SELAMLIK
KHALED ALESMAEL
SELAMLIK
ROMAN
Übersetzt von Christine Battermann
und Joachim Bartholomae
Der Originaltitel des Romans lautet Selamlik.
Der Originaltext wurde teils auf Arabisch (Kapitel 3, 6 bis 12), teils auf
Englisch (Kapitel 1, 2, 4, 5) verfasst und bisher lediglich in schwedischer
Übersetzung (ebenfalls unter dem Titel Selamlik) veröffentlicht.
© Khaled Alesmael 2018
Die Gedichte des Schriftstellers Khalil Gibran werden zitiert nach
der deutschen Ausgabe Sämtliche Werke, herausgegeben und übersetzt
von Ursula und S. Yussuf Assaf, erschienen im Patmos Verlag, Düsseldorf
2003 (bis auf die dort nicht enthaltene zweite Strophe auf S. 131/132).
Die Zitate aus dem Koran entstammen der Übertragung von
Hartmut Bobzin, München 2010
1. Auflage
© 2020 Albino Verlag
Salzgeber Buchverlage GmbH
Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin
info@albino-verlag.de
Aus dem Arabischen von Christine Battermann,
aus dem Englischen von Joachim Bartholomae.
Umschlaggestaltung und Satz: Robert Schulze
Umschlagabbildung: Tammam Azzam
Printed in the Czech Republic
ISBN 978-3-86300-302-9
Mehr über unsere Bücher und Autoren:
www.albino-verlag.de
Dem Andenken an meine Mutter,
die mich lehrte, unabhängig
und stark zu sein.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Glossar
Aleppo, das Haus meiner Schwester. Ich stand mitten in ihrem Schlafzimmer, das in mildem Halbschatten lag. Die klapprigen Fensterläden waren geschlossen, um die Nachmittagshitze abzuwehren, doch sie hatte die Fenster geöffnet, und eine warme Brise wehte sanft herein. Der Wind blähte die durchsichtigen Vorhänge, bevor er meinen nackten Körper streifte. Nach der kalten Dusche glitzerte meine Haut, und mein Nacken war feucht von Schweiß. Ich zitterte beim Gedanken an das, was vielleicht bald geschehen würde. Das weiße Handtuch lag zwischen meinen Füßen auf dem feuchten Boden. Ich hob es auf und versuchte, meinen Körper noch einmal damit abzutrocknen; dabei ließ ich den Blick durch den vertrauten Raum schweifen. Das Doppelbett mit reich verziertem Kopfende war ordentlich gemacht und mit einem goldenen Dammasttuch bedeckt. Darüber hing ein großer Kristallleuchter. Auf dem Schminktisch standen zahllose kleine Parfumflakons und Cremetöpfchen; unter den vielen Lippenstiften, Feuchtigkeitscremes und anderen Accessoires meiner Schwester suchte ich nach der Pinzette. Erregt näherte ich mich dem großen Drehspiegel, der die Silhouette meiner Nacktheit reflektierte. Ein neunzehnjähriger Junge, glatt und jungfräulich.
Hinter mir auf dem Boden lag meine Sporttasche. Ich kniete mich hin und durchwühlte die Sachen auf der Suche nach den Unterhosen. Dann stellte ich mich wieder vor den Spiegel und streichelte meine bebenden Muskeln. Ich hob und senkte mehrmals den Unterarm, ging in die Kniebeuge und drückte die Finger in die Achselhöhle; das junge Fleisch dehnte sich elastisch. Ich beschloss, die blau-weiße Hose aus Trikotstoff anzuziehen, es war die schickste Unterhose, die ich damals besaß. Mein Cousin hatte sie mir zur Feier meines ersten Studienjahres an der Universität von Aleppo geschenkt. Dann zog ich mein weißes T-Shirt und kurze Jeans an. Ein Tropfen Wasser oder Schweiß fiel von meiner rechten Armbeuge und lief den Oberkörper hinunter, ich spürte ein leichtes Kitzeln.
Ich nahm die Tasche und meine Turnschuhe und ging langsam ins Wohnzimmer, wo es kühler war. Im Fernsehen lief eine Dokumentationssendung von National Geographic; in der Ecke des Bildschirms wurden Datum und Uhrzeit in digitalen Ziffern angezeigt, 10/06/2000 04:45 pm. Ich setzte mich aufs Sofa; von dort konnte ich meine Schwester in der Küche sehen. Sie bereitete die Lunchbox vor, die ich mit ins Studentenwohnheim nehmen sollte.
Meine Schwester Miriam ist die älteste von uns sechs Geschwistern und das einzige Mädchen. Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich. In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, zog sie von Deir ez-Zor nach Aleppo. Sie verließ unser Zuhause, um an der Universität von Aleppo Elektrotechnik zu studieren, und verliebte sich dort in einen Kollegen. Er war der älteste Sohn eines der bekanntesten und reichsten Pistazienhändler in Aleppo. Sie heirateten noch während des Studiums. Ich erinnere mich nicht an ihre Hochzeit, aber sie kostete ein Vermögen. Der berühmte syrische Sänger Sabah Fakhri sang auf der Hochzeitsfeier. Ich war ungefähr fünf Jahre alt. Meine Mutter sagte immer, durch Miriams Hochzeit wurde unser Haus ein Selamlik *; das ist türkisch und bedeutet Palast der Männer, denn meine Mutter stammt aus der Türkei. Meine Schwester und ihr Mann machten ihre Examen und zogen in ein schickes Haus in der König-Faisal-Straße, wo sie ihre gerahmten Diplome an die Wand hängten. Ihr Mann arbeitet für seinen Vater, und meine Schwester wurde eine verwöhnte Ehefrau. Sie hat zwei Haushaltshilfen, doch das Essen für ihren Ehemann kocht sie selbst.
Plötzlich wurde die Fernsehsendung unterbrochen, und das bekannte Gesicht eines Geistlichen erschien auf dem Bildschirm. Sein rundes Gesicht mit den dicken Backen war jeden Freitagmorgen im Fernsehen zu sehen, ich kannte es, seit ich ein kleines Kind war. Er starrte in die Kamera, und sein grauer Schnurrbart schien die Worte, die aus seinem Mund kamen, zu bürsten. Doch jetzt zitterte er wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Seine sonst heisere Stimme war ein unverständliches Piepsen geworden.
Meine Schwester kam mit der Lunchbox ins Wohnzimmer. Sie blieb mitten im Raum stehen und flüsterte: «Hafiz al-Assad ist tot.» Ich nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter.
«Syrer und Araber! Heute ist unser mächtiger Führer von uns gegangen, der stets das Recht unserer Nation und unseres Landes verteidigt hat! Der Führer ist von uns gegangen … er, der all unsere Werte und Ideale verkörperte! Der Führer ist von uns gegangen!» Seine Stimme brach. «Der Führer ist von uns gegangen – er, der mehr als ein halbes Jahrhundert für die Einheit der Araber und ihr Ansehen in der Welt gekämpft hat, für ihre Freiheit und ihre Rechte! Er, der die Hurrikans besiegte!»
Erschrocken und verwirrt begann mein Körper wieder zu schwitzen. In der linken Hand hielt ich einen Schuh, und in meinem Kopf brodelten die verschiedensten Gedanken. Eigentlich hätte ich mich freuen sollen, denn dies war das Ende von dreißig Jahren Unterdrückung, doch ich machte ein enttäuschtes Gesicht. Meine Schwester spürte das und fragte mich, ob ich traurig sei. Ich sagte nichts; im wirbelnden Durcheinander in meinem Schädel quälte mich vor allem der Gedanke, was für ein Pech ich hatte: «Verdammt, warum muss er ausgerechnet heute sterben?»
Ich schüttelte den Kopf und verließ den Raum, ging im Flur auf und ab wie ein Tier im Käfig und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich trug nur einen Schuh, den anderen hielt ich noch immer in der Hand. Schließlich ging ich ins Badezimmer und schloss mich ein. Die Stimme des Geistlichen verfolgte mich: «Heute ist ein Tag der Traurigkeit in jedem syrischen Heim, jeder Schule, Universität, Fabrik, jedem Bau-ernhof und jedem Laden», rief er. «Alle Herzen sind voll Trauer, gleich ob Mann, Frau oder Kind. Der Gewaltige, der uns verlassen hat, war ein Stück unseres Herzens.»
Zurück im Wohnzimmer. Mein Schwager leistete meiner Schwester schweigend Gesellschaft, beide verfolgten die Übertragungen zum Ende der dreißigjährigen Präsidentschaft von Hafiz al-Assad. Die Nachrichten wurden unablässig wiederholt; das immer gleiche Mantra würde in den nächsten fünf Tagen zu jeder vollen Stunde zu hören sein.
Der Geistliche schluchzte wie ein Kind. Er trocknete seine Tränen und blickte in die Kamera: «Wir schalten nun zur Volksversammlung nach Damaskus.»
Dann verschwand er.
Todesstille erfüllte den Parlamentssaal; die Abgeordneten vergruben sich in ihre Sessel und warteten. Niemand rührte sich. In der Totale eingefroren wurde die Kamera zum unwandelbaren Zeugen des feierlichen Szenarios. Ich stand vor dem Bildschirm und vertiefte mich in die Einzelheiten. Die Wände waren mit wundervollen Damaszener Ornamenten bedeckt, ein sorgfältig handgefertigtes, perfektes Mosaik. Den Boden bedeckte ein auffällig roter Teppich. Von zwei Beisitzern flankiert, verkündete der Vorsitzende der Volksversammlung in feierlicher Pose den Tod des Präsidenten, al-Assad, genannt der Löwe. Die Kamera schwenkte langsam nach rechts und zeigte andere Abgeordnete, ruhte dann auf den Ministern für Gesundheit und Wirtschaft; beide schienen zu weinen und bemühten sich, die heilige Stille nicht durch ihr Schluchzen zu stören. Ein alter Mann in traditioneller syrischer Kleidung stand hinter ihnen, in tiefste Trauer versunken. Der Vorsitzende rief: «Ich bitte um Ruhe!» Seine Stimme klang nun pompös und kräftig. Heute, siebzehn Jahre später, verstehe ich die bedrohliche Bedeutung seiner Mitteilung. «Ehrenwerte Abgeordnete, ich habe soeben die förmliche Petition von mehr als dreißig Prozent dieser Versammlung erhalten, den Artikel 83 * der Verfassung der Syrischen Arabischen Republik zu ändern. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zu dieser Ergänzung, um sie im Protokoll der heutigen Sitzung niederzuschreiben. Stimmen Sie alle zu?», fragte der Vorsitzende.
Langsam hoben die Abgeordneten erst die gesenkten Köpfe und dann die Hände als Zeichen der Zustimmung. Erleichtert verkündete der Vorsitzende: «Nach Abschnitt 187 der Geschäftsordnung hat die Mehrheit des Präsidiums beschlossen, ein Komitee einzusetzen, um die Änderung der Verfassung vorzubereiten.» Er nannte einige Namen. Aus gutem Grund war ich furchtbar enttäuscht von diesen Nachrichten, die wahrscheinlich die Aussicht vereitelten, ihn heute wiederzusehen. Ich ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Noch immer erregt, zog ich den Schlüssel aus der Tasche; das daran befestigte Schild trug die Nummer 333.
Der Tag zuvor, 9. Juni 2000, um drei Uhr nachmittags. Ich war in meinem Zimmer im Flügel der männlichen Medizinstudenten. Das Wohnheim war genau so, wie ich mir ein Selamlik immer vorgestellt hatte, ein Ort, an dem die Männer sich frei fühlen konnten, mit bloßem Oberkörper, nur in Unterwäsche oder mit einem Handtuch um die Hüften herumliefen und über ihre sexuellen Sehnsüchte und sogar die Größe ihrer Schwänze redeten.
Das Studentenwohnheim war neu, denn wir waren die ersten Studenten in diesem Jahr. Es lag in Furqan, einem der schicksten Stadtviertel im Westen Aleppos, wo die reichen Händler mit ihren Familien lebten. Eigentlich wollte ich nicht zur Universität von Aleppo, aber ich musste das erste Jahr dort studieren, bevor ich nach Damaskus ging.
Ich fühlte mich träge, verschwitzt und geil, wie ich so auf dem Bett lag. Für den Kurs über englische Literatur mussten wir Engel und Narren lesen, einen Roman des britischen Schriftstellers E. M. Forster, der die Geschichte einer englischen Dame erzählt, die sich auf einer Reise durch die Toskana in einen Italiener verliebt, der viel jünger ist als sie. Ich hatte mehrere Anläufe unternommen, das Buch zu lesen, doch es begann mich zu langweilen. Ich benutzte es nur noch als Fächer, um mir frische Luft zuzufächeln. Die Luft in dem winzigen Raum war bereits stickig, also öffnete ich das Fenster. Da hörte ich, wie die Tür zum Nachbarzimmer aufgeschlossen wurde, und unerwartet drang derselbe frische und scharfe Duft in meine Nase, den ich schon einmal gerochen hatte, als ich im Flur beinah mit meinem Zimmernachbarn zusammengestoßen war.
Ich hatte ihn schon oft gesehen und spürte, dass er einen besonderen Platz in meinem Leben einnehmen würde. Wie ich herausgefunden hatte, studierte er Dermatologie; seine Zimmernummer war 333.
Ich zog schnell die Shorts zurecht, schnappte mir das Buch und ging in den Flur; einige Studenten liefen lachend ohne Hemd herum, mit einem Handtuch über der Schulter unterwegs zu den Duschen, denn die Zimmer hatten keine Badezimmer. Auf die weiße Tür nebenan war die Nummer 333 gemalt. Ich hörte, wie meine Faust nervös gegen das Holz klopfte. In meinem Kopf überschlugen sich die Vorstellungen, wie er auf mein Eindringen reagieren würde; ich versuchte, mir die Worte zurechtzulegen, die ich sagen würde … die Tür öffnete sich.
Ich errötete bei seinem Anblick. Über den breiten Schultern das bärtige, dunkle Gesicht mit großen dunklen Augen unter buschigen Brauen – so anders als die anderen Medizinstudenten. Er knöpfte sein weißes Polohemd zu und sah mich erstaunt an. Mit einem schnellen Blick sah ich, dass er ein Handtuch und Seife in der Hand hielt. Ich stöhnte «Mir wird schlecht» und sank zu Boden.
Er beugte sich über mich, um mir aufzuhelfen. Ich klammerte mich an ihn, den Kopf auf seiner Schulter, und roch seinen verschwitzten Körper. Unwillkürlich reckte ich mich empor, bis meine Nase sein Ohr berührte. Seine Hände hielten meinen Oberkörper, und unsere Augen trafen sich. Ich war verlegen. Seit ich ihn das erste Mal in der Eingangshalle der Universität gesehen hatte, träumte ich von ihm. Ich spürte seine große Hand auf meiner Stirn. «Komm rein; hast du Fieber?» Er setzte mich auf sein Bett. Mein Herz schlug immer schneller. Ich klammerte mich mit einer Mischung aus Verlangen und Furcht an mein Buch. Er legte Handtuch und Seife auf den Tisch und ging hinaus, ließ mich allein zurück. Ich ertrank in meiner Sehnsucht, ihn zu küssen.
Im Zimmer standen zwei Einzelbetten, von denen nur das eine gemacht war. Auf dem anderen lag die nackte Matratze. In der Ecke stand ein kleiner, halb voller Koffer. Ich öffnete ihn und schaute vorsichtig hinein; seine Unterwäsche und Kleidung waren sorgfältig gepackt. Es war Donnerstag, der Tag, an dem die meisten Studenten zum Wochenende in die Heimat zu ihren Familien fuhren, und er war im Begriff aufzubrechen. Plötzlich wurde ich mir meines kindischen Verhaltens bewusst und ich schämte mich.
Er kam mit einem Glas Wasser zurück. Als er es mir gab, entschuldigte ich mich. Ich berührte seine Hand, die noch feucht war. Er drückte mich sanft zurück auf das Bett und forderte mich auf zu trinken. «Ich weiß nicht, was dieser Schmerz zu bedeuten hat. Mein Herz schlägt viel zu schnell und meine Brust krampft sich zusammen.» Er öffnete den Schrank und nahm die Arzttasche heraus. Er nahm das Stethoskop und versuchte mich zu beruhigen. «Leg das Buch zur Seite und zieh das Hemd aus, junger Mann.» Er klemmte sich mein Hemd unter den Arm. «Wie alt bist du?»
Dann kam er näher und drückte mir das kalte Metall auf die heiße Brust. Ich sah ihm zu, wie er das Blutdruckmessgerät an meinem Oberarm befestigte. Ich betete, das Gerät möge etwas finden, um meine Lügen zu rechtfertigen. Er lächelte und legte die Instrumente auf den Tisch. «Alles prima, kein Grund zur Sorge.» Er setzte sich zu mir aufs Bett und ließ die dicht behaarten Beine langsam hin und her pendeln. Jedes Mal, wenn sie mein Bein berührten, spürte ich einen Stromschlag. Ein paar Sekunden lang dachte ich, er würde mich küssen. Er nahm mein Buch und betrachtete den Umschlag. «Was für ein eigenartiger Titel.» Er schlug es irgendwo auf und las: «Tu nicht so geheimnisvoll, so viel Zeit haben wir nicht.» Er wandte sich zu mir und fragte erstaunt: «Liest du das selbst oder ist es für das Studium?» Dann ließ er die Beine wieder pendeln.
Meine Angst ließ nach und ich gestand, dass ich im ersten Jahr Englische Literatur studierte. Gegenstand dieses Semesters war die Erzählprosa. «Und wie ist das, einen Roman zu studieren?», fragte er und sah mich mit seinen braunen Augen neugierig an. «Inspirierend», sagte ich. «Es ist sehr inspirierend, von den Figuren in diesen Geschichten zu lernen, wie man sein eigenes Leben lebt.»
Er war überrascht, dass ich in dem Flügel des Wohnheims wohnte, der Medizinstudenten vorbehalten ist. Ich sagte ihm, dass mein Onkel in den Siebzigern Bürgermeister von Aleppo war und noch immer großen Einfluss hatte. Er hatte mir dieses Zimmer besorgt, damit ich mich ungestört auf die Prüfungen vorbereiten konnte. Ich schwieg und sah ihn an, mein Gesicht glühte noch immer. Er sagte: «Ich bin Ali aus Tartus.»
Nach seinem Familiennamen zu urteilen gehörte er vielleicht zu einem mächtigen Alawiten-Clan; später erzählte er mir, sein Vater habe eine hohe Stellung in der Regierung. Kinder aus solchen Familien wuchsen ohne Einschränkungen auf, sie konnten zelten, auf Partys gehen und sogar verreisen. Die Mädchen kommandierten beim Friseur die Angestellten herum und drohten, sie dem Besitzer zu melden, wenn sie ihnen die Fingernägel nicht makellos polierten. Die flegelhaften Jungs lernten früh vom Egoismus ihrer Väter und behandelten die Lehrer mit geradezu unglaublicher Arroganz. Auf dem Spielplatz verschütteten sie Saft und ließen Muffins zu Boden fallen, ohne den Dreck selbst wegzumachen. In der Mittelstufe hatte ich einen frechen Mitschüler, dessen Vater Kommandant der Militärpolizei in der Bergregion war, aus der auch Ali stammte. Überall im Land versuchte jeder, von seiner beruflichen Position zu profitieren, genau wie mein Onkel, der mich im besten Teil des Studentenwohnheims unterbrachte.
Ali unterbrach meine Gedanken und bot mir ein heißes Getränk an, Mate. Ich nickte, weil ich ihm mit allen Mitteln gefallen wollte, bedauerte es aber sofort. Der erdige Geruch stieg mir in die Nase, doch er konnte die Erinnerung an meinen Widerwillen gegen den bitteren Nachgeschmack nicht verdrängen, den ich das einzige Mal, das ich Mate getrunken hatte, empfunden hatte. «Ich glaube, es geht mir besser», sagte ich und rieb mir den Bauch. «Du wolltest gerade verreisen, stimmt’s? Ich will nicht, dass du zu spät zum Zug kommst.» Ich nahm mein Hemd vom Bett und spürte seine Hand auf meiner Schulter. «Ich mag dich und möchte dich als Zimmergenossen», sagte er und kam näher heran. «Sonst quartieren sie hier noch irgend so ein Arschloch ein.» Er zeigte auf das freie Bett. «Das ist für dich, aber beeil dich, es bleibt nicht ewig frei.» Bevor ich antworten konnte, nahm er die Schlüssel aus der Tasche. «Sprich mit dem Hausmeister und bring deine Sachen herüber; ich möchte, dass du hier bist, wenn ich morgen Abend zurückkomme», sagte er und nahm meine Hand in seine, die noch immer feucht war. «Und jetzt geh ich duschen.»
«Bleib doch heute Abend noch hier. Das Erziehungsministerium hat für eine Woche alle Prüfungen ausgesetzt; du musst also nicht ins Wohnheim, Habibi *!» Meine Schwester stand hinter mir. «Ich bin sicher, die Muhabarat * sind unterwegs und kontrollieren, wie die Menschen auf die Nachrichten reagieren und ob sich jemand verdächtig benimmt.» Ich zog den Schlüssel aus der Tasche. «Ich habe die Schlüssel für unser Zimmer; mein Mitbewohner kommt heute Abend zurück.» Sie wirkte nicht sehr überzeugt. «Ich verstehe dich nicht.»
Schließlich konnte ich nicht anders und lief eilig davon. Im Bus war jeder schweigend mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich schloss die Augen und versuchte, alles andere auszublenden. Das alte Radio übertrug Lesungen aus dem Koran, um den großen Verlust für das Land zu betonen. Die Suren wurden alle fünf Minuten vom monotonen Geräusch der Türen unterbrochen, wenn Passagiere ein- oder ausstiegen.
«Universität!» Der Busfahrer rief den Namen der Haltestelle. Ich stieg aus und folgte einem anderen Studenten.
Mein Schritt wurde schneller, nachdem ich das Tor zur Universität passiert hatte. Niemand war zu sehen. Der Platz, der sonst voller Lachen und lauter Gespräche ist, war verlassen. Ich hatte nur einen Wunsch, anzukommen und die Tür zu öffnen, den Duft zu riechen, der noch immer den Raum erfüllte. Ich war ganz in Gedanken vertieft und achtete auf nichts um mich her. Hier war ein stiller Ort, weit weg vom Spektakel der Trauer, die das ganze Land erfasst hatte.
Ich stellte die Tasche auf den Boden. Sein Bett war nicht gemacht; das Matepulver im Glas war getrocknet und ein markanter Geruch entströmte der Teekanne. Auf der Kommode lagen Medikamentenschachteln und der Sessel war übersät mit Papieren. Ich wischte den Tisch ab und räumte die Medikamente und CDs zur Seite. Dann nahm ich meine Sachen aus der Tasche, eine lange und zwei kurze Hosen, mein blaues Hemd und ein paar Unterhosen. Ich hängte alles in den Schrank neben meinem Bett. Die zwei Bücher, die ich gekauft hatte, einen englischen Roman und einen Band Theaterstücke, stellte ich auf den Tisch neben seine dermatologischen Fachbücher. Er hatte einen CD-Player und eine CD von Mustafa Yuzbaschi. Ich hatte noch nie von dem Sänger gehört, also nahm ich die CD und las die Titel der Songs: Ich sehne mich nach deinen dunklen Augen, Weshalb hat dein Herz mich verlassen? und Erlöse mich, eins von Alis Lieblingsliedern, wie ich später erfahren sollte. Ich wollte die CD gerade abspielen, als mich der Gedanke durchfuhr: «Heute ist al-Assads Trauertag, es ist verboten, Musik zu hören oder Filme zu schauen.» Ich hielt die CD in der Hand, fragte mich, was für eine Art von Musik sie wohl enthielt und stellte mir vor, wie Ali sie sich anhörte.
Es mag zwei Uhr morgens gewesen sein; ich saß auf dem Sessel und hatte die Fenster weit geöffnet. Eine ungewöhnliche Stille erfüllte die Nacht, aber aus irgendeinem Grund spürte ich, dass sich am Morgen alles ändern würde. Eine Zeit der Ungewissheit würde anbrechen, in der Hafiz’ allgegenwärtiges Gesicht nicht mehr an den Wänden der Unterrichtsräume von Schulen, Colleges und Universitäten überall im Land hängen würde. Doch wie würde es weitergehen, jetzt, wo er fort war? Der Staat war es schon so lange gewohnt, unter seiner Knute zu stehen, dass man sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. Ich zog mich aus und legte mich auf Alis Bett, stellte mir vor, wie er meine Hand hielt. Ich rief die Erinnerung wach, wie er mich berührt hatte und ein Stromschlag von Kopf bis Fuß durch mich hindurchgefahren war. Schließlich gewann die Müdigkeit die Oberhand und ich fiel in tiefen Schlaf.
Fahrgeräusche weckten mich. Das Sonnenlicht füllte bereits den Raum. Ich drehte mich um, um nach der Uhr zu greifen. Mein Rücken war nass vom Schweiß, meine Brust, die Arme und das Laken waren so nass, als ob ich die ganze Nacht Sex gehabt hätte. Ich zog die Shorts an und öffnete die Tür. Einige Studenten, die die Nacht hier verbracht hatten, gingen mit ihren Taschen schnell den Flur entlang. Auf dem Weg zum Waschraum ging ich an ihnen vorbei. Der Waschraum war leer, aber ich hörte die Stimmen der Studenten, die draußen für den Bus Schlange standen. «Woher stammst du?» Ich drehte mich um. Ein mittelalter Typ, klein und stämmig, war aus dem Nichts aufgetaucht. Er betrachtete mich verstohlen aus einer Ecke des Waschraums. An seinem verwuschelten Haar sah man, dass er gerade erst aufgewacht war. Seine Brille rutschte ihm fast von der großen Nase. «Ich komme aus Deir ez-Zor», erwiderte ich. Er stellte sich als Doktor Omar vor. «Sieht so aus, als gingen die meisten der alawitischen Studenten zurück in ihre Dörfer in den Bergen.» Er grinste. «Sie sind traurig, dass ihr unsterblicher Held gestorben ist, und haben Angst vor dem, was jetzt passieren könnte. Es ist sicherer, die Stadt erst einmal zu verlassen, meinst du nicht auch?» Wegen seines starken Akzents nahm ich an, dass er aus der Provinz Idlib stammte. Was er sagte, klang verdächtig nach Muhabarat, deshalb schlich ich mich davon, ohne zu antworten.
Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Die zufällige Begegnung mit einem Fremden machte mir klar, dass sich Gefahr und Anspannung im gesamten Gebäude ausbreiteten.
Meine Tasche stand noch mitten im Raum und starrte mich an. Ich spürte das Bedürfnis, sofort abzureisen. Mich erotischen Fantasien über einen Mann wie Ali hinzugeben war äußerst gefährlich. Er kam aus einer berühmten Alawitenfamilie und könnte mich und meine Familie in den Fokus der Geheimpolizei bringen. Ich ging hastig die Treppen hinunter und hinüber zur Telefonzelle am Eingang, in der linken Hand fest umklammert mein Buch. Die Sonnenstrahlen trafen erbarmungslos jeden, der sich ihnen aussetzte, mein Kopf begann wieder zu schwitzen. Ich hob das Buch, um mich vor ihnen zu schützen. In der Telefonzelle stand ein riesiger bärtiger Mann und rief: «Der Löwe ist tot, hast du verstanden, du Hurensohn? Bist du jetzt glücklich? Wir werden dich schon kriegen!» Er warf den Hörer auf die Gabel, knallte die Tür zu und stieg schnell in den Bus.
«Schön, dich zu sehen!» Ali lächelte breit. Die Sonne brannte, ich konnte kaum die Augen öffnen. Er hatte sich zwei Tage lang nicht rasiert und sah noch männlicher aus. «Lass uns wieder reingehen, hier ist es zu heiß», flüsterte er. Er trug ein hellgraues Shirt und eine dunkelgraue Hose. Ich hatte Angst davor, mich der Gefahr auszusetzen, die er jetzt darstellte, aber das Verlangen nach ihm war stärker.
Unser Raum war wirklich sehr klein, ohne Badezimmer und mit nur einem Sessel unter dem offenen Fenster, durch das warme Luft hereinkam. Ali zog die Jalousie hinunter. «Bei dieser Hitze machen wir sie lieber zu, okay?» Bei den Worten fing er an, sein Hemd aufzuknöpfen. Die letzten beiden Tage waren für mich eine Achterbahn der Gefühle gewesen; die Vorstellung, mit ihm allein zu sein, hatte mich erregt, aber jetzt schämte ich mich, weil er merken könnte, dass ich in seinem Bett geschlafen hatte. Er zog das Hemd aus; sein muskulöser Körper und die braune Haut waren eine enorme Versuchung. «Du bist solch ein schöner Junge», sagte er und ging zum Schrank, um sein Hemd aufzuhängen. Ich blickte starr auf meine Reisetasche; mein Verlangen zu bleiben war stärker als der Wunsch, aus Furcht wegzulaufen. Ich hatte das Buch in der Hand zusammengerollt; meine verkrampften Finger pulsierten in elektrischen Zuckungen, aus Furcht, mich meinem sexuellen Verlangen hinzugeben. Bevor ich etwas sagen konnte, nahm Ali meine Hand und zog mich zum Bett. Instinktiv wich ich zurück, aber er hielt meine Handgelenke fest im Griff; seine warmen Lippen küssten meinen Nacken. Seine behaarte Brust rieb sich an meinem Rücken, und mit der linken Hand streichelte er mir den Kopf. Als sein Atem heftiger wurde, schloss ich fest die Augen. Er zog mich an den Haaren und fuhr mit dem Bart über meine Lippen, wie ein Tier, das seine Beute begutachtet, bevor es sie verschlingt. Mein Körper zitterte bei dem Gedanken, dass das, was wir taten, äußerst gefährlich war. Er führte meine Hand an seine Leiste und gab mir mit dem Kopf das Zeichen, ihm den Reißverschluss zu öffnen. Meine Hand war erstarrt und mein Verstand kurz davor zu implodieren; alles sträubte sich dagegen, die Grenze zum unbekannten Territorium der Lust zu überschreiten. Ich legte die Hand auf seine Hüfte. Er schob mich zum Bett und flüsterte: «Hab keine Angst.» Dann öffnete er selbst den Reißverschluss. «Nur zu, fass ihn an.»
Unsere nackten Körper lagen auf dem Bett, bedeckt mit Samen und Schweiß. Meine Schulter berührte Alis Rücken, braun und glatt. Er schlief, doch sein ruhiger Atem konnte meinen Verstand nicht davon abbringen zu denken, dass das, was wir gerade getan hatten, haram * war. Der Roman lag auf dem Boden, er war aus dem Bett gefallen, als Ali mir die Shorts ausgezogen hatte. Ich fragte mich, ob Gott nach dem, was ich getan hatte, meine Literaturprüfung segnen würde. Plötzlich nahm Ali meine Hand und legte sie auf seine Brust. «Ich habe immer davon geträumt, einen Zimmergenossen wie dich zu haben.»
«Meinst du, sie würden uns einsperren?», fragte ich. Er stand auf und ging zum Tisch, nahm die Teekanne und schüttelte sie. «Zieh dich an und hol Wasser, damit ich Mate kochen kann.» Ich drehte mich im Bett nach ihm um. «Ich meine das ernst, meinst du, sie würden uns einsperren?» Er stellte die Teekanne wieder auf den Tisch. «Wenn du die Geheimpolizei meinst, die sind so dumm, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, zwei Männer könnten Sex haben. Sie verfolgen heterosexuelle Männer, die Frauen belästigen.» Er lachte und fuhr fort: «Wusstest du das? Ich habe gehört, dass Studenten sich Burkas angezogen haben, um sich in den Mädchenflügel zu schleichen und dort Sex zu haben.»
Ich fragte ihn nach Gott. Er meinte: «Welcher Gott würde dich bestrafen, weil du Liebe gefunden hast?» Ich nahm die Teekanne und ging in die Küche.
Am Nachmittag schoben wir die beiden Einzelbetten zusammen. Ali merkte, wie ich ihn beobachtete, als er die Matratze und die Kopfkissen bezog. Ich spürte, dass er der Mann war, den ich wollte. Das Zimmer fühlte sich plötzlich wie ein Zuhause an, obwohl kaum Möbel darin standen. All meine Ängste waren verflogen, doch ich bat ihn, keine Musik zu spielen und die Staatstrauer zu respektieren. «Ich hoffe, du sagst das nicht, weil du weißt, dass ich zur selben Konfession gehöre wie die Familie al-Assad. Aber ich werde mein Lieblingslied spielen.» Er drehte die Lautstärke des CD-Players so weit hinunter, dass wir fast nichts mehr hören konnten. Wir lachten beide über die absurde Situation, hielten uns aber die Hand vor den Mund, damit uns niemand hörte. Ich holte meine Kopfhörer und wir setzten uns nebeneinander auf das schmale Bett, um Erlöse mich zu hören. Ali summte mit und küsste mich sanft auf die Stirn.
Nachts um elf ging ich mit bloßem Oberkörper zum Fens-ter und schaute hinaus. Unten in der Amir-al-Schuaraa-Straße stand ein junger Mann unter einer Laterne, wie es viele Studenten in den warmen Nächten vor den Sommerferien taten. Das Licht der Laterne fiel in den dunklen Raum, denn wir hatten das Licht ausgeschaltet. Ich hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und sah Alis Silhouette den Raum betreten. Er zog sich aus und kam auf mich zu. Ich spürte seinen warmen, nackten Körper an meinem Rücken. Ich schloss das Fenster und gab mich ihm hin.
Das Quietschen des Betts beim Ritual des Sex war so laut, dass man es bestimmt noch im Nachbarzimmer hören konnte. Ali hielt ein und gab mir ein Zeichen, die Matratze auf den Boden zu legen. Ich erlebte den ersten Sex auf einer schmalen Matratze auf dem Boden im orange flackernden Licht einer Laterne. Er war sehr erfahren und reagierte behutsam, als er spürte, dass ich nicht wusste, wie ich mich bei diesem Initiationsritus verhalten sollte.
Ein Klappern auf dem Flur ließ uns erstarren. Ali drehte sich zum Nachttisch, um auf die Uhr zu sehen, es war drei Uhr morgens. Der eigenartige Lärm wurde immer lauter und verstummte plötzlich direkt vor unserem Zimmer; durch den Spalt unter der Tür sahen wir einen Schatten. Der Gedanke, jemand könnte uns erwischen, versetzte mich in Panik. Zum ersten Mal verzog sich Alis schöner Mund zu einer Grimasse. Draußen bearbeitete jemand heftig die Zimmertür. Ich hielt die Luft an, vor Angst, er könnte die Tür aufbrechen. Plötzlich verstummte der Lärm.
Ich atmete auf.
Schweigend stand ich auf und legte meine Matratze wieder auf das Bettgestell; dann zog ich die Hose an. Danach zog auch Ali sich an. Er kam zu mir und gab mir einen sanften Kuss, aber ich sah die Angst in seinem erschrockenen Gesicht. Wir lagen jeder in seinem Bett und versuchten, ein wenig zu schlafen. Von den Moscheen erklang der Aufruf zum al-Fadschr *. Von einem Minarett auf dem Hügel, auf dem sich das Studentenwohnheim befand, hörten wir die tiefe Stimme des Muezzin: As-salat chairun min an-naum *. Die Worte flogen über die Dächer der Villen davon. Ich starrte mit offenen Augen an die Decke, die von den Straßenlaternen erhellt war; ein eigenartiger Impuls überkam mich, ich sprang auf, wusch mich und betete. Nach dem Adhan * rief der Muezzin: «Betet für al-Assads Seele.»
Der Ruf war beendet, und ich hörte Ali schnarchen. Ich kroch unter das Laken und versuchte zu schlafen.
Es mochte gegen sieben Uhr am Morgen sein, als jemand an die Tür klopfte und etwas rief. Ali war schon wach; er flüsterte: «Keine Angst, er soll uns nur wecken.» Er kam zu meinem Bett und setzte sich zu mir. Der Mann draußen ging weiter und klopfte an alle Türen. «Aufwachen, aufwachen, kommt zur Übertragung der Trauerfeier!»
Die Stimme war immer noch in der Ferne zu hören, als Ali sein Handtuch nahm und die Tür öffnete. Jemand hatte ein Plakat mit dem Porträt von Hafiz’ Sohn Baschar an die Tür geklebt; als Ali direkt daneben stand, sah es aus, als befände sich eine dritte Person zwischen uns beiden. Er witzelte: «Nein, wir machen keinen Dreier.» Ich trat in den Flur. Das Bild von Baschar al-Assad, umrahmt von der Nationalflagge, klebte auf jeder Tür. Ali sagte: «Geh wieder rein, wir sind hier, um uns zu lieben, nicht um zu trauern.» Dann schloss er hinter mir die Tür.
Ich verbrachte den ganzen Sommer mit Ali in Zimmer 333. Es war meine erste Liebesaffäre, bevor ich im September zurück nach Damaskus ging, um mein Studium fortzusetzen.
Einige dieser Ereignisse gingen mir jetzt wieder durch den Kopf. Es war der 10. Juni 2014, der Jahrestag von Hafiz al-Assads Tod und damit des Tages, an dem die «Ewigkeit» seiner Herrschaft endete. Ich saß mit anderen Asylsuchenden im Bus auf einer endlosen Fahrt nach Norden.
Ich verfolgte unsere Fahrt auf Google Maps und sah, wie der blaue Punkt einer gelben Linie folgte, hin zu unserem Ziel irgendwo in Südschweden. Im Bus saßen ungefähr zwanzig junge Leute, die sich fragten, wohin die Reise ging, aber der Fahrer blieb stumm. Der Bus hielt an einem großen See zwischen hohen Bäumen vor einem kleinen roten Haus. Ein Beamter der Migrationsbehörde stieg in den Bus und bat eine Frau mit Kindern auszusteigen. Sie weigerte sich und rief voller Angst: «Ich hasse Wasser, meine Kinder und ich haben genug davon.» Im Bus wurde es still. Der Beamte verstand nicht, was sie auf Arabisch gesagt hatte, und trug eines ihrer Kinder aus dem Bus. «Auf Wiedersehen», sagte die Frau. Die Fahrt ging weiter. Die Landschaft blieb immer gleich, wir fuhren zwischen hohen Bäumen und ich langweilte mich. Mit der Kamera in meinem Handy machte ich ein Selfie von mir in der letzten Reihe des Busses und schickte es meiner Schwester in Aleppo. Ich schrieb: «Alles in Ordnung. In Malmö hat man meinen Fingerabdruck genommen, und nun bringt uns der Bus der Migrationsbehörde in unsere Unterkunft. Ich halte dich auf dem Laufenden. Wünsch mir Glück.»
* Mit einem Sternchen gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar am Ende des Buches erläutert.
«Die Stadt heißt Åseda», sagte die Beamtin der Migrationsbehörde; wir waren zwei Stunden von Malmö hierhergefahren. Sie forderte mich auf, den Bus zu verlassen, und sprach dann mit dem Fahrer. Ich stand vor einem dreistöckigen Gebäude mit mehreren Balkonen, das hellgrün gestrichen war. Davor lagen hunderte von Zigarettenkippen auf dem Boden. Auf jedem Balkon sah man die dunklen Gesichter neugieriger Kinder, die durch die Stäbe des Geländers schauten. Die Männer und Frauen auf der Veranda starrten mich an. Ich blickte ihnen in die Gesichter und erkannte Menschen aus verschiedenen Ländern, von denen jeder eine Geschichte zu erzählen hatte. Im zweiten Stock sah ich einen einzelnen Mann und spürte, dass er Syrer war.
Die Beamtin gab mir einen Plastiksack, so strahlend blau wie der Himmel an diesem Tag. Aus dem Bus holte sie einen Karton, einen gewöhnlichen Pappkarton ohne besondere Merkmale. Das blasse Braun erinnerte mich an die karge Landschaft der endlosen Wüste wischen Deir ez-Zor und Damaskus. Ich nahm den Karton; er war nicht so schwer, wie ich vermutet hatte. Sie bat mich, ihr zu folgen, und als wir die Treppen emporstiegen, sah ich, dass sie einen Schlüsselbund in der Hand hatte. Wir betraten das Gebäude. Ein starker Duft nach Curry und Öl wehte durchs Treppenhaus, außerdem der vertraute Geruch eines arabischen Gerichts namens Muluchiya *. Die Mischung dieser starken Gerüche war abstoßend; um meine Verwirrung zu überwinden, drückte ich den Karton und den blauen Sack fest an die Brust und ging die Treppen hinauf.