cover

Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Simone Kohl

Lektorat: Alexandra Bauer (textwerk, München)

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Christina Bodner

impressum ISBN 978-3-8338-7618-9

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Coverabbildung: Gräfe und Unzer Verlag/Gaby Gerster

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-7618 12_2020_02

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Unser Leben ist mittlerweile ein einziges undurchdringbares Labyrinth aus Wenn-dann-Konstruktionen: Wenn der Traumpartner vor der Tür steht, die Kinder wohlgeraten sind, wir erst mal ein Top-Figürchen haben, es endlich schaffen, jeden Morgen joggen zu gehen, die dringend nötige Beziehungsarbeit erledigt ist, im Bett regelmäßig Mega-Sexrekorde aufgestellt werden, das Dekolleté so viele Klopfmassagen hatte, dass es nicht mehr wagt, auch nur ein winziges Fältchen zu beherbergen, und wir Liebeskummer als großartige Herausforderung und nicht bloß als prima Gelegenheit für eine Runde Selbstmitleid betrachten – dann ist wirklich alles perfekt.

So glauben wir, uns für das einzig wahre Glück erst mal qualifizieren zu müssen, auch indem wir uns und unser Leben als rundum mangelhaft betrachten. Unter die Arme greift uns dabei die »Glücksindustrie«, die allüberall Optimierungsbedarf sieht. Constanze Kleis empfiehlt uns dagegen warmherzig-humorvoll den Ausstieg aus der Lebensverbesserungs-Tyrannei. Sie ermutigt uns zur eigenwilligen Liebe, zum Schlaf für Anfänger und Sex für Dilettanten, zum Traurigsein für Selbstbewusste, zur Macke für Souveräne ... dazu, herrlich unzulänglich und gerade deshalb gut genug zu sein.

Einhörner to go

»Du fragst mich, Kind, was Liebe ist? Ein Stern in einem Haufen Mist.«

Heinrich Heine

DER SCHÖNSTE VERLOBUNGSRING ALLER ZEITEN

Kürzlich erzählte eine ältere Kollegin in der Mittagspause, dass sie den Hochzeitstag ohne ihren Mann verbracht hätte. »Ehrlich gesagt, als ich den Besuch bei meiner Freundin in Hamburg plante, hatte ich den Termin überhaupt nicht auf dem Zettel.« Ihr Mann sei deshalb keinesfalls böse gewesen, »den strengen solche Termine sowieso arg an«. Gut, die beiden sind schon eine Weile verheiratet, trotzdem merkte man es den jüngeren Kolleginnen am Tisch an, wie stark sie das an eine Kapitulationserklärung erinnerte. »Also für mich käme das nicht infrage«, sagte die eine, »mein Mann weiß schon, dass er sich da ordentlich ins Zeug legen sollte. Und natürlich planen wir schon Wochen vorher, was wir an dem Tag tun werden.« Man könnte die unterschiedlichen Erwartungen der jeweiligen Altersgruppe den verschiedenen Stadien der Liebe zuschreiben. Aber das würde es nicht ganz treffen. Natürlich gibt es auch in der Ehe der älteren Kollegin romantische Momente. Die sind zwar nicht ganz so plakativ, aber durchaus mindestens ebenso süß wie das standardisierte Candle-Light-Dinner im benachbarten Schlosshotel für 58 Euro, inklusive einem Glas Champagner (0,1 l), das die Jüngere sich mit ihrem Mann beim letzten Hochzeitstag »gegönnt« hatte. Die Ältere erzählt, was für sie bislang das Romantischste war, das ihr Mann für sie getan hat: »Wir haben beide lange geraucht und irgendwann damit aufgehört. Harald hat allerdings bald heimlich wieder angefangen. Habe ich natürlich gemerkt. Aber nichts gesagt. Er hat aber wieder aufgehört. Dafür habe ich dann bei einer Feier eine Zigarette geraucht und heimlich weitergequalmt. Nie hat er ein Wort darüber verloren, wenn es im Auto – trotz allen Lüftens – sicher immer auch ein wenig nach Rauch gerochen hat. Im Urlaub war das natürlich schwierig, an meine Nikotindosis zu kommen. Wir waren ja quasi 24 Stunden zusammen. Aber ich habe gemerkt, dass er mir dafür Gelegenheit gab. Er trödelte zum Beispiel immer extralange beim Brötchenholen, damit ich schon mal eine rauchen konnte.« Mittlerweile ist sie längst wieder von den Zigaretten los. Aber die Geschichte ist immer noch gut. Schon weil da ein Mann seiner Frau zuliebe auf die so enorm günstige Gelegenheit verzichtet hat, sie zu belehren, aufzutrumpfen, erzieherisch tätig zu werden.

DAS finde ich mordsromantisch. Und ganz im Sinne von Oscar Wilde, der einmal meinte, es läge in der Natur der Romantik, sich nicht vorschreiben zu lassen, wo und wie sie sich zu zeigen hat – und wie teuer sie zu sein habe, damit wir wissen, dass es Liebe sein muss. Die wahre Romantik, die, die das Herz ergreift und an die man sich noch erinnert, wenn man mit 90 alles vergessen hat, war zu ihrer Geburt im 18. Jahrhundert ohnehin als Individualist und Freigeist gedacht. Aufgrund der Industrialisierung hatte man damals eine große Sehnsucht nach Innerlichkeit, nach einem emotionalen Mehrwert, nach Gefühlen und einem Ausbruch aus einem beschwerlichen Dasein. Man wollte das Yin zum Yang des Alltags, ein Gegenmodell zur Ratio, einen »Stern in einem Haufen Mist« (Heinrich Heine). Ganz ähnlich ergeht es uns heute. Auch wir befinden uns in einer großen Umbruchphase. Müssen in einer Welt zurechtkommen, in der wir einerseits alles berechnen können, in der uns die Software sogar das Flirten (Tinder und Co) und die Freundschaftspflege (Facebook, Instagram) abnimmt. Andererseits erleben wir dank Corona einmal wieder, dass wir überhaupt nichts kontrollieren können und ständig alles möglich zu sein scheint: Pandemien ebenso wie Superzecken und vermutlich bald auch die ersten Aliens. Mit dem so paradoxen Ergebnis, dass wir auch in unseren Beziehungen Herzklopfen mit Planungssicherheit suchen, das Abenteuer mit Happy-End-Garantie, Einhörner to go sozusagen. Oder wie die Soziologin Eva Illouz, die sowohl an der Hebräischen Universität Jerusalem als auch in Paris lehrt, es formuliert: eine »sehr vernünftige Verrücktheit«. Für ihre Studie Der Konsum der Romantik hat sie sich intensiv mit unseren Erwartungen an eine ideale Zweisamkeit befasst. Die setzt sich demnach idealerweise aus hemmungsloser Leidenschaft in der im Wochen im Voraus gebuchten Romantikhotelsuite (Rosenblätter auf dem Bett inklusive), aus dem Herzflattern bei akribisch durchgeplanten Traumhochzeiten und – für die ganz Mutigen – aus Sexterminen wie der Mottoparty »Venezianische Nacht« im Swingerklub mit Nudelsalat, Frikadellen und Privatspind zusammen.

»Authentizitätsfallen«, so nennt der Kunsthistoriker und Publizist Christian Saehrendt in seinem Buch Gefühlige Zeiten diese Romantik-energydrinks, gebraut aus lauter synthetischen Süßstoffen in den Laboren von Eventmanagern, Hochzeitsausstattern, Reiseveranstaltern. Sie versprechen Genuss ohne Reue, das angsteinflößende Ungeheuer »Zufall« in ein Schoßhündchen zu verwandeln. Aber wie das mit Ersatzstoffen nun mal so ist: Sie machen bloß immer nur gierig nach mehr, ohne jemals die Sehnsucht nach dem Echten zu befriedigen. Sie erschaffen außerdem Bilder, die unsere Romantikvorstellung prägen und Maßstäbe setzen, an denen wir unsere Liebe sowie uns messen lassen müssen: »Was? Du hast noch kein Liebesschloss am Eisernen Steg? Wer weiß, ob dein Mann wirklich noch der Richtige ist!« Oder: »Wie? Der Heiratsantrag fand ohne Feuerwerk statt? Kein youtube-taugliches Großevent? Ob das wirklich Liebe sein kann?« Klar funktioniert die Retortenromantik: das malerische Wochenende im Wellnesshotel inklusive Candle-Light-Dinner, Rosenblätter auf dem Hotelbett, der Ring, der überraschend im Dessert auftaucht. Sie wirken wie ein Romantikesperanto – diese Gesten werden überall verstanden und man weiß gleich, dass es Liebe sein soll. Aber trotzdem bleibt da immer ein schales Gefühl, wenn man dann im Hotelrestaurant sitzt, wo auch die Tische anderer Pärchen mit einer halben Flasche Champagner und einer Rose ausgestattet sind, weil das zum Pauschalangebot gehört. Und man denkt: Sollte es nicht anders sein? Aufregender, abenteuerlicher, prickelnder? Besonders, einmalig? Sollte Romantik nicht ein Ausstieg aus dem Alltag sein und nicht einen eigenen erschaffen? Hätten wir nicht besser mal etwas wagen sollen – und sei es nur, sich abseits des Romantikmainstreams zu bewegen? Anstatt vor lauter Angst, danebenzulieben, immer auf Nummer sicher gehen zu wollen? Erkennen wir nicht mal mehr selbst, wann es Liebe ist und mit wem sich dieses großartige Zukunftsprojekt realisieren lässt? Brauchen wir dazu immer einen kostenpflichtigen Simultanübersetzer? So wie »Laura Müllers Verlobungsring von Rauschmayer – als Nachahmung in Sterlingsilber mit Zirkonia« für 59 Euro.10 Ein weiterer Tiefpunkt aus der Rubrik »Discounterromantik«. Mit diesem »Statement puren Glücks« hatte der Wendler seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht und seitdem kann man das »Unikat« als Replik kaufen. Mit ihm sollen auch die Gefühle erhältlich sein, die auf der Website des Anbieters praktischerweise gleich mitgeliefert werden: »Das ist der schönste Verlobungsring, den ich mir je hätte erträumen können.«11

Aber hat nicht Gunter Sachs für Brigitte Bardot Rosen regnen lassen? Aus einem Hubschrauber? Und hat nicht der Mann der Freundin ihr einfach mal so ein paar Tickets für ein Wochenende nach Paris hingelegt? Nach oben ist immer noch Luft, also Platz für Enttäuschungen. Es ist wie mit allem: je höher die Dosis, umso größer die Gier nach mehr. Natürlich ist es möglich, auf Tinder den tollsten Mann der Welt zu finden, und auch ein Candle-Light-Dinner kann wunderbar sein, zumal wenn der Gastgeber dafür auf ein wichtiges Fußballspiel verzichtet hat. Überhaupt ist nichts gegen kommerzielle Romantikangebote einzuwenden. Sie wirken gerade in langen Beziehungen wie ein Romantikreminder, wie ein Aufzug, der tut, wofür man ihn bezahlt: einen zuverlässig auf Wolke sieben bringen. Ob wir dort den nächsten Einkauf besprechen oder noch einmal heimlich in das – eigentlich – geschlossene Hotelschwimmbad schleichen, das macht vielleicht letztlich den Unterschied. Ganz viel spricht ja dafür, einfach zu improvisieren, sich fallen zu lassen, darauf zu vertrauen, dass er oder sie schon verstehen wird, wie wir unsere Gefühle ausdrücken. Ganz jenseits der Romantikautobahnen – auf den Feldwegen der Liebe. Ja, auch auf die Gefahr hin, dass es dort regnet, die Ameisen das Picknick entern, in der Nähe Erlen blühen und man davon sofort Ausschlag bekommt. »Klar ist sicher, dass ohne Lust zum Risiko wir gar nicht wüssten, wie verschiebbar die Wirklichkeit und ihre Grenzen sind«, meinte der Schweizer Philosoph und Publizist Georg Kohler einmal.12 Das gilt genauso für die Liebe. Wir werden nie erfahren, wie besonders sie ist, wenn wir ihr – aber auch uns – keine einzige klitzekleine Chance mehr geben, einmal wieder anders sein zu dürfen und uns zu verwandeln.

ANDERS ALS GEDACHT

Wenn kleine Kinder stürzen, und zwar nicht arg, gibt es einen kurzen Moment, in dem sie selbst überlegen, wie schlimm es wohl ist. Entscheidend ist nun, wie besorgt sich die Erwachsenen zeigen. Bleiben sie cool und helfen ganz ruhig beim Aufstehen, ist ja offenbar nichts weiter passiert und das Kind bleibt entspannt. Nimmt den Sturz gelassen. Eilen die Eltern dagegen sofort panisch zu Hilfe, muss es wirklich übel sein. So fühlen wir uns mittlerweile in unseren Beziehungen: Wo einem derart viele unter die Arme greifen wollen, ist die Sache anscheinend ernst und die Liebe offenbar ein Schwerstpflegefall. Wird der dringende Verdacht genährt, dass wir es allein eben nicht mehr draufhaben: eine Beziehung am Leben zu halten oder wenigstens mit Anstand zu Ende zu bringen. Das »Nichtwissenkönnen«, wie es zwischen zwei Menschen laufen wird, die Hochs und Tiefs, die nun mal serienmäßig in jeder Partnerschaft eingebaut sind, werden zum Störfall erklärt. Dauernd poppen Fragen auf: Müssten wir nicht mehr Sex haben? Sollte der nicht großartiger sein? Wieso sitzen wir nur zusammen auf dem Sofa und sind nicht gemeinsam im Tanzkurs, beim Tantra oder wenigstens im Yoga? Müsste unsere Beziehung nicht intensiver sein? Sollte sie mich nicht glücklicher machen? Könnte ich mich nicht besser fühlen? Wertgeschätzter? Im Kino, im Roman und in der Werbung lassen wir uns vorführen, wie das Existenzminimum einer gelungenen Partnerschaft auszusehen hat. Coaches sowie Ratgeber erklären uns, wie es zwischen uns idealerweise laufen sollte – und wie auf keinen Fall. So kommt es immer wieder zu der paradoxen Situation, dass wir uns eigentlich ziemlich gut fühlen würden, hätten wir da nicht eben den Podcast eines Beziehungscoaches gehört. Dort haben wir erfahren, wie viel an »Beziehungsarbeit« noch zu erledigen wäre, bevor man endlich sagen könnte: »Wir haben echt dauernd ganz doll Glück miteinander.« Kürzlich beschwerte sich eine Freundin, die seit mehr als 20 Jahren verheiratet ist, und zwar, wie es aussieht, mit einem sehr zugewandten, interessierten Mann: »Mein Mann spricht viel zu wenig mit mir!« Sie interpretierte seine Zurückhaltung bei den von ihr verordneten Gefühlssezierdebatten gleich als Symptom einer allgemeinen »emotionalen Verarmung«. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass ihr Mann durchaus viel zu erzählen hatte. Von seiner Arbeit, seinen Erlebnissen auf den langen Fahrradtouren, die er mit Freunden unternimmt. Bloß nicht das, was sie hören wollte. »Wir müssen doch über uns reden, unsere Gefühle. Wie wir zueinander stehen!« »Aber warum? Ihr kennt euch schon so lange – sollte das nicht längst geklärt sein?«, wollte ich wissen. »Na ja, wegen der Nähe!«, meinte sie. Ob die sich herstellt, wenn sie die Themen vorgibt? Nachdem es sie eigentlich nicht wirklich interessiert, was er gern mit ihr teilen würde?

Studien bestätigen immer mal wieder, Frauen seien traditionell ohnehin beziehungsorientierter als Männer, die lieber Sachthemen teilen. Natürlich empfinden Frauen ihre Haltung als »gesünder« und »produktiver« – und nicht nur sie. In unserer durchpsychologisierten Gesellschaft ist es ja längst beschlossene Sache, dass man sein Innerstes möglichst nach außen tragen und seine Beziehung auf Dauerreflexion schalten sollte. Auf dieses Ungleichgewicht baut ein ganzer Wirtschaftszweig. Er lebt davon, Frauen darin zu bestärken, Männer als eine Art Gefühlsgrundschüler zu betrachten, die man nur mit sehr viel Nachhilfe durch die höhere Beziehungsreife bringen kann. Das soll nicht die stumpfe Selbstgenügsamkeit rechtfertigen, die manche Männer auf der anderen Seite dokumentieren. Wenn sie etwa in Umfragen stets angeben, in ihrer Ehe würde alles bestens laufen, während ihre Frauen schon die Koffer packen und die Scheidung planen. Aber es sei der Einwand erlaubt, ob vieles, was wir in unseren Beziehungen gefälligst anzustreben haben sollen, auch wirklich seinen Zweck erfüllt. Ob die Verunsicherung, zu der der ständige Abgleich mit den vermeintlich idealen Beziehungsbedingungen führt, nicht erst das schafft, was er doch zu verhindern verspricht: Unzufriedenheit und Unglück. Ob uns das wirklich darin bestärkt, selbstbewusst so wortkarg oder wortreich, so überschwänglich oder minimalistisch, so leidenschaftlich oder auch distanziert zu lieben, wie es eben nur zwei Menschen für sich zu zweit aushandeln können.

Ich habe mir einige dieser Gefühlserweckungsgottesdienste angehört und angeschaut – und war erstaunt über das Maß der Unsicherheit, das sich da bei den jeweiligen Klienten offenbarte. Über diese übergroße Sehnsucht nach Orientierung, nach Aufmerksamkeit, nach Bestärkung, die man allein scheinbar gar nicht mehr stillen kann. Diesen Zuspruch zu liefern und die Klienten darin zu bestätigen, dass sie ihn verdient haben und einfordern dürfen, genügt – fast – schon, um sich zum Beziehungspropheten zu qualifizieren. Und natürlich ein wenig psychotherapeutisches Tamtam, für das bereits eine Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie (Dauer: 27 Wochenenden, Zugangsvoraussetzung: mindestens Hauptschulabschluss) vollkommen ausreicht. Natürlich neben der Erfahrung, mit »Tausenden von Paaren« gearbeitet zu haben. Ob man sich auch von jenen behandeln lassen würde, die sich immer mal wieder als Anästhesisten, Chirurgen, Psychiater oder Allgemeinärzte betätigten, obwohl sie eigentlich »nur« Krankenpfleger waren oder ihr Medizinstudium nicht abgeschlossen hatten? Und heißt es nicht: »Wer heilt, hat recht«? Mag sein. Aber letztlich kann man in diesem partnerschaftlichen Coachkosmos sowieso niemals falsch liegen. Sollte der Taschenspielertrick nicht funktionieren, liegt es ja nie am Trick, sondern an jenen, die sich eben »nicht eingelassen« haben, »nicht offen« gewesen sind oder es »nicht wirklich wollten«. Logisch. Wo wir die »Schöpferinnen unseres Lebens« sein sollen, sind wir eben auch die Urheberinnen unserer Beziehungshavarien. Ob man sich allerdings wirklich grämen sollte, sofern ein Mann nach 27 Ehejahren eben nicht von Leidenschaft übermannt seine Frau nach dem Einkauf im Supermarkt noch im Wohnungsflur auf den Flokati zieht, sondern fragt, wann es Essen gibt? Wenn es nicht mehr täglich Sternschnuppen regnet? Ob man vielleicht nicht etwas ganz anderes braucht als dauernde Ausbesserungsarbeiten an der Liebe? Mehr »so isses« als »wünsch dir was«? Schon aus Selbstschutz? Und um dem großen Beziehungsmimimi einfach mal den Saft abzudrehen?

Jede Beziehung – finde ich – hat ihre eigene Logik. So wie jeder Mensch. Wer sich in einen ruhigen, zuverlässigen Bausparer verliebt hat, weil er eben ein ruhiger, zuverlässiger Bausparer ist, darf nicht erwarten, dass er am Samstagabend zum Discokönig mutiert, nur weil einem selbst danach wäre. Umgekehrt wird ein Chaot nicht plötzlich die Gewürze in der Küche alphabetisch ordnen oder sich daran erinnern, dass Topfblumen leider nicht allein von Luft und Liebe leben. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn man droht, sein Auto anzuzünden, sollte er nicht endlich anfangen, ein anderer zu werden, oder ihn täglich zum Gespräch bittet. Mit dem Schlachtruf »Den bieg ich mir schon hin!« vergeuden ohnehin viel zu viele Frauen viel zu viel Zeit und Energie damit, den Mann zu neuen Ufern führen zu wollen. In der trügerischen Annahme, es handle sich bei einem Mann – frei nach Katja Kessler – um einen »Rohstoff und kein Fertigprodukt«. »Unter 100 Frauen sind 90, die sich ihre Männer erziehen«, heißt es bei Frank Wedekind.13 Und es gehört zu den unausrottbaren Legenden, ein Mann würde erst durch die Bemühungen einer Frau quasi zum Menschen gemacht. Nichts strapaziert aber selbst die größte Liebe mehr als das Gefühl, dem anderen nicht zu genügen, so wie man halt nun mal ist. Dass es immer noch Verbesserungsbedarf gibt und keinen einzigen winzigen Moment, in dem einmal alles gut ist. Warum nicht Unvereinbarkeiten bisweilen einfach unter den Teppich kehren, anstatt sie ewig auf »Wiedervorlage« zu setzen. Unter die Auslegeware gehören nämlich exakt 69 Prozent aller Konflikte und allen Unwohlseins in Beziehungen. Zu diesem Ergebnis kam der amerikanische Psychologe und emeritierte Professor für Psychologie an der University of Washington John Gottman in seinen jahrelangen Studien. Er sah, wie viele Paare sich im 25. Jahr ihrer Ehe noch genauso unerbittlich über bestimmte Themen stritten wie im ersten – ohne dass sich in all den Jahrzehnten irgendetwas zum Besseren bewegt hätte. Er stellte aber auch fest, dass die glücklichen Paare gleich von Beginn an aufgehört hatten, diese Art von unlösbaren Konflikten auszufechten, sie einfach früh zu den Akten gelegt hatten. Nämlich, als sie merkten, sie kommen da nicht weiter. Das bedeutet nicht, man müsse sich alles bieten lassen. Aber es nimmt auch ein wenig die Luft aus den so monströs aufgeblasenen Beziehungsverbesserungsprogrammen, die aus der Zweisamkeit eine Hauptbeschäftigung machen wollen – so wie für die Coaches. Man kann sich natürlich auch darüber ärgern und sich fragen, warum für solcherlei Angebote stets die Hetero-zweisamkeit die Matrix abgibt. Und zwar nicht etwa die auf Zeit, sondern die – das ist ja das Ideal –, die ein Leben lang währt und natürlich für die gesamte Laufzeit ein »höheres körperliches Erleben« vorsieht, »welches nur in der Partnerschaft und bewusst gefunden werden kann«. So steht es zumindest auf der Website vieler Beziehungsberater. Falls nicht, kann man den Kurs »Sex ist Liebe« buchen und lernen, dass »Sexualität« eben nicht gleich »Lustbefriedigung ist«. Wäre jetzt nicht ganz mein Ziel. Ich persönlich finde ja, man kann auch ohne Liebe sehr guten Sex haben. Und für viele Paare wäre ohnehin bereits viel gewonnen, gäbe es einfach bloß mal wieder »Lustbefriedigung« ohne diesen ganzen ideologischen Ballast, der so etwas wie geilen Sex nur unnötig verkompliziert. Außerdem glaube ich keinesfalls daran, dass »wir mit unserer Liebe alles bewirken können«. Wäre es so, hätten wir längst mindestens so viele Frauen in den Vorständen wie Männer. Es würden hierzulande nicht jährlich 122 Frauen von ihren Männern oder Partnern getötet und es würden nicht knapp 115.000 Frauen Gewalt durch ihre Partner oder Ex-Partner erfahren. Wir hätten gerechte Bezahlung, eine bessere Kinderbetreuung und überhaupt einen respektvolleren Umgang mit Frauen – und zwar jeden Alters, nicht erst nach der Vorsortierung in »fickbar« und »unfickbar«. Ich finde, Frauen haben in den letzten Jahrhunderten wirklich schon ausreichend genug geliebt, um mit ziemlicher Sicherheit sagen zu können, dass man daraus keine Vollzeitbeschäftigung machen sollte, weil diese Methode uns nicht sehr weit gebracht hat. Ich würde es stattdessen viel lieber mit mehr Entschiedenheit versuchen: für Gleichberechtigung, Frauenrechte, Frauenquote, für eine faire Aufteilung der Hausarbeit. Ich bin überzeugt davon, dies hätte auch fantastische Auswirkungen auf die Beziehungszufriedenheit und natürlich auf den Sex.

DIE REGENSCHIRMMETHODE

Laut Beziehungs- und Familienpanel pairfam, der mit 12.402 Teilnehmern wohl umfangreichsten Datensammlung rund um die »partnerschaftlichen und familialen Lebensformen in Deutschland«, sind es gerade die viel zu hohen Erwartungen, die Beziehungen so in Schräglage bringen. Wenn jede Kleinigkeit sofort für Beunruhigung sorgt und gleich das große Ganze – die »Beziehungsfähigkeit« – infrage stellt. Dabei, so ein weiteres pairfam-Ergebnis, hängt die Beziehungsdauer und -zufriedenheit nicht etwa von inneren Faktoren, sondern vor allem von äußeren Umständen ab. Vom Jobfrust, von Elternschaft, von finanziellen Sorgen, Arbeitslosigkeit oder auch schweren Erkrankungen. Was Paare stärkt, sei demnach das »dyadische Coping«, die Fähigkeit, gemeinsam äußere Belastungen abzufedern. Das fand auch der Psychologe Guy Bodenmann, der als Professor an der ETH Zürich verortet ist, in seinen Studien bestätigt. Zufriedene Paare unterscheiden sich demnach von unzufriedenen hauptsächlich dadurch, dass sie sich gegenseitig unterstützen, sich seltener kritisch beurteilen und schneller praktische Hilfe anbieten. Im Prinzip ist das Einzige, was man dann noch tun muss, für sich zu entscheiden, wie froh man über den Partner sein kann, anstatt darüber nachzugrübeln, warum auf dem Ehebett bloß die Tagesdecke liegt und keine Rosenblätter. Überhaupt besteht die ganze Kunst des Liebens darin zu wissen, wann es gut ist. Für uns. Nicht für die anderen. Nicht absolut betrachtet. Nicht im Vergleich zu den Nachbarn, auch nicht zu Verona Pooth oder Bridget Jones und schon gleich gar nicht zum Wendler und seiner Laura Müller. Das gilt auch für die ständige Suche nach Liebesbeweisen, das andauernde Abarbeiten eines vermeintlichen Romantik- und Reflexionsplansolls. Laut des amerikanischen Essayisten Jimmy Cannon gibt es am Ende sowieso nur ein günstiges und gleichermaßen untrügliches Indiz dafür, dass es bei einem Mann die ganz großen Gefühle sind: »Wie sehr ein Mann eine Frau liebt, beurteile ich danach, wie viel Platz er ihr unter dem Regenschirm einräumt.«14 Sparen Sie sich also den Beziehungsratgeber, das Liebesschloss, das Candle-Light-Dinner, das Wochenende mit dem Beziehungscoach und überhaupt die ganzen Liebestermingeschäfte. Besorgen Sie sich einfach einen Regenschirm. Der ist genauso gut oder schlecht wie alle anderen Liebesorakel.

Alles auf Anfang

»Jeder hat seine Probleme.«

Elton John

Meine Mutter erzählte oft, wie unwirsch ich als Kleinkind werden konnte, wenn man mir etwas abnehmen wollte. Auch die Dinge, für die ich eigentlich noch längst nicht alt genug war. Zum Beispiel die kostbare Zuckerdose von Oma zum Schrank tragen. »Ich kann auch allein …!«, erklärte ich und fand das – wie vermutlich so ziemlich alle aus dieser Altersgruppe – ein höchst begehrenswertes Fernziel. Falls sich das Erwachsenwerden überhaupt lohnen würde, dann doch unbedingt dafür. Allerdings habe ich mich da offenbar schwer getäuscht. Denn in den letzten Jahren gleicht die Aussicht, etwas selbst zu entscheiden, offenbar zunehmend einer Einladung in den mentalen Panikraum. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Lebensbereich, in dem wir uns nicht lieber von Profis unter die Arme greifen lassen. Dauernd werden damit unsere Daseinskompetenzen auf den Status »Anfänger« gestellt. Wir überlassen es Coaches, Beratern und anderen Menschen, die es angeblich besser wissen wollen als wir, unser Leben zu lenken. Sie zeigen uns, was Glück ist und wie man es erreicht, wie man sich verliebt, trennt, wie man Kinder erzieht, Karriere und auch eine Pause davon macht, wie unzufrieden und unerfüllt wir in unseren Jobs sind, wie man spazieren geht, sich selbst findet und was man von dem zu halten hat, was man dabei entdeckt. Noch nie war unsere Gesellschaft so durchgecoacht und -psychologisiert wie heute. Mit der Folge, dass heutzutage nichts mehr nur ein Sandkorn im Alltagsgetriebe ist, das man am Tresen von Uschis Pilsstube mit seinen Kumpels oder beim Wein mit seiner Freundin entfernt und somit sein Leben selbst wieder auf »Rundlauf« stellt. Nein, im Gegenteil, alles ist gleich Lebenskrise, Sinnkrise, Beziehungskrise, Motivationskrise, Überforderungskrise, Paarkrise, Jobkrise, Elternkrise und Midlife-Crisis – also mindestens eine Katastrophe. Etwas, das wir keinesfalls in Eigenregie verbessern, lösen oder ändern können. Angefangen bei der Politik, die gemessen an den milliardenschweren Beraterhonoraren praktisch gar nichts mehr »allein« kann, bis hin zur Organisation der Sockenschublade, die wir nicht etwa nach einem eigenen oder gar keinem System ordnen, sondern unter Aufsicht und Anleitung der globalen Aufräumexpertin Marie Kondo. Partnersuche ohne das Gefühlsordnungs- sowie Ortungssystem von Tinder und Co? Unmöglich heutzutage! Eine Beziehung führen? Ohne die Psychotipps und Gebrauchsanweisungen der Paarcoaches offenbar so riskant, als wolle man mit einem Faltboot den Ozean überqueren.

Wir verlernen dabei nicht nur, unsere Probleme selbst zu lösen, sondern auch einzuschätzen, ob es überhaupt Handlungsbedarf gibt. Ob wir glücklich oder unglücklich sind, ob wir verliebt sind, zurückgeliebt werden – und ob wir damit zufrieden sein können. Ob wir nicht eigentlich ganz in Ordnung sind, so wie wir sind. Oder ob wir wie der kleine Häwelmann im gleichnamigen Märchen von Theodor Storm nicht »mehr, mehr, mehr« sein müssten, und das selbstverständlich mithilfe – ja klar – der professionellen Vorsager, die uns jetzt allüberall unser Leben soufflieren. Sie versprechen uns Sicherheit, Kontrolle, Glück sowie Mitbestimmung bei den Schicksalsmächten. Aber eigentlich sind sie nur die Eintrittskarten in das große Jammertal: die Homebase des Mimimi. Die vielen Lösungsangebote erhöhen ja vor allem die Anzahl der Probleme und machen uns somit nur noch unruhiger, als wir es sowieso schon waren, bevor wir anfingen, uns beraten zu lassen. Wo es immer nur ein »Richtig« zu geben scheint, ist stets auch ein »Falsch« als größtmögliche Bedrohung inbegriffen. Nicht, dass wir hier und da nicht ein wenig Entwicklungshilfe nötig hätten. Und es kann nie verkehrt sein, ein besserer Mensch werden zu wollen. Aber es macht die Menschen erfahrungsgemäß ja nicht glücklicher, wenn man ihnen suggeriert, sie befänden sich immer bloß auf dem Weg, gelangten aber nie ans Ziel. Wo jeder seines Glückes Schmied sein soll, ist nämlich jeder seines Versagens Verursacher. Theoretisch. Praktisch hat die Entlastungsindustrie hier ebenfalls eine verlockende Lösung, indem sie selbst noch das kleinste Problem zur psychologischen Großbaustelle erklärt: Herzschmerz, Melancholie, Trauer, Unsicherheit, Schüchternheit beispielsweise. Was gestern noch normal war, gilt heute schon als krankhaft, dringend behandlungsbedürftig – und liegt damit ganz einfach jenseits unserer Verantwortung.

Zeige deine Wunde, so lautet der Titel einer Installation von Joseph Beuys. Wir haben ihn wörtlich genommen. Wie die It-Bag gehört die Psychomacke mittlerweile zu den Must-haves. Wollte man seine Probleme früher tunlichst verstecken, sind sie diagnostisch hochgetunt längst wichtiger Selbstvermarktungsbaustein: Die Borderlinestörung von Lindsay Lohan, die Depressionen von Britney Spears, das ADHS von Adam Levine (Sänger von Maroon 5), die Zwangsstörung von Bestsellerautor John Green oder Schauspielerin Brittany Snow, die gleich mit einem Triple – Depressionen, Dysmorphophobie, Essstörungen – in die Outingarena trat. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Sicher bedeutet die Anerkenntnis psychischer Erkrankungen einen enormen Quantensprung in der Medizin und für die Betroffenen. Einerseits. Andererseits hat der Psychomarkt seine Produktpalette in einem Umfang erweitert, wie man es sonst nur von chinesischen Weihnachtsdekorationsartikel-Herstellern kennt. Nichts mehr braucht einfach so hingenommen zu werden, alles gehört professionell bearbeitet. Mit der Folge, dass die so dringend benötigten Therapieplätze für psychisch schwer Angeschlagene immer häufiger auf Monate im Voraus von Menschen wie etwa meiner Bekannten belegt sind. Die nun seit mehr als 15 Jahren mit ihrer Therapeutin die Unmöglichkeit bespricht, einen Mann zu finden, der aussieht wie Brad Pitt, wohlhabend, klug, wahnsinnig erfolgreich, humorvoll UND mit ausreichend Freizeit ausgestattet ist, um mit ihr Kochkurse, Opern zu besuchen und Ayurvedakuren zu absolvieren. Ein Unglück, das sie – wie sie meint – einem »emotional abwesenden Vater« verdankt. Man könnte auch sagen: »Reiß dich einfach mal zusammen!«, »Problem erkannt, Problem gebannt!« oder »Schau dir wenigstens mal Klaus-Dieter aus der Buchhaltung an, bevor du enttäuscht bist, dass Brad Pitt schon andere Pläne hatte, als dich zu heiraten«. Das hätte den charmanten Vorteil, dass man das große Grämen allein beenden könnte. Aber es ist offenbar längst zu verlockend geworden, sich mit einem Seufzer der Erleichterung an die breite Brust der »Das-Ich-als-Opfer-Industrie« zu werfen, wie der britische Soziologe Frank Furedi das Phänomen nennt. Es ist wie in der Sparkassenwerbung, in der einer mit »Mein Haus, mein Auto, mein Boot!« protzt. Wie steht man denn da, wenn man nichts weiter zu bieten hat als »Schlecht geschlafen!« oder »Gerade langweilt mich meine Arbeit!«. Und andere längst mit den ganz großen Spielkarten trumpfen – also mit Burn-out, Panikattacken oder ADHS? Was müsste man dagegen alles tun, falls man anfangen würde, sich selbst ans Steuer seines Lebens zu setzen? Man wird schon wahnsinnig müde, sobald man bloß darüber nachdenkt.