
ZwölfUhrTermin
Roman
Erstausgabe im September 2020
Alle Rechte bei Verlag/Verleger
Copyright © September 2020
Booklounge Verlag
23923 Schönberg
Johann-Boye-Str. 5
Bild: @artofphoto - CanStockPhoto
978-3-947115-13-6
»Einen Kaffee, bitte.«
Die Frau, die vor Marc an der Theke stand, zückte einen Schein aus ihrem Geldbeutel und sah verwundert auf, als sie keine Antwort erhielt.
»Einen normalen Kaffee?«, erkundigte sich der Verkäufer und stutzte dabei dämlich.
»Gibt es einen unnormalen Kaffee?«, entgegnete sie schlagfertig, stemmte eine Hand in ihre Seite.
Diese Frau hatte Temperament, dachte Marc und übte sich in Geduld. »Ist es denn so sonderbar, dass ich Filterkaffee ohne künstlich hinzugefügte Aromen und tonnenweise Sahne oder Milchschaum mag?« Marcs Mundwinkel zuckte. Wenn die mal keinen schlechten Tag hatte … Oder war sie immer so aggressiv? Im Grunde genommen war es ihm egal, denn was zählte, war, dass er einen Termin hatte, den er verpassen würde, sollte sie nicht gleich zum Ende kommen.
»Boah! Mom!« Der Junge, der neben ihr stand, rammte einen Ellbogen in ihre Seite. »Chill mal dein Gesicht! Aaalter, das geht ja gar nicht!«
Was zum Teufel?, fragte er sich in dem Moment, als sie sich ruckartig dem kleinen Möchtegern-Coolio zuwandte, sodass Marc die zarten Konturen ihres Gesichtes erblicken konnte. Winzige Sommersprossen schmeichelten ihren Wangenknochen, während sich ihre langen, roten, welligen Haare über ihre Schulter ergossen. Eine schwarze Brille stand im Kontrast zu ihrer hellen Haut. Das war mal eine extrem heiße Erscheinung, dachte er sich, während er ihren vorwurfsvollen Gesichtsausdruck beobachtete und sich dabei fast schon amüsierte.
»Marius, sprich nicht so mit mir. Wie oft soll ich dir das sagen?«, zischte sie dem Jungen leise zu, anscheinend darauf bedacht, dass nicht alle in der Schlange mitbekamen, wie sie ihren Sohn rügte. Augenrollend wendete dieser sich ab. »Voll LOL, Mom! Du bist so peinlich!«, sagte er in voller Lautstärke.
»Du spielst gerade um deine Playstation, mein lieber Freund!«, platzte es beherrscht aus ihr heraus.
Die Zeit rannte ihm davon, indes Marc wie angewurzelt hinter diesem Schauspiel stand und sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegte. Er musste sich eingestehen, dass es ihm trotz des Termindrucks nicht so viel ausmachte, weil seine Gedanken momentan ein verfluchtes Eigenleben entwickelten.
Er stellte sich vor, wie sie nackt auf ihm saß und ihre sündhafte Muschi – er nahm an, dass sie bei diesem Erscheinungsbild eine mehr als nur appetitliche Spalte hatte – immer wieder über seine Erektion rieb. Ihre langen Haare fielen nach vorne, umschmeichelten ihre hübsche Figur, während ihre schmalen Finger sanft über seine Brust streichelten. Ihr Stöhnen glich einem leisen Hauchen. Doch das genervte Aufstöhnen vor ihm, brachte ihn in die Realität zurück. »Tall, grande oder venti?«, fragte er mit viel zu hoher Stimmlage und stemmte seine Hand in die Seite, während er mit hochgezogener Augenbraue auf sie blickte.
Mein Gott, hatte der Barista Schraubzwingen um seine Eier, oder warum piepte er so abartig? Shit! Ging ihm das hier auf die Nerven! »Geben Sie dieser Frau sofort ihren«, nach Worten suchend, gestikulierte Marc mit einer Hand in der Luft herum, »Retro-Kaffee«, forderte er stockend auf, während er sich an den beiden vorbeischob, die ihn erstaunt musterten. Er knallte einen Fünfzigeuroschein auf die Theke und tippte, untermalt von einem genervten Kopfschütteln, die Fingerspitzen ungeduldig auf die Holztheke. »Groß und einen Latte macchiato«, warf er etwas zu laut hinterher und warnte ihn mit einer ebenfalls provokant hochgezogenen Augenbraue – ja, er konnte das auch -, keine weiteren dummen Fragen zu stellen. »Und wenn das Ganze heute noch geschieht, wäre das ein glanzvoller Dienst an die Menschheit.«
Während er wartete, sah er sich das kleine Übel, was neben der Schönheit stand und schändlicherweise ebendiese Mutter nannte, etwas genauer an. Mit offenem Mund und großen Augen starrte er Marc an und rammte den Ellbogen erneut mehrmals in die Seite seiner Mutter. »Was ist mit dir? Kannst du dich nicht anständig artikulieren?«
Gedanklich rügte er sich, denn wenn Marc ehrlich war, sagte er selbst bestimmt zehnmal am Tag Alter, fuck oder ähnliche katastrophale Worte, wobei er erwachsen war und ein Unternehmen leitete. Der einzige Unterschied war, dass Marc es nicht in der Öffentlichkeit tat. Außerdem musste der Furzknoten das nicht erfahren. »Und was ist das mit diesem deutsch-englisch Kauderwelsch? Ist das eine Art Sprachstörung?«
Marius schluckte schwer, das konnte Marc an seinem Kehlkopf sehen. »Mom, du kannst doch nicht zulassen, dass der so mit deinem Sohn spricht?«, sagte er in einer merkwürdigen Mischung aus kleinlautem Aufbegehren. Als Marc den Blick hob, konnte er erkennen, wie sich kleine Lachfältchen um ihre Augen bildeten. Sie war scheinbar amüsiert und erstaunt, wie man dem skeptischen Zucken ihrer Augenbraue entnehmen konnte. »Doch, Marius, genau das kann ich«, antwortete sie und erwiderte Marcs Blick.
Fuck. Augenblicklich dachte er abermals, dass sie sexy und dabei fast schon niedlich aussah. Sie wirkte irgendwie zerbrechlich, wobei sie nicht dürr war und ein paar geschmeidige Rundungen vorzuweisen hatte.
»Wie ist denn Ihr Name?«, fragte der Typ hinter der Theke gelangweilt und Marc hätte ihn am liebsten auf der Stelle vergiftet. So ein ungehobelter Klotz störte ihn beim Gaffen und offensichtlich hatte er nicht nur ihn gestört, sondern auch sie, denn ihre Wangen erröteten. »Das ist Rotschopf und ich bin Superman«, entgegnete er prompt, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Als ein lautes Lachen aus ihr herausplatzte, konnte er sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. Hot!
Das Klingeln seines Telefons riss ihn ins Hier und Jetzt zurück, woraufhin er es aus der Tasche nahm. Das war Sina. Shit, der Termin. »Eden«, meldete er sich, in weiser Voraussicht, dass seine Sekretärin ihn gleich fragen würde, wo er denn blieb. Dabei hatte er ihr bereits vor einer Stunde geschrieben, als sein Auswärtsmeeting beendet war, dass er sich auf den Weg machen würde.
»Es ist drei Uhr, Ihr Termin ist da, von Ihnen ist aber weit und breit keine Spur.«
Schnell reichte er Miss Beauty ihren schwarzen Kaffee, die ihn dankend entgegennahm. Ohne dass sie es merken konnte, prägte er sich ihre Erscheinung ein, denn sie würde er wohl nicht flachlegen. Wenn sie schon einen Balg hatte, standen die Chancen nicht schlecht, dass sie verheiratet war.
»Ciao, Rotschopf«, sagte er leise und zwinkerte ihr zum Abschied zu.
»Tschüss und danke.« Sie hob ihren Kaffee und lächelte ihn an. Ihre Augen strahlten, sie verströmte pure Lebensfreude. Was für ein positiver Mensch, wenn sie auch definitiv eine andere Seite hatte, wie sie zuvor bewiesen hatte. Doch dieses Lächeln ließ ganze Eisklötze – so wie Marc ebenso einer war – dahinschmelzen.
»Marc?«, blaffte Sina durch den Hörer.
»Bin in fünfzehn Minuten da«, sagte er und beendete die Unterhaltung, während er den Laden verließ und auf die Fußgängerampel zusteuerte. Auf der anderen Straßenseite stand sein Auto, mit dem er gleich zu seiner Firma ED – Eden Dynamics fahren würde. Marc hasste nichts mehr als Unpünktlichkeit und gerade er kam zu spät zu einem wichtigen Projekt-Kick-Off-Gespräch. Immerhin entschied sich, ob seine Firma den Auftrag des Kölner Uniklinikums erhielt, in dessen komplettem Haus im Zuge einer Qualitätsmanagements-Auffrischung alle PCs sowie Softwares optimiert werden sollten.
Im Grunde hatte Marc mit seiner Music-App sowieso den Jackpot geknackt, denn die bescherte ihm Einnahmen in Millionenhöhe. Aber ein verantwortungsbewusster Geschäftsmann wusste, dass der Hype um solche Plattformen rasant abflachte, sobald ein anderer etwas Neues und Geniales auf den Markt brachte. Deshalb war es ihm ein Bedürfnis, für seine Angestellten eine gute Basis zu schaffen, die ihre Gehälter auch im Ernstfall abdeckten. Davon war aktuell noch lange keine Rede und selbst wenn der Notfall eintrat, hatte er genug auf seinen Konten, um ED eine gewisse Zeit aufrecht zu halten.
Okay, wenn er ehrlich war, ging es hier im Grunde nur darum, dass er den Hals nicht voll bekam. Kurz lachte er auf und schüttelte den Kopf über seine wirren Gedanken, die wie immer in einer strengen selbstreflektierenden Einsicht endeten.
Endlich angekommen, stieg er aus dem Auto und begab sich unverzüglich auf den Weg in die Büroräume.
»Man, Chef!« Mit einem vorwurfsvollen Blick kam Sina ihm entgegen, als er den Aufzug verließ, nahm ihm den Becher aus der Hand, seine Tasche ab und lief geradewegs voraus in sein Büro. »Was ist los mit Ihnen? Unpünktlichkeit ist für Sie ein Kündigungsgrund, wenn ich Sie erinnern darf?« Sina hatte Recht, dennoch war es jetzt nun einfach mal so und er konnte es nicht ändern.
»In welchem Raum sind sie?«
»Im Jazzraum«, antwortete sie, drückte ihm einen Stapel Unterlagen in die Hand, die er gestern schon vorbereitet hatte, und machte sich auf den Weg. Als er den Raum betrat, fiel ihm zu allererst sein Geschäftspartner – es sträubte ihn innerlich, diesen Flachwichser so zu nennen – auf, der dort saß, vor sich auf den Tisch starrte und die möglichen Neukunden ignorierte. Er musste damals nicht zurechnungsfähig gewesen sein, als er sein Unternehmen zur Hälfte an Alexander Kramer überschrieb.
Es war in der Zeit seines Start-ups, als die Firma Startschwierigkeiten hatte, ihm alles über den Kopf zu wachsen drohte und die inneren Dämonen Marc auffressen wollten. Damals war es eine gute Lösung gewesen, dass sich sein ehemaliger Kommilitone anbot, sein Partner zu werden und sich in die Firma einkaufte. Das war der Startschuss für Marc Edens Karriere. Er behielt sich den Namen des Unternehmens vor und das Stimmrecht im Streitfall. Schon schnell nach dem Zusammenschluss fragte er sich, was für ein Teufel ihn da geritten hatte, ihn mit ins Boot zu nehmen.
Die Zeit würde kommen, da verpasste er dem Nichtsnutz einen heftigen Arschtritt. Die Firma befand sich dort, wo sie jetzt stand, und zwar an der Spitze der internationalen IT-Unternehmen, weil Marc sie dorthin brachte. Marc Eden und nicht Hohlbirne Alexander Kramer. Er hatte nichts dazu beigetragen. Er delegierte vermeintlich die Arbeit im Haus, zumindest dachte er das, wenn er mal wieder stundenlang durch die Büros der Angestellten flanierte, sich überheblich auf die Tischkanten setzte und die Leute bei der Arbeit beobachtete. Letztendlich lief eh alles über Marcs Tisch. Seine Projektmanager meldeten sich ausschließlich bei ihm oder eben Sina, wenn es etwas außerhalb der regulären Meetings zu besprechen gab. Marc war stolz auf sein mittelständisches Unternehmen und würde keineswegs zulassen, dass dieser Miesepeter ihm das Geschäft ruinierte. Sollte er halt schweigsam sein, jedoch nicht am Tisch potenzieller Kunden. Idiot!
»Herzlich willkommen bei Eden Dynamics.« Bestimmt trat er auf die beiden zu und reichte ihnen die Hand. »Marc Eden«, stellte er sich vor und setzte sich an den Kopf des Tisches. »Entschuldigen Sie meine Verspätung, der Verkehr steckt manchmal voller Überraschungen.« Nickend stimmten sie zu, indes Marc eine Erleichterung durchflutete, als es merkte, dass noch nichts verloren war. Das Eis war gebrochen.
Nach fünf Stunden, einer kurzen Unterbrechung, um einen vom Caterer bereitgestellten Snack zu sich zu nehmen, verließ Marc mehr oder weniger zufrieden den Konferenzraum.
»Wir haben den Auftrag«, murmelte er Sina zu, als er auf dem Weg in sein Büro ihren Schreibtisch streifte, setzte aber gleich hinterher: »Kannst du Alexander rufen?« Auch wenn jetzt alles gut lief, so konnte es nicht weitergehen. Sein Geschäftspartner arbeitete nicht für das Unternehmen.
»Was hat er denn schon wieder angestellt?«, murmelte sie die rhetorische Frage vor sich hin und griff zum Hörer. »Hier ist Sina, Herr Eden möchte Sie gerne sprechen!«
Marc verkniff sich ein Lachen, als er sah, wie Sina die Augen rollte. Seine Sekretärin wusste genau, wer welche Leistungen für dieses Unternehmen vollbrachte. Und wenn ihr Alexander dumm kam, ertrug sie es stillschweigend. Das war kein Zeichen von Schwäche, nein. Sie respektierte ihn einfach nur nicht und nahm ihn nicht ernst. Jedem anderen würde Marc etwas erzählen, wenn einer der Angestellten gegenüber der Geschäftsführung respektlos werden würde. Denn egal welchen Krieg sie ausfochten, Marc würde das niemals nach außen zeigen. Was sie sich letztendlich dachten, lag nicht in seinem Ermessen. Sina hatte sich diesen Freifahrtsschein allerdings hart erarbeitet. Sie war mehr an Marcs Seite, als es Alexander jemals war. Sina machte Überstunden, sobald er mit dem Finger schnippte, war Beraterin in allen Lebenslagen und diente oftmals als eine Art Schutzpanzer, sortierte Anfragen jeglicher Art nach Wichtigkeit aus und reichte nur an Marc weiter, was Priorität hatte. Sie wusste über seinen Frust detailliert Bescheid, nicht selten half sie Marc, etwas auszubügeln, was Alexander verbockt hatte.
»Was willst du?« Alexander kam kurz darauf in sein Büro geplatzt, setzte sich vor Marcs Schreibtisch und sah ihn mit dem Fuß wippend an, als hätte er keine Zeit.
»Wir sollten uns über deine Zukunft in diesem Unternehmen unterhalten«, begann er, räumte ein paar Unterlagen zur Seite und betrachtete ihn mit ernster Miene.
»Ich wüsste nicht, was es da zu besprechen gibt. Ich bin dein Partner und das wird auch so bleiben.«
»Alexander, mach dir nichts vor. Du bist für das Unternehmen eine Last, denn sind wir mal ehrlich, welche Kunden hast du uns gebracht? Was trägst du im Geschäftsalltag bei? Wann kann ich mich nur einmal auf dich verlassen?«
»Hey«, sprang Alexander auf und stützte sich drohend auf der Tischplatte ab. »Wer ist eben zu spät gekommen, werter Herr Eden?« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. »Das warst du, nicht ich. Merkst du noch was?«
»Merkst du noch was?«, wiederholte Marc zornig und baute sich ebenfalls in einer drohenden Haltung vor diesem Idioten auf. »Du fragst mich allen Ernstes, ob ich noch etwas merke, nachdem ich uns einen Deal mit einer geschätzten monatlichen Marge im fünfstelligen Bereich eingehandelt habe? Du hast dazu genau was beigetragen? Verzeih mir, wenn ich so stutzig bin, aber ich kann mich daran erinnern, dass du dort schweigend wie ein Mönch gesessen hast und dann über die Canapés hergefallen bist. Und jetzt sieh mir in die Augen und erkläre mir noch einmal, was hier falsch läuft!« Alexander fokussiert, blickte er ihm unerbittlich entgegen. Nein, vorher musste er sich die Zunge abbeißen, sie zerkauen und über den Darm ausscheiden, doch keinesfalls würde er den Blick vor diesem Vollhonk senken.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Alexander sich dem Duell der Titanen entzog und leise flüsterte: »Du wirst mich niemals loswerden. Denn ohne meine finanzielle Spritze wäre die Firma nicht da, wo sie jetzt ist, vergiss das nicht.«
Das hörte sich wie eine Drohung an und Marc wusste genau, dass es auch eine war. Alexander war ein Meister im Manipulieren und Quälen anderer Menschen. Er würde so schnell nicht hinwerfen, aber Marc würde auf keinen Fall aufgeben, das stand fest. Dennoch wusste er, dass er in dieser Situation nichts mehr erreichen konnte, weshalb er schwieg. Ein letztes siegessicheres Seufzen, als würde er denken, dass er tatsächlich Recht hatte und Alexander verließ sein Büro. Arschloch! Ja, es stimmte sogar. Ohne seine anfängliche Unterstützung hätte Marc seine Träume nie verwirklichen können, aber dass die Firma nun erfolgreich war, war auf seine Fähigkeiten zurückzuführen – Marcs Unternehmensführung und Know-how. Wenn es ihm nur um das Geld gehen würde, könnte er ihm mehr als genug in den Rachen schütten. Doch mehr als einmal hatte er bereits bekräftigt, dass er sich nicht aus der Firma kicken ließ.
Ein Klopfen ertönte und kurz darauf betrat Sina sein Büro. »Alles okay hier?«, wollte sie von ihm wissen.
»Das Übliche!«, gab Marc knapp zurück. Er musste diesen Abschaum loswerden und das am besten sofort!
»Alter, da sind wir bei Starbucks, Mom wieder voll peinlich mit ihrem Filterkaffee, und auf einmal steht da Marc Eden neben mir und labert mich an. Marc Eden! Kannst du das glauben?« Während er seiner Zwillingsschwester von dem Höhepunkt des Tages berichtete, leuchteten Marius’ Augen, als hätte er den Allmächtigen höchstpersönlich gesehen. Dabei war er vorhin sehr kleinlaut und fand es gar nicht mal so toll, wie er von ihm angesprochen wurde.
»Nenn Amalia nicht Alter, Marius!«, fuhr Anni dazwischen. »Was ist heute nur los mit dir?« Kopfschüttelnd stand sie in der Küche und wusste nicht, was sie am meisten aufregte. War es ihr Sohn, der scheinbar von allen guten Geistern verlassen war, oder der Löffel, der in einem angetrockneten Joghurtbecher klebte, an dem wiederum ein benutztes Taschentuch hing. Großer Gott, das hier war ein verdammter Schweinestall, anders konnte sie sich das kaum erklären. Ihre Tochter stand an den Kühlschrank gelehnt und beobachtete unbeeindruckt das Schauspiel, während sie eine Banane aß.
»Außerdem hat er dich nicht bloß angesprochen, er hat dich gerügt und darauf hingewiesen, dass du dich anständig artikulieren sollst!« Innerlich jubelte sie, als sie an diesen Moment zurückdachte. Der Typ hatte solch ein Selbstvertrauen, dass selbst sie kurz innehielt, um ihn anzuschauen.
Zuerst fielen ihr seine Tätowierungen auf. Lange verschnörkelte Ausläufer sah man unter dem Jackett hervorlugen. Am Hals konnte man das Porträt eines Mannes erahnen, während seine Haare zu einem unordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengebunden waren. Er war groß, stolz und hatte sie schon selbstbewusst erwähnt? Den knallharten Geschäftsmann, der er war, nahm man ihm ohne mit der Wimper zu zucken zu einhundert Prozent ab. Dass er das war, wusste Anni wiederum, weil man Marc Eden, den Entwickler der die angesagteste Music-App geschaffen hatte, in Köln einfach kannte. Für die einen war er der begehrte Junggeselle, für die anderen ein Mann, den man aus den Tratschspalten diverser Zeitungen, in denen er immer mal wieder mit irgendwelchen Schönheiten abgelichtet wurde, kannte. Für ihren Sohn war er weitaus mehr. Er sammelte sogar Magazine, in denen The Godfather of IT-Mist ein Interview nach dem anderen gab, stapelte sie fein säuberlich in seinem Regal, wenngleich der Rest des Zimmers einem Trümmerfeld glich.
»Aber er hat mich angesprochen, das ist der springende Punkt!«, triumphierte Marius, hievte sich zeitgleich mit den Handballen auf die Arbeitsfläche der Küchenzeile und nahm einen Schluck aus der Sprudelflasche. Nun gut, wenn er das so sehen wollte, bitte.
»Gott, Marius. Komm mal wieder klar«, entgegnete Amalia belustigt. »Hoffentlich träumst du heute Nacht nicht von deinem Zuckerberg 2.0.«
»Halts Maul, Sis! Du hast doch keine Ahnung. Geh mit deinen Barbies spielen.«
»Hey, Leute! Jetzt ist Schluss hier. Habt ihr für die Deutscharbeit gelernt?« Anni wartete nicht auf Antwort, denn diesem Gezanke durfte man erfahrungsgemäß keinen Raum zum Reifen geben, sonst schaukelte sich das pubertäre Rumgestreite im Nu zu einem monströsen Kleinkrieg hoch. »Geht lernen, damit verbringt ihr eure Zeit wenigstens sinnvoll!«
Auch wenn die zwei sie aktuell an den Rande eines Nervenzusammenbruchs trieben, eins funktionierte immer. Ihre Kinder waren wissbegierig und ehrgeizig, was sie oftmals freiwillig hinter ihre Schreibtische bewegte und zum Lernen animierte. Das ersparte Anni eine Menge unschöner Motivationsarbeit, wenn sie daran dachte, wie häufig sich die anderen Mütter darüber beschwerten.
Amalia ging zum Küchentisch, um dort ihre Bananenschale abzulegen, und verließ den Raum. Kopfschüttelnd stand Anni da und betrachtete den Tisch mit großen Augen. Ja, war es denn zu fassen? Der Mülleimer befand sich genau an jener Stelle, wo sie zuvor gestanden hatte und dann wunderte sie sich, warum sie in letzter Zeit so ausgelaugt war? »Amalia, räum deinen Müll weg. Manchmal frage ich mich, wie ihr beide es aufs Gymnasium geschafft habt. Das ist doch unglaublich!«, rief sie in den Flur und wartete, bis ihre Tochter zurückgekehrt war, die Aufgabe erledigt hatte und wortlos die Treppen herauflief.
Als Anni letztendlich zwei Türen zuknallen hörte, wusste sie, dass sie jetzt mindestens ein paar Stunden Ruhe haben würde. Ermüdet stützte sie sich an der Tischkante ab und atmete tief durch.
Anni war normalerweise eine Powerfrau. Sie regelte Haushalt, Kinder, war überaus engagiert in der Dorfgemeinschaft und ging regelmäßig zur Kirche. Zudem arbeitete sie im Backoffice, inklusive der Buchhaltung, in der Firma ihres Mannes, der Vermögensberater war. Anni war mit ihm liiert, seit sie sich beim Schwimmunterricht in der Schule unsterblich ineinander verliebt hatten.
Heute noch hatte sie das Bild vor Augen, wie er mit seinen Klassenkameraden am Beckenrand stand und sich über irgendetwas amüsierte. Sein Lachen bewirkte, dass sich kleine Grübchen auf den Wangen bildeten, die sie umhauten. Zwanzig Jahre war das her und natürlich hatte sich die Faszination um Constantins Grübchen gelegt. Sie verbrachten so viel Zeit miteinander, wie es für eine Unternehmerfamilie möglich war. Zugegebenermaßen war das nicht unbedingt oft. Wenn er mal wieder auf Geschäftsreise war, waren zum Ausgleich die Dorffrauen, die sie mehrmals wöchentlich sah, für sie da. Anni hatte alles, was eine Bilderbuchfamilie ausmachte. Sie hatte tolle Eltern, Schwiegereltern, großartige Kinder, wenn sie manchmal auch ein bisschen nervten, und einen treuen Ehemann.
»Hi.« Constantin trat hinter sie, gab ihr einen Kuss aufs Haar und setzte sich an den Küchentisch.
»Hallo«, grüßte sie ihn müde. »Wie war dein Tag?«
»Anstrengend! Dieser Meier ist so ein Idiot. Er ist absolut beratungsresistent«, sagte er und blickte Anni nach Zustimmung suchend an.
»Ein unsympathischer Kerl«, bestätigte sie, drückte einen Espresso aus dem Kaffeevollautomaten und stellte ihn auf dem Tisch vor ihm ab.
»Aber was bringt es? Er bezahlt nun mal anständig und auch wenn ich weiß, wie du diese abgedroschenen Sätze verabscheust: Der Kunde ist König!« Er pustete in die Tasse, nippte vorsichtig an dem heißen Getränk, und stellte sie mit einem schmerzverzerrten Blick wieder ab, während er sich die verbrannte Lippe rieb. Skeptisch beäugte er Anni kurz darauf. »Alles okay? Du siehst müde aus!«
»Das bin ich. Vielleicht ist eine Erkältung im Anmarsch, wer weiß?«, erwiderte sie und spürte in der Tat diese auslaugende Schwere, die sie seit einigen Tagen begleitete.
»Leg dich hin. Ich mach hier Klarschiff!« Mit einer ausladenden Bewegung zeigte er auf die vollgestellte Küchenzeile, was er nicht näher erläutern musste.
Entschuldigend hob Anni die Schultern. Es brauchte keine weitere Erklärung, schließlich wusste Constantin, welches Pensum Anni tagtäglich erfüllte und was für Schweine in puncto Sauberkeit ihre Kinder waren. Er stand schon immer hinter ihr und würdigte, was sie tat.
»Bin im Bett!«, sagte sie, warf ihm einen dankbaren Blick zu und ließ die chaotische Küche mit ihrem geordneten Ehemann im Einklang zurück. Schnell entledigte sie sich ihrer Klamotten, putzte sich die Zähne, zog sich ein viel zu großes Shirt über, welches sie zum Schlafen gerne trug, und flochte sich ihre fast hüftlangen Haare zu einem Zopf. Als sie endlich die kühlen Bettlaken auf ihrer Haut spürte, merkte sie, wie sich zumindest ihre Muskeln entspannten und sie langsam runterfahren konnte. Das Kissen unter ihrem Kopf mit den Händen zurechtgerückt, betrachtete sie akribisch die Zimmerdecke, während sie den Tag Revue passieren ließ: Sie weckte die Kinder, fuhr ins Büro, kochte für Amalia vegetarisch, für Marius fleischhaltig und räumte das Haus auf, wie jeden Tag. Daraufhin fuhr sie mit ihrem Sohn in die Stadt, denn er brauchte dringend ein Zubehörteil für seinen Laptop, ohne das sein Leben scheinbar spätestens am Abend sinnlos gewesen wäre. Dass ein Weg bis in Kölns Innenstadt im Feierabendverkehr eine Stunde dauerte, versuchte sie, zu verdrängen. Denn diesen Weg mussten sie immerhin zweimal fahren, um nach Hause zu kommen. Und dann wollte sie sich einfach nur einen Kaffee genehmigen, da tickte ihr Sohn wortwörtlich aus, weil sie auf diesen IT-Guru trafen. Wie er sie genannt hatte: »Rotschopf und Superman«, murmelte sie leise vor sich, bevor über ihre Lippen ein Lächeln huschte. Er war wirklich süß. Nein, das passte nicht. Er war eher sexy, ja. Seine ganze Haltung strotzte vor Selbstbewusstsein und dieses gewisse Fünkchen Arroganz stand ihm außerordentlich gut. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Er war auf eine Art unnahbar und dennoch war er, den sie normalerweise nur von gedruckten Zeitungsfotos kannte, für Anni heute wahrhaftig greifbar. Er hatte es geschafft, sie zum Lächeln zu bringen, und automatisch fragte sie sich, wann Constantin das zum letzten Mal fertiggebracht hatte. Ein ungutes Gefühl mischte sich zu dem zarten Kribbeln, was durch den Gedanken an Marc erweckt wurde. Einen solchen Vergleich hatte sie noch nie gezogen, fiel ihr in diesem Moment auf und gleichzeitig auch, dass es schon sehr lange her war, dass sie, bis auf ein nettes und respektvolles Lächeln, seit Monaten nicht mehr mit ihrem Mann herzhaft gelacht hatte. Die Augenbraue zusammengezogen, rollte sich Anni zur Seite. Was sollte sie nun mit dieser Erkenntnis anfangen? War es überhaupt von Bedeutung? Klar, war es das. Bisher existierte in Annis Leben nur ein Mann und das war Constantin, den sie liebte. Er war fürsorglich, hilfsbereit, kultiviert und stand für seine Familie ein. Aber ein Bauchkribbeln gab es ewig nicht mehr.
Das war normal, wenn man bedachte, dass sie bereits seit so langer Zeit ein Paar waren. Der Alltag hatte sie fest im Griff, da blieb keine Zeit für derartige Liebeleien, die auch nur ansatzweise etwas in ihr auslösen könnten. Dass das völliger Quatsch war, war ihr durchaus bewusst und trotzdem versuchte sie sich mit dem Ergebnis ihrer geistigen Arbeit zufriedenzugeben.
Unweigerlich dachte sie an Marc, wie er sie, mit seiner lockeren Art, bestimmend und überlegen vor diesem dämlichen Kaffeeheini gerettet hatte. Er konnte es einfach, da war nichts geschauspielert, er war, wie er war. Das Kribbeln kehrte wieder in ihren Bauch zurück. Er war definitiv eine Marke für sich und gar nicht so abgehoben, wie er in der Presse dargestellt wurde. Was hätte ihr Constantin in dieser Situation getan? Er hätte sie wahrscheinlich aufgefordert, etwas anderes zu bestellen, um kein Aufsehen zu erregen, und Marius hätte er ebenfalls zurechtgewiesen, aber ganz sicher nicht so cool wie Marc Eden, stellte sie schmunzelnd fest. Wenn sie nur daran dachte, wie Marius sich in der Schule mit dem Treffen brüsten würde, musste sie sich ein Auflachen verkneifen. Unter den Nerds konnte er damit Eindruck schinden, das war Fakt. Nun gut, sie gönnte ihm seinen glanzvollen Moment.
Anni wälzte sich von einer Seite zur anderen, fand keine Ruhe. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, ließen sie aufgebracht zurück. Und immer, wenn sie knapp davor war, in einen entspannten Schlaf abzudriften, tauchten Marcs Augen vor ihren auf und machten sie von der einen auf die andere Sekunde wieder hellwach. Gedanklich durfte sie sich diese entgleisenden Ausrutscher ruhig erlauben, solange Constantin das nicht mitbekam.
Ein kurzes Klopfen ertönte an der Zimmertür: »Mom!«, flüsterte Marius leise, als er nähertrat.
»Hm?«, brummte Anni, nicht gewillt, auch nur ein Wort von sich zu geben. Müde, schlafen, Gehirngulasch … Lasst mich doch alle in Frieden. In Gedanken spulte sie noch mal einen Schritt zurück und ergänzte, heißer und scharfer Gehirngulasch. So weit war es schon mit ihr gekommen, dass sie so einen geistigen Unfug fabrizierte.
»Mom!«, erklang eine vorwurfsvolle Stimme.
Marius. Ihr Sohn, ach Gott, da war doch was. Widerwillig schaltete sie das Nachtlicht an. »Was?«, fragte sie monoton.
»Meinst du, wir könnten morgen noch mal zu Starbucks fahren? Wir setzen uns einfach ein bisschen dahin und warten, vielleicht kommt Marc Eden ja wieder. Dann könnte ich mich richtig mit ihm unterhalten.«
»Hä?« Er musste durchgedreht sein. Und sie gleich mit, denn jetzt war es um ihre Artikulation geschehen. Was sollte man zu solch einem Vorschlag nur sagen? Ihr Sohn wollte sich in ein Café setzen, Stunden dort verbringen, nur um möglicherweise sein Vorbild anzu-treffen. »Marius, ich sags nur ein einziges Mal: Geh sofort in dein Bett!«
»Alter, bleib mal cremig. Du gehst ja ab.«
Jetzt setzte sich Anni doch auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich meine Zeit mit dir irgendwo in Köln vergeude, nur weil dieser Eden sich dort einmal einen Kaffee geholt hat? Fernab davon, dass das total bescheuert ist, weißt du nicht mal, ob er regelmäßig da ist oder doch nur sporadisch. Lass mich damit einfach in Ruhe, okay? Ich möchte schlafen.«
»Darf ich denn wenigstens nach der Schule dahin? Ich könnte meine Hausaufgaben da machen.«
»Raus!«, forderte Anni schroffer, als es geplant war und registrierte beruhigt, dass er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Himmel Herrgott, wie konnte man nur in einen derartigen Fanmodus verfallen, das war ja schon fast krankhaft.
»Soll ich dir einen blasen?« Nancy drückte sich scheinbar unauffällig, aber doch irgendwie aufreizend, an sein Bein und raunte ihm ins Ohr, bevor sie die Getränke auf dem runden Tisch abstellte, an dem Marc und seine Kumpels saßen.
»Lass mal, ich bin heute nicht in Stimmung«, wiegelte er in normaler Lautstärke ab und kassierte vier vorwurfsvolle Blicke. Nein, fünf, wenn man Nancy mitzählte. »Sorry!«, murmelte er und nahm einen kräftigen Schluck von dem Whiskey, den er soeben serviert bekommen hatte. Seine Jungs wussten, dass sie fickten, da musste sie nicht so ein Affentheater abhalten und sich fast das Genick ausrenken, nur um ihm ins Ohr zu flüstern, und außerdem sollte er das Ganze eh beenden, da sie eine für ihn wichtige Grenze überschritten hatte.
»Was war das denn? Sonst treibt ihr es doch immer wie die Rammler, egal wann und wo«, brachte Finn es ohne große Umschweife auf den Punkt und erhielt sogleich nickende Bestätigung von Vince, Tom und Björn, die ebenfalls mit am Tisch saßen.
Marc und Nancy trieben es tatsächlich oft und ja, er musste zugeben, es kam schon mal vor, dass sie es im Personalraum machten oder eben in der Küche, die sowieso nie benutzt wurde. Das Hells Bells, die Stammkneipe der Jungs, bot ihnen so einige Ecken, in denen man ungestört schnell abspritzen konnte. Mehr als das war es nicht. Nancy hatte einen Orgasmus, Marcs Eier waren leer, das Vergnügen war beidseitig erfolgt, also ging jeder wieder seiner Wege.
»Dass ich das noch erleben darf«, murmelte Björn.
»Ach, komm. Selbst ein triebgesteuerter Marc braucht irgendwann mal eine Verschnaufpause«, warf Vince verteidigend ein, was die Meute zum Auflachen und ihm ein Lächeln auf die Lippen brachte.
»Was ist los?«, fragte Finn, der ihn von seinen Jungs am ehesten zu durchschauen schien. Nicht nur dort, im Hells Bells am Tisch, sondern in allen Lebenslagen war er stets der richtige Ansprechpartner und stand ihm auf eine ganz besondere Art und Weise zur Seite. Er schwieg, wenn es angebracht war und er brachte ihn zum Reden, sofern es nötig war. Wie auch immer, er hatte ein gutes Händchen für Marc.
»Ich weiß nicht, wie ich Alexander aus der Firma kicken soll. Er schadet mir und dem Unternehmen, was ich faktisch natürlich nicht nachweisen kann, da er diesbezüglich wirklich mal seine drei Gehirnzellen anstrengt und die Schneise der Verwüstung ohne große Beweise hinterlässt. Heute hat er es echt übertrieben, das ist nicht mehr tragbar.«
»Er war schon immer ein Volltrottel«, bemerkte Tom nebenbei. »Du hättest es damals ohne seine Hilfe geschafft!«
»Tja, das weiß ich heute, nur bringt mich das meinem aktuellen Ziel keinen Schritt näher.« Gedankenverloren nahm er einen weiteren Schluck von der goldenen Flüssigkeit, die ihm ein angenehmes Brennen im Hals bescherte.
»Hast du mit deinen Anwälten gesprochen?«, wollte Finn wissen, während er seinen Freund mit ernster Miene musterte.
»Berger ist im Urlaub und da ich nichts akut Handfestes vorzuweisen habe, bleibt er auch dort.«
»Du kriegst das hin, Alter. Es findet sich eine Lösung«, warf Tom ein.
»Hoffen wir es!« Wenn Marc nach außen auch immer der Taffe war, keine Schwäche zeigte und unnahbar wirkte, wie man ihm nachsagte, so waren es genau die Menschen an diesem Tisch denen er uneingeschränkt vertraute und die seine andere Seite kannten. Er konnte nicht zugucken, wie sein Baby, wie er ED liebevoll nannte, den Bach herunter ging und zu einer von vielen Firmen mutierte. Das würde ihn zerstören.
»Und was ist mit Nancy?«, hinterfragte Björn, der somit alle Aufmerksamkeit wieder auf Marc lenkte.
»Was soll mit ihr sein? Ich mag nicht, wenn sie klammert. Neulich stand sie abends vor meiner Tür, das müsst ihr euch mal vorstellen. Ficken, ja. Beziehung, nein. Das waren die Rahmenbedingungen und so machen wir es seit Monaten. So gut kann sie gar nicht sein, dass ich ihr Eintritt in mein Privatleben gewähre. Außerdem hab ich derzeit andere Sachen im Kopf.«
»Gut zu wissen«, blaffte plötzlich eine grelle Stimme hinter ihm. Das vollgestellte Tablett wurde etwas zu schwunghaft auf den Tisch geschoben, sodass die Gläser leicht überliefen und eine stinkwütende Bedienung davonlief.
Na, super, Marc! Gratulation.
»Heute hab ich leider keinen Nerv, um mich mit so einem Kindergarten zu befassen.« Er warf einen Fünfzigeuroschein auf den Tisch, sah einmal in die verwunderten Augen seiner Kumpels, verließ die Bar und fuhr auf direktem Weg nach Hause.
Gerade hatte er es sich auf der Couch gemütlich gemacht, die Beine auf dem Tisch abgestellt und das Bier, welches er sich zuvor aus dem Kühlschrank genommen hatte, angesetzt, als sein Smartphone eine WhatsApp Nachricht ankündigte.
Finn: Soll ich dir vielleicht einen blasen, Honey?
Marc: Massierst du mir dabei die Eier?
Finn: Mal gucken … Quatsch, soll ich vorbeikommen?
So war Finn – herzensgut und selbst in solchen Situationen brachte er ihn zum Lächeln. Wenn er das auch zu schätzen wusste, stand ihm der Kopf gerade nicht nach Besuch. Er würde sich gleich ins Bett legen und versuchen, eine Mütze Schlaf abzubekommen.
Marc: Mach dir keine Sorgen, ich bin nur gestresst, das wird morgen besser sein.
Finn: Du weißt, wo ich wohne. Bis dann, Alter.
Ein klein wenig Wärme, verursacht durch den Rückhalt, den er durch Finn und die Jungs erfahren durfte, legte sich schützend um sein Herz. Dass die Tür seines Seelenverwandten für ihn offenstand, war ihm bewusst, ohne dass Finn ihm das sagen musste. Das galt auch für die anderen, dennoch war es unerklärlicherweise meistens Finn, zu dem es ihn hinzog, wenn es ihm schlecht ging. Marc wusste, dass er ein Spaßvogel war und als diesen gemocht wurde. Aber es gab tief in seinem inneren eine Wunde, die immer wieder aufriss und ihn überfordert und schmerzerfüllt zurückließ. In diesen Momenten war er einfach froh, die Jungs zu haben. Schnell schob er den Gedanken beiseite, denn heute hatte er genug ungelöste Rätsel im Kopf, sodass er sich nicht mit seinen Dämonen auseinandersetzen konnte.
Alexander musste raus, das hatte Prio! Vielleicht hatte Berger tatsächlich einen entscheidenden Hinweis parat, sodass das Ganze endlich ins Rollen kam.
Er nahm den letzten Schluck aus der Flasche, stellte diese in die Küche und ging auf direktem Weg ins Bad. Achtlos warf er seine Klamotten neben den Wäschekorb und drehte schon mal das Wasser der Dusche an. Zwischenzeitlich stellte er sich vor den Spiegel, entfernte den Haargummi, und putzte sich die Zähne, während das prasselnde Geräusch des Wassers wie immer eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte.
Frisch geduscht, lag Marc nur Minuten später in seinem Bett, schaltete den Bildschirm neben ihm ein, aktivierte den Timer und streamte über Netflix eine amerikanische Lawyer-Serie, die er ganz unterhaltsam fand und ihm beim Einschlafen half, weil er seine Gedanken auf etwas anderes als die aktuellen Probleme lenkte.
Schnell drückte Marc seinen Wecker aus. Er schlug die Decke zur Seite und schlurfte in die Küche. Während ihm schon der Duft des frisch aufgebrühten Kaffees in die Nase stieg, den sein getimter Vollautomat ihm jeden Morgen zuverlässig in eine Tasse einlaufen ließ, checkte er die E-Mails auf seinem Handy. Wenn heute nichts Großes anstand, würde er von Zuhause arbeiten. Marc war einfach müde. Keine Nachrichten, die nicht Sina für ihn beantworten konnte, der Kalender gab nur einen wichtigen Termin am Nachmittag vor, den er auch vor Ort wahrnehmen würde, aber bis dahin blieb er im Homeoffice.
Er schrieb Sina eine Mail, dass er von zuhause arbeitete und setzte sich erst mal mit seinem Kaffee an den Tisch, um online die Tageszeitung zu lesen.
Er fühlte sich krank, nachdem er wieder so unruhig geschlafen hatte. Marc war kein Typ, der viel litt. Er gehörte eher zu der Kategorie ›Augen zu und durch‹, war stets zum Scherzen aufgelegt und liebte es, in Gesellschaft zu sein. Doch wenn es ihn erwischte, dann richtig!
Nachdem er sogar einen zweiten Kaffee getrunken hatte, und auf dem neuesten Stand des weltlichen Geschehens war, hörte er, wie sich die Tür öffnete. Ein Schrei, der direkt darauf folgte, ließ ihn zusammenzucken. Er hatte ganz vergessen, dass seine Reinigungskraft heute bei ihm sauber machte.
»Guten Morgen, Monsieur Eden. Sie sind daheim!«, stellte sie erschrocken fest und sah ihn irritiert an, bis sie sich rasch schützend eine Hand vor die Augen hielt und nach Luft schnappte. Sie stand dort wie ein kleines Kind, das sich selbst die Sicht nahm, weil es etwas nicht sehen durfte, dachte er sich schmunzelnd.
»Hallo, Angelique«, grüßte er sie und ging erhobenen Hauptes, nur mit seiner Boxershorts bekleidet und sich am Bauch kratzend, lässig an ihr vorbei. »Sie können jetzt wieder gucken, die Luft ist rein«, sagte er amüsiert, woraufhin sie sich tatsächlich in Bewegung setzte, was er an den Geräuschen im Abstellraum hörte, wo die Putzsachen gelagert wurden. Himmel, sie war fast sein Alter und doch so verklemmt, dass sie ihn nicht mal anblicken konnte? »Bin im Büro«, rief er ihr zu, nachdem er eine Jogginghose und ein Shirt übergezogen hatte. Es dauerte nicht lange, bis es an seiner Tür klopfte.
»Pardon, Monsieur Eden. Ich will Entschuldigung sagen, ich wollte nicht gucken, aber sie waren da und ich war überrascht und …«
»Es ist nichts geschehen, Angelique. Woher hätten Sie wissen sollen, dass ich mich halbnackt in der Küche aufhalte?« Er zwinkerte ihr zu, während ihr abermals die Röte in die Wangen schoß. Okay, das war etwas unangebracht. »Es ist alles okay«, sagte er abschließend und lächelte sie beruhigend an, bevor sie zufrieden dreinblickend ging.
Sie war ein Goldstück, aus tiefstem Herzen loyal und ehrlich. Sie sabberte ihm nicht hinterher wie andere Weiber, die ihn aus irgendwelchen Zeitungen oder dem Internet kannten. Sie erledigte ihre Arbeit zuverlässig und war höflich, sorgte nicht nur für Ordnung und Sauberkeit, sondern auch dafür, dass sein Kühlschrank stets voll war und die Wohnung gemütlich aussah. Sie traute sich zudem, ab und zu etwas Dekoration aufzustellen, und war immer ziemlich nervös, ob es von ihm akzeptiert wurde. Lieber würde er sich die Zunge abbeißen, als irgendetwas zu kritisieren, was sie liebevoll arrangierte. Selbst wenn es mal nicht Marcs Geschmack entsprach, eines war es immer: Es kam aus tiefstem Herzen und das verlieh seinem Zuhause eine angenehme Wärme. Kurz um, er mochte sein Mädchen für alles und sollte sich lieber nicht allzu viele Scherze mit ihr erlauben, denn er wollte sie noch ein wenig behalten.