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Franz Preitler

Die schönen Mordschwestern

Mürztal-Morde

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Zum Buch

Eiskalte Gier Ein abscheulicher Mord, begangen am 25. Jänner 1906, erregt ob seiner Bestialität großes mediales Interesse. Ein Bauernbub entdeckt eine arg zugerichtete Frauenleiche. Es ist eine durch Erbschaften wohlhabend gewordene junge Frau aus Wien. Die beiden Mörderinnen, die Schwestern Gusti und Fini Huber, werden verhaftet. Nach langem Verwirrspiel bekennt sich Gusti alleine schuldig, verweigert aber bis zuletzt eine genaue Schilderung des Tatherganges. Als Motiv der Tat nennt sie ihren Verlobten Joseph Pokorny, einen Opernsänger. Erst nach Ende der Verhandlung erfährt Gusti, dass ihr Verlobter ein Betrüger und Heiratsschwindler ist. Nach Ende ihrer Haft versucht Fini in Wien wieder Fuß zu fassen. Dort steht zu ihrem Entsetzen Joseph Pokorny vor ihr. Der Opernsänger will erfahren, was im Jänner 1906 tatsächlich geschehen ist, um mit einem Buch über die wahren Umstände Geld zu verdienen. Ist nun der Zeitpunkt gekommen, dem Auslöser der seinerzeitigen Tragödie einen Denkzettel zu verpassen?

Franz Preitler, aufgewachsen in der Waldheimat, in Langenwang im Mürztal, publiziert seit 2005 Bücher und ist Herausgeber von zwei Anthologien. Er organisiert Literatur- und Kulturveranstaltungen und ist bekannt als Nach-Erzähler von Sagen und Legenden rund um seine Heimat, die Steiermark. Der Autor möchte die Leser mit Erzählungen aus der Geschichte bewegen, um die Vergangenheit lebendig zu vermitteln und vor dem Vergessen zu bewahren. Zusätzlich schreibt er Romane. Preitler hält Lesungen sowie Vorträge zu seinen Büchern ab, nutzt dabei erfolgreich Social Media und ist durch die Presse in der Steiermark bekannt. Seit 2019 leitet der Erfolgsautor den renommierten Kultur- und Literaturverein Roseggerbund Waldheimat.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © ullstein bild – Imagno / VHS-Arc; Bauernhaus in Langenwang

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6234-4

Prolog
Leoben, 6. Juli 1906: Plädoyer des Verteidigers Dr. Hutter

Meine sehr geehrten Herren Geschworenen! Ich bin aus der Reichshauptstadt gekommen, nicht um Ihnen ein rhetorisches Blendwerk vorzuführen oder Sie durch Phrasen zu verwirren. Wenn ich auch ein Fremder bin, aus den Schriften Ihres größten Dichters Peter Rosegger kenne ich Sie. Nein, Sie sind nicht zu überreden, sondern zu überzeugen. Die Sache an sich ist allerdings so dramatisch, dass man sie nicht gänzlich trocken behandeln kann.

Wenden wir uns zunächst der Angeklagten zu: Josefine Huber, liebevoll Fini genannt, ist ein einfaches, bescheidenes, beschränktes Mädchen vom Land und seit ihrem siebenten Lebensjahr ohne Mutter aufgewachsen. 1903, im Alter von 15 Jahren, ist sie in die Großstadt Wien gezogen, wo sie sich auf fremdem Boden durchschlagen musste. Sie glaubte, dass sie dort ebenfalls eine Stellung erreichen werde wie ihre Schwester Augustine, von allen Gusti gerufen. Doch wie sollte es anders kommen! Fini kannte die Gefahren der Großstadt nicht und so ist sie gefallen, weil sie fallen musste. Wäre sie alleine und ohne ihre Schwester Augustine gewesen, dann wäre sie wahrscheinlich auch gefallen, aber sicher nicht auf diese Anklagebank hier.

Die große Menschenmenge hier im Saal kennt nur die Tat und richtet nach der Brutalität dieser Tat. Aber wir können die Angeklagte nicht wegen der Tat allein verurteilen. Denn diese Tat ist noch immer ein Rätsel. Man weiß nicht einmal, wo genau sie geschehen ist, unter welchen Umständen sie geschehen ist, noch, wer sie eigentlich begangen hat.

Ich erinnere Sie daran, dass es bisher noch nicht zweifelsfrei erwiesen ist, dass es wirklich beide Schwestern waren, die die Tat begangen haben. Es gibt ein Tatgeständnis von Augustine Huber, dieses ist gültig, auch wenn sie zur Tat selbst keine Angaben machen kann. Es bleibt aber immer noch eine entscheidende Frage offen: Welchen Anteil hatte Josefine Huber an der Tat? Um das zu beurteilen, ist es nötig, sich die beiden Schwestern nochmals vor Augen zu führen.

Die Schwestern Huber sind zwei grundverschiedene Charaktere: Augustine Huber, Gusti, ist eine Großstadtnatur mit all ihren Fehlern und Vorzügen, mit der Energie eines starken Mannes und dem Herzen eines schwachen Weibes. Vom Aussehen her, eine auffallend hübsche, große Frau mit markant edlen Gesichtszügen und schönen kastanienbraunen Haaren. Ihr maßloser Ehrgeiz treibt sie ständig voran zu neuen Zielen. So wurde die Begegnung mit Joseph Pokorny zum Verhängnis ihres Lebens. Sie alle waren Zeugen, wie dieser im Gerichtssaale eine kläglich komische Figur gespielt hat. Allein der Augustine Huber ist er als der große Tenor, als der Mann mit der großen Zukunft vorgekommen. Sie, die als Hotelstubenmädchen einmal an einem der wenigen Abende, an denen sie Ausgang hatte, in der Oper auf der vierten Galerie nur den Helmbusch des »Lohengrin« sehen konnte, glaubte in Pokorny, der ihr im strahlenden Lichte erschien, den wahren Lohengrin gefunden zu haben. Er hat Gusti bei seiner Ehre die Ehe versprochen, doch sie wusste nicht, dass sein Leben ohne Ehr und Würde war.

Sie hat sich auf sein Drängen hin mit allem Eifer und aller Kraft, ja, mit aller Niedertracht um das Geld für die gemeinschaftliche Existenz bemüht. Er hat sie unter Druck gesetzt, damit sie ihm das notwendige Geld verschaffte, mit dem er sein unsittliches Leben finanzieren konnte. Das Mädchen war ihm hörig und die ahnungslose, sich nichts Schlechtes dabei denkende kleine Schwester Fini befand sich in ihrem Bann.

Gusti war das große Vorbild für Fini, die ihre ältere Schwester außergewöhnlich bewunderte. Sehen Sie sich das hübsche blonde Mädchen genauer an: Sie wirkt heute – nach drei Jahren Aufenthalt in Wien – immer noch wie ein 15-jähriges Mädchen vom Lande: unschuldig und einfach. Fast noch wie ein Kind sitzt sie da. Können diese verschreckten blauen Augen, diese zarten Hände und das scheue Wesen etwas Böses tun? Sie suchte und sucht auch hier im Gerichtssaal noch immer stets den Schutz bei ihrer Schwester. Die gemeinsame Zugreise von Wien in die Steiermark hätte ihr erster Besuch beim strengen Vater werden sollen. Wobei sie sich von Anfang an davor fürchtete, ihrem Vater und der energischen Stiefmutter entgegenzutreten. Hatte er nicht bei ihrer Abreise nach Wien ausdrücklich gesagt, dass es für sie kein Zurück gäbe? Bedenkt man diese Aussagen und Umstände, so wird klar, dass sie lieber sterben wollte, als für immer zurück aufs Land zu ihrem Vater zu gehen. Erwägen Sie bitte, ob nicht der Versuch der Giftbeschaffung des verängstigten Mädchens dafür gedacht war.

Wegen des rücksichtslosen Verhaltens des Bräutigams ihrer Schwester stand sie ja ganz allein da in der großen Stadt Wien, dabei hatte sie ihre Anstellung verloren und trotz aller Mühen keine neue gefunden. Gerade jetzt hätte sie die Hilfe ihrer älteren Schwester so bitter nötig gehabt! Wie Sie, sehr geehrte Herren, wissen, ist man in der Großstadt ohne geregelte Einkünfte dem Untergang geweiht. Welcher Quartiergeber wartet monatelang auf den Mietzins? Die Angst, wieder nach Neuberg zurück zu müssen, muss sie förmlich gequält haben.

Als ihre Bekannte, die apathische Maria Müller aus dem Café Schinagl, von der bevorstehenden Fahrt in die Steiermark Kenntnis erhielt, schloss sie sich allen Aussagen nach freiwillig den beiden Schwestern an, um einen Mann zu treffen, in den sie immer noch verliebt war. Ein Mann, der ihre Liebe vor Jahren verschmäht und eine andere geheiratet hatte. Wie sie vor Kurzem erfahren hatte, lebte er von seiner Ehefrau bereits getrennt und Maria hoffte, durch die Reise sein Herz zurückzugewinnen. Daher ist der Vorwurf der Anklage, dass Fini den Auftrag hatte, die ehemalige Köchin Müller zu dieser Fahrt zu animieren, schärfstens zurückzuweisen. Aber selbst dies wäre übrigens nicht strafbar, solange nicht nachgewiesen ist, dass Maria Müller ohne Zwingen nicht mitgefahren wäre.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Es liegen keinerlei Beweise für die Schuld der Angeklagten Fini Huber vor, direkt und tätig an dem Mord mitgewirkt zu haben, ebenso keinerlei Beweise für eine entferntere Teilnahme, sondern für Sie, verehrte Geschworene, kommt nur die Frage der Vorschubleistung in Betracht. Nun liegt es an Ihnen. Sie werden zu entscheiden haben, ob das arme Mädchen Josefine Huber in die Nacht des Kerkers wandert oder in das Licht der Freiheit.

Bitte erwägen Sie dabei auch den vornehmsten Zweck der Strafe: Die Strafe soll vergelten. Daher lautet meine Frage an Sie: Wofür, für welche nachgewiesene Tat, soll an Josefine Huber Vergeltung geübt werden? Zu vergelten ist gar nichts, man könnte eher sagen: zu verbessern. Aber eine Besserungsanstalt ist das Gefängnis nicht. Wenn Sie der angeklagten Fini Huber ob des tiefen Schmerzes, der ihr heute durch den Verlust ihrer liebsten Schwester – vielleicht für immer – bereitet wird, die Freude der Freiheit gewähren, dann dienen Sie nur der Gerechtigkeit!

Wien, 29. November 1912, Josefine Huber und Klara Herzberg

Fini fasst erschrocken nach dem Arm ihrer Bekannten Klara. »Warte kurz! Können wir so tun, als würden wir einen Blick in die Auslage werfen?« Diese fragt sie erstaunt: »Aber warum denn?« »Ich erkläre es dir gleich.« Die junge Frau wirkt jetzt sehr nervös. Sie blickt hastig über ihre Schulter zu dem großen Mann im grauen Anzug mit Hut und der kräftigen Statur, der gerade auf der anderen Straßenseite um die Ecke biegt. Sein Gang ist bedacht, anders, als sie es von diesem sonst so eingebildeten, sich selbst maßlos überschätzenden Mann kennt. Ihre Hände zittern. Ein eigenartiges Grauen macht sich vom Brustkorb bis hin zu den Füßen breit. Ihr wird flau im Magen. Hastig muss sie sich an der Hausmauer festhalten, um nicht zu straucheln. Dabei erhascht sie einen flüchtigen Blick auf seinen Schnurrbart, den er inzwischen etwas anders trägt und schwarz eingefärbt hat. Viel zu dunkel, so wie seine dichten Haare, die jetzt ebenfalls schwarz gefärbt sind. »Wie unnatürlich – dass ihm das noch niemand gesagt hat …«, schwirrt ihr durch den Kopf. »Wahrscheinlich will er sich jünger machen, so wie es jetzt wohl bei den Männern in Mode ist. Die noblen Herren möchten seit Neuestem alle jünger aussehen und färben sich die Haare und dazu passend den Bart. Natürlich, um einen famosen Eindruck zu machen. Um den jungen, naiven Mädchen zu gefallen. Diesen oberflächlichen Weibsbildern, die sie dann …«

Bei diesen Gedanken wird sie von einem jähen Schauer erfasst. Ein Schauer, der ihr keineswegs fremd ist. Sie erstarrt, als wäre sie nackt der feuchten Kälte eines dunklen Kellerlochs ausgesetzt. Ein paar Minuten steht sie mit weit geöffneten Augen am Schaufenster und ringt nach Luft. Sie verspürt dumpfe Wut und hätte ihm am liebsten laut nachgeschrien, wie sehr sie ihn verflucht für das, was er ihr angetan hat. Wie sehr sie ihn hasst! Klara schaut sie erschrocken an. »Geht es dir nicht gut Fini?« Sie kneift dabei die Augen zusammen und wirft ihr einen skeptischen Blick zu, als rechne sie damit, dass sie jederzeit umfallen könnte.

»Entschuldige, ich musste mich kurz abstützen.« »Du bist doch nicht wegen diesem eleganten Herrn dort so erschrocken?«, möchte Klara wissen. »Ganz blass schaust du aus und zitterst.« »Doch, genau wegen dem«, antwortet Fini knapp und richtet ihren Blick in das große Schaufenster, damit Pokorny ihr erschrockenes Gesicht nicht sehen kann. »Dieser Mann dort ist nämlich alles andere als nobel. Ein Schurke ist er, ein hinterhältiger Betrüger! Ach, verzeih, ich will mich gar nicht daran erinnern. Aber jetzt, wo ich diesen verdammten Schwindler hier sehe, kommt richtig Zorn in mir auf. Ist er verschwunden?« Ihre Stimme klingt ähnlich zerreißendem Papier. Nach einem kurzen Blick auf die andere Seite der Straße bestätigt Klara: »Ja!« »Danke, dann bin ich sehr erleichtert. Meine Liebste, ich sollte doch besser in mein Zimmer zurückgehen. Macht es dir etwas aus?« Ihre Bekannte zeigt sich enttäuscht. Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Aber ich habe mich doch schon so auf unser Treffen heute gefreut! Ich möchte wirklich gerne noch mit dir wenigstens einen Kaffee trinken!« »Also gut, dann lass uns ganz kurz in ein gemütliches Café gehen«, erwidert Fini und versucht dabei ihre Bedenken mit einem knappen Lächeln zu überspielen.

Ihrer Begleitung fällt spontan das Café Schinagl gleich um die Ecke ein, wo sie unbedingt hingehen möchte. Fini erschreckt und hält inne. Ihr Blick ist verwirrt und ängstlich. Sie kennt das beliebte Café aus früheren Zeiten. Zeiten, in denen die Welt für sie noch in Ordnung war, in denen ihr Freunde zur Seite standen. Es befindet sich in der Singerstraße 13, gleich um die Ecke, in einem Barockpalais aus dem 17. Jahrhundert. Sie zögert. Ob man sie dort erkennen wird nach all den Jahren? Ihre Knie zittern von der Angst, die vom Brustkorb aus in ihre Kehle wanderte und dort noch feststeckt. Schließlich stimmt sie dem Wunsch ihrer Bekannten zu. Sie kennt Klara Herzberg ja noch nicht sehr lange und möchte sie nicht verärgern. So rafft sie all ihren Mut zusammen, ihre Lippen zittern.

Klara möchte nun endlich wissen: »Also wer ist denn nun dieser Mann und woher kennst du ihn eigentlich?« »Wer dieser Mann ist? Das ist Joseph Pokorny, der ehemalige Verlobte meiner Schwester! Er ist nichts als ein selbst ernannter Opernsänger. Und wenn er von sich und seinem Leben erzählt, müsste man denken, er sei ein berühmter Künstler, ein begnadeter Sänger mit zahlreichen Engagements bis nach Prag und Russland.« Klara wirft ihr einen irritierten Blick zu. »Und war er mit deiner Schwester auch verheiratet?« Klaras Frage verrät angespanntes Interesse. »Nein, geheiratet hat er meine Gusti nie! Er hatte es ihr nur versprochen, wie so vielen anderen Mädchen auch. Du hast ihn kurz gesehen, oder?« »Ja, aber er scheint mir ein sehr fescher, vornehmer Herr zu sein!« »Stimmt, er wirkt wie ein materiell gefestigter Mann mit guter Anstellung. Wenn man ihn so sieht, könnte man annehmen, er sei ein hochrangiger Beamter. Das täuscht, meine Liebe, er ist weder hochrangig noch berühmt. Er ist berüchtigt und hat sehr viele Frauen belogen und betrogen, hat sie auf schändliche Art und Weise um ihr Glück und Vermögen gebracht. Jede der armen Frauen ist seinem Charme erlegen, hat seine Lügengeschichten geglaubt und ihm Darlehen gegeben. Ihr mühsam erspartes Geld war somit verloren. Mit einem Schlag waren sie bettelarm und standen vor dem bitteren Ende. Das Wort Schuld ist diesem Verbrecher unbekannt. Von Reue hat er wohl auch noch nie etwas gehört.« Inzwischen ist Klara etwas blass geworden. Aber Fini holt weiter aus im Redefluss. »Im Ausland ist er auch vielfach mit Sicherheitsbehörden in Konflikt geraten. Seinen Namen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Ebenso nicht sein aufgesetztes Theaterlächeln. Von seinem böhmischen Akzent gar nicht zu sprechen!« Erst jetzt bemerkt sie Klaras entsetzten Blick und fasst sie an beiden Schultern: »Schau mir in die Augen! Du kennst ihn wohl hoffentlich nicht, oder? Ich warne dich! Dieser Mann würde dich in den Ruin stürzen, abgesehen davon, dass er überhaupt keine Ahnung von einem gesicherten Leben hat! Sieh mich bitte nicht so entsetzt an. Was ist los mit dir?« Klara blickt sie bei ihren Äußerungen durchdringend an. Fini fragt sich dabei, ob sie ihr das Erzählte überhaupt glaubt.

Aber ihre Bekannte schüttelt nur den Kopf und meint: »Mir fällt auf, du lässt gar kein gutes Haar an diesem Mann!« Finis Augenbrauen ziehen sich plötzlich über ihrer Stirn zusammen, die tiefe Falten wirft. »Das kann ich auch nicht! Nein, über diesen elenden Gauner kann ich beim besten Willen nichts Gutes sagen.« Klara ringt kurz nach Luft. Warum scheint Fini in diesem Moment nicht klar. War sie zu boshaft?

Sie spürt die Verzweiflung und wie sehr sie diese Begegnung mit eiserner Kälte ins Herz getroffen hat. Es ist wie ein Schock für sie, dem Mann heute begegnet zu sein. Zuletzt hatte sie Pokorny im Sommer 1906 in Leoben gesehen: das Gesicht aufgedunsen, und in seinen kleinen dunklen Augen hatte sie lediglich ein höhnisches Flackern von Gemeinheit und Gier erkannt. Er hatte in aller Öffentlichkeit angekündigt, mit einem Skandalroman aus ihrer tragischen Situation Kapital zu schlagen. Schamlos hatte er über die Presse versucht, von seiner eigenen Hoffnungslosigkeit abzulenken.

»Warum weißt du denn eigentlich so viel über diesen Herrn?«, hakt Klara neugierig nach. Fini räuspert sich, ist von der Frage überrascht. Sie ist in einer merkwürdigen Stimmung und geht auf Klara zu, dass diese ihren Atem spüren kann. »Glaub mir, ich hatte genügend Zeit, mich mit ihm zu beschäftigen. Leider weiß ich noch viel mehr, meine Liebe! Das ist ja das Schlimme an dieser Geschichte. Besser gesagt, mit Pokorny hat meine ganze Tragödie seinen Anfang genommen. Wieso? Weil dieser Schurke, dieser Heiratsschwindler, vor genau sieben Jahren von Preußen nach Wien gekommen ist!« »Aber das ist doch nichts Schlimmes!« »Ärger als schlimm war das, es war furchtbar! Hier hat er meine hübsche Schwester Gusti kennengelernt, sie war noch jung! Gerade mal 26 Jahre, im besten Alter. Besser gesagt, sie war jung und dumm, das weiß ich heute, sonst hätte sie sich nicht in diesen um 15 Jahre älteren Mann verliebt. Er versprach ihr die Ehe, ein gefahrloses und gesichertes Leben in Wohlstand. Gusti fühlte sich gerade in dieser Zeit um das wirkliche Leben betrogen, wollte aus dem Dienstmädchendasein ausbrechen und es zu mehr bringen. Schon alleine, um zu Hause zu zeigen, dass sie es geschafft hatte. Dass sie es in Wien zu mehr gebracht hatte als die ehrgeizige Tochter der Nachbarin. Du musst wissen, wir kommen vom Land, aus Neuberg im Mürztal. Dort, wo jeder jeden kennt. Du weißt, wo das ist?« Ihre Bekannte nickt: »In der Steiermark.« »Genau, in der Steiermark, über dem Semmering. Weißt du, am Land, da hat man noch Vertrauen in die Menschheit, da leuchtet das Leben noch in schillernden Farben.« Klaras Mundwinkel ziehen sich nach unten. Ihr fällt es schwer nachzuvollziehen, was ihr Fini soeben alles erzählte.

Tatsächlich, am Anfang, als ihre Mutter noch lebte, da war diese Zeit in Neuberg, in dem kleinen Bauernhof am Waldesrand, einfach schön gewesen. Doch nach dem Tod der Mutter – sie selbst war damals ein kleines Kind – war es für den Vater sehr schwierig, sich und die vier Töchter durchzubringen. Und nachdem ihre drei älteren Schwestern bereits alle nach Wien gegangen waren und ihr Vater eine herrische Frau aus Mürzzuschlag ins Haus gebracht hatte, die immer etwas an ihr auszusetzen hatte, wurde es auch für sie dort zu eng.

»Da ich in der Provinz nur Gutes und Schönes aus der Großstadt gehört habe, war es für mich nicht schwer, Gustis Angebot anzunehmen, ihr nach Wien zu folgen. Ich wusste nicht, wie ich es Vater erklären sollte, dass ich gehen möchte. Er saß wie so oft allein in seinem Zimmer. Dort konnte er stundenlang ohne Licht, seinen weißhaarigen Kopf in die Hand gestützt, sinnierend sitzen. Mir tat das Herz sehr weh und ich schlich mich leise in seine Nähe. Als ich es ihm gesagt und ihn auf die Wange geküsst hatte, schrie er mich laut an: ›Du bist so stur wie deine Mutter! Jetzt willst du mich auch noch verlassen, was habe ich nur alles falsch gemacht in meinem Leben?‹ Er schob mich böse weg und winkte mir, aus dem Zimmer zu gehen. Damit hatte ich nicht gerechnet und meinte kleinlaut, dass er nichts falsch gemacht habe und es besser für uns alle sei, wenn ich in Wien mein eigenes Brot verdiene, so wie meine drei Schwestern. Von diesem Moment an sprach er kein einziges Wort mehr mit mir, nutzte jede Gelegenheit, um mir auszuweichen. Der Tag meiner Abreise war schneller da, als ich es erwartet hatte. Mein in die Jahre gekommener und auch immer merkwürdiger gewordener Vater brachte mich an einem strahlend schönen Sonntag mit Zorn in den Augen zum Bahnhof nach Mürzzuschlag. Seine letzten Worte klingen mir heute noch in den Ohren: ›Eines sag ich dir: Die Großstadt wird dich verderben und es gibt kein Zurück!‹ Ich wollte etwas darauf sagen, war jedoch unfähig. Ich stand stumm da und starrte ihn mit großen Augen an. In der Hoffnung, nie mehr nach Neuberg kommen zu müssen.«

Alleine und unerfahren, nur mit ein paar Habseligkeiten, war sie damals von Mürzzuschlag aus mit dem Zug nach Wien gefahren. Sie war verbittert über die letzten Worte ihres Vaters. »Es gibt kein Zurück!«, schallte es in ihrem Kopf. Ein flüchtiges Schuldgefühl und Angst vor dem Unbekannten überkamen sie nur in den ersten Minuten. Die Neugier auf Wien und die Aussicht auf eine gut bezahlte Arbeit überwogen jedoch bald. Es schien ihr, als glimme eine kleine Flamme tief im Innersten auf und warte auf den Wind, der sie zu einem heißen Feuer anfache.

»Wie ich dann so erleichtert im Zug nach Wien saß und beim Fenster hinausblickte, alles in Windeseile an mir vorbeizog, wusste ich, dass es die richtige Entscheidung war, von zu Hause wegzugehen. Stimmt, ein wenig mulmig war mir schon. Die Berge meiner Heimat wurden immer kleiner und verschwanden gänzlich, je näher ich Wien kam. Das flaue Gefühl war vorbei, als ich gegen Abend in der Großstadt ankam und mich Gusti am Bahnhof abholte und mir versprach, mich zu beschützen. Erst später erfuhr ich, dass viele Mädchen auf gut Glück in die großen Städte ziehen, ohne sich vorher eine Unterkunft oder Arbeitsstelle gesichert zu haben. Wenn sie ankommen, wissen sie oft keinen Platz zu finden und geraten gar leicht in schlechte Hände. Du verstehst, was ich meine?« Klara zuckt die Schultern. »Ich habe davon gehört, dass es das geben soll«, meint sie und hat dabei keine Ahnung, ob das Erzählte der Realität entspricht. Fini hatte gerade in ihrer letzten Zeit damals in Wien einige ehedem unschuldige Mädchen kennengelernt, die nicht mit ausreichend Geld versehen waren und sich von unbekannten Männern am Bahnhof ansprechen haben lassen, mit ihnen zu gehen. Das machten diese armen Dinger auch und es war unvorstellbar, wo sie landeten. Oftmals kamen sie aus diesem traurigen Milieu nie mehr heraus.

Doch Fini hatte anfangs Glück, ihre fürsorgliche Schwester nahm sie liebevoll bei sich im Zimmer auf. Die beiden Schwestern teilten sich Bett und Schrank und die Dienstbotenvermittlung verschaffte Fini rasch eine Arbeit, der sie gewissenhaft nachging. Sie war – wie ihre ältere Schwester – wie besessen von der Stadt und dem Reiz des städtischen Lebens. Nachts träumte sie von einer Heirat mit einem kleinen Beamten, den sie morgens mit einer Tasche durch die Stadt laufen sah. Ihr neues Dienstmädchendasein sollte in ihrem kleinen Kopf nur ein Übergangsstadium bis zur Heirat sein.

An den alten Vater in Neuberg und seine neue Lebensgefährtin verschwendete sie vorerst keinen einzigen Gedanken, noch schickte sie einen Brief nach Hause. Ja, zuerst ist es wohl bei allen jungen Mädchen derselbe Gedanke, und sie wollte sich auch nicht zu viel auf ihr hübsches, unschuldiges Wesen vom Land einbilden. Letztendlich war es dann Gusti, die zuerst einen Mann kennenlernte, einen sehr interessanten und wohlhabenden Mann, wie sie es nachts im Bette ihrer jüngsten Schwester ständig zu erklären versuchte. Mit steigender Überzeugung und immer glühenderem Verlangen nach diesem Mann schwärmte sie Fini nach der Arbeit von ihm vor. Er sei ein berühmter Opernsänger, zufällig für ein paar Monate in Wien und habe sogar Interesse an ihr, nur an ihr, wie er stets beteuerte.

»Aber jetzt hör auf zu träumen, erzähl schon weiter, wie ist es dir in Wien ergangen?«, fragt Klara neugierig. Fini schrickt aus ihren Gedanken auf. »Am Anfang war alles gut. Ich konnte bei meiner Schwester in ihrem kleinen Zimmer und in ihrem Bett schlafen. Aber dann lernte Gusti einen Mann kennen, einen wohlhabenden Mann, auf den sie alle ihre Hoffnungen setzte. Bereits einige Tage später bekam ich es erstmals mit der Angst zu tun. Gusti meinte, das Zimmer wäre zu klein für uns zwei Schwestern, es wäre ihr auch zu unbequem so zu zweit im Bett. Ich sah mich schon mit meinem alten Koffer auf der Straße stehen oder nachts auf Unterkunftssuche gehen. Von wegen, ich sollte ausziehen! Gusti meinte, ich würde nun mein eigenes Geld verdienen und könnte die Kosten für das Zimmer im Dachgeschoss übernehmen, es sei gar nicht teuer. Sie würde alles mit der Quartiergeberin abklären, diese sei eine nette, zwar schrullige Dame in gesetztem Alter und sehr verständnisvoll. Im Handumdrehen ist meine Schwester am nächsten Tag zu diesem Mann in die kleine Wohnung in die Pressgasse gezogen, sie hat sich ein besseres Leben erhofft und wollte plötzlich nicht mehr die einfache Hotelbedienstete sein. Ich konnte das sehr gut verstehen, ging es mir doch nicht anders. Ich träumte ja selbst jede Nacht von einer glücklichen Heirat. Von da an waren die beiden ein Brautpaar und ich ihr Werkzeug!« »Aber warum denn, um Himmels Willen?«, will Klara wissen. »Das ist eine furchtbare Geschichte und ich weiß nicht, ob du die Nerven dazu hast, sie dir anzuhören!«

Sie biegen um die Straßenecke in die Singerstraße. Am liebsten wäre Fini einfach davongelaufen. Aber dann bleibt sie doch vor dem alten Palais stehen und stottert nervös: »Da wären wir ja, hier ist das Café Schinagl! Meinst du wirklich, dass wir hineingehen sollen? Ich weiß nicht, ich habe überhaupt kein gutes Gefühl dabei. Entschuldige, ich bin gequält von einer eigenartigen Anspannung!«

Beim Eintreten in das Lokal wagt sie einen Blick in den großen Spiegel. Sie erschrickt. Eine Minute steht sie still, schnell richtet sie sich ein wenig zurecht. Diese Gefühle von Angst und der grausamen Hilflosigkeit vor dem gemeinen Hohn, die sie all die Jahre ertragen musste, kommen in ihr auf. Was ist bloß aus ihren schönen blonden Haaren, der lieblichen Figur und dem Glanz in ihren blauen Augen geworden? Sie ist zwar erst 24 Jahre alt, aber ihre Mundwinkel werfen Falten und sind nach unten gezogen. Wie einen stechenden Schmerz verspürt sie Ekel und Abscheu ihren hageren Körper durchdringen, und verlegen zieht sie sich den braunen Hut tiefer ins Gesicht.

Da berührt sie jemand an der Schulter. Erschreckt dreht sie sich um. Als sie plötzlich in das verhasste Gesicht von Joseph Pokorny sieht, stammelt sie ängstlich: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« Sie hatte sich all die Jahre vorgenommen, mit diesem furchtbaren Menschen nie mehr zusammentreffen zu wollen, geschweige denn ein Wort zu wechseln. »Ich habe auf Sie hier gewartet, Fräulein Fini!« Sein Lächeln ist aufgesetzt, scheint ihr zynisch. Es stockt ihr das Blut in den Adern, als sie den Namen Fini hört. »Lassen Sie mich sofort in Ruhe!«, antwortet sie mit bebender Stimme und versucht weiterzugehen. Da packt er sie fest am Arm und wirft ihr einen eigenartigen Blick zu: »Wir werden uns noch öfters sehen, Fräulein Fini!« Dann drückt er ihr ganz fest ein größeres braunes Kuvert in die Hand. Mit Ekel stößt sie seine Hand weg. »Mörder«, murmelt sie dabei vor sich hin. Nur fort! Sie flüchtet ohne sich umzudrehen in das Innere des Cafés, das einst ihr Stammlokal und gleichzeitig Zufluchtsort war, wenn sie vorgab, einer Beschäftigung nachzugehen.

In ihrer Verzweiflung kommt es ihr wie eine Ewigkeit vor, durch das tiefe Lokal zu schreiten, das unverändert ist und dessen Beleuchtung noch schummriger wirkt als früher. Ihre Stöckelschuhe klacken auf dem Parkettboden, sodass sie jeden Schritt wie einen Hammerschlag im Kopf verspürt. Zwei Holzwände trennen noch immer den vorderen Bereich vom Frauenabteil, dort dürfen nur weibliche Gäste Platz nehmen. Wann ist sie endlich dort? Sie wagt nicht, sich umzudrehen, geschweige denn, jemandem in die Augen zu sehen. Endlich die ersehnte Holztüre, ganz wie früher! Erinnerungen werden in ihr wach und lassen sie erschaudern. Sie zuckt zusammen, als sie den Tisch sieht, an dem ihre Bekannte nervösen Blickes auf sie wartet.

Genau dieser kleine, runde Tisch ist es, der mit den drei ledergepolsterten Stühlen, an dem Maria Müller den größten Teil ihres Tages verbracht hatte. Er war ihr Stammplatz und stets frei für sie. Hatte zufällig eine andere Frau sich diesen Sitzplatz ausgesucht, musste sie aufstehen und sich woanders hinsetzen, wenn Maria bei der Türe reinkam. Sie blieb mit ihrer Größe von 1,80 Meter und der etwas stärkeren Statur nicht unbemerkt. Stets trug sie schlichte, aber gute dunkle Kleidung, die vollen dunkelblonden Haare hochgesteckt und ein Tuch um die Schultern. Maria hatte ein sehr gutes Verhältnis zu den Lokalbediensteten und war ein gern gesehener Gast. Das Café Schinagl war tagsüber voll mit Dienstmädchen ohne Arbeit, die sich oft bloß mit Kaffee als Nahrung behelfen mussten. Es war für sie Unterkunftsplatz untertags, sie konnten dort Briefe schreiben, die Zeitung lesen oder ihre Erfahrungen und Neuigkeiten austauschen. Aber auch Männer kennenlernen.

Maria Müller, die aus freien Stücken ihre Arbeit als Köchin aufgegeben hatte, kam täglich mehrmals ins Café Schinagl. Am Morgen nahm sie den Kaffee und dann ging sie weg, kam oft noch vormittags zurück und brachte sich Essen mit und nachmittags saß sie wieder dort und verzehrte ihre Jause, blieb oft bis zum Abend. Jedoch nie nachts. Unterhaltungsbeilagen der Blätter und Zeitungen bildeten ihre Lektüre. Oft brachte sie ein Buch mit, las daraus oder schrieb Briefe. Ohne mit jemandem Kontakt zu pflegen, saß sie stundenlang auf ihrem gewohnten Platz und beobachtete die Gäste. Wer sie näher kannte, wusste, dass sie ein schwer zugängliches, leicht verstörtes Wesen war, das sicher war, bald sterben zu müssen. Sämtliche Mitglieder ihrer Familie waren nämlich an Tuberkulose gestorben, sie war das letzte Glied in der Kette und rechnete selbst mit ihrem bevorstehenden Tode. Eine wohlhabende Tante hatte, bevor sie der furchtbaren Krankheit zum Opfer fiel, ihr gesamtes Vermögen Maria Müller vererbt. Von den Zinsen dieses Kapitals bestritt Maria ihr bescheidenes Leben.

Natürlich wusste jeder, der öfters im Schinagl verkehrte, dass sie es sich mit ihren 28 Jahren leisten konnte, tagsüber Stammgast zu sein, ohne einer Arbeit nachzugehen. Gutgläubig wie sie war, zeigte sie etlichen Leuten und dem Personal ihr Sparkassenbuch und den Depotschein über insgesamt 12.000 Kronen; an Bargeld mangelte es ebenfalls nicht. Eine engere Beziehung hatte sie zur Nichte des Cafébesitzers, Fräulein Lebhardt, die auch über die Vermögensverhältnisse von Maria Müller Bescheid wusste und ihr zuflüsterte, dass man sie im Lokal die »Sechstausendguldenköchin« nannte, da die Menschen lieber noch in Gulden rechneten, die es schon seit ein paar Jahren gar nicht mehr gab, als in Kronen.

Fräulein Lebhardt, dem einzigen kassierenden Mädchen im Lokal, vertraute Maria Müller auch Details aus ihrem Privatleben an, die ansonsten kaum jemand wusste. Sie war es, der sofort aufgefallen war, dass Maria ab dem 24. Jänner nicht mehr zum Kaffee in die Singerstraße 13 kam. Sie war es auch, die am 29. Jänner durch einen Postboten eine flüchtig geschriebene Karte erhielt, deren Inhalt lautete: »Ich habe mir den Fuß verstaucht und werde die nächste Zeit nicht kommen können!« Schwer leserlich unterschrieben mit Maria Müller.

»Entschuldige meine Liebe, wartest du schon lange? Ich … habe im vorderen Bereich … einen Mann getroffen!« »Das habe ich gesehen.« Klara wirkt pikiert und fragt ziemlich unwirsch: »Warum bist du denn so nervös? Und deinen Hut solltest du auch endlich abnehmen, wie schaut denn das aus im Café?« Fini schreckt zusammen und fühlt sich in ihrer Verlegenheit ertappt. Bevor sie eine Antwort geben kann, fällt ihr das Kuvert aus der Hand. Dabei fallen etliche Geldscheine und ein vergilbter Briefumschlag heraus. Beim Anblick der verstreuten Geldscheine machen einige Frauen große Augen. Leises Raunen und Gekicher gehen durch den Raum. Eine sehr unangenehme Situation für Fini, sie wollte doch um keinen Preis auffallen. Beim Hinknien zieht sie unweigerlich weitere Blicke auf sich, es wird still im Raum. Die blonde Dame vom Nachbartisch will helfen, doch Fini wehrt mit einem leichten Kopfschütteln ab und mit rascher Bewegung rafft sie das Geld – es ist nicht allzu viel, aber doch genug, um eine Weile damit über die Runden zu kommen – in das Kuvert zurück. Ihre Finger zucken nervös. Einzig der Briefumschlag liegt noch auf dem Boden und beim Aufheben erkennt sie mit entsetzter Gewissheit die markant flüssige Handschrift ihrer Schwester Gusti. Sie schreckt zurück und ahnt verzweifelt, dass sie die Vergangenheit eingeholt hat. Ihr Instinkt wehrt sich gegen diesen Brief, aber sie nimmt ihn hastig an sich. Wagt es nicht, nach links und rechts zu schauen.

Das Geld ist ein Segen. Fini weiß sehr wohl, dass sie es unbedingt benötigt, da sie praktisch kein Geld und erst seit Kurzem wieder eine Arbeit hat. Bei allen Stellen, wo sie sich um Arbeit beworben hatte, wurde sie abgewiesen. Verzweifelt und mutlos ergriff sie die letzte Hoffnung und suchte Frau Baumann, eine alte Dame und Kinobesitzerin, die sie von früher kannte, auf. Die gütige Frau, die Mitleid mit ihr hatte, bot ihr dann diese Stelle als Reinigungskraft von Donnerstag bis Sonntag im Kino an, obwohl sie den Platz schon einem anderen Mädchen versprochen hatte. Die Bezahlung ist aber mager, das kleine Zimmer, in dem sie wohnt, viel zu teuer.

Doch warum hat ihr Joseph Pokorny das Geld zugesteckt? Was hat er vor? Stammt es von ihrer Schwester – oder sogar von Fräulein Müller? Was hat es mit diesem alten Brief auf sich? War es ausgemacht, dass Pokorny sie überraschte? Was soll das alles bedeuten? Auf dem Boden kniend hält sie mit großem Unbehagen inne. Sie hat keine Kraft mehr. Die Fragen quälen sie, während ihre Augen auf den vergilbten Umschlag mit den braunen Flecken gerichtet sind, auf dem steht: »Liebster Pepo!« Er ist bereits an der Seite aufgerissen, zerknittert und schmutzig.

Zerstreut, fast wie in Trance, zieht sie ein Stück altes Papier aus dem Umschlag. Tatsächlich, es ist der markante Schriftzug ihrer Schwester. Unverwechselbar! Sie sieht die gefälschten Meldezettel vor sich, die ihr von der Polizei immer wieder unter die Nase gehalten wurden. »Nein, das ist nicht die Handschrift meiner Schwester«, hatte sie ständig gelogen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und war standhaft dabei geblieben. Sie steckt Brief und Umschlag ins Kuvert zurück, viel zu schnell steht sie vom Boden auf. Ein eisigkalter Schauer fährt ihr den Rücken hinunter, plötzlich wird ihr tief im Magen übel. Es schnürt ihr regelrecht die Kehle zu.

Dieses Unbehagen vom leeren Magen aus kennt sie. Pokorny, das Geld, der Brief! Vor ihren Augen öffnet sich ein schwarzes, flimmerndes Loch. Sie kippt jählings nach vorne und kommt mit einem dumpfen Schlag zum Liegen. Wie ein großer weggeworfener alter Mantel liegt sie da auf dem dunklen Holzboden. Ihr brauner Hut unter dem Tisch, den Brief in der Hand.

Die anwesenden Frauen im Raum schreien laut auf. Und anstatt zu helfen, verzieht ihre Bekannte bloß das Gesicht zu einer Grimasse. Sie räuspert sich verlegen, greift hektisch nach ihrer Handtasche und steht ruckartig auf. Mit Gewalt schiebt sie den Tisch zur Seite, vor dem Fini regungslos wie ein Bündel Elend liegt. Wie von allen Sinnen verlassen rennt sie zur Holztür des Damenbereichs, reißt sie auf und will so schnell wie möglich den Raum verlassen. Neugierige Augen folgen der Frau, die beim Eintreten den Eindruck vermittelte, eine bessere Person zu sein als die bereits anwesenden Damen im Raum. Und nun verlässt sie völlig verantwortungslos fluchtartig das Lokal, ohne ihrer Bekannten in dieser üblen Situation zu helfen. An der Tür stößt Klara Herzberg fast mit Fräulein Lebhardt zusammen, die vor Schreck die Geldtasche fallen lässt. Durch den dabei entstandenen Lärm zuckt Klara zwar kurz zusammen, aber sie verlässt dann rasch die Räumlichkeiten.

Vor dem Café Schinagl wartet bereits Joseph Pokorny. Ganz selbstverständlich, als sei nichts geschehen, fasst Klara den Arm des Mannes, hängt sich ein. Gemeinsam gehen sie ein paar Schritte vom Trottoir zur wartenden Droschke. Ihr Atem, der zuvor sehr schnell gegangen ist, beruhigt sich dagegen rasch. Die Singerstraße ist menschenleer und still.

Wien, 29. November 1912, Josef Goldstein und Simon Hufnagel

»So ein Tohuwabohu! Hast du das gesehen?« Josef Goldstein und sein Freund Simon Hufnagel sitzen im vorderen Teil des Café Schinagl bei ihrer vormittäglichen Melange. »Das gibt es ja sonst gar nicht, dass Fräulein Lebhardt ihre Geldtasche einmal aus den Fingern lässt. Und da, siehst du es durch die Tür? Die Frau am Boden, das ist doch die, die vorhin an uns vorbeigegangen ist und die von diesem komischen schwarzhaarigen Mann angesprochen wurde. Ich hab mir noch gedacht: Nanu, was will dieser Pokorny von dieser Frau?« Simon verschränkt die Arme und staunt: »Josef, du kennst wirklich Gott und die Welt! Woher kennst du denn diesen Mann, bitte sehr?« »Das erzähle ich dir gerne. Du kannst dich doch sicher noch an diesen aufsehenerregenden Mord im Raxental vor sechs Jahren erinnern, bei dem ja auch ein Stammgast von diesem Café, nämlich die Maria Müller, zu Tode kam? Nun, dieser Pokorny hat dabei eine äußerst unrühmliche Rolle gespielt. Viele haben ihn sogar als den eigentlichen Verursacher dieses ganzen Dramas gesehen. Rechtswirksam bestätigt konnte das aber nie werden. Er kam jedoch am 7. Juli 1906, gleich nach dem Ende des Mordprozesses in Leoben, wegen Verdacht auf Heiratsschwindelei und schweren Betrugs in Untersuchungshaft und wurde Ende Juli ohne jegliches Aufsehen mit dem Zug nach Wien ins Schwurgericht überstellt. Bei seinem Gerichtsprozess in Wien im Jänner 1907, in dem seine ganze kriminelle Vergangenheit aufgerollt und sein schadhaftes Verhalten als Betrüger und Heiratsschwindler nachgewiesen wurde, erklärte er sich für ›nicht schuldig‹ und bezeichnete sich selbst als ›unglückliches Opfer‹. Was seine Verlobte, Augustine Huber, betraf, kündigte er an, ihre tragische Geschichte, die über die Grenzen Österreichs für Aufsehen sorgte, zu Papier zu bringen und ein Buch darüber zu schreiben.« Goldstein nimmt noch einen Schluck von seinem Kaffee.