen, mein Make-up aufzufrischen und sicherzugehen, dass meine Haare nicht in alle Richtungen abstanden.
»Besser geht’s nicht«, murmelte ich in Richtung meines Spiegelbilds.
Bevor ich wieder runterging, nutzte ich die Gelegenheit, kurz mein Handy herauszuholen; ab und zu eine kleine Flucht aus der Realität musste ja wohl erlaubt sein. Davon zeugten auch die Liebesromane, die sich bei mir auf den Regalen, dem Boden und im Schrank stapelten.
Ich entdeckte einen Haufen Spam-Mails, eine WhatsApp-Nachricht von meiner Freundin May, die ich mit einem GIF beantwortete, das sie garantiert zum Lachen bringen würde, und eine private Nachricht in dem interaktiven Forum unserer Schule.
Sie war von Dr. Bernal, meinem Lehrer in Chemie II. Wir hatten gerade eine wichtige Arbeit geschrieben, für die ich nicht genug gelernt hatte, und als ich seinen Namen las, rutschte mir das Herz in die Hose.
Mist. Ich hatte wohl doch zu viele Schichten im Café angenommen. Hatte zu viele Stunden damit verbracht, online nach alternativen Behandlungsmethoden für Parkinson zu suchen. Hatte einen Liebesroman zu viel gelesen, um meine Angst im Zaum zu halten.
Mist, Mist, Mist.
Josephine,
zunächst einmal möchte ich Ihnen zu Ihrer letzten Arbeit gratulieren – Sie haben fast 100% erreicht, das mit Abstand beste Ergebnis der Klasse. Aufgrund Ihrer guten Leistungen möchte ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, einem anderen Schüler ein bisschen unter die Arme zu greifen. Er hat sehr mit dem Stoff zu kämpfen, und ich fürchte, dass er ohne die gezielte Nachhilfe von jemandem, der die Grundlagen, die wir durchgenommen haben, beherrscht, den Kurs nicht erfolgreich abschließen wird. Ich würde das ja selbst übernehmen, aber da meine Forschung beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt und der Termin für das Einreichen der Ergebnisse immer näher rückt, sehe ich mich zurzeit außerstande, zusätzlich private Nachhilfe in meinem engen Zeitplan unterzubringen.
Ich vermute, dass der Betreffende bereit wäre, etwas für diese Unterstützung zu bezahlen. Vielleicht wäre Ihnen darüber hinaus auch mit einem warmen Empfehlungsschreiben an meine frühere Universität gedient, das Sie Ihren Bewerbungen fürs College hinzufügen könnten, an denen Sie vermutlich gerade fleißig arbeiten.
Wenn möglich, lassen Sie mich vor dem morgigen Unterrichtsbeginn wissen, wie Sie darüber denken.
Dr. Bernal
Noch mal Mist! Ich hatte keine Zeit, irgendeinem armen Trottel, der mit dem Stoff hinterherhinkte oder nicht helle genug war, chemische Konzepte wie Kinetik oder die Gasgesetze zu schnallen, Nachhilfe zu geben. Wir hatten das gesamte erste Halbjahr damit verbracht, uns die Grundlagen zu erarbeiten, auf denen wir jetzt mit komplizierteren Inhalten aufbauten, um zum Ende des Schuljahres bis zu Redoxreaktionen und einigen Aspekten der Nuklearchemie vorzudringen. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, zu diesem Zeitpunkt bei demjenigen noch etwas retten zu können.
Andererseits war Dr. Bernal auf die Duke University gegangen. Er wusste, dass ich das ebenfalls vorhatte und dass, selbst wenn ich als Beste eines ausgesprochen anspruchsvollen Kurses abschloss, die Krankheit meines Vaters dafür gesorgt hatte, dass ich meine Bewerbung nicht mit außerschulischen Aktivitäten aufpeppen konnte.
Die Duke würde für mich ein Wunschtraum bleiben, da machte ich mir keine Illusionen, denn diese Uni nahm keine Studenten, die von der Highschool lediglich gute Noten mitbrachten. Oder Empfehlungsschreiben.
Davon abgesehen konnte ich sowieso nicht so weit weggehen.
Und dennoch … Ich müsste lügen, wenn ich behauptete, dass ich mich nicht trotzdem dort bewerben würde.
Verdammt.
Ich hatte wirklich keine Zeit, jemandem Nachhilfe zu geben.
Die Stimme der Vernunft in meinem Kopf ermahnte mich, noch mal darüber nachzudenken. Mir diesen Abend Zeit zu lassen und keine überstürzten Entscheidungen zu treffen. Schließlich gab es keinen Grund zur Eile.
Ich atmete tief durch und ging nach unten, wo ich die Teller in die Spüle stellte und die Reste des Essens im Kühlschrank verstaute. Dann schnappte ich mir meine Tasche und stopfte den eselsohrigen Liebesroman, den ich gebraucht gekauft und schon halb durchgelesen hatte, zusammen mit einigen Stiften hinein. Nachdem ich mich im Wohnzimmer vergewissert hatte, dass mein Vater alles hatte, was er brauchte, eilte ich aus der Tür.
Ich konnte nicht vorhersagen, wo Dad sich aufhalten würde, wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam. Ob er wieder gestürzt war – und ich vielleicht etwas Schlimmeres als nur einen kleinen Kratzer und ein bisschen Blut vorfinden würde. Oder ob er mich ganz normal begrüßen würde und alles gut wäre.
Ich hatte festgestellt, dass dies mit am schwierigsten war, wenn man mit einem schwerkranken Menschen zusammenlebte, der auf Pflege angewiesen war.
Auf weitere Lektionen dieser Art konnte ich gut verzichten. Schade, dass ich das nicht in meine Bewerbungsunterlagen schreiben konnte.
Natürlich hätte ich die Parkinsonerkrankung meines Vaters in meinem Anschreiben erwähnen können, aber das war mir dann doch irgendwie unangenehm. Es wäre mir vorgekommen, als würde ich sein Unglück dazu benutzen, um mich von meinen Mitbewerbern abzuheben. Um von ihm wegzukommen.
Mein Wagen, in dem es heiß und stickig war, obwohl er nicht lange in der Septembersonne gestanden hatte, sprang beim zweiten Versuch an. Wenn er es ohne größere Reparaturen bis zum Herbst schaffte, wäre das ein Wunder.
Und sollte er auch noch den ganzen Winter durchhalten, würde ich wahrscheinlich mitten auf dem Schulhof einen Freudentanz aufführen.
Der klapprige Wagen war eine zusätzliche Sorge und ein weiterer Grund, warum ich niemals ablehnte, wenn Twyla fragte, ob ich weitere Schichten übernehmen wollte.
Auch wenn das hieß, dass ich womöglich noch vor den Ferien gezwungenermaßen aus dem Matheclub aussteigen musste.
Noch ein Teil meines Lebens, den ich verlieren würde.
Seit meine Mutter uns verlassen hatte, zogen sich die Verluste wie ein roter Faden durch mein Leben.
Noah
Nicht mal das zusätzliche Xanax, das ich auf Anraten meines Arztes nehmen sollte, wenn die Angst zu stark wurde, reichte aus, um den Abend durchzustehen, nachdem Dr. Bernal mir die Ergebnisse meines ersten großen Tests mitgeteilt und versprochen hatte, Nachhilfe für mich zu organisieren.
Allein bei der Vorstellung, dass jemand anders erfuhr, wie sehr ich zu kämpfen hatte, und dass die Nähte, die mein Leben zusammenhielten, zu reißen drohten, hatte ich das Gefühl, als würden Tausende von Ameisen über meine Haut krabbeln.
Die Worte Ich brauche Hilfe waren mir noch nie über die Lippen gekommen. Allein sie zu denken, hinterließ einen schlechten Geschmack in meinem Mund – wie der teure Stinkekäse, den meine Eltern immer für ihre Partys im Kühlschrank gehortet hatten.
Aber ich brauchte Hilfe, wenn ich Chemie II erfolgreich abschließen wollte. Noch vor dem Gespräch mit Dr. Bernal war mir klar gewesen, dass ich keine Chance hatte, Redox und Nuklearchemie zu stemmen, solange ich die Sache mit dem chemischen Gleichgewicht und der Thermodynamik nicht kapierte, von den medizinischen Vorkursen im nächsten Jahr ganz zu schweigen.
Meinen Traum, Chirurg zu werden, aufzugeben, kam jedenfalls nicht infrage. Wenn ich zusätzliche Zeit und Arbeit investieren musste, um die Grundlagen der Chemie in den Griff zu kriegen, war ein leicht angekratztes Ego die Sache wert.
Aber solange ich nicht wusste, welchen Nerd mein Lehrer dazu verdonnert hatte, mir zu helfen, war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es musste auf jeden Fall jemand sein, der den Mund halten konnte. Ich nahm doch nicht die ganze zusätzliche Arbeit im Krankenhaus, einschließlich der Vorbereitung auf die Vorstandssitzung, in der es um einen Prozess wegen eines ärztlichen Kunstfehlers ging, auf mich, um dann vor den anderen Vorstandsmitgliedern als »überfordertes Kind« dazustehen. Sie trauten mir mit meinen achtzehn Jahren sowieso schon zu wenig zu.
Als mir die Worte des Berichts, den ich seit einer Stunde las, vor den Augen verschwammen, klappte ich den Hefter zu, kniff mir in den Nasenrücken und atmete ein paarmal tief durch. Da es anscheinend keinen Zweck hatte, weiterhin zu versuchen, mich mit leerem Magen auf den Vorfall zu konzentrieren, ging ich hinunter in die Küche. Von den überbackenen Schweinekoteletts mit Maisgrütze, die mein Bruder vorhin zubereitet hatte, war bestimmt noch etwas übrig. Er hatte eigentlich für seine Freundin May gekocht, aber die Reste des Essens waren zum Verzehr freigegeben, falls sie sich noch im Kühlschrank befanden. Nebenbei gesagt, waren die Ergebnisse von Felix’ Kochkünsten mindestens so gut wie alles, was wir in den Restaurants in Charleston hätten bekommen können – und das wollte etwas heißen.
Dem Kichern und Rascheln, das aus Felix’ Zimmer drang, nach zu schließen, war May nach dem Essen noch geblieben.
Irritiert runzelte ich die Stirn. Ich war echt nicht prüde, und ich mochte May – sie war wirklich okay –, aber trotzdem hatte ich Angst, meine Schwester könnte etwas mitbekommen, für das sie noch zu jung war.
Und da May auch weiterhin ihre Nanny war, machte ich mir Sorgen, was passieren würde, wenn die Beziehung den Bach runterging, solange Sophie noch jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte.
Ich schüttelte entschieden den Kopf; zum bestimmt hundertsten Mal, seit Felix und May Anfang des Jahres zusammengekommen waren, sagte ich mir, dass ich darüber keine Kontrolle hatte. Ich konnte nur versuchen, für Sophie da zu sein, und das war momentan so ziemlich das Einzige, was ich meistens ganz gut auf die Reihe kriegte.
Als ich wenig später den Kühlschrank nach den Resten des Essens und möglichen Zutaten für einen Salat durchsuchte, zwang ich mich, mich wieder auf die Details des Rechtsstreits zu konzentrieren. Einem der Assistenzärzte des Krankenhauses war während eines Routineeingriffs ein Kunstfehler unterlaufen, der zur Folge hatte, dass der Patient nicht nur eine, sondern zwei Folgeoperationen über sich ergehen lassen musste, die ansonsten nicht nötig gewesen wären. Ein Fehler, der nicht nur für die Karriere des jungen Arztes, sondern auch für die Finanzen des Krankenhauses einen empfindlichen Rückschlag bedeutete.
Aber es war zumindest niemand gestorben. Dennoch gab es wesentlich mehr Fälle mit solch verheerendem Ausgang, als ich gedacht hätte, bevor ich den Sitz meiner Mutter im Vorstand des Roper General übernommen hatte. Es war gut, bereits jetzt aus diesen Fehlern zu lernen und mir vielleicht auch klarzumachen, dass niemand perfekt war, denn eines Tages würde das Leben von Menschen auch in meinen Händen liegen.
Falls ich einen Weg fand, Chemie zu kapieren.
Bei diesem Gedanken zog sich der Knoten in meinem Bauch so fest zusammen, dass ich mich innerlich von Schweinekoteletts und Salat verabschiedete und mir stattdessen eine Schale Müsli machte. Das Zeug schmeckte wie Pappe, aber wenigstens knurrte mir nicht länger der Magen, als ich mit einer frischen Tasse Kaffee zurück in mein Zimmer ging.
Ich schob den Hefter mit dem Bericht über den Kunstfehler beiseite und griff nach meinem Handy, das mehrere ungelesene Nachrichten anzeigte. Eine war von Grant – wegen des Auftritts seiner Band auf der Wohltätigkeitsveranstaltung des Krankenhauses im nächsten Frühjahr. Und dann war da noch eine von einer Zehntklässlerin, die gerade in die Schülervertretung gewählt worden war. Ihre Versuche, mit mir ins Gespräch zu kommen, hatten allerdings nichts mit meiner Funktion als Schulsprecher zu tun.
Sie war zwar ziemlich hübsch und lächelte eine Menge, aber in meinem Leben war einfach kein Platz für eine wie auch immer geartete Liebesbeziehung.
So gut es sich auch anfühlen würde, ich brauchte mir bloß meinen Bruder anzusehen, bevor und nachdem May in unser Leben getreten war. Auch wenn Felix jetzt glücklicher und gelassener wirkte, konnte mich das nicht davon überzeugen, dass es den Aufwand tatsächlich wert war.
Denn im Endeffekt wollten sie immer mehr. Mehr Zeit, mehr Intimität, mehr Aufmerksamkeit.
Allein die Vorstellung, noch etwas zwischen Schule, meine verschiedenen Aktivitäten, den Sitz im Vorstand, die Bewerbungen fürs College und die Zeit, die ich mit Sophie verbrachte, zu quetschen, war lächerlich.
Bei dem Gedanken schoss mein Puls in die Höhe, und ich bekam kaum noch Luft.
Mit zittrigen Fingern holte ich einen kleinen Schlüssel aus einer ausgehöhlten Ausgabe von Der alte Mann und das Meer hervor und steckte ihn ins Schloss der obersten Schreibtischschublade. Als ich sie herauszog, ertönte das beruhigende Klirren aneinanderstoßender Pillenfläschchen.
Xanax gegen die Angst. Koffeintabletten, um wieder Gas geben zu können, sobald ich die überwältigende Furcht, zu versagen und niemals die vielen Ziele in meinem Leben zu erreichen, erfolgreich unterdrückt hatte. Und sobald ich es geschafft hatte, die Welle von Gefühlen in den Griff zu bekommen, die mich immer mal wieder überflutete, seit ich mich damit abfinden musste, dass meine Eltern nie wieder durch unsere Tür treten würden.
Ich schluckte einen der Angstlöser und deponierte zwei Koffeintabletten für später in der Dose mit den Büroklammern. Bei meinem derzeitigen Verbrauch würde das Fläschchen mit den Xanaxpillen schneller leer sein, als mein Arzt bereit wäre, es nachzufüllen. Allein der Gedanke, dass er mir dann – wieder – eine Gesprächstherapie empfehlen würde, verursachte mir Bauchschmerzen. Ich ging äußerst ungern zu den regelmäßigen Terminen, die nötig waren, um den Nachschub zu sichern, weil es mir viel zu sehr das Gefühl gab, um Hilfe zu bitten.
Zum Glück war es mir bis jetzt gelungen, meinen Arzt davon zu überzeugen, dass mein hoher Tablettenkonsum nur vorübergehend war. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was ich tun würde, wenn er mir keine mehr verschrieb.
Wenn ich wüsste, wie ich ohne sie durch den Tag kommen sollte, hätte ich meinen Arzt schon längst fallen lassen, aber ich würde nicht den Fehler machen, mir illegale Medikamente auf der Straße zu besorgen. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Denn wenn man mich dabei erwischte, würde das meine Berufspläne genauso sicher zerstören, wie aufgrund mangelnder Leistungen in Chemie gar nicht erst zum Medizinstudium zugelassen zu werden. Und das durfte auf keinen Fall passieren, selbst wenn ich um die Pillen betteln musste.
Als sich mein Puls wieder stabilisiert hatte, tippte ich eine Nachricht an Grant, in der ich ihm mitteilte, dass die Benefizveranstaltung für März angesetzt war. Dazu lieferte ich ihm noch ein paar Details über die Räumlichkeiten und den vorhandenen Platz. Die Zehntklässlerin ignorierte ich. Nachdem ich mein Handy aufs Bett geworfen hatte, griff ich wieder zum Hefter. Beim Anblick des Krankenhauslogos auf der Vorderseite zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen, und ich musste ein paarmal tief durchatmen, bis ich in der Lage war, ihn zu öffnen.
Da der Vorstand morgen Nachmittag über das Vorgehen im Falle des ärztlichen Kunstfehlers entscheiden würde, musste ich mir die Informationen heute Abend reinziehen. Meine Hausaufgaben und der Ordner mit den Unterlagen für die Planung der Homecoming-Woche würden daher noch ein paar Stunden warten müssen.
Ich warf einen Blick auf die kleinen weißen Koffeinpillen, die mich garantiert die nächsten Stunden wach halten würden. Es war erst neun Uhr. Ich hatte also noch die ganze Nacht.
*
Dank einer Mischung aus Kaffee und Koffeintabletten spürte ich die Auswirkungen der dritten durchgearbeiteten Nacht in dieser Woche gar nicht so richtig, als ich am nächsten Morgen viel zu früh die Schule betrat. Für mich war das ein gutes Training fürs Medizinstudium und die Assistenzzeit. In den nächsten zehn Jahren würde es nämlich nicht einfacher werden.
Jemand, der acht Stunden pro Nacht schlief, würde im Leben nicht viel erreichen. Das hatte ich bei meiner Mutter und meinem Vater gesehen, die täglich die reinsten Wundertaten vollbracht hatten – lediglich angetrieben von Unmengen an Kaffee. Zumindest soweit ich wusste.
Aber ich würde mein Ziel erreichen. Ich würde die Pillen nicht ewig brauchen – nur, bis sich alles ein wenig beruhigt hatte.
»Guten Morgen, Mr. James«, begrüßte mich Dr. Bernal und blickte von einem Stapel Arbeitsblätter auf seinem Schreibtisch auf.
Als mein Blick auf die roten Kommentare fiel, mit denen die meisten übersät waren, fühlte ich mich gleich ein bisschen besser. Aber nur ein bisschen, denn im Gegensatz zu mir strebten die anderen in meinem Kurs nicht nach dem Titel des Jahrgangsbesten an einer der renommiertesten Highschools im Land, die für ihre hervorragende Vorbereitung aufs College bekannt war.
»Hallo«, krächzte ich. Meiner Stimme war die schlaflose Nacht offenbar nicht besonders gut bekommen.
Dr. Bernals leicht hochgezogener Augenbraue nach zu urteilen, meinem Gesicht auch nicht. Heute Morgen im Spiegel hatte es tatsächlich irgendwie komisch ausgesehen – ziemlich blass, die Augen gerötet und mit dunklen Schatten darunter – aber ich war schließlich nicht hier, um einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.
Ich räusperte mich. »Sie wollten mich vor dem Unterricht sprechen?«
Dr. Bernal warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. Bis zum ersten Klingeln war es noch eine Stunde hin, aber ich hatte nicht nur ausreichend Zeit für diesen Termin eingeplant, sondern danach auch vor, meine Notizen für den Geschichtstest noch einmal durchzugehen und mit der stellvertretenden Schulsprecherin wenigstens ein paar Entscheidungen wegen der Vorbereitungen für die Homecoming-Woche zu treffen.
»Nun, Mr. James, ich wollte Ihnen eigentlich nur mitteilen, dass ich eventuell eine Nachhilfelehrerin für Sie gefunden habe. Leider habe ich von ihr bis jetzt noch keine Rückmeldung erhalten. Ich habe sie gebeten, sich heute ebenfalls vor Unterrichtsbeginn bei mir einzufinden, aber ich vermute, sie ist noch zu Hause.« Er schaute wieder auf die Uhr. »In Anbetracht der Uhrzeit nicht weiter verwunderlich.«
Ich verkniff mir die Bemerkung, dass es mit seinem Privatleben auch nicht weit her sein konnte, wenn er um diese Zeit hier saß und Arbeiten benotete, und das – seinem To-go-Becher vom Burrow’s nach zu schließen – nur mit einem Tee gerüstet.
»Okay. Ich geh dann solange in die Bibliothek und komme später noch mal wieder.«
»Sehr gut.« Dr. Bernal räusperte sich, vermutlich um mich wissen zu lassen, dass ich noch nicht entlassen war. Sein Schnurrbart zuckte. Während er glättend darüberstrich, zeichneten sich widerstreitende Gefühle auf seinem Gesicht ab. Es wirkte, als wollte er noch etwas hinzufügen, wäre sich aber nicht sicher, ob es klug war.
»Wir sehen uns dann später«, sagte er schließlich, und ein enttäuschter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
Es war schwer zu sagen, ob er meinetwegen oder seinetwegen enttäuscht war. Vielleicht beides, aber ich war froh, dass er es sich noch mal überlegt und mich nicht auf meine Schlafgewohnheiten angesprochen hatte.
Nachdem ich ungeschoren davongekommen war – zumindest fürs Erste –, machte ich mich auf den Weg zur Bibliothek, um meine Notizen für den Geschichtstest durchzugehen. Als mir eine halbe Stunde später die Augen zufielen, warf ich eine weitere Koffeinpille ein und beschloss, Abby Cornish, der stellvertretenden Schulsprecherin, eine Nachricht zu schicken.
Ich sammelte meine Bücher und Notizen zusammen, hängte mir die Tasche über die Schulter und ging von der Bibliothek aus direkt zur Turnhalle. Obwohl es nur noch dreißig Minuten bis zum Unterrichtsbeginn waren, lagen die Flure größtenteils still und verlassen da. Die Einzigen, die ich auf dem Weg zu Abby sah, waren Joey Martin und eine Horde Jungs, die ich von der Juniorenmannschaft unseres Basketballteams kannte. Keiner von ihnen nahm Blickkontakt auf, was mir sehr gelegen kam.
»Hey«, begrüßte ich Abby, die umgeben von Pappkartons voller Dosen mit Tomatensauce, verschiedenen Gemüsesorten und Früchten auf der Tribüne saß. Davon abgesehen gab es eine beachtliche Menge Ramen-Nudeln und Makkaroni-Käse-Fertigmischungen. Sie teilte das Ganze nicht nur nach Sorten auf, sondern offenbar auch nach Farben.
Als sie aufblickte, fiel das Licht auf die roten Strähnen in ihrem dunkelblonden Haar. Ihre blauen Augen leuchteten auf, und ich hätte schon scheintot sein müssen, um nicht zu bemerken, wie unglaublich sexy ihre langen, gebräunten Beine in dem kurzen Cheerleaderrock aussahen, der kaum ihren Hintern bedeckte. Obwohl der Wetterbericht für heute Sonne und achtundzwanzig Grad vorhergesagt hatte, trug sie den Pulli, der zu ihrer Cheerleaderuniform gehörte. Zusammen mit den knöchellangen Söckchen und den einfachen weißen Turnschuhen sah sie ziemlich umwerfend aus.
»Hallo, Noah. Wie immer früh dran, was?« Sie lächelte. »Genau wie ich. Ich werde schon nervös, wenn ich bloß daran denke, zu spät zu kommen.«
Abby Cornish und ich waren in mehrerlei Hinsicht seelenverwandt. Wenn ich mich mit einem Mädchen von der Golden Isles Academy hätte verabreden wollen, wäre Abby die naheliegendste Wahl gewesen. Sie war hübsch, lustig, klug, engagiert und stammte aus einer der reichsten Familien der Stadt.
Aber da ich nicht vorhatte, jemanden zu daten, war ich froh, dass Abby es offenbar genauso sah und nicht die geringste Andeutung machte, mehr sein zu wollen als eine gute Stellvertreterin des Schülersprechers.
»Geht mir nicht anders«, erwiderte ich. »Was hältst du davon, in der Woche vor Homecoming in der Schule Spenden für einen wohltätigen Zweck zu sammeln und die Sache richtig groß aufzuziehen? Im Krankenhaus gibt es zum Beispiel eine Initiative, die sich für krebskranke Kinder einsetzt.«
»An was für Spenden hattest du dabei gedacht?«
»Hauptsächlich Geld, aber auch Decken und Spielsachen, Besuche von Assistenzhunden, lauter solche Sachen.«
»Von mir aus.« Sie warf einige Packungen Makkaroni-Käse-Fertiggerichte in einen Pappkarton zu ihren Füßen, der schon fast voll war. »Und was ist mit dem Motto für den Ball?«
Ich stöhnte auf. Mottos waren schrecklich, nichts als alberne, kitschige Phrasen, bei denen man das Gefühl hatte, in einem dieser bescheuerten Highschool-Filme gelandet zu sein, wo die Kids die ganze Zeit wie Erwachsene redeten, bevor sie die Liebe ihres Lebens trafen.
»Ich weiß, es ist nervig. Aber wir brauchen nun mal eins.« Sie knabberte nachdenklich an ihrer vollen rosafarbenen Unterlippe und zog die Nase kraus. »Wie hieß noch mal das vom letzten Jahr? ›Unter den Sternen‹ oder so?«
»Es war bestimmt irgendwas Bescheuertes«, murmelte ich. »Aber das Motto kommt mir bekannt vor.«
»Ist doch egal. Die sind schließlich alle furchtbar.« Abby zuckte mit den Schultern, sortierte die letzten grünen Bohnen in eine andere Kiste und schob ein paar Dosen Mais hinterher, bevor sie sich die Hände abwischte und nach ihrer Tasche griff.
Laut der Uhr an der Wand waren es nur noch zehn Minuten bis zum Unterrichtsbeginn.
»Und wenn wir irgendwas mit Meer nehmen?«, schlug ich schnell vor, da ich noch zu Dr. Bernal musste und die Zeit langsam knapp wurde. »Immerhin leben wir auf einer Insel.« Ich machte eine kurze Pause, während ich versuchte, mich an all die kitschigen Filme zu erinnern, die sich Mom und Sophie samstags morgens mit Begeisterung reingezogen hatten. »Meer und Mondschein? Wie ein Tropfen im Meer?«
»Ich glaube, das zweite ist ein Song.«
»Ach ja? Das wusste ich nicht.«
»Total emo. Den kennst du bestimmt nicht.«
Abby wäre überrascht, wenn sie mich besser kennen würde. Aber das galt für fast alle Leute auf Golden Isles, sogar für meine engsten Freunde.
Und für meinen Zwillingsbruder.
»Also nein?«
»Deinen ersten Vorschlag finde ich gut. Vielleicht Am mondbeschienenen Meer?«
»Perfekt. Viel besser als meine Formulierung.« Die Erleichterung, ein Motto für den Homecoming-Ball und die Spendenaktion für einen wohltätigen Zweck von der Aufgabenliste streichen zu können, unterstützte die Wirkung der Koffeintabletten und machte mich noch etwas wacher. Jedenfalls ertappte ich mich dabei, dass ich Abby anlächelte. »Wir beide sind echt ein gutes Team.«
»Das fand ich immer schon.«
Auch wenn sie noch nie die Initiative ergriffen hatte – und es auch jetzt nicht tun würde –, verriet mir das Funkeln in ihren Augen, dass sie zumindest schon darüber nachgedacht hatte.
Ich wurde wieder ernst, nickte ihr zu und schulterte meine Tasche. »Ich muss vorm Klingeln noch zu einem Lehrer. Können wir den Rest der Liste vor dem Treffen am Montag besprechen?«
»Klar.« Ihr Blick flackerte leicht. »Wir können uns eine halbe Stunde früher treffen. Länger brauchen wir glaub ich nicht.«
»Klingt gut.«
Ihre Bereitschaft, unser Gespräch am Montag fortzusetzen, erlaubte mir, die ganzen Homecoming-Vorbereitungen bis zum Wochenende aufzuschieben, und wegen dieser Wohltätigkeitsgeschichte für die krebskranken Kinder konnte ich vielleicht schon mal nachfragen, wenn ich nachher im Krankenhaus war. »Also, bis dann.«
»Bis dann«, sagte sie und holte ihr Handy aus der Tasche, als ich mich abwandte.
*
Als ich bei Dr. Bernals Zimmer ankam, war die Tür geschlossen, und das Schild am Türgriff besagte, dass er gerade einen Termin mit einem anderen Schüler hatte. Beim Gedanken, dass er sich womöglich mit meiner zukünftigen Nachhilfelehrerin traf, verkrampfte sich mein Magen.
Er hatte versprochen, diskret vorzugehen und ihr erst zu sagen, wem sie helfen sollte, wenn sie sich dazu bereiterklärt hatte, und ich wusste auch, dass er sich mit Einzelheiten zurückhalten würde. Trotzdem hasste ich die Vorstellung, es könnte herauskommen, dass ich in irgendeiner Hinsicht auf Hilfe angewiesen war. Wenn die anderen Schüler, die mit mir um den Titel des Jahrgangsbesten konkurrierten, das Blut im Wasser witterten, würden sie nur noch schneller schwimmen, um mich abzuhängen.
Ich wusste nicht, um wen es sich handelte, aber Rektorin Wright hatte mir gesagt, es gäbe insgesamt drei oder vier Leute mit einem ähnlich guten Notendurchschnitt, die sich am Ende als Sieger herausstellen könnten.
Es war wahrscheinlich unhöflich, hier vor der Tür herumzulungern, aber mir blieb nicht mehr genug Zeit, woanders hinzugehen und rechtzeitig wieder zurück zu sein, bevor es klingelte. Mein Spind befand sich in einem anderen Flügel der Schule, aber ich brauchte sowieso nichts daraus.
Deshalb tat ich so, als würde ich die anderen Schüler dabei beobachten, wie sie miteinander lachten und redeten, die Türen zuknallten und ihre Freunde laut johlend aufforderten, sich irgendwelche Videos auf ihren Handys anzusehen.
Schon vor dem Tod meiner Eltern war mir klar gewesen, dass diese Art des sorglosen Highschool-Lebens für mich nie infrage kommen würde. Doch seit ihrem Unfall schien alles noch mühsamer zu sein. Sogar das Atmen fiel mir schwerer. Ganz zu schweigen vom Schlafen. Alles kam mir vor wie ein Kampf, den ich gewinnen, ein Berg, den ich erklimmen musste, doch wenn ich mich endlich bis zum Gipfel hochgekämpft hatte, wartete dort bereits der nächste auf mich.
Ich verstand nicht, warum das so war. Warum die Tatsache, dass meine Eltern nicht mehr da waren, sich so sehr auf alle anderen Lebensbereiche auswirkte. Aber genau das war der Fall, und ich hatte keine Ahnung, wie ich etwas daran ändern sollte.
Ein paar Minuten später kam Joey Martin aus Dr. Bernals Tür gestürmt und rannte dabei fast einen schlaksigen Jungen über den Haufen, der mir noch nie aufgefallen war. Wahrscheinlich ein Neuntklässler, der erst seit Kurzem auf die Highschool ging.
O nein, dachte ich, während ich ihr nachsah. Nicht sie.
Ich wusste, dass Joey in Chemie ganz gut sein musste, weil sie nie Fragen stellte oder den Eindruck machte, als würde sie irgendetwas nicht verstehen. Während der Experimente blieb Dr. Bernal auch oft bei ihr am Tisch stehen, zeigte auf etwas und nickte, lächelte ihr zu und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.
Darüber hinaus hatte ich in den rund fünf Jahren, in denen sie nun nicht mehr mit uns abhing, kaum einen Gedanken an sie verschwendet. Nicht, seit wir sie damals im Regen hatten stehen lassen – allein mit der Krankheit ihres Vaters und einer Mutter, die sie kurz darauf verlassen hatte.
Als ich mir das bewusst machte, wand ich mich innerlich vor Scham. Keiner von uns hatte damals gewusst, wie er mit dem, was Joey Mitte der siebten Klasse widerfahren war, umgehen sollte. Wir hatten noch nie etwas wirklich Schlimmes erlebt, uns noch nie mit etwas Ernsterem als einer Scheidung, dem Tod eines der Großeltern oder vielleicht einer blühenden Akne auseinandersetzen müssen. Zu der Zeit war noch nicht mal Max Channings Vater verhaftet worden, sodass Joey buchstäblich die Erste war, die in eine Situation geriet, die unsere Eltern, unsere Insel und unser Geld nicht abfedern konnten.
Ich glaube, Letzteres war der Grund, warum wir Joey damals ausgegrenzt hatten. Denn wenn ihr so etwas zustoßen konnte, konnte es uns genauso gehen. Eine Wahrheit, mit der mein Bruder, meine Schwester und ich vor einem guten Jahr ebenfalls konfrontiert worden waren.
Beim Gedanken an meine Eltern krampfte sich mein Herz zusammen, und als mir klar wurde, dass Joey Martin mir ganz bestimmt nicht helfen würde, verspürte ich eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Sie hasste uns alle, und das aus gutem Grund.
Immerhin hatte ich gar nicht mehr an sie gedacht, bevor sie eben auf der Flur gestürmt war.
Als Dr. Bernal den Kopf durch die Tür steckte, zog er überrascht die Augenbrauen hoch, als er mich dort herumlungern sah. »Mr. James, kommen Sie doch bitte rein. Wir haben noch ein paar Minuten, bevor ich die Tür zur ersten Stunde aufschließen muss.«
Mein Magen verkrampfte sich, dennoch folgte ich ihm nach drinnen; ich wusste nicht genau, wie ich mich fühlte. Entsetzt, weil er Joey gefragt hatte? Erschrocken, weil sie aus einem unerfindlichen Grund womöglich Ja gesagt hatte? Dass sie abgelehnt hatte? Am Boden zerstört, weil ich in diesem Kurs durchfallen und meine gesamte Zukunft den Bach runtergehen würde?
»Ich habe eine Schülerin aus deiner Klasse, die außergewöhnlich gut in Chemie ist, gefragt, ob sie bereit wäre, dir in den kommenden Wochen Nachhilfeunterricht zu geben, aber ich fürchte, sie hat wegen ihres zu vollen Terminkalenders abgesagt.« Er runzelte die Stirn und spielte nervös mit einem Whiteboard-Stift herum, dessen Kappe er hektisch auf- und wieder absetzte. Da er sonst immer ausgesprochen selbstsicher wirkte, vermutete ich, dass er keinen Plan B in der Hinterhand hatte. »Ich würde mich natürlich selbst zur Verfügung stellen, aber bis Thanksgiving habe ich noch einige Abgabetermine und andere Verpflichtungen. Und ich fürchte, danach wäre es zu spät.«
»Könnten wir vielleicht jemand anders fragen?«
»Lassen Sie mich darüber nachdenken, Mr. James. Die Person, die ich angesprochen habe, ist die Einzige in Ihrer Klasse, die so sattelfest ist, dass sie in der Lage wäre, Sie zu unterstützen, ohne selbst den Anschluss zu verlieren. Wie Sie wissen, sind insgesamt nur neun Schüler in Ihrem Kurs, und da Sie betont haben, dass Sie besonderen Wert auf Diskretion legen, bin ich mir nicht sicher, welche andere Option die beste wäre.«
Anscheinend ging er davon aus, dass Joey aufgrund ihrer Außenseiterrolle zwangsläufig verschwiegen sein würde. Aber da war ich mir nicht so sicher. Wenn es jemanden gab, der den Wunsch haben könnte, meinem Ruf zu schaden, dann sie.
Wenn ich es mir recht überlegte, gab es wahrscheinlich niemanden in Golden Isles, der mehr Grund dazu hatte.
»Okay«, sagte ich. »Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht könnte ich mir online Nachhilfe organisieren.«
»Vielleicht. Lassen Sie uns später noch einmal darüber reden, ja? Sie sollten eventuell in Erwägung ziehen, den Kurs abzubrechen, solange es noch möglich ist.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, aber in dem Moment klingelte es zur ersten Stunde. Erst jetzt nahm ich die Geräusche ungeduldiger Schüler auf der anderen Seite der Tür wahr. Das waren alles Leute aus der Unterstufe, die jetzt Chemie hatten, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mich zu verziehen und ebenfalls zum Unterricht zu gehen.
Als ich mich an ihnen vorbei aus der Tür drängte, spürte ich meinen Herzschlag dumpf in den Ohren. Mir wurde heiß, und meine Hände fingen an zu zittern. Mein Atem ging immer flacher, und anstatt zu meinem Klassenzimmer zu laufen, bog ich in Richtung Jungentoilette ab. Mit schweißfeuchten Händen öffnete ich die Tür, stürmte in eine der Kabinen und fummelte eine Xanax aus meiner Tasche.
Ich setzte mich mit geschlossenen Augen auf die Toilette, stemmte die Hände gegen das herrlich kühle Metall der Kabinenwand und atmete tief durch.
Ich konnte Bernals Kurs nicht sausen lassen. Wenn ich Chemie II auf der Highschool nicht bestand, wie sollte ich dann organische und anorganische Chemie auf dem College schaffen? Konnte ich mir dann überhaupt noch Hoffnungen machen, zum Medizinstudium zugelassen zu werden?
Die Antwort lautete: Nein. Konnte ich nicht.
Bis die Tablette wirkte, war die Hälfte der ersten Stunde fast vorbei, und während ich schwer atmend dasaß, wurde mir eines unmissverständlich klar.
Wenn Joey Martin die Person war, die zwischen mir und dem Scheitern stand, dann würde ich das Undenkbare tun müssen – sie um Verzeihung bitten und ihr gegenüber eingestehen, was ich vor allen anderen verbarg.
Dass ich Hilfe brauchte.