Fürstenkrone – Jubiläumsbox 6 – E-Book: 31 - 36

Fürstenkrone
– Jubiläumsbox 6–

E-Book: 31 - 36

Laura Martens
Gabriela Stein
Norma Winter
Bianca- Maria
Melanie Rhoden

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-248-0

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Wir beide auf der Fahrt ins Glück

Anabel wusste nicht, wer Alexander in Wirklichkeit war …

Roman von Laura Martens

Anabel von Mohn warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, bevor sie das Bad verließ und die Tür hinter sich schloss. »Es wird allerhöchste Zeit, dass ich zum Friseur komme.« Sie fuhr mit der rechten Hand in ihre schulterlangen rotblonden Locken. »Unser Landausflug gestern hat sich nicht besonders günstig auf meine Haare ausgewirkt.«

»Meinen Haaren hat der Kamelritt durch die Wüste nichts ausgemacht, Tante Anabel«, erklärte ihre zehnjährige Nichte und schaute von dem Buch auf, in dem sie las. Sie seufzte tief auf. »Wenn ich einmal groß bin, werde ich bestimmt Archäologin.« Nachdenklich sah sie ihre Tante an. »Ob es schwierig ist, Hieroglyphen zu lernen?«

»Das kommt darauf an, wie groß dein Interesse daran ist, Lea Marie«, meinte Anabel. Sie erinnerte ihre Nichte daran, dass sie noch vor einigen Tagen Meeresbiologin werden wollte. »Noch hast du Zeit, dir deinen zukünftigen Beruf zu überlegen. Was wollte ich in deinem Alter nicht alles werden.«

»Ist Innenarchitektin nicht dein Traumberuf gewesen, Tante Anabel?« Lea Marie schlug ihr Buch zu und stand von der Couch auf, die einen großen Teil des kleinen Wohnraums der Suite einnahm, die sie auf der ›Santa Maria‹ gebucht hatten. »Wenn du zum Friseur gehst, hole ich mir ein neues Buch aus der Bibliothek. Bestimmt haben sie auch Bücher über Ägypten.«

»Kleine Leseratte.« Anabel legte zärtlich den Arm um die Schultern ihrer Nichte. Seit dem Tod ihrer Schwester vor fünf Jahren sorgte sie für Lea Marie. Während des Studiums war es nicht leicht gewesen, dem Kind Vater und Mutter zu ersetzen, doch seit sie sich als Innenarchitektin selbstständig gemacht hatte, konnte sie sich ihre Zeit freier einteilen als früher. Dazu kam, dass es sich bei Lea Marie um ein sehr ruhiges Kind handelte, dessen liebster Zeitvertreib das Lesen war.

Beide verließen die Suite und stiegen die breite, mit einem roten Teppich belegte Treppe hinunter, die zum Hauptdeck führte. »Bis nachher, Lea Marie.« Anabel küss­te das Mädchen auf den Haaransatz. »Wir treffen uns in eineinhalb Stunden im Café auf dem Sonnendeck, dann spendiere ich uns einen großen Eisbecher.«

Lea Marie kannte sich inzwischen an Bord der ›Santa Maria‹ bestens aus. Sie waren vor einer Woche in Tunesien an Bord gegangen. Da ihre Tante ihr vertraute, durfte sie sich frei auf dem Schiff bewegen. Das war auch gut so, denn die ersten drei Tage der Reise hatte ihre Tante mit einem Anfall von Seekrankheit zu kämpfen gehabt. Es wäre schrecklich gewesen, hätte sie in dieser Zeit nichts unternehmen dürfen.

Lea Marie stieg ein Stockwerk weiter hinunter. Die Schiffsbibliothek in der Nähe des Büros, die Geschäftsleuten für ihre Arbeit zur Verfügung standen, nahm zwei große Räume ein. Hier kannte man sie schon. Eine freundliche Bibliothekarin half ihr bei der Suche nach einem auch für ein Kind verständlichen Buch über Ägypten. Lea Marie wollte bereits die Bibliothek verlassen, als sie ein weiteres Buch entdeckte, das sie interessierte.

»Kann ich es auch mitnehmen?«, fragte sie.

»Gern«, antwortete die Bibliothekarin und tippte ihren Namen und die Nummer ihrer Suite in den Computer ein.

Vom Atlantikdeck ging es zum Pazifikdeck hinunter und von dort zu den A-, B- und C-Decks. Bis zum C-Deck hatte es Lea Marie noch nie geschafft. Da sie Zeit hatte, beschloss sie, auf Erkundungstour zu gehen.

Je tiefer Lea Maria in den Schiffsbauch eindrang, umso un­übersichtlicher wurden die Gänge, durch die sie kam. Schon nach wenigen Minuten hatte sie sich hoffnungslos verlaufen. Statt zu den Gymnastikräumen zu gelangen, stand sie mit einem Mal in einem Gang, der zu den Mannschaftsquartieren führte. Ratlos blickte sie sich um. Angst hatte sie nicht, denn über kurz oder lang würde jemand kommen, der ihr den richtigen Weg wies.

Alexander Nelson Prinz von Lichtenberg verließ das Hospital, in dem er eine Vitamin-B-Infusion erhalten hatte. Wie Anabel und ihre Nichte war er in Tunesien an Bord der ›Santa Maria‹ gegangen. Da er nichts Besseres zu tun hatte, beschloss er, sich diesen Teil des Schiffes näher anzusehen. So kam es, dass er Lea Marie entdeckte, die ratlos in einem der Gänge stand. Sein Blick fiel auf die beiden Bücher, die das Mädchen in den Händen hielt. Um seine Lippen huschte ein Lächeln.

»Hast du dich verlaufen?«, erkundigte er sich auf Deutsch.

Lea Marie nickte. »Ich wollte mich nur ein bisschen umsehen.« Sie blickte zu ihm auf. »Zeigen Sie mir bitte, wie ich zu der Treppe zurückfinde, die nach oben führt?«

»Gern.« Er wies auf das oberste der Bücher. »Ich kenne es«, sagte er. »Ich habe es erst im letzten Jahr gelesen. Allerdings die englische Originalausgabe.«

»Sie sind erwachsen«, erklärte Lea Marie ungläubig.

»Und da meinst du, ein Erwachsener würde sich nicht mehr für die Abenteuer des Kapitäns Schwarzauge interessieren?«

Das Mädchen nickte. »Die Abenteuer des Kapitäns Schwarzauge gehören zu meinen Lieblingsbüchern. Zu Hause steht es in meinem Bücherregal, weil ich es unbedingt wieder lesen möchte.«

»Komm.« Alexander Nelson berührte flüchtig ihre Schulter. »Dort geht es zur Treppe.« Er wies nach rechts. »Wie heißt du?«

»Lea Marie von Mohn.«

»Ich bin Alexander Nelson, Lea Marie«, stellte er sich vor. »Ich habe das Buch wirklich gelesen. Manche Kinderbücher interessieren eben auch so uralte Menschen wie mich.«

Lea Marie kicherte. »So alt sind Sie bestimmt nicht.«, erklärte sie und sah zu ihm auf. »Vielleicht so alt wie meine Tante«, fügte sie hinzu.

»Und wie alt ist deine Tante?«, fragte er amüsiert, während sie in einen weiteren Gang einbogen.

»Sechsundzwanzig.«

»Nun, ich bin vier Jahre älter.« Er blieb vor einem Aufzug stehen. »Fahren wir nach oben, oder laufen wir? Wohin möchtest du überhaupt?«

»Meine Tante ist beim Friseur. Sie hat gesagt, dass wir uns im Café auf dem Sonnendeck treffen.« Lea Marie drückte auf den Rufknopf des Aufzugs. »Ist es nicht toll, wie die Höhlen in dem Buch beschrieben werden? Wenn sie wirklich exis­tieren würden, könnte ich mich mit geschlossenen Augen in ihnen zurechtfinden.«

»Woher weißt du, dass sie nicht existieren?«

»Es ist nur ein Buch.«

»Ach, dann existieren wohl diese Bauwerke und die Pyramiden auch nicht?«, fragte er und wies auf das zweite Buch, das Lea Marie bei sich trug. »Schon seltsam, noch gestern waren wir im Tal der Könige.«

»Meine Tante sagt, man muss zwischen Realität und Phantasie unterscheiden.« Lea Marie war sich nicht sicher, ob sich der junge Mann nicht über sie lustig machte. Eigentlich sah er nicht so aus. Sie fand ihn ausgesprochen nett. »Ich habe Sie bisher noch gar nicht gesehen. Auch gestern auf dem Landausflug nicht.«

»Vermutlich warst du mit deiner Tante bei der zweiten Gruppe. Ich war bei der ersten, die am Vortag nach Kairo gefahren ist und dort übernachtet hat.«

»Vorgestern haben wir Alexandrien besichtigt.« Lea Marie trat in den Aufzug. »Möchten Sie meine Tante kennen lernen? Sie ist sehr nett, und sie mag England.«

Alexander runzelte die Stirn. »Woher weißt du, dass ich aus England komme? Ist mein Akzent so fürchterlich?« Er verdrehte die Augen.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nelson ist ein englischer Name. In meiner Klasse ist ein Junge, der Charles Nelson heißt. Er kommt aus London.«

»Auf was für eine Schule gehst du denn?«

»Auf die internationale Schule in Berlin. Meine Tante und ich wohnen in Berlin. Sie meint, es sei wichtig, dass ich richtig englisch und französisch sprechen lerne.«

»Womit sie völlig recht hat«, bestätigte Alexander.

Der Aufzug hielt auf dem Sonnendeck. Sie stiegen aus. Lea Marie ergriff die Hand des jungen Mannes, so, als würde sie befürchten, er könnte sich in Luft auflösen. »Meine Tante wird schon auf mich warten.«

Warum sollte er unbedingt ihre Tante kennen lernen? Alexander hatte an und für sich vorgehabt, in der Clipper Bar einen Drink zu nehmen und sich danach in einen Liegestuhl am Swimmingpool zu setzen, stattdessen ging er mit dem Mädchen mit.

Anabel von Mohn wartete seit einer Viertelstunde auf ihre Nichte. Langsam begann sie sich Sorgen zu machen, denn Lea Marie war ein überaus pünktliches Kind. Sie atmete erleichtert auf, als sie das Mädchen das Café betreten sah. Aber wer war der dunkelblonde große, gutaussehende Mann an ihrer Seite? Wollte sie Lea Marie wieder einmal verkuppeln? Im vergangenen Jahr war das schon zweimal passiert.

Sie stand auf und ging den beiden entgegen.

»Ich hatte mich verlaufen.« Lea Marie löste ihre Hand aus Alexanders. »Mister Nelson hat mir geholfen.« Sie schenkte dem jungen Mann ein entwaffnendes Lächeln. »Das ist meine Tante Anabel von Mohn, Mister Nelson.«

»Angenehm«, sagte Alexander. Er fand Anabel äußerst attraktiv. Von jeher hatte er ein Faible für rotblonde Frauen mit grünen Augen. Lea Marie ähnelte ihr auffallend. Gewiss würde auch sie eines Tages so hübsch werden wie ihre Tante.

»Mich freut es auch.« Anabel wies zu ihrem Tisch. »Möchten Sie sich zu uns setzen?«

»Wenn ich Sie und Ihre Nichte zu einem Eis einladen darf«, erwiderte Alexander. »Auf dem Weg zum Sonnendeck haben wir festgestellt, dass wir dieselben Bücher lesen.«

»Mister Nelson hat letztes Jahr die Abenteuer des Kapitäns Schwarzauge gelesen, Tante Anabel. Ist das nicht komisch?«

»Komisch finde ich, dass du dir dieses Buch aus der Bibliothek geholt hast, Lea Marie.« Sie wandte sich an Alexander: »Sie hat dieses Buch mindestens zehnmal gelesen.« Lachend fügte sie hinzu: »Höhlen faszinieren sie.«

»Genau wie mich.« Er zwinkerte dem Mädchen zu.

Kurz darauf brachte ihnen ein Steward drei große Eisbecher. Sie sprachen von Rhodos, wo die Santa Maria am nächsten Tag anlegen würde. Alexander meinte, dass sie die Insel ja zu dritt erkunden könnten. Er sei ein ganz tauglicher Fremdenführer.

»Waren Sie schon einmal auf Rhodos?«, erkundigte sich Anabel.

»Vor drei Jahren«, antwortete er.

»Ich habe bisher noch nicht viel von der Welt gesehen«, gab Anabel zu. Sie sprach davon, dass sie sich erst vor einigen Monaten als Innenarchitektin selbstständig gemacht hatte. »Ich sollte mich um mein Fortkommen kümmern, statt drei Wochen auf einer Kreuzfahrt zu verbringen. Ich habe diese Reise gewonnen.« Sie lachte leise auf. »Seit meiner Kindheit habe ich regelmäßig bei Preisausschreiben mitgemacht. Es langte nie auch nur zu einem Trostpreis und dieses Mal hat …«

»Tante Anabel dachte erst, man würde sich einen Scherz mit ihr erlauben«, warf Lea Marie ein.

»Genauso ist es gewesen«, bestätigte Anabel. »Und ich habe nicht nur die Kreuzfahrt gewonnen, sondern auch noch das dazu nötige Taschengeld.«

»Um was für ein Preisausschreiben handelte es sich denn?«, fragte Alexander. Es gefiel ihm, dass sie daraus keinen Hehl machte. Überhaupt fand er die junge Frau sehr sympathisch.

»Es ging um Weltreisen, Traumstrände und dergleichen. Ich hatte das Glück, alle Fragen richtig beantworten zu können. In der Theorie bin ich schon oft durch die Welt gereist. Leider nur mit dem Finger auf der Landkarte.« Anabel schaute von ihrem Eis auf. »Und was machen Sie so, Mister Nelson?«

»Ich habe Agrar- und Forstwirtschaft studiert. Meine Urgroßmutter hat mir einen kleinen Besitz in Schottland hinterlassen, den ich bewirtschafte. Auf der ›Santa Maria‹ bin ich, um mich hier von einer schweren Gürtelrose zu erholen. Die Krankheit liegt zwar schon zwei Monate zurück, aber ich leide immer noch unter ihren Nachwirkungen.«

»Leider können diese Nachwirkungen jahrelang andauern«, sagte Anabel. »Mein Vater hatte nach einer Gürtelrose über zehn Jahre Nervenschmerzen. Er …« Sie verzog das Gesicht. »Tut mir leid, so etwas sollte ich lieber nicht erwähnen.«

»Nun ist es zu spät«, erklärte er heiter, um gleich darauf zu fragen: »Hätten Sie Lust, sich mit mir heute Abend die Varieté-Vorstellung im Mdina-Salon anzuschauen?«

Bevor ihre Tante antworten konnte, sagte Lea Marie: »Du kannst mich ruhig allein lassen. Ich habe keine Angst. Und ich werde auch nichts anstellen.«

»Das setze ich voraus.« Anabel vermied es, ihre Nichte anzuschauen, denn dann hätte sie ein Lachen nicht unterdrücken können. Lea Marie versuchte also tatsächlich, sie zu verkuppeln. Da sie Alexander Nelson mochte, sagte sie: »Ich begleite Sie gern, Mister Nelson. Danke für die Einladung.«

»Also ist es abgemacht. Treffen wir uns um acht Uhr dreißig im Foyer des Oberdecks.« Er schob seinen Eisbecher zur Seite. »Leider muss ich mich verabschieden. Ich erwarte in wenigen Minuten einen wichtigen Anruf meiner Mutter.«

Lea Marie wartete, bis Alexander nicht mehr in Hörweite war, bevor sie zufrieden sagte: »Mister Nelson ist wirklich nett, Tante Ana­bel. Findest du nicht auch?«

»Ja, er ist wirklich nett«, bestätigte ihre Tante und überlegte, was sie am Abend anziehen sollte. Zum Glück hatte sie vor ihrer Abreise für die passende Garderobe gesorgt. Die Kleider, die es in der Schiffsboutique gab, waren für ihren Geldbeutel viel zu teuer.

*

Innerhalb weniger Tage entwickelte sich zwischen Anabel von Mohn und Prinz Alexander eine tiefe Freundschaft. Nach wie vor ahnte die junge Frau nichts von Alexanders wahrer Herkunft. Er hatte ihr von dem englischen Internat erzählt, in dem er einige Jahre verbracht hatte, und wie sehr er es genossen hatte, wenn er sich auf dem Besitz seiner Urgroßmutter aufhalten durfte. Sie war sich nicht sicher, ob Alexander Schotte oder Engländer war, wollte ihn jedoch auch nicht danach fragen. Seine Mutter erwähnte er öfters, von seinem Vater sprach er nicht. Es freute sie, dass er Wert auf ihre Gesellschaft legte. Ihm war es sogar gelungen, beim abendlichen Dinner einen gemeinsamen Tisch mit ihr und Lea Marie zu bekommen.

Es war ein Erlebnis, in seiner Gesellschaft die Blumeninsel Rhodos zu besuchen. Auf Zypern, wo sie am nächsten Tag anlegten, hatte er einen Geländewagen gemietet. Leider hatten sie nur einen Tag dort verbringen können, da die ›Santa Maria‹ in der Nacht wieder abgelegt hatte. Anabel gefiel auch, wie Alexander auf Lea Marie einging und ihr niemals das Gefühl gab, womöglich zu stören. Sie fragte sich, weshalb ein Mann wie er noch nicht verheiratet war. Es hatte nicht den Anschein, als würde er ein Eigenbrödler sein, der sich selbst genügte. Vielleicht war er einfach zu wählerisch.

An diesem Abend fand im Mdina-Salon ein Kostümball statt. Lea Marie saß auf ihrem Bett in dem kleinen Schlafraum der Suite und schaute ihrer Tante beim Ankleiden zu.

Sie bedauerte von Herzen, dass sie noch zu jung war, um an diesem Ball teilzunehmen. Von jeher hatte sie sich gern verkleidet. Aus diesem Grund freute sie sich auch jedes Jahr auf den Karneval.

Das Mädchen hatte sich einen Band mit Geschichten über Kreta aus der Bibliothek geholt. Am nächsten Vormittag sollte die ›Santa Maria‹ im Hafen von Heraklion auf Kreta anlegen, und sie wollten an der Ausflugsfahrt nach Knossos teilnehmen. Bis dahin hoffte Lea Marie alles zu lesen, was sie dafür wissen musste.

Anabel hatte sich als Helena verkleidet, wozu ihre rotblonden Haare passten. Ihre Nichte hatte ihr geholfen, sie zu einer Frisur aufzustecken, wie die griechischen Frauen sie im Altertum getragen hatten. Jetzt warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. »Wie sehe ich aus, Lea Marie?«

»Wenn Mister Nelson Prinz Paris wäre, würde er dich bestimmt nach Troja entführen«, erklärte ihre Nichte fröhlich.

»Naseweis«, bemerkte Anabel. »Ich dachte, dein Buch handelt von Kreta und nicht von der Schönen Helena.«

»Wir haben in der Schule über den Trojanischen Krieg gesprochen. Er ist ausgebrochen, weil Paris Helena entführt hat.« Lea Marie seufzte auf. »Ich wünschte, ich dürfte mit auf den Ball gehen. Alles, was Spaß macht, ist für Kinder verboten.«

»Nicht alles.« Anabel setzte sich zu ihr. »Morgen ist ein anstrengender Tag. Also solltest du spätestens in einer Stunde das Licht löschen, Lea Marie. Kann ich mich darauf verlassen?«

»Großes Ehrenwort«, versprach die Kleine. »Ich will nur noch ein Stückchen lesen. Es ist gerade so spannend.« Sie schaute auf. »Ob es den Minotaurus wirklich gegeben hat?«

»Ich weiß es nicht.« Anabel küss­te ihre Nichte auf die Stirn. »Schlaf gut, Liebes.«

»Und du amüsier dich gut, Tante Anabel.« Lea Marie rutschte vom Bett und begleitete ihre Tante zu der Tür, die in den Gang führte. »Was machst du, wenn dich Mister Nelson auf dem Ball küsst?«

Anabel zuckte zusammen. »Warum sollte er mich küssen?«, fragte sie errötend.

»Weil er sich in dich verliebt hat.« Lea Marie grinste. »Und du hast dich auch in ihn verliebt.« Sie schlang die Arme um die junge Frau. »Es ist bestimmt schön in Schottland. Ich könnte doch reiten lernen und …«

Anabel legte den Zeigefinger auf die Lippen ihrer Nichte. »Davon will ich nichts mehr hören, Lea Marie«, sagte sie streng. »Vor allen Dingen darfst du über so etwas nicht mit Mister Nelson sprechen.«

»Ich bin doch nicht dumm.« Lea Marie löste sich von ihr. »Viel Spaß«, wünschte sie.

Anabel trat in den Gang. Energisch schloss sie die Tür hinter sich. Auf was für Gedanken dieses Kind kam! So unrecht hatte Lea Marie allerdings nicht einmal. Sie dachte viel öfter an Alexander, als ihr guttat, und sie fürchtete sich vor dem Moment, an dem sie voneinander Abschied nehmen mussten. Nur noch ein paar Tage, und sie würden auf Sardinien die Reise beenden. Manchmal wünschte sie sich, Alexander Nelson und sie hätten einander nie kennen gelernt.

Auf dem Weg zum Mdina-Salon begegneten ihr jede Menge fröhliche Menschen. Die meisten von ihnen besuchten ebenfalls den Ball, wie die junge Frau an den Kostümen erkannte. Obwohl die Kostüme alle aus dem Fundus der ›Santa Maria‹ stammten, schien keines zweimal vorhanden zu sein. Sie musste nicht befürchten, im Mdina-Salon einer weiteren Helena zu begegnen, dafür gab es eine Kleopatra, Marie Antoinette, Isabella von Spanien und jede Menge buntgekleideter Kammerzofen.

Anabel erkannte Alexander Nelson zuerst nicht, als vor dem Mdina-Salon ein Mann mit einem hohen spitzen Hut und einem weiten blauen Mantel, der mit allerlei Symbolen bestickt war, auf sie zutrat. Sie hielt nach einem Robin Hood Ausschau.

»Darf ich Ihnen meine Hand zum Geleit bieten, Helena?«, fragte er.

Sie zuckte zusammen. Ihr Gesicht erhellte ein Lächeln. »Mister Nelson, wollten Sie nicht als Robin Hood Prinz John in seine Schranken weisen?«, fragte sie.

»Ich habe es mir anders überlegt.« Sein Blick glitt über sie. »Sie hätten kein besseres Kostüm wählen können«, meinte er. »Da würde man gern Paris sein.«

»Ist Ihnen bewusst, wie viel Sie mit Lea Marie gemeinsam haben?«, fragte Anabel und errötete. Wie konnte sie ihm eine derartige Frage stellen? »Sie meinte auch, ich hätte das richtige Kostüm gewählt«, fügte sie rasch hinzu. »Lea Marie ist eine richtige Leseratte, und seitdem sie in ihrer Klasse den Trojanischen Krieg durchgenommen und …« Verlegen unterbrach sie sich. »Sie müssen mich für völlig konfus halten.«

»Warum sollte ich?«, fragte er und nahm ihren Arm. »Stürzen wir uns ins Vergnügen. Die schöne Helena verbringt sicher nicht jeden Tag ihre Zeit mit einem englischen Zauberer.« Er zwinkerte ihr zu. »Dagegen würde schon Paris etwas haben.«

Anabel genoss den Abend in vollen Zügen. So viel Zeit sie auch in den letzten Tagen in Alexanders Gesellschaft verbracht hatte, nie zuvor hatte sie seine Gegenwart so bewusst erlebt wie in diesen Stunden. Innerhalb weniger Minuten gelang es ihm, ihr ihre Verlegenheit zu nehmen. Er brachte das Gespräch auf die Kostüme, die ihre Mitreisenden trugen, und kommentierte sie mit viel Witz und Charme.

Nach einem Glas Sekt führte Alexander Nelson die junge Frau auf die Tanzfläche. Die schiffseigene Band spielte Melodien von Johann Strauß. Anabel gefiel die Sicherheit, mit der er sie über das Parkett führte. Nie zuvor hatte sie sich so wohl in den Armen eines Mannes gefühlt. Sie bedauerte es, als die Musik mit einem Tusch endete.

»Sie tanzen gut«, bemerkte sie aus ihren Gedanken heraus.

»Ich war knapp fünf, als ich den ersten Unterricht erhielt«, sagte Alexander. »Und …« Er räusperte sich. »Meine Mutter meinte, als guter Tänzer könnte ich später die Frauen beeindrucken.« Er sah sie herausfordernd an. »Und, habe ich Sie beeindruckt?«

»Ja, das haben Sie«, ging sie auf seinen Scherz ein und fragte sich gleichzeitig, was er wohl nicht ausgesprochen hatte. Weshalb hatte er schon mit fünf Jahren Tanzunterricht erhalten? Hätte er Tänzer werden sollen? »Wo sind Sie aufgewachsen? Wo haben Sie die ers­ten Jahre Ihres Lebens verbracht?«

»In Lichtenberg«, erwiderte Alexander. »Das ist ein kleiner Staat an der Atlantikküste. Mein Vater war dort zu Hause. Er und meine Mutter sind sich zum ersten Mal in London begegnet, wo sie lebte. Sie folgte ihm nach Lichtenberg.« Er dachte an den Geburtstag seines Onkels, Fürst Carl, zu dem er in zwei Wochen in Lichtenberg erwartet wurde. Er hatte nicht die geringste Lust, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Leider würde ihm nichts anderes übrig bleiben. Zudem konnte er das seiner Mutter nicht antun. Sie freute sich auf das Wiedersehen.

»Vor einigen Wochen stand ein Artikel über das Fürstentum in der Tageszeitung, die ich lese«, sagte Anabel. »Es war davon die Rede, dass Lichtenberg als Handelsniederlassung für internationale Firmen immer beliebter wird.«

»Der Aufschwung, den Lichtenberg seit einigen Jahren erlebt, ist dem regierenden Fürsten zu verdanken«, entgegnete der junge Prinz. »Er ist ein sehr kluger, voraussehender Mann.«

Anabel hob die Augenbrauen. »Ihre Worte klingen, als würden Sie den Fürsten kennen.« Sie bemerkte nicht, wie Alexander zusammenschrak.

»In einem so kleinen Land bleibt es nicht aus, der fürstlichen Familie bei den verschiedensten Gelegenheiten zu begegnen.« Er legte den Arm um sie. »Nehmen wir noch einen Drink, bevor wir uns erneut einen Platz auf der Tanzfläche erobern?«

Mit kurzen Unterbrechungen tanzten sie fast bis Mitternacht miteinander, dann verließen sie zusammen mit den meisten der anderen Gäste den Mdina-Salon, um vom Sonnendeck aus das Feuerwerk zu beobachten, das den Nachthimmel in bunte Farben tauchte.

»Bleiben wir noch ein paar Minuten hier oben«, schlug Alexander vor, als die anderen nach dem Feuerwerk in den Salon zurückkehrten, um weiterzutanzen. »Es ist so schön, mit Ihnen zusammen zu den Sternen aufzusehen.«

»Klingt, als wären Sie ein Romantiker«, bemerkte Anabel und schmiegte sich wie selbstverständlich in seinen Arm. Sie wünschte sich, dieser Abend würde nie ein Ende nehmen.

Alexander zog sie fester an sich. »Was ist mit Ihrer Familie?«, erkundigte er sich. »Leben Ihre Eltern noch? Und was ist mit Lea Maries Eltern?«

»Meine Eltern sind schon seit Jahren tot«, sagte die junge Frau. »Ich war sechzehn, als sie starben, meine Schwester Edith war sechs Jahre älter. Sie war damals mit Lea Marie schwanger, aber schon lange nicht mehr mit dem Vater ihres Kindes zusammen. Was meine Großmutter als Schande empfand. Sie erwähnte mindestens einmal am Tag, dass es so etwas bisher nicht in ihrer Familie gegeben hätte. Noch auf dem Totenbett vier Jahre später, sprach sie davon, wie Edith den Namen unserer Familie beschmutzt hätte.«

»Meine Großmutter väterlicherseits hätte ihr da vermutlich hundertprozentig beigepflichtet«, warf Alexander ein.

»Sie hat meiner Schwester wirklich das Leben zur Hölle gemacht, was Edith jedoch nicht davon abhielt, ihre Tochter über alles zu lieben. Zum Glück hatten wir ein wenig Geld von unseren Eltern geerbt, so dass wir ein relativ unabhängiges Leben führen konnten. Ich war in meinem zweiten Studienjahr, als Edith bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Seitdem kümmere ich mich um Lea Marie.« Anabels Lippen umspielte ein Lächeln. »Eine eigene Tochter könnte ich nicht mehr lieben als sie.«

»Sie ist ein bezauberndes Kind.« Alexander blickte ihr in die Augen. »Auch Sie sind bezaubernd.«

»Und diese Worte von einem Zauberer«, meinte die junge Frau errötend und spielte damit auf sein Kostüm an. Sie schaffte es nicht, seinem Blick auszuweichen. Er hielt sie unerbittlich fest. »Sollten wir nicht in den Mdina-Salon zurückkehren?« Sie hatte plötzlich Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Alexander Nelson gehörte einer anderen Welt als sie an. In wenigen Tagen würde die Reise zu Ende sein und jeder von ihnen seinen eigenen Weg gehen.

»Ich habe mich in dich verliebt, Anabel«, hörte sie ihn wie aus weiter Ferne sagen. »Nie zuvor habe ich mich zu einer Frau so hingezogen gefühlt wie zu dir.« Er hob seine Hand und berührte ganz zart ihre Wangen. Seine Finger strichen sanft über ihr Kinn, den Hals und verfingen sich im Ausschnitt ihres Kostüms.

»Sollten wir nicht vernünftig sein?« Anabel hielt den Atem an. Wie hatte sie sich den ganzen Abend über gewünscht, von ihm geküsst zu werden und nun …

»Was ist Vernunft?«, fragte der junge Prinz. Er beugte sich zu ihr. Sein Atem streifte ihre Wange. Sie drängte sich ihm entgegen. Wie von selbst fanden sich ihre Lippen zu einem ersten Kuss.

*

Lea Marie saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett. »War es schön gestern Abend?«, fragte sie. »Hat Mister Nelson dich geküsst?«

Anabel kam aus dem Bad. »Sei nicht so neugierig, Lea Marie«, sagte sie und tippte ihrer Nichte gegen die Nasenspitze. »Es war ein wunderschöner Abend.«

»Also habt ihr euch geküsst.« Lea Marie stand auf und griff nach ihrer Umhängetasche. »Sagt ihr du zueinander?«

»Komm, gehen wir frühstücken, damit wir fertig sind, wenn die ›Santa Maria‹ im Hafen anlegt, und wir von Bord gehen können.« Ana­bel wandte sich der Tür zu. An und für sich wäre sie bedeutend lieber in ihrem Bett liegen geblieben und hätte noch eine Weile vor sich hin geträumt. Es war ziemlich spät geworden, bis Alexander sie zu ihrer Suite zurückgebracht hatte. Lea Marie hatte tief und fest geschlafen, worüber sie sehr froh gewesen war. So hatte sie in Ruhe die letzten Stunden noch einmal in Gedanken durchleben können.

Beim Frühstück gab es keine bestimmte Sitzordnung, da die Gäste zu den unterschiedlichsten Zeiten ins Restaurant kamen. Alexander Nelson erwartete sie bereits. Wie selbstverständlich küsste er Anabel auf die Wange, dann legte er sanft die Hände auf Lea Maries Schultern. »Wenn du möchtest, darfst du mich Alexander nennen, wie es unter Freunden üblich ist.«

Lea Marie blickte strahlend zu ihm auf. »Ich möchte, Alexander«, sagte sie. »Sind Tante Anabel und du jetzt ein Liebespaar?«

»Dieses Kind ist einfach unmöglich«, flüsterte Anabel und bemühte sich, nicht wieder zu erröten. »Suchen wir uns einen Tisch.«

»Ich habe mir erlaubt, schon einen Tisch zu reservieren.« Alexander legte den Arm um sie. »Trag es mit Fassung, Anabel.« Er zwinkerte Lea Marie zu.

Während des Frühstücks erzählte Lea Marie von dem Buch über Kreta, das sie gelesen hatte. Sie fieberte dem Moment entgegen, in dem sie endlich in die Busse steigen konnten, um nach Knossos zu fahren. Die jungen Leute amüsierte der Eifer des Kindes. So aufgeregt wie die Zehnjährige war, konnte man denken, sie wartete, dem Minotaurus, Ariane und Theseus persönlich zu begegnen.

Endlich war es so weit. Sie stiegen in den ersten der drei Busse, die zur Ausgrabungsstätte fuhren. Die Straße führte sie durch Heraklion hindurch ins Hinterland. Alles wirkte staubig, selbst die Bäume und Sträucher. Da es schon seit Wochen nicht mehr geregnet hatte, dürstete der Boden regelrecht nach Wasser. Selbst die Rhododendronbüsche am Straßenrand ließen ihre Blätter traurig hängen.

Lea Marie klebte förmlich am Busfenster. Jedes Mal, wenn ein Steinfeld auftauchte, das nach einer Ausgrabungsstätte aussah, hoffte sie, endlich da zu sein, doch es dauerte länger als sie erwartet hatte, bis die Busse den Parkplatz vor Knossos erreichten.

Auf der anderen Straßenseite gab es Restaurants und jede Menge Andenkenbuden. Im Gegensatz zu den anderen Kindern im Bus zog es sie nicht dorthin. Und sie wollte auch kein Eis. Ihr ganzes Interesse galt der Ausgrabungsstätte.

Kurz mussten sie im Vorhof warten, bis die beiden bestellten Fremdenführer eintrafen, danach ging es durch einen Laubengang zur eigentlichen Ausgrabungsstätte. Lea Marie wäre gern vorausgelaufen, als die Stufen auftauchten, die zu den ersten Palastmauern mit ihren bemalten roten Säulen hinaufführten, aber sie hatte ihrer Tante versprochen, bei ihnen zu bleiben.

Die fünf anderen Kinder, die sich mit ihren Eltern bei der Reisegruppe befanden, tobten herum, obwohl einer der Fremdenführer gebeten hatte, auf sie zu achten, da jeder falsche Schritt gefährlich werden konnte. Auf dem ganzen Gelände gab es in den Boden eingelassene Vorratssilos, die zum Teil offen standen, lose Steine und ungesicherte Treppen.

Lea Marie wollte mit ihrer Tante und Alexander Nelson gerade die Treppe zum Palast hinaufsteigen, als sie sah, wie ein etwa fünfjähriger Junge, der zur Reisegruppe gehörte, einer struppigen Katze folgte. Die Katze sprang über eine offene Grube. Das Kind rannte ihr nach, rutschte aus und stürzte halb in die Grube hinunter.

»Tante Anabel!« Lea Marie rannte zu dem kleinen Jungen, der sich krampfhaft am Rand der Grube festhielt. Sie warf sich auf den Boden und umklammerte die Hände der Kleinen. Ihre Füße rutschten unter einen gewaltigen Lorbeerbusch.

Im nächsten Augenblick stand auch schon Alexander neben ihr. Er riss den Jungen nach oben. Die Eltern des Jungen hatten nicht einmal bemerkt, was passiert war. Schreiend rannte er zu ihnen, kaum, dass Alexander ihn losgelassen hatte.

Lea Marie rappelte sich auf. »Ich kann …« Sie schrie vor Schmerz auf. »Mich hat was gebissen«, stammelte sie und zog ihr rechtes Bein an.

Anabel starrte entsetzt auf die beiden blutigen Punkte am Knöchel ihrer Nichte. Sie kniete sich neben Lea Marie und hielt deren Bein so fest, als könnte sie ihr damit helfen. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Panik an, die nach ihr griff.

Alexander bückte sich und schob vorsichtig die Blätter des Busches zur Seite. Er sah noch, wie sich eine Schlange mit breitem, flachem Kopf und grauem Rücken davonschlängelte.

»Eine Katzennatter«, bemerkte einer der Fremdenführer, der mit einem Mal neben ihnen stand. Er beugte sich zu dem Kind hinunter. »Der Biss einer Katzennatter ist nur selten tödlich. Die Giftzähne sitzen zu tief im Rachen der Schlange.« Mit einer Ruhe, die allen unverständlich blieb, griff er nach seinem Handy und wählte eine Nummer. »Ein Krankenwagen wird gleich kommen«, meinte er.

Inzwischen hatte sich Alexander neben Lea Marie gekniet, ihr verletztes Bein ergriffen und den Biss ausgesaugt. Anabel hielt ihm ihren Seidenschal entgegen. »Wir sollten Lea Maries Bein abbinden.« Noch immer kämpfte sie gegen ihre Angst an. Auch wenn der Fremdenführer behauptete, der Biss einer Katzennatter sei nicht tödlich, woher sollten sie wissen, ob es stimmte?

»Nein, Anabel.« Alexander hob Lea Marie hoch, um sie in den Vorhof zu tragen. »Abbinden schadet nur. Habe ich erst vor einigen Wochen durch einen Fernsehbericht gelernt.«

Lea Marie klammerte sich an ihn. Ihr Bein tat schrecklich weh. Über ihr Gesicht rannen Tränen. »Ich will nicht sterben«, flüsterte sie angstvoll.

»Das wirst du auch nicht, Lea Marie«, erklärte Alexander. »Eine Katzennatter gehört zu den ungefährlicheren Schlangenarten. Sie hat auch nur zugebissen, weil sie sich vermutlich durch dein Bein bedroht fühlte.« Er küsste sie leicht auf die Stirn. »Hab keine Angst, es wird alles gut.«

Trotz der Sorgen, die sie sich um ihre Nichte machte, bewunderte Anabel, wie fürsorglich und liebevoll Alexander mit ihr umging. Und auch sie selbst fühlte sich durch seine Umsicht sicherer. Sie war froh, ihn in ihrer Nähe zu wissen.

Im Vorhof setzten sie sich mit Lea Marie auf eine der Bänke. Alexander hielt das Kind in seinen Armen. Mit geschlossenen Augen barg Lea Marie das Gesicht an seiner Brust. »Der Krankenwagen wird gleich kommen«, meinte er, als zehn Minuten vergangen waren, und er fühlte, wie Anabel von Sekunde zu Sekunde unruhiger wurde. Er griff über Lea Marie hinweg nach ihrer Hand und drückte sie.

Bevor Anabel noch antworten konnte, hörten sie die Sirene des Krankenwagens. Gleich darauf hielt die Ambulanz vor dem Eingang zur Ausgrabungsstätte. Alexander stand mit Lea Marie in den Armen auf. »Im Krankenhaus gibt man dir bestimmt etwas gegen die Schmerzen«, sagte er tröstend zu ihr.

»Es tut schrecklich weh«, jammerte Lea Marie leise.

»Das glaub’ ich dir gern.« Anabel strich ihr tröstend über die Haare.

Wenige Minuten später lag Lea Marie im Krankenwagen. Anabel saß bei ihr. Alexander hatte neben dem Fahrer Platz genommen. In rascher Fahrt ging es zu einem Krankenhaus, das in der Nähe von He­raklion lag. Es beruhigte Anabel nicht, als ihr der Sanitäter, der Lea Marie untersucht hatte, in gebrochenem Englisch sagte, dass es für den Biss der Katzennatter kein Serum gäbe, das man als Gegenmaßnahme spritzen konnte.

Im Krankenhaus angekommen, wurde Lea Marie in die Aufnahme gebracht. Eine energische Krankenschwester schob Anabel ganz einfach aus dem Raum, als sie sich weigerte, ihre Nichte allein zu lassen. Der jungen Frau blieb nichts anderes übrig, als mit Alexander Nelson vor der Aufnahme zu warten.

»Ich hole uns einen Kaffee«, bot Alexander an. »Wir können beide eine Stärkung gebrauchen.«

Anabel nickte. Sie war überzeugt, keinen Schluck des Kaffees hinunterzubringen, aber der volle Becher war etwas, an dem sie sich festhalten konnte. »Wieso haben sie kein Serum?«, fragte sie hilflos.

»Vermutlich, weil es nur in den seltensten Fällen beim Biss dieser Schlange zu Komplikationen kommt«, antwortete der junge Prinz. »Wie unser Fremdenführer sagte, bei einer Katzennatter sitzt der Giftzahn weit hinten im Rachen. Lea Marie hat vermutlich nichts vom Gift abbekommen.«

Das Krankenhaus besaß eine Cafeteria, sodass er den Kaffee nicht am Automaten holen musste. Als er zurückkam, stand Anabel in der offenen Tür zum Garten. Sie drehte sich ihm zu. Über ihr Gesicht flog die Andeutung eines Lächelns. »Danke.« Mit beiden Händen griff sie nach dem Kaffeebecher. »Für gewöhnlich gerate ich nicht so schnell in Panik.«

»Du musst dich nicht entschuldigen«, meinte er. »Ich war genauso erschrocken wie du, als ich die Schlange sah.«

Sie mussten nicht mehr sehr lange warten. Ein älterer Arzt trat auf sie zu und sagte ihnen, dass Lea Marie nur sehr wenig von dem Gift der Katzennatter abbekommen hätte.

»Dennoch würde ich Ihre Tochter gern zur Beobachtung zwei oder drei Tage bei uns im Krankenhaus behalten. Jeder Mensch reagiert anders auf das Gift. Falls es wider Erwarten zu Komplikationen kommen sollte, wäre Hilfe sofort in der Nähe.«

Anabel klärte ihn nicht darüber auf, dass es sich bei Lea Marie um ihre Nichte handelte. »Ich werde mir ein Zimmer in der Nähe nehmen«, erwiderte sie. »Wann kann ich zu ihr?«

»Lea Marie wird jetzt auf ihr Zimmer gebracht. Sie ist sehr müde und wird vermutlich bald einschlafen. Momentan erhält sie eine kreislaufstärkende Infusion.« Der Arzt schaute auf seine Armbanduhr. »Auf mich wartet der nächste Fall. Wie gesagt, machen Sie sich keine Sorgen. Schwester Sophia wird Sie gleich zu Ihrer Tochter bringen.« Nach einem kurzen Gruß eilte er davon.

Anabel stellte ihren Kaffeebecher auf das Fensterbrett. »Kommst du mit, Alexander?«, fragte sie.

»Ist das nicht selbstverständlich?« Er legte den Arm um sie.

Lea Marie lag allein in einem Zimmer. Die Jalousien vor den beiden Fenstern ließen nur wenig Licht hinein. »Ich wollte doch das Labyrinth sehen«, flüsterte sie, als Anabel und Alexander an ihr Bett traten.

»Das Labyrinth werden wir uns anschauen, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen bist«, versprach Alexander. »Du musst erst einmal deinen Schlangenbiss verkraften.« Er lachte leise. »Ich wette, du wirst das einzige Mädchen in deiner Klasse sein, das von einer Schlange gebissen wurde.«

»Ganz bestimmt«, meinte Lea Marie. Sie fasste nach der Hand ihrer Tante. »Fahrt ihr ohne mich weiter?«

»Wie kommst du nur auf so eine absurde Idee, Liebes?« Anabel schüttelte den Kopf. »Natürlich bleibe ich bei dir auf Kreta. Wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, machen wir hier noch ein paar Tage Urlaub, und anschließend geht es mit dem Flugzeug nach Hause.«

Lea Marie schloss die Augen. Ihre ruhigen Atemzüge verrieten, dass sie von einer Sekunde zur anderen eingeschlafen war.

Die jungen Leute verließen das Zimmer und wandten sich dem Ausgang des Krankenhauses zu. Sie baten den Pförtner, ein Taxi zu rufen, um zur ›Santa Maria‹ zurückzukehren.

»Nun müssen wir schneller voneinander Abschied nehmen, als wir dachten«, sagte Anabel bedrückt, nachdem sie das Taxi im Hafen von Heraklion verlassen hatten. Sie hob die Schultern. »Da kann man leider nichts machen.«

Alexander Nelson blieb stehen. »Ich habe Lea Marie versprochen, den Ausflug nach Knossos nachzuholen. Ich pflege meine Versprechen zu halten.« Er blickte ihr in die Augen. »Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich ebenfalls auf Kreta.«

»Du weißt, dass du das nicht musst«, antwortete Anabel gerührt. »Auf dich warten noch Athen und die Inselrundfahrt auf Sardinien.«

»Ich hätte keine Freude mehr daran.« Er nahm sie in die Arme. »Ich kann euch nicht allein auf Kreta zurücklassen.« Liebevoll strich er ihr über die Stirn. »Und ich will es auch nicht.«

War es Liebe? Konnte es wirklich Liebe sein? Überwältigt von seinem Bekenntnis schmiegte sich die junge Frau an ihn. »Dann sollten wir auschecken und uns um Zimmer in der Nähe des Krankenhauses bemühen.« Auch wenn sie sich nach wie vor um Lea Marie sorgte, der Gedanke, die nächsten Tage mit Alexander Nelson zu verbringen, beflügelte sie.

*

Schon nach drei Tagen ging es Lea Marie so gut, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Der Verband um ihren Knöchel war einem breiten Pflas­ter gewichen. Sie freute sich darauf, noch einige Zeit mit ihrer Tante und Alexander auf Kreta zu bleiben. Am Montag wollten sie noch einmal nach Knossos fahren. An diesem Vormittag hatten sie erst einmal das Museum in Heraklion besucht und die einzigartigen Schmuckstücke, Waffen und Krüge bestaunt, die man bei den Ausgrabungen gefunden hatte. Alexander hatte ihr eine Kette mit einer goldenen Honigbiene gekauft. Es handelte sich bei ihr um ein Replikat der Kette, die bei den Grabungen entdeckt worden war.

Anabel war keineswegs damit einverstanden, dass er ihrer Nichte so teure Geschenke machte. »Du solltest Lea Marie nicht so verwöhnen, Alexander. So etwas tut keinem Kind gut.«

Der junge Prinz nahm ihr den Einwand nicht übel. Er sah sogar seine Berechtigung ein. »Das nächs­te Mal spreche ich vorher mit dir darüber«, versprach er. »Ich habe deine Nichte nun einmal sehr gern und nach dem Schrecken mit der Schlange …« Er sah sie mit einem entwaffnenden Lächeln an. »Kannst du mir noch einmal verzeihen?«

»Was bleibt mir denn weiteres übrig«, meinte Anabel scherzend und bot ihm ihren Mund zum Kuss.

Nach dem Abendessen brachte sie ihre Nichte zu Bett. Zusammen wollten sie noch ein wenig ausgehen. Lea Marie wusste davon und kürzte von sich aus das abendliche Zu-Bett-geh-Ritual ab. »Du darfst Alexander nicht warten lassen«, ermahnte sie ihre Tante. »Männer mögen es nicht, wenn sie auf Frauen warten müssen.«

»Ich möchte nur wissen, woher du deine Weisheiten hast.« Anabel schloss sie in die Arme. »Falls du mich brauchst, ruf mich an. Ich lasse mein Handy eingeschaltet.«

Lea Marie grinste schelmisch. »Du wirst das Handy sowieso nicht hören.«

Anabel stand auf. »Es reicht«, sagte sie mit gespielter Strenge. »Du bist eine kleine Kupplerin, Lea Marie.« Sie drohte ihr mit dem Finger. »Wage nicht zu fragen, was eine Kupplerin ist. Das weißt du ganz genau.«

»Ich werde nicht fragen«, versprach das Mädchen und kuschelte sich in seine Decke. »Viel Spaß, Tante Anabel.«

»Den werde ich bestimmt haben.« Anabel küsste sie zärtlich auf beide Wangen und verließ mit ihrer Handtasche das Zimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss, hörte sie noch den Gruß, den ihr Lea Marie nachschickte.

Alexander Nelson wartete in der Hotelhalle auf sie. Als er sie die Treppe hinuntersteigen sah, ging er ihr entgegen und nahm sie für einen Augenblick in die Arme.

»Hübsch siehst du aus, Darling«, meinte er und blickte ihr in die Augen.

»Danke.« Sie schmiegte sich sekundenlang an ihn. »Lea Marie wünscht uns viel Spaß.«