Die Autorin
Prof. Dr. Etta Wilken ist Sonderschullehrerin und Diplom-Sprachtherapeutin. Sie war bis zu ihrer Pensionierung an der Leibniz-Universität Hannover tätig im Lehrgebiet Allgemeine und integrative Behindertenpädagogik.
Etta Wilken hat bereits 1973 erstmalig zur Sprachförderung von Kindern mit Down-Syndrom publiziert. Sie besitzt langjährige Erfahrungen in der Ausbildung von Sonderpädagogen und Diplompädagogen sowie in der Elternarbeit und in der Therapie von Kindern mit Down-Syndrom. Die Gebärden-unterstütze Kommunikation (GuK) wurde von ihr entwickelt. Weitere Forschungsgebiete sind Unterstützte Kommunikation und Frühförderung.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.
2., aktualisierte Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-039508-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-039509-1
epub: ISBN 978-3-17-039510-7
mobi: ISBN 978-3-17-039511-4
Die Lebensbedingungen und Perspektiven für Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom haben sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich günstiger entwickelt. Nicht nur die Lebenserwartung ist sehr deutlich gestiegen, sondern auch die Lebensqualität hat sich erfreulich verbessert. Menschen mit Down-Syndrom erleben heute in unserer Gesellschaft eine größere Akzeptanz. Die Inklusion in Kindergarten und Schule sowie die Teilhabe an verschiedenen sozialen Kontexten des Alltagslebens hat sich erheblich ausgeweitet.
Aber während die intensivere ärztliche Versorgung zu besserer Gesundheit und günstigeren Lebensbedingungen für alle Menschen mit Down-Syndrom geführt hat, bedeutet der medizinische Fortschritt hinsichtlich der pränatalen Diagnostik eine neue gesellschaftliche Herausforderung, die gerade für werdende Eltern oft konflikthaft erlebt wird.
Auch die positiven Erfahrungen mit der Integration und Inklusion von Kindern mit Down-Syndrom dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass manche Entwicklungen kritisch begleitet werden müssen, damit Inklusion nicht durch veränderte sozialpolitische Rahmenbedingungen zu einem Sparmodell wird und die berechtigten Ansprüche auf syndrom-angemessene individuelle Förderung auf nicht hinreichend qualifizierte Begleitung reduziert wird.
Es ist gleichwohl beeindruckend, rückblickend festzustellen, was alles in den letzten Jahren erreicht wurde. Als ich Ende der sechziger Jahre eine Sonderschule leitete, begegneten mir viele Schülerinnen und Schüler mit Down-Syndrom, die damals noch keine Frühförderung erhalten hatten. Von etlichen Schwierigkeiten, die sie zeigten, nahm ich an, dass zumindest einige durch frühe Hilfen hätten vermindert werden können. Besonders die orofazialen Beeinträchtigungen und die großen Sprachprobleme erschienen mir als Herausforderung, in intensiver Zusammenarbeit mit den Eltern Wege zu finden, um durch frühe Förderung eine günstigere Entwicklung zu ermöglichen. So entstanden erste Elterngruppen und ein Buch zur »Sprachförderung bei Kindern mit Down-Syndrom« (1973). Seit den siebziger Jahren an der Leibniz Universität Hannover, begann ich mit Forschungen zu syndromspezifischen Aspekten, insbesondere zur Sprachförderung und Sprachtherapie. Auch entstanden Projekte, die sich auf die Ausprägung syndromtypischer Merkmale und Verhaltensweisen bezogen (Wilken 1977) sowie zur schulischen Förderung von Kindern mit Down-Syndrom (Wilken 1999b), die gemeinsam mit Studierenden realisiert wurden.
Die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen zur Integration und zur Fortbildung von Pädagogen, die in diesen Klassen tätig waren, in der Zeit von 1986 bis 1996 hat viele grundlegende Erkenntnisse erbracht in Bezug auf die Möglichkeiten und Chancen eines gemeinsamen Unterrichts und die dafür erforderlichen Bedingungen (Wilken 1991).
Besonders wichtig war mir immer die Kooperation mit den Eltern. So habe ich seit 1978 über 25 Jahre hin regelmäßig einwöchige Seminare für Eltern und ihre Kinder mit Down-Syndrom im Internationalen Haus Sonnenberg im Harz durchgeführt. Dadurch sind viele persönliche und auch internationale Kontakte entstanden, von denen einige bis heute bestehen und zu anregendem Erfahrungsaustausch geführt haben. Oftmals waren Eltern nach diesen Seminaren hoch motiviert, eigene regionale Elternselbsthilfegruppen zu gründen, zu denen dann langjährige Verbindungen entstanden. Eine besonders nachhaltige Zusammenarbeit hat sich so mit Cora Halder entwickelt, die 1988 mit ihrer damals zweijährigen Tochter an einem solchen Seminar teilnahm. Seit dieser Zeit haben wir viele gemeinsame Aktivitäten im In- und Ausland durchgeführt, und die Zusammenarbeit mit dem von ihr gegründeten Down-Syndrom InfoCenter hat zu etlichen wichtigen Projekten geführt. Dazu zählt vor allem die Entwicklung der Gebärden-unterstützten Kommunikation – GuK (Wilken (2000c). Auch die seit langem bestehende kollegiale Zusammenarbeit mit Babara Jeltsch-Schudel von der Universität Freiburg (Schweiz) und mit Bernadette Wieser vom österreichischen Down-Syndrom-Zentrum in Leoben hat sich immer wieder als anregend erwiesen. Besonders danken möchte ich meinem Mann Udo Wilken für gemeinsame Erfahrungen in vielen Seminaren, spannende Diskussionen und für fast fünfzig Jahre gute Zusammenarbeit.
Seit Ende der achtziger Jahre finden bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Marburg regelmäßig mehrtägige Seminare für Eltern und ihre Kinder mit Down-Syndrom statt und zwar für Eltern kleiner Kinder, für Eltern, deren Kinder in die Schule kommen, und ein weiteres Seminar für Eltern von Teenagern. Zudem wurden auch Seminare durchgeführt für Jugendliche und junge Erwachsene in Zusammenarbeit mit regionalen Elterngruppen in Deutschland, der Schweiz und in Österreich (Wilken 1999a).
Alle in diesem Buch zitierten Berichte stammen aus diesen verschiedenen Seminaren oder sind mir nachträglich zugeschickt worden. Die Namen der Kinder wie auch einige spezielle Angaben zur persönlichen Situation oder zum Wohnort wurden von mir anonymisiert. Die in diesem Buch abgedruckten Bilder und Texte wurden von den Eltern für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
Für die vielen vertrauensvollen Gespräche mit den Eltern und für die bereichernden Erfahrungen mit den Kindern und Jugendlichen bin ich sehr dankbar. Dabei waren für die Zusammenarbeit Freundlichkeit und Zugewandtheit sowie soziale Werte leitend und nicht primär die ›Optimierung‹ von Entwicklung oder das üblich gewordene Leistungsstreben – auch wenn es durchaus um gute Förderung ging.
So haben diese Begegnungen über viele Jahrzehnte auch mein Leben geprägt und mir ermöglicht, ›die Welt mit anderen Augen zu sehen‹.
Dieses Buch möchte deshalb über die aktuellen wissenschaftlichen Informationen hinaus die über die Jahre gesammelten vielfältigen Erfahrungen weitergeben und damit beitragen, syndromspezifische Fragen zu klären.
Bedanken möchte ich mich für die gute Zusammenarbeit bei den Autorinnen und Autoren der Beiträge. Sie alle fühlen sich einem Menschenbild verpflichtet, das den grundsätzlichen Anspruch auf gute familiäre, pädagogische und gesundheitliche Entwicklungsbedingungen betont und weitestgehende Selbstbestimmung ermöglichen möchte.
Gerade die aktuellen Entwicklungen der Pränataldiagnostik und die kontroversen Diskussionen zu diesem Thema zeigen, dass es wichtig ist, den Wert und die Würde von Menschen mit Down-Syndrom unabhängig von ihrer individuellen Leistungsfähigkeit anzuerkennen.
Hildesheim, im Jahr 2020
Etta Wilken
Die veränderten Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft haben dazu geführt, dass auch die familialen Lebensformen und die Lebenswirklichkeit von Familien von diesem Wandel betroffen sind. Zwar wachsen die meisten Kinder noch in traditionellen Familienstrukturen mit Mutter und Vater auf (70 %), aber es gibt zunehmend auch andere Formen des Zusammenlebens mit Kindern, wie Eineltern- (20 %), Scheidungs- und »Patchwork«-Familien (Stat. Bundesamt 2014) oder Zwei-Mütter-Väter-Familien. Hinzu kommen Familien aus anderen Kulturen und mit anderer Muttersprache sowie Eltern, die verschiedenen Ethnien angehören. Diese unterschiedlichen Bedingungen wirken sich auch auf die Vorstellungen und Aufgabenzuweisungen von Mutter und Vater in einer Familie und auf die Rolle von Kindern aus. In vielen Familien haben Kinder heute »vorwiegend eine ›psychologische Nutzenfunktion‹. Mit Kinderhaben verbindet sich zunehmend der Wunsch nach Sinn und Verankerung und gleichzeitig ein Glücksanspruch« (Beck-Gernsheim 1990, 138). Eine Folge dieses Anspruchs an das Kind ist, dass seine Erziehung und optimale Förderung als eine besondere Aufgabe angesehen wird. »Überidentifikation, Überbehütung und Übergratifikation werden zu einem zunehmenden Problem« für unsere Gesellschaft (Kraus 2013) und können zu einem überzogenen Kontrollbedürfnis führen. An diese so genannten »Helikopter-Eltern« ergeht deshalb die Aufforderung »Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung« (ebd.). »Die Geburtenzahlen gehen zurück. Die Bedeutung des Kindes aber steigt« (Beck 1990, 55). Im Jahr 2012 wurden im Vergleich zu 1960 etwa 50 % weniger Kinder geboren und die durchschnittliche heutige Familiengröße wird mit 1,4 Kindern angegeben. In etwa 42 % Familien lebt danach nur ein Kind und in 42 % Familien leben zwei Kinder, während nur 16 % der Familien drei und mehr Kinder haben (Stat. Bundesamt 2014). Eltern richten deshalb ihre Wunschvorstellungen bezüglich Entwicklung und Leistung oftmals auf diese ein oder zwei Kinder. »Als Resultat dieser vielfältig erkennbaren Ansprüche an Kinder und Eltern verstärkt sich der kulturell vorgegebene Druck: Das Kind darf immer weniger hingenommen werden, so wie es ist, mit seinen körperlichen und geistigen Eigenheiten, vielleicht auch Mängeln« (Beck-Gernsheim 1989, 92). Daraus leitet sich für Eltern eine neue Verantwortung für eine gelingende Entwicklung und bestmögliche Förderung von Kindern ab. »Und schnell nehmen die neuen Möglichkeiten den Charakter neuer Verpflichtungen an« (ebd.). Vor allem Mütter empfinden diese gesellschaftlich vermittelten Erwartungen als neue Aufgabenzuweisung und »die wachsende Verantwortung wirkt sich nun aus als Belastung (…), je mehr das Gebot der optimalen Förderung sich ausbreitet« (Beck-Gernsheim 1990, 142). Entsprechend wurde als Ergebnis einer größeren Umfrage (BiB) festgestellt, dass Eltern heute der zunehmend »hohe Anspruch an sich selbst« zu schaffen macht. Sie »wollen unbedingt gute moderne Eltern sein. Mit ihren überzogenen Idealbildern setzen sie sich aber unnötig selbst unter Druck« und »am Ende stehe das Gefühl, nicht zu genügen« (SZ, 20.3.15).
Eltern macht der hohe Anspruch an sich selbst zu schaffen.
Wenn solche veränderten Anforderungen schon allgemein für Eltern und Kinder heute gelten, ist verständlich, welche besonderen Schwierigkeiten Eltern zu bewältigen haben, deren Kind das Down-Syndrom hat. Seine optimale Förderung mit speziellen Angeboten und Maßnahmen sowie verschiedenen Therapien von Geburt an und über die Kindergarten- und Schulzeit hinaus bedeutet für die Familie immer wieder altersspezifische Anpassungsprozesse zu leisten, um die besonderen Aufgaben zu bewältigen. »Das Zusammenleben mit einem beeinträchtigten Kind verschärft die Herausforderungen der Alltagsgestaltung und Lebensplanung … und erfordert häufig einen erhöhten Kraftaufwand der Eltern, oftmals am Rande der Belastbarkeit«, und »es besteht die Gefahr, dass sich die sozialen Kontakte im Falle einer Überlastungssituation reduzieren und sich die Familie isoliert« (Bundesministerium 2013, 67 f). Deshalb gilt es nicht nur die Förderung des Kindes in den Blick zu nehmen, sondern es sind auch die Konsequenzen für die Mutter zu sehen und die familiären Bedürfnisse anzuerkennen.
»Je mehr verschiedene Therapeuten in unser Haus gekommen sind, umso mehr Ideen haben diese Leute gehabt, was mein Mann und ich alles mit unserem Sohn machen sollten, um ihn optimal zu fördern. Würde ich all diesen Anweisungen nachkommen, würde ich mein Kind von morgens bis abends nur noch therapieren. Aber ich möchte Willis Mama sein und nicht seine Therapeutin, und diese ganzen Mutmaßungen, was für meinen Sohn angeblich gut ist, sind wiederum für mich nicht gut, denn sie lösen ein permanent schlechtes Gewissen bei mir aus, weil ich gar nicht alles tun KANN, was ich tun sollte.« (Müller 2011, 58)
Aber nicht nur die familiären Bedingungen sind zu berücksichtigen, sondern nachdrücklich zu betonen sind auch die gesellschaftlichen Verpflichtungen. So ist die Durchsetzung von sozialen Leistungsansprüchen zu gewährleisten, damit Exklusionsrisiken vermieden und Teilhabechancen für das Kind und seine Familie verbessert werden.
Mit dem Heranwachsen ihres Kindes und den individuellen Lebensbedingungen der Familie verändern sich auch die erforderlichen Verarbeitungsmöglichkeiten und Bewältigungsstrategien von Eltern, die ein Kind mit Down-Syndrom haben. Sie machen immer wieder entsprechende Anpassungsleistungen und eine Umorientierung ihrer Lebensplanung notwendig. Dabei wirkt sich in altersspezifischer Weise die veränderte Bewertung der Rolle von Kindern, der Anspruch auf optimale Förderung und die allgemeine Lebensperspektive aus. Aber die tendenziell positiveren gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber behinderten Kindern führen zu insgesamt vielfältigeren und günstigeren Bedingungen. Dazu beitragen können zudem die neuen rechtlichen Grundlagen der Inklusion in den verschiedenen Lebensbereichen über Kindergarten und Schule bis hin zur Berufstätigkeit (UN-Behindertenrechtskonvention).
»Das Leitbild der Behindertenrechtskonvention ist ›Inklusion‹. Es geht also nicht darum, dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben, ›mithalten‹ zu können. Es geht darum, dass sich unsere Gesellschaft öffnet. Dass unser selbstverständliches Leitbild Vielfalt wird und die Grundhaltung, dass jede und jeder Einzelne wertvoll ist mit den jeweiligen Fähigkeiten und Voraussetzungen. Dafür müssen wir in vielen Bereichen neu denken.« (Bentele 2014, 3)
Aber auch den verschiedenen neuen familialen Lebensformen und Lebensbedingungen, der zunehmenden Berufstätigkeit von Müttern, der relativ häufigen Ein-Elternfamilie bei Kindern mit Behinderung (20 %, Bundesministerium 2013, 69) kommt eine große Bedeutung zu, weil Teilhabechancen abhängig sind sowohl von individuellen und familienbezogenen als auch von allgemeinen Umweltfaktoren. Um die Lebenswirklichkeit eines Kindes und Jugendlichen mit Down-Syndrom umfassend zu verstehen, gilt es deshalb, die »Gesamtheit der Ressourcen und Beschränkungen« einer Familie in den Blick zu nehmen. Die Unterstützungs- und Förderangebote müssen »sich auf die wirtschaftliche Lage, auf die Bildung und die soziale Einbindung beziehen« und zwar bezogen auf die ganze Familie (Bundesministerium 2013, 10), damit Förderung und Teilhabe gelingen kann. Zunehmend wichtig wird es auch, die besonderen Bedingungen eines Kindes mit Down-Syndrom zu berücksichtigen, das zweisprachig aufwächst und/oder in einer Familie lebt mit anderen kulturellen und ethnischen Vorstellungen.
Langdon Down war als Arzt und Leiter einer großen Anstalt für Menschen mit geistiger Behinderung tätig, als er 1866 eine Schrift verfasste zur »ethnische(n) Klassifizierung von Schwachsinnigen«, um durch eine solche Zuordnung nach äußeren Merkmalen sichere Prognosen für die Entwicklung geben zu können.
Die auffällige Lidfalte (Epikanthus) bei einigen seiner Patienten veranlasste ihn anzunehmen, dass bei diesen Menschen ein »mongolischer Typus« der geistigen Behinderung vorliege (Down 1866, 261), und er wählte deshalb für diese Form der Intelligenzbeeinträchtigung die Bezeichnung Mongolismus. Seine Beschreibung enthält jedoch nicht nur Angaben zum Erscheinungsbild, sondern auch zu charakteristischen Verhaltensweisen und er verweist auf die Bedeutung von Behandlung und systematischen Übungen.
»Sie haben Humor und einen lebhaften Sinn für das Spaßige … Gewöhnlich können sie sprechen, die Sprache ist jedoch oft verwaschen. Beachtliche Fertigkeiten können durch systematisches Training erreicht werden. Der Fortschritt, der durch Übung erreicht wird, ist beachtlich größer als das, was vorausgesagt würde, wenn einem die charakteristischen Eigenheiten dieses Typus nicht bekannt wären.« (Down 1866, 261)
Die von Langdon Down geprägte Bezeichnung Mongolismus wird heute abgelehnt, da die zugrunde liegende historisch zu verstehende Annahme über die Entstehung dieser Behinderung falsch und diskriminierend ist. Die typischen klinischen Merkmale des Down-Syndroms sind bei allen Rassen gleich und immer deutlich als pathologisch zu erkennen.
In Anerkennung der Bemühungen aber von Langdon Down, Übungen und Fördermöglichkeiten für diese behinderten Menschen zu gestalten, hat sich heute zunehmend die Bezeichnung Down-Syndrom durchgesetzt. Daneben werden andere Begriffe wie (Langdon) Down('s)-Syndrom oder Down Anomalie, Morbus Down und – vor allem im französischen Sprachraum – auch Trisomie 21 benutzt.
Von betroffenen Menschen und von Angehörigen wird der Begriff Down-Syndrom wegen der negativen Konnotation von »down« (= nieder) oft abgelehnt. Es ist deshalb zu überlegen, wie der Anspruch der Betroffenen auf begriffliche Mitbestimmung respektiert werden kann und welcher Begriff neutraler, aber doch allgemein verständlich wäre. So mag die Bezeichnung »Menschen mit dem gewissen Extra«, wie sie von Down-Syndrom Österreich oft verwendet wird, zwar freundlicher klingen, aber nur in einem entsprechenden Kontext ist zu verstehen, welche Personen damit gemeint sind (vgl. LLL, Leoben).
Manchmal werden Bezeichnungen wie »Down-Baby«, »Down-Kind«, »Down-Syndrom-Kind« oder »Trisomie-Kind« benutzt – und manchmal auch die meist freundlich gemeinte, aber unpassende Verniedlichung »Downie«. Dagegen ist einzuwenden, dass durch solche Begriffe die Behinderung zur dominierenden Kennzeichnung der Person wird.
Aber auch Kinder mit Down-Syndrom sind vor allem Kinder, mit den ganz normalen Bedürfnissen, die alle Säuglinge und Kinder haben, sind Jugendliche und Erwachsene, zeigen als Kinder ihrer Eltern familientypische Vorlieben und Gewohnheiten, sind Bruder oder Schwester ihren Geschwistern. Deshalb ist auch problematisch, von »Kindern, die unter den Bedingungen einer Trisomie 21 leben« (vgl. Zimpel 2016), zu sprechen, weil – wie bei allen Menschen – nicht allein die genetischen Bedingungen bestimmend sind. Vielmehr spielen der familiäre, soziale und kulturelle Kontext, die individuellen Fähigkeiten, Schwächen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie zusätzliche Behinderungen eine wesentliche Rolle und aufgrund wechselseitiger Beeinflussung dieser Faktoren ergeben sich sehr unterschiedliche Lebensbedingungen für die Kinder. Dadurch entsteht auch ein so vielfältiges Bild des Down-Syndroms, das sich keineswegs allein mit der Trisomie erklären lässt.
Das gleichzeitige Vorliegen verschiedener Merkmale oder Symptome wird als Syndrom bezeichnet.
Wir sprechen deshalb von Säuglingen, Kindern und Erwachsenen mit Down-Syndrom.
Es ist wichtig, sich deutlich zu machen, dass trotz der syndrombedingten Gemeinsamkeiten Menschen mit Down-Syndrom eine sehr heterogene Gruppe bilden. Das individuelle Potential ist recht verschieden, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen und zusätzliche Behinderungen können unterschiedlich ausgeprägt sein und zudem können die verschiedenen Lebens- und Sozialisationsbedingungen eine weite Streuung von Kompetenzen und Interessen bewirken.
Eine ganzheitliche Förderung der Kinder mit Down-Syndrom muss deshalb individuelle und syndromspezifische Aspekte im systemischen Kontext berücksichtigen und durch eine lebensbegleitende Förderung den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen helfen, ihr individuelles Potential optimal zu entfalten und zu erhalten. Dazu ist auch notwendig, eine alters- und syndromspezifische gesundheitliche Betreuung anzubieten, um spezielle Probleme rechtzeitig zu erkennen, zu behandeln und mögliche Folgebeeinträchtigungen zu verringern.
Die Feststellung von Langdon Down, dass durch Übung mehr erreichbar ist als vielleicht angenommen wird, ist noch immer aktuell. Es ist deshalb wichtig, bewährte therapeutische und pädagogische Konzepte der Förderung weiter zu entwickeln, aber auch neue Möglichkeiten zu entdecken und die Grenzen des Erreichbaren offener zu sehen, damit ein insgesamt differenzierteres und positiveres Bild von Menschen mit Down-Syndrom entstehen kann.
Die Ursache des Down-Syndroms war lange Zeit nicht bekannt. Zahlreiche Vermutungen und absurde Theorien wurden geäußert (z. B. Alkoholismus, Tuberkulose, Regression in der menschlichen Entwicklung), die zeitweise zu problematischen Einstellungen gegenüber Betroffenen und ihren Familien führten. Obwohl schon 1932 aufgrund der Vielzahl auftretender Veränderungen vermutet wurde, dass beim Down-Syndrom eine Chromosomenstörung vorliegen müsse (Waardenburg), gelang erst 1959 einer französischen Forschergruppe (Lejeune, Gautier, Turpin) der Nachweis, dass dem Auftreten des Down-Syndroms eine Trisomie zugrunde liegt.
Beim Down-Syndrom ist das Chromosom 21 nicht zweimal, sondern dreimal vorhanden. Dieses zusätzliche dritte Chromosom bewirkt erhebliche Störungen des normalen biochemischen Gefüges und führt zu deutlichen Abweichungen in der Entwicklung aufgrund eines direkten Effektes durch die 1,5 fache Gendosis und eines indirekten Effektes durch eine veränderte Regulation der verschiedensten Gene auf anderen Chromosomen.
Obwohl das Chromosom 21 zu den kleinsten gehört (nur 1,5 % der menschlichen Erbinformation liegen darauf), sind die auftretenden prä- und postnatalen Veränderungen sowie die Beeinträchtigungen in der gesamten Entwicklung vielfältig.
Das Entstehen der chromosomalen Fehlverteilung erfolgt fast immer zufällig. Allerdings nimmt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten mit höherem Lebensalter der Mutter zu. Selten spielen auch genetische Faktoren eine Rolle. Immer wieder werden aber Vermutungen geäußert, dass zudem auch eine Vielzahl unterschiedlicher exogener Risiken wie Strahlenschädigungen oder Umweltbelastungen eine auslösende Wirkung haben könnten. Bisher gibt es aber noch keine gesicherten Erkenntnisse über solche möglichen Ursachen. Auch für regionales oder zeitlich erheblich verstärktes Vorkommen (Halder 2009, 16) oder untypisches häufigeres Auftreten in manchen Ländern (z. B. im Oman mit einer Relation von 1:391 Geburten) sind wahrscheinlich bisher nicht bekannte »exogene Noxen« zu vermuten (Sperling 2007, 42 f.). Auch in Europa gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. So wurde bei 10.000 Geburten in Schweden 22,12-mal, in England jedoch nur 10,5-mal das Down-Syndrom (lebend und tot geborene plus Abbrüche) ermittelt (Gocchi et.al. 2011, 35).
Beim Down-Syndrom liegen verschiedene genetische Befunde vor, von denen zum Teil auch der Grad und die Ausprägung der Beeinträchtigung abhängen:
Freie Trisomie 21 (ca. 95 Prozent der Fälle)
Translokation (ca. 3 Prozent)
Mosaik (ca. 2 Prozent)
Partielle Trisomie (sehr selten).
Bei der häufigsten Form, der Freien Trisomie, ist das 21. Chromosom selbst unverändert, es kommt aber dreimal statt zweimal vor. Als Translokation wird die Verlagerung eines Chromosomenbruchstücks an ein anderes Chromosom bezeichnet. Ein Mosaik ist ein Chromosomenbefund, bei dem sowohl trisome (dreimal vorhandene) als auch normale (zweimal vorhandene) Chromosomen 21 in verschiedenen Zellen festzustellen sind. Die Ausprägung des Down-Syndroms ist in diesem Fall abhängig vom Verhältnis der normalen zu den trisomen Zellen und den davon betroffenen Bereichen. Deshalb ist es möglich, dass beim Vorliegen eines gering ausgeprägten Mosaiks sich in seltenen Fällen kein Down-Syndrom (als spezifischer Symptom- und Merkmalskomplex) entwickelt, wie der Bericht einer betroffenen Frau zeigt.
»Ich hatte drei Fehlgeburten, wobei in einem Fall eine freie Trisomie festgestellt wurde. Nach der Geburt meiner Tochter mit Down-Syndrom wurde bei mir eine Blutuntersuchung durchgeführt – ohne Befund. Nach der Geburt eines gesunden Sohnes hatte ich wieder eine Fehlgeburt – wieder lag eine Trisomie 21 vor. Dann wurde unser zweiter Sohn mit Down-Syndrom geboren. Eine erneute Untersuchung von mir (FISH) ergab in 60 % der untersuchten Hautzellen eine Trisomie.
Als ich klein war, sah ich ein wenig wie ein Down-Mädchen aus. Ich hatte auch die schräge Augenstellung. Meine Tochter sieht genauso aus wie ich früher. Ich bin froh, dass es damals nicht entdeckt wurde, ich wäre sonst nicht da, wo ich jetzt stehe. Ich habe meinen erweiterten Realschulabschluss gemacht und bin Zahnarzthelferin geworden.« (Friedrichs 2009)
Die Verfasserin äußert hier die Vermutung, dass eine frühe Diagnose ihre normale Entwicklung wahrscheinlich wesentlich verändert hätte. Dass sie mit dieser Vermutung Recht hat, macht ein Bericht über eine andere Frau mit einer Mosaikform der Trisomie 21 deutlich, deren Eltern nach der Geburt die Information erhielten, ihre Tochter würde sich »ein bisschen besser entwickeln als ein Durchschnittskind mit Down-Syndrom«. Unter der Überschrift »So geht Inklusion« wird diese mittlerweile »junge Frau mit Down-Syndrom« vorgestellt. Sie »hat Mittlere Reife, arbeitet heute Vollzeit im Schreibdienst der Verkehrspolizei-Inspektion in Erlangen und gehört ganz selbstverständlich zur 80-köpfigen Dienststelle« (de Bruyn 2016, 15). Sollte man bei dieser jungen Frau wirklich vom Down-Syndrom sprechen oder doch eher von einer Mosaikform, die in diesem Fall eben nicht zur Ausprägung der entsprechenden Behinderung führte?
Die partielle Trisomie ist extem selten. Dabei ist nur ein Teil eines Chromosoms 21 verdoppelt und dieses zusätzliche Stück befindet sich innerhalb eines anderen Chromosoms. Aber die Erbinformationen dieses Abschnittes liegen dann ebenfalls dreifach vor und können sich abhängig vom jeweiligen Umfang entsprechend auswirken.
Das Down-Syndrom gehört zu einem der häufigsten angeborenen Syndrome. Überall auf der Welt, auf allen Kontinenten und in allen Ländern leben Menschen mit Down-Syndrom, allein in Europa sind es etwa 600.000 und insgesamt wahrscheinlich etwa vier Millionen. Weltweit werden jährlich über 200 000 Kinder mit Down-Syndrom geboren, allein in Deutschland ist jährlich mit etwa 1000 Geburten zu rechnen bei der aktuell ermittelten jährlichen Geburtenzahl von durchschnittlich 670 000 Kindern (vgl. LmDS 2009, 6). Allerdings ist damit zu rechnen, dass aufgrund vermehrter Anwendung von pränataldiagnostischen Verfahren, insbesondere dem nicht invasiven Bluttest (Pränatest), sich langfristig deutliche Veränderungen ergeben werden.
Wahrscheinlich hat es Menschen mit Down-Syndrom schon immer gegeben. Wie hoch ihr Anteil in unserer Gesellschaft in Zukunft sein wird, ist abhängig von den möglichen Auswirkungen verschiedener Entwicklungen in der Diagnostik, der gesundheitlichen Betreuung und der sozialen Akzeptanz.
Immer mehr Frauen nehmen neue und differenziertere Verfahren der vorgeburtlichen (pränatalen) Diagnostik in Anspruch und bei einem pathologischen Befund entscheiden sich viele für einen Schwangerschaftsabbruch. Daher könnte die Häufigkeit der Geburten von Kindern mit Down-Syndrom langfristig erheblich abnehmen. Eine umfangreiche Datenauswertung prä- und postnatal erfasster Fälle von Trisomie 21 in der Deutsch-Schweiz ergab allerdings, dass »die Häufigkeit der mit Trisomie 21 geborenen Kinder seit 1985 konstant ist, obwohl in der Periode 1992 bis 1996 rund ein Drittel aller Fälle infolge Schwangerschaftsabbruch nach pränataler Diagnose nicht zur Welt kamen« (Binkert, Mutter, Schinzel 1999, 19). Dass trotzdem nicht weniger Kinder mit Down-Syndrom geboren wurden, wird begründet mit einer »Rechts-Verschiebung der Altersverteilung der Mütter bei der Geburt« (ebd.). Diese Tendenz hat sich weiter fortgesetzt, so dass im Jahr 2012 in Deutschland Frauen ihr erstes Kind mit durchschnittlich 29,2 Jahren bekamen und 2.011 Mütter 45 Jahre oder noch älter waren (Stat. Bundesamt 2014). Mit diesem heute insgesamt erhöhten Lebensalter von Müttern nimmt die relative Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom deutlich zu. Auch bewirkt eine insgesamt positivere Einstellung zu Menschen mit Down-Syndrom, dass mehr Mütter bzw. Eltern nach pränatal festgestelltem Down-Syndrom eine Beratung in Anspruch nehmen und sich dann bewusst für ihr Kind entscheiden (vgl. Hennemann 2014, 77).
Bei einer Schweizer Untersuchung wurden von insgesamt 1.118 Fällen von Down-Syndrom 396 pränatal und 722 postnatal erkannt. Der Anteil der pränatalen Erfassung stieg dabei mit zunehmendem Alter der Mutter (Binkert, Mutter, Schinzel 1999), weil in dieser Gruppe vermutlich eine erhöhte Bereitschaft zur Inanspruchnahme entsprechender Angebote besteht. Durch Ultraschall- und Serum-Screening-Methoden sowie Bluttests werden mittlerweile auch bei den 25 bis 29-Jährigen schon ein Viertel und bei den 30- bis 34-Jährigen ein Drittel der Fälle pränatal diagnostiziert (ebd.). Diese Entwicklung wird sich durch den angebotenen und zunehmend in Anspruch genommenen Bluttest (Praenatest) weiter erheblich verstärken. Im Gegensatz zu den bisherigen invasiven Tests (Fruchtwasseruntersuchungen, Chorionbiopsie) ist damit kein spezielles Risiko mehr für das Kind verbunden. Bedenkt man, dass bisher trotz der bekannten möglichen Risiken der invasiven Tests nach den vorliegenden Daten in Deutschland jährlich 30 000 – 60 000 dieser pränatalen Untersuchungen durchgeführt wurden, wird deutlich, welche Veränderungen sich durch den »Praenatest« (LifeCodexx-Bluttest) vermutlich ergeben werden. Mit der Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen wird er für alle Schwangeren bezahlt, bei denen »ein erhöhtes Risiko für ein Kind mit Down-Syndrom besteht, etwa weil sie älter als 35 Jahre sind, wegen eines auffälligen Ultraschallbefunds oder verdächtiger Laborwerte« (Bahnsen 2015, 33). Es ist davon auszugehen, dass ein solcher »risikoloser Test« auch die Inanspruchnahme durch Schwangere ohne ein spezielles Risiko deutlich erhöhen wird und dass die Abbruchquote vermutlich entsprechend steigen wird (Berndt 2008). Die damit verbundenen ethischen Fragen verlangen deshalb unbedingt nach Klärung und eindeutiger Positionierung in Bezug auf Lebenswert und Würde von Menschen mit dieser Behinderung.
Von 1976 bis zum Jahr 2005 stiegen – so wurde in einer Untersuchung festgestellt – die mit pränataler Diagnostik erfassten Fälle von 1796 auf 130.000 an. Das könnte eine Abnahme der Geburten von Kindern mit Down-Syndrom erwarten lassen, aber tatsächlich ist die Zahl der mit Trisomie geborenen Kinder unverändert geblieben (vgl. v.Voss u. a. 2007, 92). Nach pränataler Diagnose des Down-Syndroms und Beratung trugen nach den bisher vorliegenden Erhebungen 5,5 Prozent der Frauen die Schwangerschaft aus. In einer internationalen Studie zu mütterlichem Alter, pränataler Diagnostik und Schwangerschaftsabbrüchen in europäischen und fünf außereuropäischen Ländern wurde festgestellt, dass sich »das durchschnittliche Auftreten von DS (lebend und tot geboren plus Schwangerschaftsabbrüche) auf 10.000 Geburten … von 13,17 im Jahre 1993 bis auf 18,2 im Jahr 2004« erhöhte (Gocchi et al. 2011, 34). Außerdem endeten 1993 nach dieser Studie »fast zwei Drittel aller Down-Syndrom-Schwangerschaften mit der Geburt des Kindes, während aber 2004 … zwei Drittel dieser Schwangerschaften mit einem Abbruch endeten« (ebd.).
Eine andere Entwicklung, die Auswirkungen auf den Anteil der Menschen haben wird, die mit Down-Syndrom leben, betrifft ihre zunehmend günstigere Lebenserwartung. Durch eine verbesserte entwicklungsbegleitende Vorsorge und medizinische Betreuung und Behandlung können lebensbedrohende Krankheiten und Beeinträchtigungen erfolgreicher als früher therapiert und geheilt werden. Das betrifft besonders die typischen Atemswegserkrankungen und Herzfehler, aber auch andere bei Menschen mit Down-Syndrom häufiger auftretende Erkrankungen wie Leukämie oder Zöliakie. Daher werden sie bei besserer Lebensqualität heute zunehmend älter und erreichen durchaus ein Alter von 60 oder sogar 70 Jahren. Die älteste Frau mit Down-Syndrom, die beschrieben wurde, erreichte ohne deutliches Nachlassen ihrer geistigen Fähigkeiten (die zwar behinderungstypisch eingeschränkt waren) 84 Jahre (McGuire, Chicoine 2008, 354).
Welche demographischen Auswirkungen sich aus diesen verschiedenen Entwicklungen für die Gesamtpopulation der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit Down-Syndrom langfristig ergeben werden, ist zwar noch nicht sicher, aber verschiedene vorliegende Erhebungen machen mögliche langfristige Tendenzen sichtbar.
Als J. Langdon Down 1866 seine Erstbeschreibung derjenigen Menschen mit einer geistigen Retardierung vornahm, welche wir heute als Menschen mit Down-Syndrom bezeichnen, stellte er fest, dass ihr Anteil an dieser Gruppe mehr als 10 Prozent betrug (Down 1866, 261). Untersuchungen vom Ende der sechziger Jahre bis Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die sich auf Kinder im Schulalter bezogen, kamen relativ übereinstimmend auf etwa den doppelten prozentualen Anteil:
1969 ermittelte Eggert im Rahmen einer Erhebung an Sonderschulen, dass 25,1 Prozent der Schüler das Down-Syndrom hatten (Eggert 1969).
1970 ging Speck von einem Anteil von etwa 20 Prozent aus (Speck 1975).
1972 stellte Dittmann als Ergebnis einer umfangreichen Erhebung an Sonderschulen für geistig Behinderte in allen (alten) Bundesländern einen durchschnittlichen Anteil von 21 Prozent fest (Dittmann 1975, 146).
1974 ermittelte Wilken an neun verschiedenen Sonderschulen in Niedersachsen einen Anteil von 21 Prozent (Wilken 1977, 54).
1989 stellte Dittmann bei einer Erhebung an Sonderschulen für geistig Behinderte in Baden-Württemberg fest, dass 20 Prozent der Kinder das Down-Syndrom aufwiesen (Dittmann 1992, 12).
2000 konnte Wilken in einer Untersuchung an Sonderschulen und Tagesbildungsstätten in Niedersachsen nur noch einen Anteil von 11,2 Prozent ermitteln (Wilken 2000 b).
2013 fanden Ratz u. a. in einer repräsentativen Gruppe von Schülern mit geistiger Behinderung in Bayern (1629 Kinder) einen Anteil von 12 %, die das Down-Syndrom hatten (Ratz 2013, 4506).
Diese Zahlen zeigen, dass sich im Vergleich zu den früheren Erhebungen der Anteil der Kinder mit Down-Syndrom am Gesamtanteil der geistig behinderten Schüler offensichtlich fast halbiert hat – selbst wenn berücksichtigt wird, dass bei den Erhebungen aus den Jahren 2000 und 2013 die integriert beschulten Kinder mit Down-Syndrom nicht erfasst wurden. Auch aktuelle Berichte aus Frühförderstellen und Schulen bestätigen diese deutliche Abnahme, selbst wenn es immer wieder einmal zu einer zeitweise regionalen Häufung von Geburten kommt, so dass nach Jahren, in denen kein Kind mit Down-Syndrom gemeldet wurde, plötzlich für mehrere Kinder Frühförderung beantragt wird.
Auffällig ist das unausgeglichene Verhältnis von Jungen und Mädchen beim Down-Syndrom. Schon in verschiedenen älteren Publikationen wurde darauf hingewiesen, dass es mehr männliche als weibliche Menschen mit Down-Syndrom gibt. Dittmann ermittelte in seiner Stichprobe 47 Prozent Mädchen und 53 Prozent Jungen (1975, 148). Bei der Untersuchung von Wilken (1974) betrug das Verhältnis 57,1 Prozent Jungen zu 42,9 Prozent Mädchen und 2000 wurde eine Relation von 54 Prozent Jungen zu 46 Prozent Mädchen festgestellt. In der Erhebung von Ratz waren von den 188 Schülern mit Down-Syndrom nur 39,8 % Mädchen, aber 60,2 % Jungen.
Innerhalb der Gruppe von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen haben etwa 10 % das Down-Syndrom – mit deutlich abnehmender Tendenz.
Der Anteil der männlichen Personen ist deutlich erhöht.
Während in der Gesamtgruppe aller Schüler mit intellektueller Beeinträchtigung die noch deutlicheren prozentualen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen durch zumeist bekannte geschlechtstypisch recht unterschiedliche genetische und schädigungsspezifische Faktoren verursacht werden, lässt sich die zufällig erfolgende chromosomale Fehlverteilung beim Down-Syndrom für diese prozentualen Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Personen nicht schlüssig erklären.
Die Familie bietet dem Kind den natürlichen sozialen Raum für Entwicklung und Geborgenheit und vermittelt sowohl Fähigkeiten, Interessen und Motivationen als auch soziokulturelle und ethnische Einstellungen und Werte. Die meisten Kinder wachsen trotz einer zunehmenden Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen in Familien mit Mutter und Vater auf. Unabhängig von den individuell verschiedenen Bedingungen hat jede Familie elementare Bedeutung für die Sozialisation und Enkulturalisation des Kindes, für materielle und emotionale Sicherung seiner Bedürfnisse, für Partizipation in einem familien- und freundschaftlichen Netzwerk.
»Eingebettet in übergreifende gesellschaftliche Werteordnungen, Normen- und Regelsysteme und gesetzliche Rahmungen stellt die Familie die erste und zentrale gesellschaftliche Sozialisationsinstanz dar« (v. Kardorff, Ohlbrecht 2014, 15). Zudem bestimmt sie auch ganz wesentlich die Chancen des Einzelnen, die »vom emotionalen Klima in der Familie, dem milieuabhängig vermittelten sozialen und kulturellen Kapital, der finanziellen Ausstattung und der gesellschaftlich bestimmenden Statusposition der Eltern« abhängig sind (ebd). Auch milieutypische Einstellungen zu bestimmten Kompetenzen und Aktivitäten wie Lesen, Klavierspiel oder Fußball, eine allgemeine Anstrengungsbereitschaft und wertschätzende Interessenförderung sowie genderspezifische Verhaltensweisen und spezifische sprachliche Kommunikations- und Interaktionsstile werden familienabhängig geprägt. Förderung und professionelle Unterstützungsangebote müssen sich deshalb sowohl an der Lebenswelt des Kindes und seinen speziellen Bedürfnissen als auch an der individuellen Lebenslage der Eltern und ihren materiellen sowie sozialen Bedingungen und Ressourcen orientieren.
Für die Sozialisation des Kindes sind sowohl die individuellen Bedingungen als auch die familiären Ressourcen bedeutsam.
Es ist deshalb wichtig, sich mit den aktuellen Entwicklungen der unterschiedlichen Lebensbedingungen von Familien und den teilweise konträren Erziehungshaltungen zwischen Verwöhnung und Vernachlässigung auseinanderzusetzen und daraus Konsequenzen zu ziehen für die Förderung der Kinder in familiären, aber auch in institutionellen Bereichen. Dazu gehört zu reflektieren, wie und was Kinder in ihrem normalen Lebensalltag lernen, wie sie durch Übernahme von Pflichten in der Familie und durch Spielen allein und mit anderen wesentliche natürliche Anregungen und Impulse erfahren.
Gerade dem so genannten inzidentellen Lernen, das sich nebenbei und eher zufällig in Alltagshandlungen und familientypischer Lebensgestaltung ergibt, kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu. »Im Verlauf der ›beiläufigen‹ familialen Sozialisationsprozesse und gezielter Erziehungsbemühungen werden dem Einzelnen die für das (Über-)Leben in der jeweiligen Gesellschaft wesentliche Grundlagen vermittelt« (v. Kardorff, Ohlbrecht 2014, 15). Insofern ist es problematisch, wenn »im Bestreben ihren Kindern das Beste zu ermöglichen … die große Mehrheit der Eltern ihre Kinder vor allem von Alltagspflichten« entbindet (Konrad-Adenauer-Stiftung 2014, 4) und durch diese »Entpflichtung« das Lernen von Verantwortung und Leistungsbereitschaft ihrer Kinder gerade in verstehbaren Alltagszusammenhängen einschränkt. Auch bedeutet die Übernahme von Aufgaben und das Helfen-müssen nicht nur eine lästige Pflicht, sondern es eröffnet dem Kind in konkreten Situationen die wichtige Erfahrung von Helfen-können. Dadurch erlebt es unmittelbar die Bedeutung eigener Kompetenzen und das fördert sein Selbstbewusstsein und die Entwicklung von Selbstwertgefühlen.
Auch für das Aufwachsen von Kindern mit Behinderung ist es wichtig zu reflektieren, wie der gemeinsame Familienalltag zu gestalten ist und welche Möglichkeiten der normalen Teilhabe an Tagesabläufen und an Übernahme von Alltagpflichten und Einbindung in Routinen erfolgen kann. Damit kann ohne Therapeutisierung des Alltags natürliches inzidentellen Lernen gelingen. Gerade bei Kindern mit Down-Syndrom sind nicht nur die durch die Trisomie verursachten Schwächen zu betonen und zu behandeln, sondern auch die individuellen Stärken und famliengebundenen Möglichkeiten und Kontextfaktoren sind zu berücksichtigen. »Das durch die genetischen ›Baupläne‹ vorhandene individuelle Entwicklungspotential kann indes nur durch das Erfahren von förderlichen Umweltbedingungen (enriched environment) und in der Regel zuerst in der Eltern-Kind-Beziehung ausgeschöpft werden« (Peterander 2013, 2). Zwar sind auch die spezifischen Förderbedürfnisse des Kindes mit Down-Syndrom zu sichern, aber ohne das Kind oder das Familiensystem durch zu enge Vorgaben und rigide Förderpläne zu überlasten und die Chancen und Ressourcen des familiären Alltagslebens gering zu achten.
Die meisten Eltern haben – trotz zunehmend häufigeren Angeboten der pränatalen Diagnostik – vor der Geburt ihres Kindes nichts von seinem Down-Syndrom gewusst. Nur wenn besondere gesundheitliche Probleme oder spezifische Abweichungen aufgefallen sind oder wenn aufgrund des mütterlichen Alters entsprechende pränatale Diagnoseverfahren in Anspruch genommen wurden, sind manche Eltern schon vorgeburtlich informiert. Die Mitteilung über die Behinderung ihres Kindes ist – unabhängig vom Zeitpunkt der Diagnose – für alle Eltern eine traumatische Erfahrung. Bei einer pränatalen Diagnose kommt aber noch hinzu, dass ein Entscheidungsdruck entsteht, welche Konsequenzen die Eltern aus dieser Information ziehen wollen und wie die Beratung erfolgt.
»Mit 43 Jahren ist Claudia noch einmal schwanger. Es ist ein Wunschkind, das sich da ankündigt … In der 12. Schwangerschaftswoche weist Claudias Frauenarzt sie darauf hin, dass sie zur Nackenfaltenmessung zu einem Pränataldiagnostiker gehen kann. Sie lässt sich eine Überweisung ausstellen und vereinbart einen Termin … Claudia berichtet von einem mulmigen Gefühl während der Untersuchung. Ihre Befürchtungen bewahrheiten sich … Der Arzt erklärt ihr, dass die Nackenfalte auffällig verdickt sei, eventuell sei ein Herzfehler nicht auszuschließen, und er vermute, dass das Kind ein Down-Syndrom oder ›Schlimmeres‹ haben könnte … Sie vereinbaren einen Termin zur Fruchtwasseruntersuchung … und haben dann die Gewissheit, ihr Kind hat das Down-Syndrom … Sie entscheiden sich für ihr Kind.« (Hennemann 2014, 16)
Die Auseinandersetzung mit der Mitteilung, dass ihr erwartetes Kind das Down-Syndrom haben wird, kann den Eltern erschweren, einen positiven Bezug zum Kind zu behalten und die Schwangerschaft auszutragen. Oft sind die erlebten emotionalen Belastungen und auch die empfundenen sozialen Erwartungszwänge sehr schwer auszuhalten (vgl. Stockrahm 2015, 35). Zudem wird das Kind durch die Aufzählung der erkannten Abweichungen oft zu einem Mängelwesen. Die Unsicherheit über die möglichen Ausprägungen der Behinderung und eventuelle zusätzliche gesundheitliche Beeinträchtigungen können weitere erhebliche Ängste verursachen. Aus diesem Grund sollte man gerade diesen Eltern – wenn sie es wünschen – Kontakt zu anderen betroffenen Familien vermitteln und eine ethisch verantwortete Beratung und Begleitung anbieten. Auf der Grundlage einer eigenen positiven Einstellung zu Menschen mit Behinderung sind die Eltern bei ihrer individuellen Entscheidungsfindung zu unterstützen und ihnen ist ein realistisches Bild vom Leben mit einem Kind, das das Down-Syndrom hat, zu vermitteln.
Wichtig ist auch, subtilen Zuweisungen von Mitverantwortung für eine selbst gewählte besondere Familiensituation in der Öffentlichkeit entschieden entgegen zu treten. Solche Einstellungen erschweren nicht nur den Eltern, eine Entscheidung zu treffen oder ihre neue Lebenssituation zu bewältigen, sondern können auch zu einer Entsolidarisierung von Hilfe und Verantwortung für behinderte Menschen und ihren Familien führen.