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Mami
– 1995 –

Der Zirkus kommt

...und versetzt eine turbulente Familie in Aufregung

Kathrin Singer

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74097-257-8

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»Heut’ gehn wir in den Zirkus. Heut’ gehn wir in den Zirkus!« sang Rosemarie fröhlich vor sich hin. Das Essen auf ihrem Teller war fast unberührt. Sie stocherte lustlos mit der Gabel darin herum. Aufgeregt schwang sie die Beine unter dem Tisch hin und her.

»Nun reicht es aber, Rosemarie!« Die Stimme des Vaters war ungewohnt streng. Wenn er ärgerlich war, sprach er seine Tochter mit ihrem vollem Namen an.

»Ich bin doch schon so aufgeregt.« Die Neunjährige schmollte. »Und ich freue mich riesig.«

Günter Scholz lächelte. »Das kann ich ja verstehen, Rosi.«

»Ich bin brav, meinst du nicht auch, Vati?« wandte Robert Fred, Rosis Zwillingsbruder, ein. Er war nach seinen beiden Großvätern benannt, wurde gewöhnlich jedoch Robbi gerufen.

»Selbstverständlich mußt du so etwas sagen.« Rosi streckte ihm die Zunge heraus. »Immer willst du besser sein als ich. Dabei bin ich viel schlauer«, setzte sie stolz hinzu.

»Immer sagst du, ich bin dumm«, beschwerte sich Robbi. »Dabei habe ich im Rechnen eine Eins.«

»Und ich...«

»Würdet ihr bitte mit eurem Streit aufhören!« Der Vater bemühte sich, ein Lachen zu unterdrücken. Die Eifersüchteleien der Zwillinge waren manchmal sehr komisch. Er fand jedoch, daß sie bereits in ihrem Alter die Persönlichkeit des anderen anerkennen sollten.

Rosemarie hatte das Temperament ihrer Mutter geerbt. Sie war seiner verstorbenen Frau in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Vor zwei Jahren war Susanne bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wenn Günter seine Tochter anschaute, überkam ihn oft die schmerzliche Erinnerung an seine Frau. Rosi sah ihr sehr ähnlich, auch ihre Mimik und viele ihrer Gesten schienen von der Mutter übernommen worden zu sein.

Robert Fred dagegen war ruhiger, er konnte sich nicht leicht gegen die lebhafte Art seiner Schwester durchsetzen. Wenn er sich unterlegen fühlte, reagierte er oft trotzig. Günter versuchte die Gegensätze der Zwillinge auszugleichen, ohne Partei zu ergreifen.

Sonja Ramsberg, die Haushälterin, kam ins Eßzimmer. Günter bemerkte, daß sie eine neue Bluse trug. Ihre Lippen waren sorgfältig in dezentem Rot nachgezogen. Er ahnte, daß sie sich ihr Verhältnis zu seiner Familie enger wünschte, als es gemeinhin zwischen Hausherr und Haushälterin üblich war.

Sonja war sehr sympathisch, die Kinder liebten sie und sein Vater, der mit ihnen im Haus lebte, schätzte Sonjas Kochkünste ungemein.

Günter mochte die einige Jahre ältere Frau, aber von seiner Seite war es nur Sympathie. Er liebte sie nicht, und er war nicht bereit, eine reine Vernunftheirat einzugehen, um für die Zwillinge eine weibliche Bezugsperson zu haben. Er wußte, daß sie sich sehr nach der Mutter sehnten und manchmal überkam ihn ein Schuldgefühl. Vielleicht war er doch ein Egoist, wie sein Vater hin und wieder behauptete. Er wünschte sich keine neue Ehe und außerdem hätte er gar nicht gewußt, wo er die passende Frau finden konnte.

Sonja schaute zum Hausherrn hin. Er schien ihren Blick nicht zu bemerken. Ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Kann ich den Nachtisch servieren?«

Sie sah Rosemaries fast unberührtes Essen und schimpfte.

»Ich habe halt keinen Hunger«, klagte das Mädchen. »Außerdem weißt du, daß ich nicht gern Fleisch esse.«

Rosemarie hätte gern vegetarisch gelebt, doch der Vater duldete es nicht, weil er meinte, für die körperliche Entwicklung seien die im Fleisch enthaltenen Vitamine und Mineralstoffe unbedingt notwendig.

»Dann ißt du auf jeden Fall etwas von dem Gemüse«, bestimmte Sonja. »Sonst bekommst du keinen Nachtisch.«

»Ich will gar keinen Nachtisch.«

Rosemarie schmollte.

Der Großvater mischte sich selten in die Erziehung ein. Doch jetzt erklärte er mit strenger Stimme: »Wenn du nicht das Gemüse ißt, darfst du nicht in den Zirkus gehen.«

Rosis Mund stand offen vor Schreck. Eilig begann sie, Spinat in den Mund zu stopfen. Sie verschluckte sich beinahe, so schnell schlang sie das Essen hinunter.

Günter schaute seinen Vater an. Unauffällig schüttelte der ältere den Kopf. Zu viele Ermahnungen machten die Kinder nur störrisch.

Der Großvater wandte sich an die Zwillinge. »Was haltet ihr davon, wenn ich mit euch in den Zirkus gehe?«

»Toll! Klasse!« Die Begeisterung äußerte sich lautstark. Robbi sprang sogar auf, lief um den Tisch herum und schlang die Arme um den Hals seines Opas.

Rosis Augen funkelten. Als der Bruder an ihr vorbeiging, flüsterte sie ihm zu: »Wenn Opa mit uns geht, dann bekommen wir bestimmt ein großes Eis.«

»O ja, ich werde...«

Das Mädchen hielt die Hand vor den Mund des Bruders. Robbi war manchmal so dumm und redete zuviel.

Rosemarie atmete erleichtert auf, als die Mahlzeit endlich beendet war. In zwei Stunden würden sie mit dem Großvater in den Zirkus gehen. Sie freute sich riesig. Auch Robbi war ungeduldig. Beiden fiel die Wartezeit schwer.

Doch wie immer, tickte die Uhr weiter. Niemand konnte den Fortgang der Zeit aufhalten...

*

Günter Scholz war Rechtsanwalt. Seit vier Generationen bestand die Sozietät Scholz und Schädiger. Die Kanzlei befand sich in einem Anbau der Jugendstilvilla von Scholz senior. Der ältere hatte sich seit einigen Jahren aus dem Berufsleben zurückgezogen. Doch sein Sohn holte sich auch heute noch manchmal Ratschläge von seinem Vater. Der Senior verfolgte auch weiterhin alle Gesetzesänderungen.

Die Familie wohnte in einer Kleinstadt, ans Wohnhaus schloß sich ein großer, ziemlich verwilderter Garten an. Das Haus stand in einer ruhigen Seitenstraße. Schon früh hatten die Zwillinge gelernt, eigenständig etwas zu unternehmen. Die Stadt war übersichtlich, und Günter hatte keine Angst, wenn seine Kinder unterwegs waren. Rosemarie war gescheit genug, um auf den manchmal verträumten Bruder aufzupassen.

Der Zirkus gastierte nicht weit vom Wohnsitz der Familie Scholz. Rosi und Robbi drängten ihren Opa so lange, bis er zustimmte, bereits eine Stunde vor Beginn der Vorstellung das Haus zu verlassen. Zehn Minuten später sahen sie schon das Zirkuszelt.

»Opa, dürfen wir uns umgucken?«

»Na ja«, er wies auf eine Bank in der Nähe. »Ich setze mich derweil dort drüben hin.«

Die Stadtverwaltung hatte dem Zirkusdirektor einen Platz in diesem kleinen Park angeboten.

Die Zwillinge zog es als erstes zu den Tieren. Sie waren in einem großen, langen Zelt mit halbhohen Türen in aneinander gereihten unterschiedlich großen Boxen untergebracht.

Rosi lief zuerst zu dem Elefanten. Staunend betrachtete sie seine gewaltige Größe. Sie kannte Elefanten zwar aus dem Zoo, doch niemals zuvor war sie einem so nahe gewesen.

Das Tier schnaufte unvermittelt, hob den Rüssel und berührte ganz behutsam Rosemaries Hals. Sie schrie vor Schreck auf.

Eine junge Frau kam eilig angelaufen. »Du brauchst keine Angst haben!« rief sie laut, als sie noch einige Meter von Rosemarie entfernt war. »Jumbo tut keinem Menschen etwas.«

Atemlos blieb sie neben ihr stehen. Jumbo begrüßte seine Pflegerin mit einem lauten Trompetenstoß. Rosi fuhr zusammen.

Die junge Frau neben ihr lachte. »Das ist ganz schön laut, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Rosemarie, ohne den Blick von dem Tier zu lösen. »Ich hätte nie gedacht, daß Elefanten sooo groß sind.«

»Warst du denn noch niemals im Zoo?« fragte die Frau vom Zirkus verwundert.

»Doch«, lautete die Antwort, »aber ich war niemals so nah.«

Die Tierpflegerin holte tief Luft. »Du weißt doch sicherlich, daß es für Zirkusbesucher verboten ist, in die Ställe und die Wohnwagen zu gehen. Hast du nicht das rote Absperrband gesehen?«

»Ich war so furchtbar neugierig«, gestand Rosemarie kleinlaut. »Deshalb bin ich mit meinem Bruder darunter durchgeschlüpft.«

»Dein Bruder ist auch hier?« Besorgt sah sich die junge Frau um. Robert Fred war nicht zu sehen. »Komm, wir müssen ihn suchen«, forderte sie Rosi auf.

Sie gingen an den Boxen entlang. In der ersten entdeckten sie Robert Fred. Er lag mit mehreren Pudeln zusammen auf weichem, frisch duftendem Heu. Einer der Hunde leckte ihm hingebungsvoll über das Gesicht, ein anderer knabberte an einer seiner Sandalen. Auch die vier anderen drängten sich an den kleinen Jungen, in der Hoffnung gestreichelt zu werden. Robbi hatte beide Hände ausgestreckt und kraulte ihnen den Rücken.

Als er seine Schwester vor der Box stehen sah, klagte er laut: »Warum habe ich nicht vier Hände?«

Rosemarie warf einen scheuen Blick auf die Tierpflegerin. Bestimmt war sie jetzt zornig auf sie und Robbi, weil sie sich so eigenmächtig eingeschlichen hatten.

Zu ihrer Überraschung sah sie, wie die junge Frau, die Hände auf die Hüften gestützt, hellauf lachte.

»Na, ihr beide seid vielleicht zwei Frechdachse«, meinte sie. Es klang gar nicht böse, sondern eher amüsiert.

»Komm, Robbi.« Rosis Stimme war ein wenig schrill. Immer noch befürchtete sie, bestraft zu werden.

Ihr Bruder richtete sich auf und ging zwischen den ihn umzingelnden Hunden zur halboffenen Tür. »Nein, ich kann euch leider nicht mitnehmen«, erklärte er den Pudeln, die ihn aus ihren braunen, feuchten Augen treuherzig ansahen.

Er hob den Riegel an und schlüpfte durch einen Spalt der in seiner Brusthöhe befindlichen Pforte hinaus. Laut bellend sprangen die Hunde an der Tür hoch. »Sie mögen mich«, behauptete Robbi stolz.

Wortlos schaute die Tierpflegerin die Zwillinge an. Sie hatte die Hände immer noch auf die Hüften gestützt. Rosemarie war verzagt. Ob sie vielleicht nicht in die Zirkusvorstellung gehen durften, weil sie sich so frech benommen hatten?

Das Schweigen hatte etwas Beklemmendes. Rosi überlegte angestrengt, was sie sagen konnte. Unvermittelt erinnerte sie sich an die Höflichkeitsregeln, die ihr Vater ihnen beigebracht hatte.

»Ich heiße Rosemarie Scholz«, sagte sie heiser. »Und das ist mein Zwillingsbruder Robert Fred.«

»Und ich bin Louise Lenz«, entgegnete die junge Frau. Ihre Stimme klang freundlich, und Rosi atmete erleichtert auf.

»Seid ihr mit eurer Mutter hier?« wollte sie wissen.

»Nein, mit unserem Großvater«, antwortete Rosemarie. »Unsere Mama lebt nicht mehr.« Wie immer, wenn sie von der Mama sprach, spürte sie einen dicken Kloß im Hals.

»Unsere Mama ist oben im Himmel«, erklärte Robbi ernsthaft. »Sie ist ein Engel und sieht alles, was wir tun. Deshalb müssen wir brav sein.« Bedrückt setzte er hinzu: »Manchmal sind wir aber nicht brav.«

Seine Schwester schaute ihn ärgerlich an. Robbi benahm sich manchmal wie ein kleines Kind. Er erzählte immer alles ganz offen und Rosemarie hatte bereits festgestellt, daß es besser war, den Erwachsenen manches zu verschweigen.