Manfred Höhne

Meine irdischen und
himmlischen Wege

Bericht über eine ungewöhnliche Liebe

und die letzten Wege

Zueignung an den Leser.

Wohl dem Elternhaus und der Erziehung dort geschuldet, habe ich mir schon in früher Jugend Gedanken gemacht, welchen Weg die Seele einmal gehen wird, wenn sie ohne die Robustheit und Weltbezogenheit des Leibes auskommen muss. Dass es da eine solche geben muss, mit dem das gebündelte unverwechselbare Ich mit einer Spur dieses Ichbewusstseins einem künftigen Aufgabenfeld zuwandelt, war mir immer unerklärte Gewissheit. Wahrscheinlich wohl, da ich früh schon mich mit griechischer Mythologie und Philosophie besonders der platonischen Welt beschäftigt habe. Die Existenz eines allgewaltigen Schöpfers, den wir gern der Nähe wegen auf einen ‚Lieben Gott‘ reduzieren, kann darauf allein keine Antwort geben. Deshalb haben die Religions- stifter aller Couleur, von der bunten Götterwelt der Antike bis zu den Eingottwelten, den eifersüchtigen Göttern zur Sicherung ihrer Macht über die Menschen und ihre Seelen eine Fülle von Geistern mitgegeben, die helfen sollen, das Ziel für die irrende Seele zu finden. Das wurde bei allen diesen Religionsstiftungen, die immer Offenbarungen des Göttlichen waren, die auf Bergen oder in der Askese von Einöden statthatten, sehr schnell zum Selbstzweck, zur Entfaltung einer irdischen Machtfülle, die schon zu Lebzeiten die Seelen in die völlige Unterwerfung nahm. Dazu dienten die Tempel, in die sie die Götter sperrten. Das verstanden die Menschen in ihre Katen und Lehmhütten: lebten die Fürsten doch schon in Palästen, so erst recht auch die mächtigen Götter in schlossgleichen gewaltigen Tempeln, die unsere Dome und Kathedralen, die Moscheen, die Basiliken, die Mischkans, Synagogen, die Mandirs, Bots, Zendos, Hounfours, Tempel und Shintoschreine sind.

Da aber der vorgegebene Zweck immer die irrende Seele und ihr Heil blieb, von der niemand etwas wusste, aber alle etwas wissen wollten, bedurfte es eines von Laien nicht mehr durchschaubaren theoretischen Konstrukts aus Belohnung und Strafe. So leben wir in einem Korsett aus Geboten und täglichen Ritualen für dieses imaginäre Heil unserer Seelen. Allein die Christlichen Theologien in ihrem historischen Wandel sind solch komplizierte Konstrukte, dass es vieler tausend Schriftbände bedarf, um sie in einer unverständlichen Sprache zur einzig unumstößlichen Wahrheit zu machen. Den Weg der suchenden Seele aber weisen sie nicht! Aber ich will nicht in mein Buch hineingreifen. Ich will erklären, wie es zu dem Buch gekommen ist.

Es war ein Zufall, als ich mit meiner alten 350 Zweitakter Java von Sonderborg auf Jütland mit der Fähre zur Insel Fyn übersetzte und mein Zelt am Schloss Egeskov aufschlug. Dort war ich gefangen, vom ersten Augenblick! Heute zählt man diesen Ort zu den 15 schönsten Plätzen der Welt. Ich fing an die beiden gewaltigen Rundtürme des Wasserschlosses auseinanderzuziehen. Ich schob das Schloss mehr vom Ufer hinaus auf den See. Ich fügte ihm als Pendent zwei gleich schwere Türme im Süden hinzu, nahm Zierrat von den Dächern, bis ich es fertig hatte, wie ich es immer in meinen Träumen sah. Ich band das Schloss an meine Java und zog es von See zu See. An tausend Seen. Am längsten schob ich es in den Inari See, oben in Lappland Schwedens.

Aber immer fehlte mir etwas. Auf dem Heimweg über Kemi, Uppsala, Linköping, Malmö und Trelleborg habe ich es dann irgendwo stehen gelassen. Aber los ließ es mich nicht wieder! Und wieder war es ein Zufall, dass ich die Stelle fand, wo es bleiben sollte. Es war dies ein kleiner Stausee, der etwa in der Mitte eines großen Dreiecks gelegen ist, das von Erfurt und Weimar im Norden und dem kleinen Stadtilm im Süden gebildet wird. Der See liegt eingebettet in einem waldreichen Landschaftsschutzgebiet, das von der Ilm durchflossen wird, und deshalb Ilmtal heißt. Er selbst ist nach der 400 Seelengemeinde Hohenfelden benannt, im Norden des Sees gelegen, und wird von dem gestauten Krummbach gebildet, der hier eines der schönsten Erholungsgebiete Thüringens geschaffen hat.

Ich wusste sofort, dass hier mein Egeskov würde liegen müssen. So suchte ich es wieder, wo ich es verlassen hatte, band es an mein Wohnmobil und zog es an diesen See. Hier liegt es nun, in sauberem Wasser, 40 m vom Nordufer entfernt, das schönste Wasserschloss der Welt, Burgschloss Hohenfelden. Aber immer noch fehlte mir eines, was dem Ganzen Sinn macht, das alles aufzuschreiben.

Erst als ich Anna-Maria, Rebecca, Mercedes in das einmalige Haus hineinsetzte, fingen die steinernen Mauern an zu leben und wurden zur Herberge, und an den Dornen brachen Rosen auf. Und ich wusste, dass ich zu Hause war und die Seele ein Ziel hat. Ohne Ziel bleibt die irrende Seele ein Rudiment der Schöpfung! Zwei gemeinsame Jahre waren ausreichend, zu dieser Gewissheit zu kommen, zu dieser Überzeugung des Lebens von Sinn und Ziel. Ich weiß, dass diesen Jahren etwas Sündhaftes anhaftet, wenn man von konventionellem Denken sein Leben bestimmen lässt. Aber ist nicht das Sündhafte Triebfeder aller religiösen Unterwerfung? Ist religiöse Überzeugung überhaupt ohne menschliche Sünde denkbar?

Dass die Reflexion dieser kurzen irdischen Spanne an die Grenzen unserer Konventionen reicht, wird mir der Selbstsuchende verzeihen. Und auch, wie profan ich zu meinem Traum von Egeskov gekommen bin.

Nimm deshalb, lieber Leser, zwei oder drei der wichtigsten Jahre deines Lebens und verbinde sie mit dem drängendsten spirituellen Anliegen, das dich bewegt, und du wirst wissen, welchen Weg deine Seele nimmt. So kommen wir vielleicht gemeinsam dem Phänomen des Weges unserer Seelen ein Stück näher und machen uns frei von dem Druck der anmaßenden Päpste, die ihren Anspruch des Allwissens von einem nie erteilten göttlichen Auftrag her ableiten.

Für alle, die hier erst mit dem Lesen beginnen, ein
kurzes Vorwort.

Die Seele eines gealterten Mannes wandert nach Verlassen ihres irdischen Leibes in einem Millionenheer von Seelen auf dem Weg des ‚Zwischenzustandes‘, nach christlicher Katechese, den unbekannten Pfad zu einem unbekannten Ziel. Sie hat Zeit, sich mit der Sinnhaftigkeit ihres Weges auseinanderzusetzen, jeden ihrer Schritte tausendfach zu hinterfragen und erreicht ein frappierendes Ziel, das ihr schon einmal begegnet war.

Doch die Bindung an das im irdischen Diesseits Zurückgelassene ist so stark, dass sie auch ihr irdisches Leben reflektiert. Aber sie geht nur eine kleine Spanne durch dieses Leben, die letzten Jahre, die glücklichsten und erfülltesten eines langen Lebens.

Jahre, die von einer ungewöhnlichen, ganz und gar unkonventionellen, ja fast beängstigenden Liebe erfüllt waren. Lernen Sie dabei Anna-Maria kennen, die diesen
Lebensweg begleitet hat.

 

Der Mensch tritt in die Welt mit geschlossenen Händen
und nimmt sie in Besitz. Wenn er sich anschickt, die Welt wieder zu verlassen, sind seine Hände gestreckt, als wolle er sagen: Ich werde nichts mitnehmen, siehe alles ist dein.

Midrasch, Kohelet rabba 5,14

Kap 1

Noch schweben die letzten Töne des Trios, getragen und dem Anlass angemessen, über die Köpfe der Menschen in der Kapelle auf Hohenfelden, als sich der Organist von Sankt Marien zum zweiten Mal auf das enge Pult vor der kleinen Barockorgel zwängt und das alte Instrument zum Klingen bringt.

Es ist seine Lieblingsorgel, die er, so oft er nur Zeit fand, bespielte und für deren Instandsetzung und Stimmung er sich bei dem Grafen leidenschaftlich eingebracht hatte.

Heute bedankte er sich dafür mit eigenen Kompositionen in G-Dur und H-Moll, deren Akkorde und Kadenzen er über die beiden eingebauten Verstärker, hinter dem Altar und auf der Empore, zu einem Raumtonerlebnis zusammenführte und in den Raum und die Doppelkapelle hineinjagte, sich förmlich überschlagend, in den tiefen und hohen Tönen. Die ehrwürdige Orgel hatte nur ein Manual und ein Pedal mit 34 Tönen, aber sie hatte mit einer wundervollen Stimme die Jahrhunderte überdauert.

Das war die offizielle Version, denn die Instandsetzung war mehr ein Nachbau der mittelalterlichen Orgel, der erst vor zwei Jahren von Seiffert, dem Schüler des Meisters Winold van der Putten erfolgt war.

Albrecht irritierte die jagende Fülle; er liebte die leisen Töne. Vor allem aber hatte er den Patron geliebt, verehrt und geachtet, obwohl er erst vor fünf Jahren in seine Dienste getreten war. Seine Frau Hanna aber war offensichtlich berauscht von der Musik und ich sah, wie gebannt sie sich den Orgelklängen hingab.

Zwischen beiden saß Anna-Maria in einem schwarzen Kleid und einem ebensolchen Hut, mehr einer Kappe, die leicht nach vorn gesetzt, wie die Kappe einer Stewardess aussah, und mit einem kleinen Schleier aus schwarzem Tüll über den Augen abschloss. Sie wirkte in dieser Bekleidung der Trauer auf mich seltsam fremd, so erwachsen und doch so tief vertraut.

In der ersten Reihe hatte die Familie Platz genommen. Lothar, Almuths Sohn aus erster Ehe mit Ning und Mila, die Witwe, Bertram und Susanne. Ivette war auf den Malediven und hatte eine Kondolenz geschickt. Auf der anderen Seite des schmalen Ganges saßen Maibrit, Gunnar und Sören. Neben ihnen der pensionierte Pfarrer Giese von Sankt Marien, der die Kapelle nach ihrer Renovierung und dem Einbau der Glasfenster wieder geweiht und auch die Taufe von Mila hier vollzogen hatte.

In der zweiten Reihe, neben Albrecht, Anna-Maria und Hanna saß der alte Arzt der Familie Dr. Haussmann in seinem Gehrock, den er nur zu besonderen Anlässen trug. In den weiteren Bänken dahinter, immer zu viert oder fünft, wie es der Platz hergab, der Landrat, die Bürgermeister von Kranichfeld und Hohenfelden, die beiden Vorsitzenden des Landesverbandes Sachsen - Anhalt - Thüringen der Johanniter und des Regionalverbandes ‚Mittel Thüringen’ und einige Männer, die ich nicht kannte. Sie kamen wohl von der Bundesvermögensverwaltung, dem Bundes- schatzamt und dem Kanzleramt.

Oben auf den Plätzen der Empore ging es noch enger zu: der Kreisjägermeister mit seinen Vertretern, der ‚Heimatverein‘, der ‚Wandertag‘, die Vorstände der Angler und des Turnerbundes.

Sie alle hatten sich der steten Zuwendung des Verstorbenen sicher sein dürfen, wenn der finanzielle Schuh irgendwo drückte und fast alle diese Vereine hatten den Reichsgrafen Gunther Hagen von Grainau-Solms zu ihrem Ehrenmitglied ernannt oder ehrenhalber in ihre Präsidien aufgenommen.

Albrecht hatte die geladenen Gäste nach ihrem Defilee am Sarg des Verstorbenen in der ihm aufgetragenen Reihenfolge auf die beiden Kapellen, den Altarraum und die Empore, verteilt und die Fülle der Blumen so um den schlichten Sarg gehäuft, dass man eben noch daran vorbeigehen konnte.

Anna-Maria war die einzige unter den Trauergästen, die am Sarg des Verstorbenen niederkniete. Es war ihre ganz eigene Art immer niederzuknien, wenn ihr etwas besonders nahe ging und wichtig schien.

Zwischen dem am Altar aufgebarten Sarg und der ersten Bankreihe, gegenüber der Kanzel war das Trio mehr eingeklemmt als platziert; eine Violine ein Bass und eine Harfe. Besonders die zarte Frau an der Harfe hatte - auch mit zwei Soli aus ‚Time for Harp‘ der Ulla van Daelen - eine außergewöhnliche Feierlichkeit in den Raum gebracht, die über den angesagten Anlass der Besinnung hinausging. Besonders ihre Kunst des Flageoletts und der enharmonischen Verwechslung, sowie das abschließende Arpeggio unterstrichen diese Wirkung einer besonderen Feierlichkeit.

Mich irritierte befremdlich, dass mich wohl die ganze Atmosphäre berührte, nicht aber der hölzerne Sarg unter der Last seiner Blumen.

Die unvermeidlichen Reden bei einer protestantischen Beerdigung eröffnete nach alter Familientradition Bertram, der seinen Vater schilderte, als einen Menschen, dem seine Kinder über alles gingen. Er nannte ihn einen engagierten Architekten und einen dem sozialen Engagement tief verpflichteten Menschen. Die kleine mollige Pastorin, die Nachfolgerin von Pastor Giese, übernahm dann in ihrem theologischen Part das Wort der Vorbereitung auf das Seelenheil des Verstorbenen, wobei sie sein besonderes Schöpferbild in den Mittelpunkt stellte. „Aber ", so sagte sie „er ist als evangelischer Christ geboren, getauft und gestorben im christlichen Glauben seiner Väter.“

Kein heroisierendes ‚‘Gesafte‘, keine faulen familiären Lügen! Sie sprach von der Frömmigkeit. Sie nannte den Verstorbenen ‚ ‚tief religiös‘, aber nicht im Sinne einer der etablierten Weltkirchen mit ihren eigenen oft kontroversen Maßstäben von Frömmigkeit. Sie sagte, „ der Tote habe nie auf Altären einem Gott geopfert, nie in der Erfüllung der von Menschen erfundenen Rituale einen Akt der Frömmigkeit gesehen. Sondern er habe versucht, eine zu leben, die den Katechismus der Gebote und Dienste sprengte, und er war bemüht, sich an einem Gewissen auszurichten, von dem er glaubte, das es eingeht in eine geistig-moralische Konzeption des Menschseins.“

Wer der Pastorin das wohl gesagt haben mochte?

Das konnte nur Anna-Maria gewesen sein. Es wurde aber heute in diesem Kreis mit großer Aufmerksamkeit aufgenommen. Dabei kannte ich den Verstorbenen wohl am besten, Anna-Maria vielleicht ausgenommen. Seine Stärken und Schwächen, seine Gefühle, seinen wachen Verstand und seinen Unverstand, wenn ihm menschliche Schwäche begegnete. Seinen beharrlichen Willen und dessen unvermittelte Aufgabe, wenn er mit Bitten und Wünschen konfrontiert war. Ein starker Charakter, aber zu schwach, wenn die Durchsetzung seines Willens Skrupellosigkeit und Härte erforderten. Er wäre nie ein Usurpator geworden!

Ich habe das Bedürfnis, Anna-Maria auf den Nacken zu küssen, doch die Enge des Raumes ließ dies nicht zu. Aber sie spürte es wohl, denn sie fasste mit beiden Händen nach ihrem Nacken und drehte den Kopf zur Seite, wie immer, wenn sie dieses Gefühl festhalten wollte.

Noch einmal spielte das Trio, und der Organist von Sankt Marien ließ mit einer beeindruckenden Virtuosität die kleine Orgel die Feierstunde beenden.

Die junge Pastorin gab den Herren, die an der Innentür der Kapelle standen, das Zeichen, um ihr Werk zu beginnen. Sie öffneten die Tür zum ersten Innenhof der Burg und vier Männer der Johanniter trugen den Sarg vom Altar durch den Gang zwischen den Bankreihen hinaus.

Hinter dem Sarg reihten sich die Männer und Frauen, so, wie ihnen die Plätze im Raum zugewiesen waren. Bertram und Lothar hatten die Witwe und Anna-Maria in die Mitte genommen, ihnen folgten die Frauen, die Vertrauten und die Ehrengäste.

Als der Sarg an mir vorüber getragen wurde, spürte ich noch einmal, dass mich nichts mehr mit dem Leichnam in dem Sarg verband. Das berührte mich zu tiefst, umso mehr, wie mir die Zwiespältigkeit der Zusammengehörigkeit von Leib und Seele bewusst wurde.

War dies schon das neue Denken, das mich erwartete und an dessen Schwelle ich stand? Dies beunruhigte mich, vor allem, da dieses ganze Aufgebot hier mit seinen Reden, seiner Musik, seinen Blumen und vereinzelten Tränen doch allein mir galt und mich selbst betraf.

 

Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dachte; sie sah den Körper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie etwa man ein Kleid ansieht

Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre

 

Jede Seele ist bewegt und unsterblich

( Sokrates ) Platon,Phädros 51

Kap 2

Der lange Trauerzug bewegte sich durch das Burgtor, über die Brücke bis zu dem kleinen Familienfriedhof am Anfang unseres Waldes. Das Grab war neben dem von Mathilde, der Reichsgräfin von Grainau-Solms und dem Erinnerungskreuz mit den Urnen von Graf Thilo, seiner Frau und den beiden Kindern, ausgehoben. Ein mannshoher Engel aus schwarzem Marmor, den Graf Gunther schon zu Lebzeiten erworben und hatte aufstellen lassen, sollte über seinem Grab wachen.

Die Träger stellten den Sarg auf einen Halt über dem ausgehobenen Grab und die Trauergäste nahmen davor in einem weiten Halbrund Aufstellung. Aus dem angrenzenden Wald war ein Mann getreten und spielte auf einer silberglänzenden Trompete ‚Il Silenzio‘, während die Träger den Sarg an den Seilen herab ließen.

Als das Trompetensolo verklang, sprach die Pastorin einen letzten Segen und die Trauergäste verabschiedeten sich von dem Toten, wie es bei einem christlichen Begräbnis üblich ist. Zuerst die Witwe, die Kinder, Anna-Maria, die Vertrauten und Freunde. Albrecht war der erste, der der Familie folgte, dann Hanna und Hausmann. Gunther hatte seinem Sohn in einem verschlossenen Brief schon zu Lebzeiten gebeten, Anna-Maria an das Grab zu begleiten. Und dies erwies sich als richtig und notwendig. Als sie die Erde eingestreut hatte, glitt ihr die Rose, die ihr Abschied sein sollte, aus der Hand und sie sank in einer plötzlichen Ohnmacht in die Arme ihres erschrockenen Vaters.

Es war aber nur eine kurze Blutleere im Kopf, denn sie konnte, auf den Arm ihres Vaters gestützt, das Defilee der Trauergäste mit ihren Eltern und der Familie des Verstorbenen entgegennehmen.

Sie hatte sich schnell erholt. So konnte ich hinter sie treten und ihr ins Ohr flüstern: „Lass mich nun los, ich muss jetzt dem Licht folgen. Ganz sicher werde ich bald wieder bei euch sein als euer Schutzengel und über euch wachen.“

Sie musste es verstanden haben, denn sie hob ihre nach vorn gesunkenen Schultern und den Kopf, wie um zu zeigen, dass sie sich meiner Bitte nun stellen wollte.

Da lösten sich meine Füße zunehmend vom Boden und ich konnte über den Reihen der Trauernden schweben und ich sah klarer, was diese Trauergemeinde verband und unterschied: Konvention, Respekt, Neugier und echte Trauer.

Der Trompetensolist war noch einmal hervorgetreten und hatte den ‚Zapfenstreich‘ angestimmt, den sich Gunther schon zu Lebzeiten für diese Stunde gewünscht hatte; den der Solist mit unterschiedlicher Lautstärke so lange spielte, bis der letzte der Trauergäste sich von dem Verstorbenen verabschiedet und der Familie kondoliert hatte.

Die Gäste, die eine Einladung zum Trauermal erhalten hatten, strebten dem Schloss zu, die übrigen den Parkplätzen.

Anna-Maria, am Arm ihres Vaters, war noch einmal an das Grab getreten, um dort eine kurze Zeit zu verweilen. Ich hatte den für unser Leben schicksalhaften und alles bestimmenden Eindruck, als ob sie noch einmal den Kontakt zu mir suche.

Ich aber hob mich schwebend und folgte, ohne mich umzuwenden, dem Licht, dem ich schon einmal gefolgt war. Dem Licht, das so viel intensiver war, als das Licht aller Sonnen und dennoch so mild und so verheißend.

 

Ein großes Licht wird sein, und alles, was hier schön ist, wird dort nichts sein. Unsre Augen werden glänzen wie fein Silber, unser Leib wird leicht wie Flaum dem Licht und dem Willen folgen.

Martin Luther

Kap 3

Die Straße war unendlich lang. Sie führte schnurgerade zum Horizont und sicher darüber hinaus. Das Licht, das mich wie ein Sog hierher geführt hatte, war zu einer riesigen untergehenden Sonne zusammengezogen, die zu einem Drittel unter dem Horizont stand. Wohl hunderttausende, wie ich von der Erde Abberufene, strebten auf dem Weg diesem Lichtball entgegen, ohne sich umzudrehen oder nur zurück zu blicken. Es gab kein Zurück mehr, nur ein Voran in eine unbekannte und ungewisse Zukunft.

Wir liefen zu fünft oder dritt, eine feste Ordnung gab es nicht. Rechts neben mir liefen ein Mann und eine Frau, die ich beide kannte, aber nicht einzuordnen wusste. Die Frau, mir am nächsten, hatte ein fürchterliches Gesicht und eine Nase, die allein schon dafür gesorgt habe mochte, dass sie unverheiratet blieb. Ich war ihr schon wiederholt begegnet, aber es gelang mir nicht, einen Bezug zu ihrem Beruf oder zu einer Aufgabe herzustellen. Ebenso erging es mir mit dem Mann neben ihr.

Vor uns liefen zwei Männer, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet waren und grobe Leinentüchern über ihren Schultern trugen. Ihre Arme und Beine zeigten von geronnenem Blut überkrustete Wunden, die auf eine brutale Gewalteinwirkungen schließen ließen. Sie erinnerten mich an ein Bild von Golgatha, an die Schächer neben dem Gekreuzigten. Aber was hatten beide, wenn sie es denn waren, hier zu suchen? Lag doch ihr Tod am Kreuz 2000 Jahre vor dem meinen. Und hatte Jesus Christus ihnen nicht zugesagt: „Heute noch werdet ihr mit mir im Paradiese sein.“ Gab es da eine himmlische Bürokratie, die das Wort des Sohnes Gottes in Zweifel ziehen durfte?

Was sollten wir überhaupt hier tun auf diesem langen Weg? Selbstprüfung? Aber mit welchem Ziel und nach welchem Maßstab?

Es war mir nicht gegeben zu erkennen, was jeder einzelne dieser Tausenden, die hier auf dem Weg waren, für einen Auftrag auf den Schultern trug. Sollten wir alle nur über unser Leben nachdenken, um zu einem eigenen kritischen, von Selbstgerechtigkeit freien Urteil zu kommen? Oder hatte jeder einen anderen, konkreten Auftrag der Selbstbefragung?

Ich spürte, dass solche Fragen immer noch menschlicher Logik folgten. Aber ich war es über 80 Jahre meines Lebens eben gewohnt, in meinem moralisch determinierten und durch die gesellschaftlichen Verhältnisse dreier politischer Verhältnisse bestimmten Leben, klaren Vorgaben folgen zu müssen. Ob ich ihnen folgte, war immer meine Sache; wo ich faule Kompromisse einging, habe ich mich jahrzehntelang selbst kasteit.

Bräuchte man zu einer Selbstprüfung nicht kritische Fähigkeiten? Was war mit den Menschen, denen es a priori an diesen durch einen geistigen Defekt mangelte und ihnen gar nicht möglich war, solche zu entfalten? Oder solchen, denen es nicht an der Fähigkeit, aber an der Bereitschaft dazu fehlte? Was war mit denen, deren geistiger Mangel sie vom Wissen um den Wertecanon ihrer Kultur und dem Katechismus ihrer Religion ferngehalten hatte? Oder gar mit denen, die eine Vergebung der Sünden durch Reue in ihrer Religion überhaupt nicht kannten, die einmal ausschließlich nach ihren Taten beurteilt werden sollten?

Durch die gleiche Instanz, der ich glaubte auf diesem Wege zu zustreben oder eine andere moralische Autorität?

Oder - und das war eine der makabersten Fragen, die ich mir stellte - was war mit den Tausenden, die sich schon beim Bau des Petersdomes in Rom den Erlass ihrer Sünden durch ‚Ablass‘ der katholischen ‚Etzel‘ gesichert hatten?

Ich merkte, dass ich wieder bei den Fragen meiner Religion war, die ich nie richtig verstanden hatte.

Aber ich sollte wohl nicht so viel fragen, sondern eher mich befragen. Doch es gelingt mir kein Einstieg.

Was ist mit denen, die als Kind von den Eltern zur Taufe getragen und so zu Christen wurden und denen, die sich erst im späten Leben hatten taufen lassen oder nie? Und was mit denen, die aus Abscheu vor der Unzucht der weltlichen Kirche, der christlichen Gemeinschaft den Rücken gekehrt haben?

Ist solch eine einseitige Entscheidung der Abkehr nach der Taufe überhaupt möglich? Alle diese Fragen sind von den großen Kirchen wohl schon beantwortet, von jeder etwas anders oder gänzlich verschieden, je nach ihrem Gusto.

Ich habe alle diese Vorstellungen, Auslegungen und Rechtfertigungen gelesen. Jetzt wo ich sie prüfen möchte, mit der Wirklichkeit vergleichen könnte, - von der ich nun etwas erfahren werde, das ist mir Gewissheit -, ist mir die Erinnerung gerade an dieses angelesene Wissen verlustig gegangen. Ich habe mich mit so viel unnützem Wissen vollgestopft; jetzt wird mir bewusst, was parat zu haben, wichtig wäre.

Es gelingt mir nicht, in die großen und kleinen Sünden der Kindheit, ,in die Notlügen‘ bei selbst verschuldeten Verspätungen, vergessenen Terminen, unterlassenen Anrufen zu Geburtstagen der Freunde, Unfreundlichkeiten an der Kaufhauskasse, die immer drängelnde Ungeduld in ungeliebten Wartesituationen, erinnernd und vielleicht reuend einzutauchen. Auch in die vielen erkennbaren Sünden der Mitte des Lebens, des Lebenskampfes, der Behauptung gegen eine Welt gänzlich anderer Interessen, vorzudringen und sie mir kritisch bewusst zu machen, gelingt mir nicht.

Mein Denken verengt sich immer wieder auf den letzten Abschnitt meines Lebens, auf das wunderbare Domizil, in dem ich Anna-Maria, Mercedes des ersten Mal begegnet bin. Ich gewinne die Überzeugung, dass es mein Schicksal wohl sein soll, nicht selbstquälerisch und endlich doch vergeblich, nach lange Vergessenem zu suchen, sondern allein den Gedanken zu folgen, die sich mir aufdrängen.

Kap 4

Gunther-Hagen legte den Griffel beiseite und ordnete die vier beschriebenen Seiten in das Manuskript seines neuen Buches. Wenn er einen Gedanken nicht sofort festhielt, war es schwer, ihn wieder zu finden. Deshalb lag sein Diktaphon und ein kleiner Stapel Papier mit seinem Griffel immer in Reichweite. Er liebte diese altfränkischen Bezeichnungen und belegte damit alle ihm wichtigen Dinge seiner kleiner werdenden Welt. Sein Griffel war natürlich kein Griffel, wie er ihn in den ersten beiden Schuljahren in einem Holzkästchen immer im Ranzen parat haben musste.

Das Anspitzen der Griffel war ihm ein Gräuel, aber es gehörte, wie das Auswaschen des Schwammes zu den Grundpflichten eines ABC Schützen, dem die Übungen auf der Schiefertafel als Quelle künftiger Erkenntnisse und Fertigkeiten nicht nur Mühsal, sondern Freude bereiten sollten. Wenn es ihm gelang, Buchstaben in etwa der gleichen Länge und Breite und dem vorgeschriebenen Neigungswinkel auf die Tafel zu bringen, bereitete ihm dies eine Spur von Befriedigung, wie heute, wenn er glaubte, den richtigen Abschluss für ein Kapitel gefunden zu haben.

Sein Griffel heute, war ein handlicher Kugelschreiber, dessen Mine dreimal solange reichte, wie die schmalen Wegwerfschreiber, die bei Aldi am Zeitschriftenständer zum Verkauf ausliegen. Die Minen zu beziehen, gestaltete sich zunehmend schwierig aber er hatte zwei Dutzend über eBay ersteigern können und schätzte ein, dass dies für die ihm noch verbleibende Lebenszeit ausreichen würde.

Seine Mutter, eine Hugenottin, sprach auf dem Bahnhof stets von Perron und auf der Straße von Trottoir, und da wir diese Namen nur von ihr verwendet hörten, personifizierten wir sie. Wie er heute seinen Griffel, der ihm nicht nur Objekt sondern Subjekt war.

Natürlich musste er bei der Verwendung mancher Begriffe aufpassen, dass seine Frau Almuth sie nicht als die zeitgemäß üblichen verwendete. Es hatte einmal im Freundeskreis für große Heiterkeit gesorgt, als sie von ‚Base‘ und ‚Muhme‘ sprach - Begriffe, die man für gewöhnlich nicht im Grundkurs der deutsche Sprache lernt, sondern als Cousine und Tante für den späteren allgemeinen Sprachgebrauch.

Sie war in Hongkong geboren, hatte dort 6 Jahre die englische Schule besucht und das Deutsche nur von der Mutter gelernt. Mit der deutschen Sprache hatte sie sich erst wieder intensiv beschäftigt, als Gunther sie vor 30 Jahren als seine Frau mit nach Deutschland nahm.

An diesem Nachmittag hatte er eine Besichtigung geplant. Eine gute Stunde hin, in Thüringen. Für ein zur Versteigerung stehendes Wasserschloss war ein Besichtigungstermin eingeräumt. Einen Lebenstraum würde er sich mit dem Erwerb erfüllen. Schon das Hinschauen war ihm wichtig. Nur sprechen durfte er nicht darüber, das hätte eine Lawine von Vernunft - und Gegenargumenten ausgelöst, die ihm schon die Freude an diesem Hinschauen genommen hätte.

Nach dem Mittagessen fuhr er los mit der Vorgabe eines Zieles, von dem er sicher sein konnte, dass Almuth kein Interesse daran haben würde, ihn begleiten zu wollen.

Er war fast eine halbe Stunde eher am Ziel, als der Besichtigungstermin angesetzt war.

So hatte er Zeit, das gewaltige Bauwerk von außen zu inspizieren. Es war in der Tat ein gewaltiger Komplex, viel größer, als er aus der Internetbeschreibung entnommen hatte. Es war ein richtiges Wasserschloss, nicht von einem Algen bedeckten Rinnsal umflossen, sondern mitten in einem See stehend, rechts und links von Wasser umgeben, mit einem Abstand von 50 bis 100 m vom Ufer entfernt. Nur die Zufahrt vom Nord-Osten lag näher zum Land.

Eine - mit seinem Schrittmaß von 80 cm ermittelte -etwa 40 m lange, in den See hinein gebaute Brücke auf sechs Bögen verband das trutzige Tor mit dem felsigen Ufer.

Zwei gewaltige Rundtürme begrenzten die Bastionen, die zu keinem Schloss, sondern zu einer Burg gehörten. Jeder der Türme hatte wohl einen Durchmesser von 10 m, dazwischen ein Mittelteil von circa 25 m ohne Fenster, nur mit Schießscharten und mit Zinnen auf der umlaufenden Wehrmauer.

Gunther-Hagen lief den schmalen Fuß- und Radweg, der nach Osten um den See führte, ein Stück entlang, bis er einen Blick auf die Ostseite des Komplexes werfen konnte. Wie im Angebot beschrieben, waren die Dächer neu eingedeckt, was ein Vermögen gekostet haben mochte. Den Abschluss zum See im Südosten bildeten wieder zwei Rundtürme, die die gleichen Maße, wie die landseitig gelegenen zu haben schienen.

Auf der Westseite, mehr südwestlich - die Achse der Anlage lag in Nordwest-Südost, was er am Stand der Sonne ziemlich genau bestimmen konnte, - bot sich ihm fast das gleiche Bild. Nur fehlten hier die vorgebauten Bastionen, wohl deshalb, weil ein Angriff von dieser Seite mit mittelalterlicher Kriegstechnik nicht zu erwarten war. Der Abstand zum Ufer betrug hier mehr als 100 m; eine Invasion hätte also mit Schiffen erfolgen müssen.

Gunther beschloss nun die Burg zu betreten und nach der avisierten Besichtigung zu fragen.

Sie war ausgeschildert.

Das Burgtor - aus der Nähe noch uriger wirkend als vom Brückenaufgang - führte durch wahre Zyklopenmauern auf einen Hof, der von einem zweigeschossigen Quergebäude abgeschlossen war. In der Mitte dieses Quergebäudes, über eine mehrstufige Freitreppe, kam er im Hochparterre zu dem offensichtlichen, herrschaftlichen Zentrum des hier in neugotischem Stil aufgeführten Schlossbaues, wo die Besichtigung beginnen sollte.

Er hatte eine Vielzahl Interessierter erwartet, aber er traf nur auf ein Ehepaar, Mitte 40, dass er begrüßte und sich dann, wie dieses auch, mit der Inspektion des Foyers beschäftigte, seinen fernöstlichen Statuen und den imposanten Glasfenstern. Pünktlich um 15 Uhr kam ein etwa 50 jähriger Mann, der sie bat noch einige Minuten zu warten, da er das Hoftor abschließen wollte.

Ihm war die Enttäuschung über die geringe Anzahl von Interessenten sichtlich anzumerken.

Die Führung dauerte nur gut eine halbe Stunde. Sie führte vom Foyer des Festsaals, der die gesamte Ostseite des Querhauses einnahm und in den wir einen Blick werfen durften, über eine zweiläufige Mitteltreppe in das Obergeschoss. Von dem kleineren Foyer im Obergeschoss wurden wir rechtsseitig, entlang eines zweiten Innenhofes, zum westlichen Rund-Turm des Südflügels geführt.

Der Petent auf der Ostseite blieb ausgespart, da er mit den angrenzenden Räumen von der Besitzerin, der Reichsgräfin von Grainau- Solms bewohnt wurde.

Über eine breit ausgelegte Wendeltreppe gelangten wir in das Untergeschoss des Südflügels, das noch keine Renovierung erfahren hatte. Von dort, über den zweiten Innenhof, durch ein das mittlere Querhaus passierendes Tor, kamen wir wieder zum Haupttor an dem uns der Gide verabschiedete und zum Versteigerungstermin in vier Wochen, hier im Festsaal des Schlosses, einlud.

Über die steinerne Bogenbrücke lief Gunther-Hagen wie in einem Trancezustand, wie in einem Traum, der ihn verzaubert hatte. Ihn überkam so etwas wie eine innere Überzeugung, er müsse dieses Domizil haben und auch, dass er darum kämpfen würde.

Kap 5

Zum Versteigerungstermin waren außer Gunther und dem Ehepaar, das er schon bei der ersten Besichtigung gesehen hatte, nur zwei Männer erschienen, die sich so gesetzt hatten, dass sie sich unauffällig beobachten konnten. Sie sahen aus wie Vertreter eines Pensionsfonds, die den Erwerb des Hauses nur unter dem Gesichtspunkt des Weiterverkaufs und einer Gewinnoptimierung sahen und nicht in Absicht, hier zu wohnen.

In dem Festsaal, dessen Pracht der Spiegel und Lampen, Konsolen und dem Plafond aus römischer Götterwelt, mit Venus, Aeolus, Aurora und Amor, und den umlaufenden Säulen mit korinthischen Kapitellen, so frisch wirkte, als sei die Renovierung erst vor wenigen Tagen abgeschlossen worden, waren in Viererreihen Stühle gestellt, in denen sich die wenigen Interessenten verloren. Das Ehepaar hatte in der ersten Reihe Platz genommen, Gunther-Hagen in der letzten.

Zur angekündigten Zeit eröffnete ein schon grauhaariger Auktionator sein Ritual, das Gunther immer wieder faszinierte. Er war von dem Gedanken besessen, das Haus zu erwerben, wenn es zu dem Limit, das er sich eisern gesetzt hatte, möglich war. Das Anfangsgebot lag bei 2,4 Millionen. Für Gunther utopisch! Obwohl er seit der Besichtigung wusste, dass dieses Haus bestimmt das Doppelte wert war. Die Hemmschwelle des Erwerbes lag zweifellos in der Grunderwerbsteuer, der jährlichen Steuer- und Versicherungslast und der laufenden Unterhaltung. Ohne Personal war ein solches Haus nicht zu führen.

Es fand sich kein Bieter. Der Auktionator ermäßigte in Schritten von 100.000. Als sich bei zwei Millionen noch kein Bieter fand, brach er die Versteigerung ab und gab als zweiten Termin ein Wochenende im Mai bekannt. Dann würde das Anfangsgebot bei den Bankschulden der Besitzer liegen.

Gunther hatte das Gefühl, als sei er seiner Erwerbsabsicht schon ein Schritt näher gekommen. Das mochte auch an dem Vertrag liegen, den ihm sein amerikanischer Verleger für den Nachdruck und Vertrieb seiner letzten beiden Bücher angeboten hatte. Mit der Übersetzung ins Amerikanische würde auch der englische Markt erschlossen und vom Heimatgeschäft hoffte er, dass die Nachfrage noch anhielt.

Zum zweiten Auktionstag, vier Wochen später, waren fast alle Stühle im Festsaal besetzt und Gunther war froh, in der letzten Reihe noch einen freien Stuhl zu bekommen. Gunthers Herz sank in die Hose. Er hatte das bedrohliche Gefühl, dass ihm etwas schon lieb gewordenes genommen werden sollte.

Und dann ging alles viel schneller, als ihm so recht bewusst wurde. Der Auktionator rief das erste Gebot mit 1,4 Millionen € auf, das als Forderung der Bank an die Gläubiger ins Internet gestellt war. Gunther hob sofort seine Karte. Die Mehrheit der Anwesenden wartete wohl noch auf die glatte Million oder weniger. Gunthers Rechnung ging auf. Als der Auktionator 1,5 Millionen aufrief, gab es keine Bewerber. Auch die Männer in den abgewetzten schwarzen Anzügen, die auch im Saal anwesend waren und schon am ersten Auktionstag kein Angebot abgegeben hatten, gaben kein Gebot ab. Sie hatten wohl Order, nicht über das Eröffnungsgebot hinauszugehen.

Wie auch immer! Gunther war zufrieden mit seiner raschen Entscheidung. Diesen Preis würde er bei einem notwendigen Wiederverkauf mit Sicherheit auch erzielen. Umso mehr, als hier kein 20 prozentigen Versteigerungsaufschlag erhoben wurde, wie er bei Kunstauktionen üblich ist.

Während der Saal sich leerte, wickelte Gunther mit den drei Herren am Auktionstisch die notwendigen Einzelheiten ab. Erst einmal waren 250.000 € als Anzahlung, laut der Auktionsbedingungen, zu leisten, wozu Gunther einen Scheck ausstellte. Alle Unterlagen, Bauzeichnungen, Grundrisse und eine Übersicht der bisherigen Sanierungen, sollten ihm zugeschickt werden.

Gunther fragte die Herren neben dem Auktionator, die wohl dem Vorstand der Gläubigerbank angehörten, nach der Gräfin von Grainau-Solms, die noch im Haus leben sollte. Das wurde bejaht, und Gunther wurde an Frau Hanna Schütz, die Pflegerin der Gräfin verwiesen, die im Saal anwesend war und das Geschehen an unserem Tisch von der Tür aus aufmerksam beobachtete.

Als am Tisch das Notwendige abgewickelt war und Gunther sich von den Herren verabschiedet hatte, steuerte er zu dieser Frau, die ihn neugierig und mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck musterte. Dazu ließ Gunther sich keine Zeit, sondern bat sie, ihn bei der Gräfin zu einem Gespräch anzumelden. Das tat sie sofort über ein Handy, das sie in ihrem Jackenkleid bei sich trug. Sie sprach ein paar Sätze und trug sein Anliegen vor.

„In 20 Minuten wäre ein Gespräch möglich, die Gräfin sei auf diese Begegnung in ihren Räumen nicht vorbereitet", sagte sie nach dem Ende ihres Telefonats und bat Gunther herzlich vorab in ihre Wohnung, offensichtlich um ein eigenes Problem loszuwerden.

Sie hatte mit ihrem Mann und ihrer Tochter eine Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad in der oberen Etage des ersten Innenhofes auf der Westseite.

Sie bat Gunther in ihr Wohnzimmer und bot ihm eine Tasse Kaffee an. Offensichtlich hatte sie mit diesem Gespräch gerechnet oder gewünscht, dass es zu Stande käme.

Gunther fragte sie als erstes, wie es zu dieser Besitzaufgabe und Versteigerung des Schlosses gekommen sei, wo doch die Gräfin als Besitzerin noch im Hause lebte.

Frau Schütz berichtete, dass der Vorbesitzer, der Sohn der Gräfin, durch einen tragischen Unfall mit seiner Familie, seiner Frau und den zwei Kindern in Kroatien vor einem Jahr ums Leben gekommen sei. Die Banken hätten mit ihren Forderungen lange gewartet, nun aber das Anwesen versteigern müssen, da alle Verkaufsbemühungen gescheitert waren.

Die Gräfin sei 89 Jahre alt und pflegebedürftig. Seit acht Jahren pflege sie die alte Dame und sei ihr mit Familie in das Schloss gefolgt, als auch ihr Mann hier eine Anstellung als Hauswart und Förster gefunden habe.

Jetzt hätte sie Sorge, wieder ausziehen zu müssen und die alte Dame allein zu lassen. Während Frau Schütz ihre Sorgen ausbreitete, läutete ihr Handy und sie erhielt die Nachricht, dass die Gräfin Gunther erwarte.

Gunther bat, ihm den Weg zu zeigen und versprach, nach seinem kurzen Besuch bei der Gräfin noch einmal vorbei zu kommen und das begonnene Gespräch fortzuführen.