Kracht, Christian; Nickel, Eckhart Gebrauchsanweisung für Kathmandu und Nepal

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Dieses Buch ist unserem guten Freund Barun Manandhar gewidmet, ohne dessen unermüdliche Erläuterungen, Großzügigkeit, Gastfreundschaft und vor allem Humor wir Nepal nie kennen- und liebengelernt hätten.

 

© Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2009 und 2012

Karte : Eckehard Radehose, Schliersee

Covermotiv: Getty Images Deutschland GmbH - Martin Stumpf

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

 

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Nature is the only ruler. I shit on flags.

Reinhold Messner

Karte_Nepal

 

Einleitung

Sein Leben lang schneidet er Gras und verdient wenig Geld,

er möchte für sein Volk einen Brunnen bauen,

damit er erinnert wird nach dem Tode,

dieser Grasschneider lebt in Armut,

ich habe nichts erreicht, obwohl ich wohlhabend bin.

Banubhakta Achari

Anfang des neuen Jahrhunderts kamen wir nach Nepal, auf der Suche nach einem Land, das für uns die größtmögliche Ruhe mit gleichzeitiger Unordnung vereinen konnte. Unsere verworrenen Lebensläufe brachten es mit sich, auf dem Erdenball ein nomadisches, unstetes Dasein geführt zu haben, geprägt von großen Erwartungen, noch größeren Enttäuschungen, sonderbaren Krankheiten, Scheidungsprozessen, Medikamentenabusus, immer wieder hastig auftretenden Erleuchtungen und dem uns ewig begleitenden Gefühl, letzten Endes doch nicht am richtigen Ort zu sein. Auf dem Friedhof von Banda Neira schließlich, einer Insel der indonesischen Molukken, dessen Grabsteininschriften mit zum Trocknen darauf ausgelegten Jeanshosen unkenntlich und unentzifferbar gemacht wurden, auf jenem kleinen tropischen Inselfriedhof also verdichtete sich die Gewissheit, es sei nun Zeit, in den Himalaja aufzubrechen. Enough of parrots. So also Nepal.

Es sollte eine äußerst turbulente Zeit werden – ein Königreich wurde verschenkt, ein Bürgerkrieg führte in die Republik, ja, das Land veränderte sich während unseres Aufenthalts so grundlegend, dass es uns unausweichlich schien, die vielen auf den ersten Blick vielleicht unzusammenhängenden und schwer erklärlichen Erlebnissplitter so aufzuschreiben, dass sie eine gedankliche Essenz des neuen Nepal, eines Landes im Zustand der Transformation, ergeben mochten.

Bereits beim allerersten kurzen Besuch nahm uns Nepal gefangen. Das Licht, wie können wir es beschreiben? Es war Ende Mai, und die dunstige Trockenheit der Frühlingsmonate verwandelte sich gerade in eine sanfte und milde Sommergrüne. Die vielen in das Newarital fließenden Bäche ließen die gesamte Umgebung Kathmandus als überbordende Kulisse für die erhabene Freundlichkeit des nepalesischen Volkes erscheinen. Winzige Ziegelfabriken lagen über das Hochtal verstreut wie in heiliger Kinderlaune absichtslos vergessene Bauklötze. Papierne, gelbe Drachen flatterten über den Dachterrassen. Kleine Grüppchen tibetanischer Mönche wichen auf dem Weg zur Stupa elegant und gelenkig den Bussen aus. Junge Hunde balgten sich im Dreck. An den Straßenrändern trocknete man ganze rote Teppiche von Chilischoten in der Sonne.

Am dritten Tag, wir hatten gerade im uns damals noch unbekannten italienischen Restaurant »Fire and Ice« zwei Pizza Quattro Stagioni gegessen, zogen mit einemmal – es war der erste Juniabend – ungewöhnlich dräuende Monsunwolken über dem Tal von Kathmandu auf. Der Himmel färbte sich tiefrosa und orange. Die Stille war in ihrer Vollkommenheit entsetzlich. Eine schreckliche Vorahnung befiel uns zum Nachtisch – einer Schale frischer Erdbeeren mit durch die erdrückende Schwüle fast flüssig gewordener Schlagsahne.

Einer der Kellner wischte unruhig mit dem Tuch über den längst sauberen Tisch, die Kassiererin faltete die zerlesene Ausgabe der Kathmandu Post und schob sie unter den Tresen. Eine Gruppe österreichischer Trekker hielt plötzlich inne und schwatzte nicht mehr. In der Ferne erklang erst eine schrille Sirene, dann zwei, drei, viele. Menschen strömten auf die Straßen, sanken weinend auf die Knie, schlugen sich mit den Fäusten wehklagend an die Stirne, und die grausame Nachricht verbreitete sich in der Hauptstadt Kathmandu so rasch und schleichend wie einst Senfgas in den Schützengräben von Ypern und Malmedy. Es hieß, der Kronprinz habe erst seine gesamte Familie mit Schnellfeuergewehren erschossen und dann sich selbst.

Was in dieser Nacht wirklich geschehen war, ist bis heute völlig unklar. Die fast vollständige Auslöschung der regierenden Königsfamilie sollte das Land in einen Zustand apathischer, zitternder Wut versetzen. Der gewaltsame Tod König Birendras, der die lebende Inkarnation des Gottes und Weltenlenkers Vishnu darstellte, markierte den Punkt ohne Wiederkehr in der Geschichte Nepals.

Birendra war der letzte Monarch, der die uneingeschränkte Sympathie und Unterstützung seines Volkes genoss, stets hatte ihn eine Aura der Unfehlbarkeit umgeben, aber im Verlauf einer einzigen Nacht wurde das Göttliche zerstört – im Grunde nur dem Moment vergleichbar, als zur Kapitulation der Japaner im Zweiten Weltkrieg die zerbrechliche Stimme des Tennos, des Kaisers, im Radio erklang. Es war die Stimme nicht eines Kaisers und Gottes, sondern eines Menschen.

Ganz ähnlich im Jahre 2001 der Schock und die Erkenntnis, der nepalesische Gott-König Birendra sei nicht kugelfest, nicht unsterblich.

Viele Nepalis wählten in diesen erschütternden Tagen die rituelle Selbsttötung – im Sanskrit jal-samadhi genannt – durch den Sprung in den sich durch Kathmandu windenden Fluss Bagmati, andere zogen es vor, ihren Schmerz in Verse zu gießen – traditionell gehört das Land zu den Regionen der Erde mit der höchsten Dichte an lebenden Poeten. Daher haben wir den dreizehn Kapiteln dieses Buches respektvoll die Verse einiger großer nepalesischer Dichter vorangestellt, die bislang leider noch nicht auf Deutsch übersetzt sind. Dank der Hilfe Barun Manandhars war es uns möglich, diese Gedichte trotz unseres leider immer noch sehr rudimentären Verständnisses der überaus reichen nepalesischen Sprache ins Deutsche zu übertragen.

Dass das Base Camp des Everest vermüllt ist, die Überzahl der Nepalis erschreckend arm, Kathmandu von Smog und Abgasen eingehüllt, wollen wir Ihnen nicht erzählen, diese Wahrheiten sind im Internet schnell und beliebig zu erfahren. Stattdessen haben wir uns bemüht, Ihnen das Kaleidoskop dieses winzigen, wundervollen Landes, dessen Reinheit in seiner Seele wohnt und das acht der zehn höchsten Berge unseres Planeten beherbergt, so zu zeigen, wie es uns vergönnt war.

Wir wurden zuletzt Zeugen, mit welch bewundernswertem Gleichmut die Nepalesen selbst die schlimmste Naturkatastrophe ihrer Geschichte überstanden und danach mit beispielloser Solidarität den Wiederaufbau des zerstörten Landes in Angriff nahmen. Als am 24. April 2015 ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 7,8, dessen Epizentrum sich knapp hundert Kilometer nordwestlich von Kathmandu befand, den Himalaja erschütterte, verwandelte sich die herrliche Kulturlandschaft des Hochtals binnen Sekunden in einen tödlichen Trümmerhaufen aus Staub und Asche, der unzählige Menschen lebendig unter sich begrub. Es taten sich Risse in der Erde auf, die aussahen wie gigantische Schlünde von Monstern. Jahrhunderte alte Tempel stürzten im Nu ein, weil die Ziegel der Heiligtümer in kunstvoller Bauweise zum Teil völlig mörtellos geschichtet waren. Es verdankt sich kaum vorstellbarer Tapferkeit, dass trotz drohender Nachbeben die Einheimischen sofort unerschrocken nach Überlebenden zu buddeln begannen. Und obwohl das Land zunächst so kopflos war wie die berühmte riesige Stupa von Bodnath aus dem 14. Jahrhundert, stehen drei Jahre später bereits viele Teile des Weltkulturerbes wieder. Die Stupa wacht erneut mit tiefblauen Augen unter ihrer goldenen Spitze mit den bunten Gebetsfahnen über das Wohl der Welt und begrüßt in unvergleichlicher Schönheit alle Reisenden. Namasté!

 

Christian Kracht & Eckhart Nickel, Frühsommer 2018

Wege nach Nepal

Klöster –

Dachfirst, Schutz und Höhle!

Station oder Endstation der Reise –

Ach, vergiß es.

Wenn ich Wasser bin,

dann schwimme ich die Reise eben

Wenn Du Wasser bist,

dann

ist es wieder das Marihuana gewesen.

Ishwar Ballabh

Nepal ist uneinnehmbar. Die Anreise in das Hochtal von Kathmandu prägt entscheidend den ersten Eindruck, den der Neuankommende von Nepal gewinnt. Das leider nahezu eisenbahnlos gebliebene Land (siehe Postskriptum dieses Kapitels) erlaubt, genau genommen, nur zwei Möglichkeiten des rapprochement: zu Fuß beziehungsweise mit dem Bus, was bei der immer noch stark vernachlässigten Straßenbauarbeit manchmal auf dasselbe hinausläuft, oder per Flugzeug. Der Landweg, zumeist von Indien – seltener vom tibetanischen Lhasa kommend –, trägt immer noch den Makel des verzweifelten Versuches der britischen Armee, im neunzehnten Jahrhundert Nepal zu erobern.

Beflügelt durch ihre kolonialen Erfolge, marschierten die Briten aus der subkontinentalen Tiefebene los, das lockende Ziel in Form von schneebedeckten Berggipfeln immer so vor Augen wie bei den in Tim in Tibet beschriebenen Alkoholwanderungen Kapitän Haddocks. Doch bald mussten sie erkennen, dass vor der Einnahme von Kathmandu noch das Überwinden der sogenannten Mahabharat-Kette geleistet werden musste, ein besonders durch die unzähligen Stechmücken, die in den mannigfaltigen Verzweigungen der aus dem Gebirge herabfließenden Karnali-, Yaranali- und Bagmati-Flüsse gute Lebensbedingungen vorfanden, schwieriges Unterfangen. Bald verlangsamte sich der Treck – nicht durch Kämpfe, sondern durch unzählige Malariatodesfälle, die von den hinter Wegbiegungen versteckten Magar-Nepalis hocherfreut beobachtet wurden. Schließlich glich das Los der Briten tatsächlich dem Kapitän Haddocks, der irgendwann beim Laufen betrunken einschläft und träumend gegen eine Steinstupa rennt – aus, vorbei. Das Gebirge wird im Volksmund seitdem auch gern Malariabarata genannt.

Nepal wurde also, trotz der Anstrengungen des Empires, niemals kolonialisiert, was einerseits an den Anopheles-Schwärmen lag, andererseits aber auch an der fast erschreckenden Renitenz des kleinen Volkes im Himalaja.

Im Vertrag von Sigauli aus dem Jahre 1810 sicherte sich Großbritannien das winzige Königreich Sikkim und einen Teil des südnepalesischen Flachlandes, das Terai. Dafür wurde die Unverletzlichkeit der Grenzen Nepals garantiert – von 1816 bis ins Jahr 1952 galt Nepal als verschlossenes Land, Ausländer durften sich nicht dort aufhalten, und der britische resident und seine wenigen Mitarbeiter waren die einzigen Fremden, die Kathmandu bis Anfang der Fünfzigerjahre überhaupt zu Gesicht bekamen. Bis ins Jahr 1952 also war das Land gleichsam im Mittelalter stehengeblieben. Ungefähr zeitgleich mit der Unabhängigkeit Indiens erschien ein neuer König, Seine Majestät Tribhuvan Bir Bikram Shah, der das Land öffnete und modernisierte.

Durch diese gut 150 Jahre währende Abgeschiedenheit erklärt sich auch der fast katatonische Schock, in dem sich die Nepalis nur wenige Jahre später, 1966, befinden sollten und der bis heute deren Mentalität auf entscheidende Weise prägt; 1966, genauer, zu Weihnachten in diesem Jahr, kamen die ersten Hippies.

Ahnvater der Erkenntnisreisenden war, ist und bleibt Hermann Hesse, sieht man von Waldemar Bonsels einmal ab. Inspiriert von Hesses Morgenlandfahrt, in der er beschrieb, wie die Pilgersehnsucht gen Subkontinent in die westlichen Herzen wie ein Meteor eingeschlagen war, brachen die zivilisationsmüden Glückssucher auf, mit einem verlockenden Mantra als Reisegebet: »Christmas ’66 in Kathmandu«.

Irgendwann im sehr stickigen, schwülheißen Sommer des Jahres 1966 machten sich also junge Menschen von den verschiedensten Orten Europas und Amerikas auf, verabredet zum Beispiel in den damals in Deutschland als prärevolutionäre Nachrichtenkette eingerichteten Diskotheken namens »Tangente« (etwa in Marburg oder Heidelberg), wobei weder Weg noch Verkehrsmittel feststanden, nur eben das zeitliche und räumliche Ziel: Christmas in Kathmandu. Die linguistische Verheißung des Wortes Kathmandu, das noch viel fremder klang als jede Stadt in Indien, Afrika (außer vielleicht Timbuktu) oder Peru, mystischer auch durch den geografischen Platz am Giebelfirst des Daches der Welt, befeuerte die oft mit sexuellen Befreiungstheorien aufgeladenen Phantasmen: VW-Busse wurden mit dünnen, großäugigen Mädchen, psychotropen Substanzen und Pumpernickel vollgeladen und ostwärts gefahren, manche nahmen auch einfach den Rucksack und bestiegen den Hellas-Express nach Athen, um von dort aus über Istanbul und mit der ehemaligen, 1912 vom zweiten Deutschen Reich unter Kaiser Wilhelm feierlich eingeweihten Bagdad-Bahn in den Orient vorzudringen.

Zuvorderst unter den Lockmitteln war die Kunde vom nepalesischen Haschisch über die jungen Freaks gekommen; es solle freilich fünfmal stärker sein als alles bisher Bekannte, potenter sogar noch als der berühmte Schwarze Afghane und in Kathmandu praktisch umsonst in den Straßen verteilt werden – so machte sich jene Schar auf, von der Schore zu kosten. Zuerst war es nur ein Rinnsal (zur Initialzündung Christmas 1966 erreichten ganze 112 Hippies ihr Shangri-La), im nächsten Jahr waren es bereits mehrere tausend, das darauffolgende Jahr brach der Damm; dreißigtausend westliche Langhaarige fanden den Weg in das seit Jahrhunderten von allen äußeren Einflüssen abgeschottete Bergtal.

Die streng reglementierte, in ein jahrtausendealtes Kastensystem eingebettete nepalesische Gesellschaft reagierte zuerst mit stoischer Gelassenheit, dann aber mehrten sich die Fälle offensichtlich geistesgestört gewordener westlicher Frauen, die nackt schreiend durch die Altstadt rannten, mit dem Maul im Müll stochernde Kühe umarmend, um danach direkt vor dem Vishnu-Heiligtum des Pashupatinath-Tempels heftig masturbierend und weinend zusammenzubrechen. Und dann entdeckten die Hippies auch noch das Heroin. Es war ein schwerer Zivilisationsschock, auf beiden Seiten.

Die restriktive nepalesische Visumspolitik ist noch heute eine direkte Folge der moralischen Verwüstung jener Zeit – Ausländer dürfen sich heute maximal sechs Monate innerhalb eines Kalenderjahres in Nepal aufhalten (siehe auch das aus bürokratischen Gründen nicht existierende Kapitel »Bürokratie«). Bereits 1972 gab es das erste Hippie-Pogrom; der damalige König Birendra kriminalisierte erst den Verkauf, Besitz und Gebrauch von Haschisch für Ausländer, eine Hetzjagd durch die engen Gassen von Kathmandu begann, die Hascherbars wurden plötzlich nicht nur von den früher dort regelmäßig ein und aus gehenden Polizisten gemieden, sondern rigide geschlossen, dann warf der König kurzerhand alle Langhaarigen aus seinem Königreich hinaus.

Diejenigen, die bleiben wollten, schnitten sich die Haare und begannen, Kleidung zu tragen – die Freak Street, jene legendäre, bis heute so benannte Gasse, auf der sich Hascherbars an Schallplattenläden reihten, verstaubte zusehends, und die nepalesische Gesellschaft erlebte eine clôture, aus der Ende der Siebziger ein neuer, im Sinne Edward Saids zu verstehender Orientalismus erwuchs; der Trekker.

Das neue Gravitationszentrum Kathmandus wurde der Stadtteil Thamel; der Neuseeländer Tony Wheeler hatte mit seinem Buch South-East Asia on a Shoestring eine Art anti-bourgeoise Fibel für Rucksacktouristen verfasst, die einerseits nicht gewillt waren, mehr als ein bis zwei Dollar für eine Hotelübernachtung zu zahlen, andererseits auch nach sechs Wochen zurück an ihrem Studienplatz in Northumberland oder Uppsala sein mussten. Tony Wheeler schrieb in schnörkellosem, gleichzeitig aber auch abgehobenem Stil darüber, in welchem Guesthouse die Matratzen Flöhe hatten, wo das Reisgericht überteuert war und nicht nur, zu welcher Jahreszeit man am besten in die Berge des Himalaja aufbrechen sollte, sondern auch, wie man den schwierigen moralischen Spagat meistert, einen Porter/Sherpa anzuheuern, der recht ergeben das Gepäck den Berg hinauf- und hinabträgt, dafür sehr wenig Geld erhält, was eben ein bisschen so aussieht, als sei er, nun ja, ein Sklave.

Tony Wheelers dialektisches Genie zeigte sich durch seine Erklärung, die Porter/Sherpas seien eben auf diese Arbeit angewiesen, durch das erwirtschaftete Geld könnten die jungen Männer ganze Familien ernähren und so weiter. Dies entsprach exakt dem Modell, das der Heidelberger Politikwissenschaftler Dieter Nohlen in seinem Lexikon Dritte Welt als Folge der denial-Theorie mit dem Terminus des spätkapitalistischen Rechtfertigungsdilemmas brandmarkte. Bis heute haben einige Trekker das Schuldgefühl nicht ganz ablegen können; schlechtes Gewissen allein lässt viele junge Touristen noch heute ihr schweres Gepäck siebzehn Tage auf ihren Schultern, ohne Porter, um das Annapurna-Massiv herum tragen.

Apropos denial: Tony Wheeler, dessen beispielhafte Karriere im Dreieck Kathmandu–Kabul–Goa begonnen hatte, ist heute ein sehr reicher Mann: Bereits 2007 verkauften er und seine Frau Maureen für umgerechnet 100 Millionen Euro ihren Lonely Planet Verlag an die britische BBC. Aber nur zu 75 Prozent. Die restlichen 25 Prozent haben sie der BBC im Februar 2011 für nochmals 50 Millionen Euro überlassen. Der Kosmos Lonely Planet, der inzwischen unter anderem Fernsehsender, Onlinereisebüro, Internetbuchhandel, Sprachschule, Buchverlag und Lebenshilfe-Forum zugleich ist, wird auch über seinen Abschied hinaus großzügig von Wheeler gespeist: Er schreibt einen Reise-Blog, in dem er über seine neuen Reisen jenseits des Schnürsenkels berichtet. Es geht zur Wildjagd nach Zimbabwe, nach China zum Launch des neuen Mini Countryman oder einfach nur zum Opernfestival nach Verona.

Was passiert, wenn man nicht nur den Sherpa unterbezahlt, sondern auch die Lohnschreiber, die einen Reiseführer nach dem anderen produzieren müssen, um zu überleben, zeigt das Beispiel Kolumbien. Hier war der zuständige Autor so abgebrannt, dass er, dem alten und schönen Prinzip knowing without going folgend, einfach den gesamten Band aus der Fantasie on a shoestring von zu Hause aus schrieb – ohne je da gewesen zu sein. Man muss überhaupt nicht mehr weit reisen, um World Junk Culture zu bestaunen. Die Endmoränen von Wheelers soziokultureller Verwüstungsorgie des gesamten Planeten, die aus den berühmten 27 Cent, die er nach der Überlandreise von Europa nach Australien 1972 noch übrig hatte, erwuchsen, sind heuer am besten in Kathmandu, im Stadtteil Thamel, zu besichtigen.

Postskriptum: Spät, fast schon zu spät für dieses Buch, ereilte uns Post aus der Vergangenheit. Detlev Lutz, seines Zeichens Eisenbahnfan und in seiner Jugend Vorstandsmitglied des weit über die Hessischen Grenzen aktiven »Pfiff-Klub 798–542« (die Kennung eines Schienenbus-Triebwagens, der zuletzt auf einer Nebenstrecke im Hunsrück seinen Dienst verrichtete), zu dessen Mitgliedern damals auch einer der Autoren dieses Buches, Eckhart Nickel zählte, machte uns auf einen kleinen Fehler im Buch aufmerksam. Es gäbe doch, so sein Leserbrief, eine kleine Strecke im Süden des Landes, eine Schmalspurbahn, die seit 1928 existierte. Noch dazu verbinde die »Janakpur Railway«, so der Name der Bahn, das indische Jaynagar mit dem nepalesischen Pilgerort Janakpur, sodass man von einer grenzüberschreitenden Verbindung sprechen dürfe, die mit Fug und Recht als einer der vielen Wege nach Nepal gelten könne, wenn nicht sogar als bester aller Wege. In den Neunziger Jahren war er sogar selbst einmal dorthin gereist, um die legendären Dampfzüge zu fotografieren. Seine aktuellen Recherchen im Wortlaut: »Erstens, lieber Herr Nickel, wie folgt: Es handelt sich um eine 762 mm Schmalspurbahn, die 1928 den Betrieb aufgenommen hat, um das indische Jaynagar mit Janakpur in der Provinz Dhanusa im Terai zu verbinden, weil es dort einen berühmten Hindu-Tempel gibt. Während der Feierlichkeiten fährt der Zug auch ohne Fahrplan, rund um die Uhr. (…) Die Züge brauchten für die Strecke, die in etwa so lang ist wie von Darmstadt bis nach Mainz, fast einen ganzen Tag, weil der erbärmliche Zustand, in dem die Betreibergesellschaft Transport Corporation of Nepal – Janakpur Railway (die 2004 im Zuge des subkontinentalen Neubenennungswahns in Nepal Railways Corporation Ltd.