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Chefarzt Dr. Norden
– 1201 –

Ein großer Chirurg

... mit kleinen Fehlern

Jenny Pergelt

Impressum:

Epub-Version © 2021 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74098-473-1

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Christinas Blick wechselte zwischen ihrer Uhr und dem Telefon hin und her. Ein paar Minuten blieben ihr noch, bis ihre Freundin und Kollegin Dr. Sarah Buchner vorbeikam, um sie abzuholen. Es sprach also nichts dagegen, schnell bei Erik anzurufen, um zu fragen, wie es ihm ging. Und schon im nächsten Moment fielen ihr ein Dutzend guter Gründe ein, warum sie es lieber nicht tun sollte.

Dr. Erik Berger, der Leiter der Notaufnahme, war seit vier Tagen im Urlaub. Zwangsweise, wie er immer wieder betont hatte. Der Chefarzt der Behnisch-Klinik, Dr. Daniel Norden, hatte Eriks Urlaub angeordnet. Freiwillig hätte Erik seine heißgeliebte Notaufnahme nie verlassen. Erst nach viel Gezeter und endlosen Diskussionen hatte sich Erik schließlich in sein Schicksal gefügt und die zweiwöchige Zwangspause angetreten.

Christina, die nicht nur eine begnadete Chirurgin, sondern auch eine versierte Notfallmedizinerin war, vertrat Erik in dieser Zeit. In der Vergangenheit hatte sie oft erfahren müssen, wie schwierig das sein konnte. Das lag nicht an der ungewohnten Arbeit. Nein, die sah sie als berufliche Herausforderung, an der sie viel Freude hatte. Es war Erik, der ihr den Einsatz in der Notaufnahme oft genug verleidet hatte. Selbst im Urlaub meinte er, ständig nach dem Rechten sehen zu müssen und dabei geizte er nicht mit ungebetenen Ratschlägen und harscher Kritik. Er mischte sich überall ein und stellte Christinas Diagnosen und Behandlungsmethoden infrage. Mitunter wurde es so schlimm, dass sie als letzten Ausweg den Chefarzt aufsuchte, damit er Erik in seine Schranken verwies.

Und diesmal? Nichts! Erik Berger hatte seinen Urlaub angetreten und seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Das war nicht normal und musste irgendetwas bedeuten.

Christina kaute auf ihrem Bleistift herum. Er wird doch wohl nicht krank geworden sein? Vielleicht litt er an einer Depression. Seit dem Tod seiner Frau war die Arbeit sein einziger Lebenssinn. Durch diesen Zwangsurlaub war ihm nun auch das genommen worden.

Christina machte sich ernsthafte Sorgen um ihn. Und das wiederum bereitete ihr neue Sorgen. Seit wann interessierte sie sich für das Wohlergehen des unbeliebtesten, unfreundlichsten und rüdesten Arztes der Behnisch-Klinik? Mit einem lauten Seufzer legte Christina den Bleistift mit den deutlichen Knabberspuren auf dem Schreibtisch ab. Sie kannte die Antwort auf ihre Frage.

Vor einigen Wochen hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen verändert. Auch wenn Erik es noch immer nicht wahrhaben wollte, waren sie Freunde geworden. Sicher würde Christina ihn nicht als ihren besten Freund bezeichnen, aber sie fühlte sich für ihn verantwortlich und machte sich seinetwegen Gedanken, wenn er nichts von sich hören ließ. Deshalb griff sie nun auch zum Telefon und wählte seine Nummer. Schon nach dem ersten Klingelton nahm er ab, fast so, als hätte er neben dem Telefon gesessen und nur auf diesen Anruf gewartet.

»Was gibt’s?«, dröhnte seine Stimme so laut und herrisch durch die Leitung, dass Christina schnell das Telefon einige Zentimeter von ihrem Ohr entfernte.

»Hallo Erik! Ich bin’s, Christina.«

»Das weiß ich! Ich kann deine Nummer im Display sehen«, blaffte er zurück. »Sag jetzt endlich, was passiert ist!«

»Nichts ist passiert. Ich wollte nur mal nachfragen, wie es dir in deinem Urlaub geht. Du hast nichts von dir hören lassen, was wirklich sehr untypisch für dich ist. Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht.«

Am anderen Ende blieb es still.

»Hallo? Erik? Bist du noch dran?«, fragte Christina, als das Schweigen zu lange andauerte. »Erik! Hallo!«

»Habe ich dich eben richtig verstanden?«, fragte er und hörte sich dabei seltsam ruhig an. »In der Aufnahme herrscht kein Ausnahmezustand? Es gab keine Massenkarambolage auf der Autobahn? Es grassiert auch kein Virus, der sämtliche Ärzte lahmgelegt und einen Personalnotstand hervorgerufen hat?«

»Äh … nein. Hier läuft alles. Es ist alles in bester Ordnung.« Christina lachte unsicher auf. Was sollten diese merkwürdigen Fragen? Worauf wollte Erik hinaus?

»Und trotzdem rufst du mich in meinem Urlaub an?«, donnerte er so laut los, dass Christina einen leisen Schreckenslaut ausstieß.

»Na, hör mal!«, beschwerte sie sich nun ihrerseits. »Darf ich mich noch nicht mal nach deinem Befinden erkundigen? Du hast dich in den letzten vier Tagen nicht ein einziges Mal gemeldet! Ist doch wohl klar, dass ich mir deswegen Gedanken um dich …« Christina brach wutschnaubend ab, als aus dem Telefon nur noch das Freizeichen zu hören war. Erik Berger hatte einfach aufgelegt!

»So ein Idiot!«, schimpfte sie wie ein Rohrspatz. »Dieser unhöfliche Flegel! Wie kann er nur? Besitzt er denn überhaupt keinen Anstand? Ich mache mir Sorgen um ihn und wie dankt er es mir? Ich bin ja so eine dumme Nuss! Wie konnte ich nur annehmen, dass er sich über meinen Anruf freuen würde?«

So wetterte Christina weiter vor sich hin und starrte wütend das Telefon an, das sie noch immer in der Hand hielt. Dabei überhörte sie sogar das Klopfen an der Tür. Sie sah erst auf, als sie Sarahs Stimme hörte.

»Was ist denn mit dir los? Wer hat dich denn so auf die Palme gebracht?«

»Na, wer wohl?«, fragte sie aufgebracht zurück. »Berger!«

»Oje, du Ärmste!« Sarah konnte Christinas Verärgerung nur zu gut verstehen. Erik Berger konnte eine wahre Plage sein. Die meisten Mitarbeiter der Behnisch-Klinik machten deshalb einen großen Bogen um ihn. Sie selbst sprach nur mit ihm, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Als Gynäkologin hatte sie zum Glück nicht allzu oft mit ihm zu tun. Ihre arme Freundin traf es dagegen ungleich schwerer. Als seine Vertretung konnte sie ihm kaum aus dem Weg gehen.

Sarah setzte sich und sah Christina mitfühlend an. »Kann er nicht einfach seinen Urlaub genießen und dich in Ruhe lassen? Lass dir sein Benehmen nicht gefallen! Geh zum Chef und bitte ihn um Hilfe. Er soll sich Berger vorknöpfen und ihm verbieten, dich anzurufen. Wenn du nichts unternimmst, wird er hier noch aufkreuzen, um dich zu schikanieren. Am besten lässt du …«

»Stopp!«, rief Christina, um den Redefluss ihrer Freundin zu unterbrechen. »Ich habe nie behauptet, dass Berger mich angerufen hat. Es gibt also keinen Grund, sich über ihn zu beschweren.«

»Aber … ich verstehe nicht.« Sarah war verwirrt. »Du sagtest doch vorhin, dass du dich über Berger geärgert hast. Ich habe gehört, wie du auf ihn geschimpft hast. Und du hattest ja auch noch das Telefon in der Hand und …« Plötzlich verstand Sarah. »Du warst es! Du hast ihn angerufen, nicht er dich!«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Ja, aber ich wollte doch nur hören, wie es ihm geht.« Christina wand sich unter Sarahs fassungslosem Blick. »Es ist doch nicht normal, dass er sich hier gar nicht meldet.« Als Sarah sie weiterhin nur wortlos anschaute, rechtfertigte sich Christina erneut: »Ihm hätte schließlich auch etwas passiert sein können. Dann würde ich mir hinterher vorwerfen, mich nicht um einen Freund gekümmert zu haben.«

»Ihr seid nicht befreundet«, stellte Sarah nüchtern fest.

»Natürlich sind wir das!« Christina war empört. Als Sarah die Augenbrauen hochzog, lenkte sie ein. »Nun gut, es mag ja sein, dass unsere Freundschaft unter merkwürdigen Umständen zustande kam. Aber das ändert nichts daran, dass ich mich ihm freundschaftlich verbunden fühle.«

»Tina, bitte!« Sarahs Tonfall war weich geworden. »Bitte verrenn dich nicht in etwas, das es nicht gibt. Es ist unmöglich, mit Erik Berger befreundet zu sein. Er lässt niemanden an sich heran, und ich verstehe nicht, warum du es dir so sehr wünschst.«

Christina wusste, dass Sarah recht hatte. Die Freundschaft zu Erik war nicht echt. Vor einigen Wochen hatten ihn die Eltern seiner verstorbenen Frau besucht, die in großer Sorge um sein seelisches Befinden waren. Um sie zu beruhigen, hatte er ihnen versichert, dass es ihm gut ginge und dass er inzwischen sogar Freunde hätte. Was natürlich nicht stimmte. Dr. Erik Berger besaß keinen einzigen Freund. Trotzdem hatte er seinen Schwiegereltern voller Stolz Christina als befreundete Kollegin präsentiert – und sie hatte mitgespielt, weil sie ihm einen Gefallen schuldete.

Dieser Gefallen hatte sich im Nachhinein als gute Idee erwiesen. Schließlich hatte sie dadurch so wundervolle Menschen wie Karin und Uwe Hansen, Eriks Schwiegereltern, kennenlernen dürfen. Und sie hatte auch den wahren Erik Berger kennengelernt. Ihm war es nicht mehr gelungen, seine liebenswerte, charmante und warmherzige Seite vor ihr zu verbergen. Sie wusste jetzt, dass er sich seinen dicken, schützenden Eispanzer nur zugelegt hatte, um nicht am Tod seiner Frau zu zerbrechen. Wie konnte Christina nun noch so tun, als wäre er kein Freund für sie? Erik Berger, der jedem weismachte, kein Herz zu besitzen, hatte an Christinas Herz gerührt. Er hatte sich dort eingeschlichen und machte keine Anstalten, wieder zu verschwinden. Doch wie sollte sie das Sarah erklären, wenn sie es selbst nicht verstand?

»Lass uns nicht mehr über Erik sprechen«, sagte sie deshalb nur und stand auf. »Unsere Mittagspause wartet. Bis zum Beginn der Dienstberatung bleibt uns keine halbe Stunde mehr.«

Sarah nickte und folgte ihr hinaus. Auf dem Flur hielt sie sie am Ärmel ihres Kittels fest. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie leise. »Du siehst ein wenig traurig aus.«

»Mir geht’s bestens. Wirklich!« Christina schaffte ein unbekümmertes Lächeln und öffnete schnell die Tür zu dem Behandlungszimmer, in dem sie Dr. Martin Ganschow vermutete. »Herr Ganschow, ich melde mich ab«, sagte sie fröhlich und salutierte dabei zum Scherz. Niemand merkte ihr an, wie traurig sie in Wahrheit war oder wie sehr ihr Eriks Ablehnung wehtat. »In den nächsten beiden Stunden sind Sie der Chef der Notaufnahme. Sollten Sie meine Hilfe brauchen, finden Sie mich in der Cafeteria und ab eins beim Chef auf der Leitungssitzung.«

*

Bei einer köstlichen Lasagne vergaß Christina schnell die Abfuhr, die sie von Erik Berger bekommen hatte. Das Leben war zu schön, um sich über einen Mann aufzuregen, der auf ihre Freundschaft keinen Wert legte – obwohl er sie sicher gut gebrauchen könnte.

So oft es ihnen möglich war, verbrachten Sarah und Christina die Mittagspause gemeinsam in der Cafeteria der Behnisch-Klinik. Das lag nicht nur an der hervorragenden Speisekarte, auf der es immer etwas Neues zu entdecken gab. Sie liebten es zudem, Zeit miteinander zu verbringen und sich über ihre Arbeit oder die privaten Freuden und kleinen Kümmernisse auszutauschen.

»Womöglich ist es ein Fehler, dass wir uns jetzt den Bauch vollschlagen«, überlegte Christina und schob sich den nächsten Bissen in den Mund. Kauend sprach sie weiter: »Wer weiß, vielleicht gibt es nachher auf der Sitzung noch jede Menge zu essen.«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Sarah verwundert. »Bisher gab es auf einer Dienstberatung höchstens mal einen Kaffee und ein Glas Wasser. Warum sollte es heute anders sein?«

»Weil es heute keine normale Dienstberatung für die Ärzte ist, sondern die der Abteilungsleiter.«

»Du denkst also, dass der Chef die normalen Ärzte mit Kaffee und Wasser abspeist, während er für die Abteilungsleiter ein kaltes Buffet auffahren lässt?«, lachte Sarah.

»Na ja, wäre doch möglich.« Christina zuckte die Schultern. »Woher soll ich das denn wissen? Im Gegensatz zu dir bin ich heute zum ersten Mal dabei, und das auch nur, weil Erik im Urlaub ist und ich ihn vertrete.«