Wolf Lotter
ZUSAMMENHÄNGE
Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen
»Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.«
PETER DRUCKER: »DIE POSTKAPITALISTISCHE GESELLSCHAFT«, 1993
Inhalt
I.Die Kontextkompetenz
Was uns mit der Welt verbindet
II.Das Gewebe der Welt
Die Kultur der Zusammenhänge
III.Der technologische Kontext
Warum man die Büchse der Pandora öffnen muss
IV.Der ökonomische Kontext
Vom Haustyrannen zur Selbstbestimmung
V.Der organisatorische Kontext
Von der Kunst, die richtigen Dinge zu tun
VI.Die neuen Zusammenhänge
Auf dem Weg zum besseren Verstehen
Anmerkungen
I. Die Kontextkompetenz
Was uns mit der Welt verbindet
»Wissen existiert dort, wo etwas erklärt und verstanden werden kann.«
Wir, der Wald und die Bäume
Wir leben in einer Wissensgesellschaft, über die wir wenig oder gar nichts wissen. Das ist eine alltägliche Erfahrung. Wir sprechen über Netzwerke der Technik und der Ökonomie, über die Zivilgesellschaft und mehr Mitbestimmung, weniger Hierarchien oder eine adäquate Bildung für das 21. Jahrhundert. Es wird viel geredet, aber meist wenig gesagt. Oder klug verfasst und nicht verstanden. Wir leiden unter Durchblicksmangel, uns fehlt der Zusammenhang.
Dabei ist es doch die Fähigkeit, auf einer soliden Grundlage Entscheidungen zu treffen, die den selbstbestimmten Menschen ausmacht. Das aber geht nur, wenn sein Wissen auch anschlussfähig ist: an die Welt, an »die Anderen«. Diese Kontextkompetenz steht im Mittelpunkt dieses Buches. Sie verbindet das Ich, seine Fähigkeiten, seine Talente und seine unverwechselbaren Eigenschaften mit dem Wir. Kontextkompetenz heißt auch, falsche Fakten und die Grundmuster von Verschwörungstheorien zu erkennen. Kontextkompetenz ermöglicht in der Wissensgesellschaft, was in der spätindustriellen Welt der Experten und Nischen immer schwieriger, wenn nicht unmöglich wird: etwas voneinander wissen zu wollen.
Wissen ist kein Selbstzweck.
Und was wäre denn das: Wissen?
Der Leitsatz für dieses Buch stammt aus Konrad Paul Liessmanns »Theorie der Unbildung«1. Der Wiener Philosoph schreibt darin: »Wissen existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann.« Wissen ist eine Frage des Kontextes, des Zusammenhangs. »Ob Wissen nützen kann«, fährt Liessmann fort, »ist nie eine Frage des Wissens, sondern der Situation, in die man gerät.« Wissen ist Kontext, es strebt nach Beziehungen. Zusammenhänge machen die Welt aus. Kontextwissen ist also eines, das auf beiden Beinen in der Realität steht – und das nicht nur in der Enge einer Disziplin, einer Blase oder in einem selbst wirkt. Jenes atomisierte Wissen nimmt seit Langem überhand. Es verhindert, dass wir souveräner im Umgang mit Veränderungen sind. Wissen heißt immer auch, anderes kennen und damit umgehen können. Wissen fürchtet sich nicht vor der Wirklichkeit, sie ist ihr Spiegelbild.
Liessmann führt als Beispiel das einstige »Orchideenfach« Orientalistik an, welches vor dem 11. September 2001 kaum jemanden interessierte. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York war aber aus dem belächelten Nischenwissen eine »höchst begehrte Kompetenz« geworden, so Liessmann.
Es kommt also auf die Umstände, den Kontext, die Zusammenhänge an, wie wir Wissen beurteilen. Und wer weiß, ob das, was wir heute eher geringschätzig Soft Skills nennen, nicht morgen schon zum harten Kern des Nachgefragten gehört?
Aus diesem Grund empfehlen sich seit jeher Kultur- und Organisationstechniken, bei denen es um schnelle Anpassung und Vielfalt geht und nicht um die Abgrenzung des »Nützlichen« vom »Überflüssigen«, wie sie seit vielen Jahren vorgenommen wird. Der Utilitarismus als Religion taugt nicht für die Wissensgesellschaft, dazu sind seine Götter einfach zu labil.
Das ist gleich zu Beginn dieses Buches ein wichtiger Hinweis darauf, seine Hoffnung nicht auf die falschen Versprechungen all jener zu setzen, die uns hier und heute vermeintlich nützliches Wissen empfehlen wollen.
Noch nie zuvor haben im reichen Westen so viele so viel gelernt und gleichsam so wenig gewusst – also verstanden. Wenn Wissen allein dort existiert, wo etwas »erklärt und verstanden werden kann«, steht es schlecht um uns. Wir reden uns dann nämlich unsere Bildung nur ein. Sie steht auf dem Papier, aber nicht aufrecht in der Welt. Zusammenhänge, also angewandtes Wissen, erschließen sich nicht durch Auswendiglernen, stures Pauken und rekordverdächtige Gedächtnisspiele. Wissen ist konkret. Und stets kommt es darauf an, was man daraus macht. Das Bild einer Wissensgesellschaft, die so tut, als ob es nur ein paar Modelle und Methoden bräuchte, ein paar welterklärende neue Muster, die die alten ersetzen, ist trügerisch. Dieses Buch handelt von Zusammenhängen und wie wir sie sehen, nicht von einem Zusammenhang. Der Plural macht den Unterschied. Denn es geht um Vielfältigkeit und um Möglichkeiten, um Varianten, die in der Netzwerkgesellschaft die Normalität sind. Früher stifteten Herrscher und Parteien, Chefs und Manager einen Zusammenhang, den man nachbeten sollte. So wurde Komplexität reduziert. Man schnitt sie so lange zurecht, bis eine Wahrheit, eine Perspektive übrig blieb. Wenn die Transformation unserer Zeit etwas bedeutet, dann das: Das Zeitalter der Gleichmacherei, des Einordnens, geht zu Ende, allen Tyrannen und Populisten zum Trotz.
Kontextkompetenz heißt, Komplexität zu erschließen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere. Teilhabe, das meint nicht einfach, das, was da ist, neu zu verteilen, sondern es vielmehr so weiterzugeben, dass andere es nutzen – und nicht nur konsumieren können.
Was da ist, soll Früchte tragen, zu Neuem und Eigenem führen. Und diese Fortpflanzung des Wissens sind eben jene Zusammenhänge, von denen wir hier reden. Das ist keine Utopie, sondern ein zeitgemäßes Betriebssystem.
Die Beziehungen, die in neuen Netzwerken entstehen, sind selbst gewählt, sie unterliegen keiner Kausalität, bei der sich Ursache und Wirkung untrennbar und unausweichlich in eine Richtung ereignen muss. Das Denken in simplen Kausalitäten ist ein Kind des alten Reduktionismus, der die Möglichkeiten aus den Augen verloren hat. Mit der Welt des Eindeutigen kommt man aber der hohen Komplexität der Wissensgesellschaft nicht bei. Sie vernachlässigt das Element der Varianten, der selbstbestimmten Beziehungen, fast vollständig. Die Zusammenhänge, über die wir hier sprechen, sind stets Korrelationen, also Wechselbeziehungen, die möglich sind, die aber nicht festen Verhältnissen unterliegen. Sie entstehen nach Bedarf. Das mag manche verunsichern, doch es führt nicht automatisch in die Beliebigkeit. Im Gegenteil: Wir sind gefordert, denn wir müssen uns jeweils richtig entscheiden. Ein Sowohl-als-auch anstelle eines Entweder-oder steht nicht für eine umfassende Relativierung. In der Praxis erweitert sich schlicht das Angebot. Die Wahl des für uns Wichtigen bleibt uns nicht erspart. Sie erfordert eben jene in Netzwerken so wichtige Kompetenz, Personen, Sachverhalte und ihre Eigenschaften zu den eigenen Interessen in einen Zusammenhang zu stellen. Das ist sehr neu für uns, und deshalb scheitern wir oft daran. Wie etwa Journalisten und Politiker oder die Akteure der Sozialen Netzwerke, erklären wir uns unermüdlich mögliche Zusammenhänge zu »logischen Verbindungen«. Manches ist keine Panne, die der allgegenwärtigen Denkkultur der Eindeutigkeit geschuldet ist. Manches ist glatte Manipulation, jenes »Framing«, bei dem man einen Scheinzusammenhang konstruiert, um die Bürger und Kunden, Wähler und Entscheider aufs Kreuz zu legen. Falsche Kausalität aber führt in die Irre. Und sie schadet uns.
Abendländische Irrtümer
Ein Grund für diese Irrwege liegt unmittelbar in der extremen Art und Weise, in der der Industrialismus in den vergangenen 250 Jahren unser Denken zur Einheitlichkeit getrieben, in ein »Ganzes« gezwungen hat. Diese Ära wiederum baut auf dem zentralen geistigen Geschäftsmodell des Abendlandes auf. Sein einheitliches universalistisches Denken ist das Fundament all unserer Erfolge, von der Philosophie der Antike über die Entdeckung der Naturgesetze bis hin zur Art und Weise der Produktion. Bleibt bei dieser Doktrin des Universalismus, wie es der französische Philosoph François Jullien gesagt hat, nicht eines »unweigerlich vernachlässigt«, nämlich »das Individuelle« (oder das Einzigartige), also das, was »die Erfahrung ausmacht«? Man kümmert sich schließlich um einen Menschen, um »je einen«, um diesen oder jenen – und zwar so, wie er ist –, bemerkte schon Aristoteles – »und nicht um den Menschen im Allgemeinen«.2 Allgemeine Schicksale lassen uns gleichgültig. Der Mensch nimmt es immer persönlich.
Damit ist die Richtung dieses Essays bestimmt.
Der Universalismus des Westens hat es geschafft, fast weltweit für materielle Verbesserung zu sorgen, durch die konsequente Anwendung seiner Prinzipien von Einheit, Reduktion und einem über 2000 Jahre mit zunehmender Heftigkeit geführten Feldzug gegen Vielfalt, Komplexität und dessen eigentliche Ursache, die Person. Bald schon wurde aus einer differenzierten Götterwelt ein Monotheismus, der keinen Widerspruch duldete – der Streit, der Diskurs, die Kraft des Andersdenkens wurde zum Nachteil. Normen und Standards erscheinen uns verlässlicher als der eigene kritische Blick, dafür sieht alles übersichtlich aus und birgt keine Widersprüche. Sie sind aber nur sorgsam unter den Teppich gekehrt worden. Und mit jeder großen Transformation der Gesellschaft drängen sie nach oben.
Nun haben wir materiell so viel erreicht, dass wir unweigerlich an die Grenzen der Wirksamkeit dieser Idee der Einheit geraten sind. »Nach dem Fressen kommt die Moral«, hat Bert Brecht geschrieben, aber kaum jemand mag den Zusammenhang mit der gegenwärtigen großen Transformation in Wirtschaft, Politik und Technologie zu erkennen. Wir moralisieren mit vollem Bauch ins Leere, wenn wir keine Lösungen für die Probleme schaffen wollen, die wir erkannt haben.
Es geht um nichts weniger als die Entdeckung des Persönlichen, der Originalität der Einzelnen. Auf der Pyramide der menschlichen Bedürfnisse3 sind wir an jenen Ort gekommen, an dem es nun um die Frage geht, wie viel Respekt und Anerkennung die Person findet und welche Konsequenzen das auf die Art und Weise hat, wie wir arbeiten, uns organisieren und an öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen. Eine solche Weltsicht muss anders organisiert sein als eine Massengesellschaft, die ihre Probleme durch Nivellierung zu lösen versucht. Dies bleibt eine Aufgabe für Generationen und Jahrzehnte. Es bedarf intensiver Diskussionen und Denkwerkstätten, in denen die »neuen Standards« der Wissensgesellschaft gedacht werden, auf die Person und ihre Entwicklung bezogen. Ein Experiment muss gewagt werden, eine Versuchsanordnung ohne Erfolgsgarantie, aber mit Rückschlägen: Wir sehen im Westen den Trend zum Identitären, zum abgekapselten Bubble-Denken, das sich gegenseitig bestätigt und andere Meinungen verachtet. Selbstgerechtigkeit ist der größte Feind der Selbstbestimmung. Und Identitäres ist das Gegenteil von Individuellem. In Diskussionen wird dies jedoch oft bewusst anders dargestellt.
Der Grund dafür ist einfach. Das westliche Denken hat den Zusammenhang zwischen dem »Ganzen« und der Person zerstört, es hat auseinandergerissen, was eigentlich zusammengehört. Jene »Trennung«, sagt Jullien, ist »vielleicht das Trauma für die europäische Kultur, der diese Anweisung, entsprechend dem Universellen denken zu müssen, vererbt wurde«. Es wurde uns regelrecht eingedrillt, dass alles, was wir bisher dachten, einem bestimmten Muster unterliegt. Deshalb kommen wir so oft nicht weiter und haben Angst vor Komplexität und Vielfalt.
Geht es um den großen politischen Zusammenhang in Europa, wird auffällig oft Glanz und Gloria der Einheit beschworen, als ob es sich dabei schon um einen Wert an sich handle. Das ist grundfalsch. Einheit ist hier bestenfalls ein organisatorisches Hilfsmittel, die kleine Schwester der Effizienz, deren einzige Berechtigung darin liegt, dass sie vorübergehend Prozesse einfacher macht. Aber immer nur in Hinblick auf erweiterte Zusammenhänge. Das sogenannte Ganze dient dem »Detail«, nicht umgekehrt. Das ist das Prinzip der Demokratie, des Individualismus, der menschlichen Selbstbestimmung.
Der Sinn der Transformation
Abweichungen sind gut, weil sie Varianten aufzeigen, Möglichkeiten, bessere Anpassung und klügere Problemlösungen.
Die Digitalisierung fordert geradezu, wie wir noch sehen werden, einen raschen Abschied vom riskanten Konzept des alten Zusammenhangs und fordert das, wofür auch dieses Buch streitet: die Einsicht, dass das Mehrdeutige, das Vielfältige, das Persönliche die Grundlage einer besseren Zukunft bildet. Die neue Humanitas ist kein festes Regelwerk, nach dem man sein Leben abwickelt, sondern ein Raum der Möglichkeiten, der Entwicklung zulässt und »Durchblick« für so viele Menschen wie möglich. Dafür sind nicht mehr die alten »Bescheidwisser« aus den Reihen der Politik, der Intellektuellen und Medien zuständig, sondern schlicht alle. Niemand wird, wie es eine rückwärtsgewandte Politik formuliert, »mitgenommen«. Jeder muss sich selbst auf den Weg machen. Humanistische Bildung bedeutet, sich Wissen an und für sich anzueignen, um sich in dieser Welt zurechtzufinden.
Aber Vorsicht: Gemeint ist eben nicht jene sich als Gegenteil der reinen Zweckmäßigkeit wähnende Romantik, die heute wieder die Politik der Gefühle anfeuert, jener »Empfindsamkeitskult«, wie Bertrand Russell das in seiner »Philosophie des Abendlandes«4 aus dem Jahr 1946 so treffend nannte, bei dem alle »utilitaristischen Ziele durch ästhetische ersetzt werden«.
Wie zeitlos diese Feststellung doch ist! Erstaunlich, nicht wahr? Auch Moral ist Ästhetik, und zwar eine ausgrenzende, exklusive Ästhetik des Sich-besser-Wähnens, jener so verbreiteten Selbstgerechtigkeit, die jeden eigenen Vorteil zum Gemeinwohl umdeutet.
Zusammenhänge entstehen nicht durch Ahnungslosigkeit und einen »Bildersturm«, bei dem, so Russells nüchterne Analyse, ein »Menschentyp aufkommt«, der »leidenschaftlich und asozial« ist, ein »anarchischer Rebell« oder ein »tyrannischer Eroberer«. Nicht nur die Sozialen Netzwerke sind voll von solchen Leuten. Ihre Lösungen sind das Problem, und selbst wenn sie in der Absicht, Planeten und Demokratie zu retten, kundgetan werden, führen sie genau zum Gegenteil. Humanismus ist vom Liberalen nicht zu trennen. Die Feinde der Freiheit geben sich von jeher gerne als Befreier der Menschheit aus.
Man erkennt sie an ihrer Zerstörungswut. Komplexität, die Ressource der Vielfalt, soll reduziert, vernichtet, zerschlagen werden. In der Wissensgesellschaft kommt es aber darauf an, sie zu erschließen. Das ist der neue Gestaltungszusammenhang des 21. Jahrhunderts. Das Viele darf uns nicht zu viel sein. Kontextkompetenz entsteht genau dort, wo wir uns dem eher Unbekannten zuwenden, nicht dem Vertrauten. Dort, wo man lernen kann. Und nicht bestätigt wird. Der Zeitgeist will heute fast überall sitzen bleiben. Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.
Klare Verhältnisse
Wer Netzwerk sagt, muss auch Kooperation sagen, aber nicht in jenem von vornherein schon defensiven Ton, der eigene, persönliche Interessen gleich als unlauter diskreditiert.
Es geht darum, dass wir unsere Interessen und Standpunkte deutlich machen. Uns bemühen, verstanden zu werden. Es geht nicht um Überzeugungen, jenes berüchtigte persuasive Kommunizieren, welches anderen bloß die eigene Wahrheit und Perspektive einzutrichtern versucht. Und erst recht nicht um glattgebügelte, formale, politisch korrekte Kommunikation, die nur an der Oberfläche Gräben zuschüttet, während sich unter der Erde gewaltige Blasen bilden, die irgendwann das Gebilde der selbstgerechten Weltsicht, die man anderen aufzwingen will, zusammenbrechen lassen.
Es geht um Klartext, also möglichst transparente, nachvollziehbare Sprache. Wir sollten so reden, dass wir verstanden werden. Zu einer offenen Gesellschaft gehört ein offenes Wort.
Derlei braucht ein gutes Selbstbewusstsein und das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und die anderer. Diese Kräfte sorgen für die Synthese, ein Wort, das in seinem griechischen Ursprung so viel bedeutet wie Verknüpfung. Nur eben, dass der Knoten, der dabei entsteht, leicht lösbar ist, nicht einheitlich, auf Dauer geflochten wurde.
Verknüpfungen, das sind die Knoten der Netzwerke, der Organisationsform einer Welt, in der bereits das Prinzip der positiven Abweichung gilt, das Dauerhafte als Illusion erkannt ist und Entwicklung nicht als Störfaktor gesehen wird. Das ist keine Mode. Kontextkompetenz ist eine Grundanforderung an Wissensarbeiter. Nicht erst seit heute.
Peter Drucker hat die Aufgabe so formuliert: »Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.«5
Wir – das bedeutet: jeder Einzelne. Und herstellen – das ist tatsächlich im Sinne von Machen gemeint. Wer also von »Netzwerken« redet, sollte auch nach deren Charakter denken: offen, flexibel, überraschungsfähig und lernend.
Wer Zusammenhänge herstellt, erschließt, anbietet, verbreitet und teilt, ist ein Wissensarbeiter.
Wir sollten nicht so tun, als sei all das einfach oder gar schon Realität.
Die digitale Welt hat die schlechten Angewohnheiten von früher übernommen und sogar vielfach perfektioniert, sie ist drauf und dran, die neue Vereinheitlichung mit Hochgeschwindigkeit zu betreiben.
Das Ergebnis ist eine Gleichschaltung von Ansichten und Einstellungen, von Geschmack und Vorzug, den man Globalismus nennt – und den man nicht mit der mit Freihandel und Entwicklung verbundenen Globalisierung verwechseln darf. Globalismus ist sozusagen die Umsetzung des westlichen Codes der Einheit auf allen Ebenen unseres Lebens. Dieser Globalismus ist weniger an Äußerlichkeiten als an Verhaltensmuster gekoppelt. Er besteht darin, nach einer Wahrheit zu suchen, einer Antwort. Einem Zusammenhang. Doch Kontextkompetenz in einer Welt, die Komplexität und Vielfalt erschließt, ist mehr als ein Mittel zum einfacheren Konsumieren von immer mehr. Sie führt von dem, was wir tun sollen, zu dem, was wir tun wollen.
Zusammenhänge sind keine Konsumartikel.
Fachidioten und Förster
Ein Fachidiot ist ein Gefangener seiner Disziplin, er kann aus seiner Haut nicht heraus.
Ein Wissensarbeiter ist hingegen ein Förster der Wissensgesellschaft, ein Spezialist und ein Erklärer zugleich, gleichsam unverwechselbar und doch zugänglich.
Dies erschließt sich über eine neue humanistische Weltsicht, die den Vorbildern der Geschichte folgt und sie vorurteilsfrei in die neue Zeit überträgt. Kontextkompetenz ist sowohl ihre Voraussetzung als auch ihr Resultat.
Humanistische Bildung sollte den Menschen dazu befähigen, seine wahre Bestimmung zu erkennen. Ersetzt man den Begriff der »wahren Bestimmung« durch Selbstbestimmung, dann können wir bereits den Zusammenhang zwischen dem alten Ziel aller Emanzipation und Aufklärung und dem einer wahren Wissensgesellschaft erkennen. Denn, so vergessen wir es nicht, die Aufklärung hatte ursprünglich keinen anderen Zweck, als den »Mut zum eigenen Denken«6 anzuregen, zur Aktivierung der Person gegen das Gefühl der Ohnmacht.
Selbstverwirklichung, wie der Psychologe Abraham Maslow die höchste Entwicklungsstufe der Menschheit in den frühen 1940er Jahren nannte, geht einen Schritt weiter. Sie fordert die selbstbewusste Person auf, nun auch selbstbestimmt zu sein, also zu tun, was sie nach reiflicher Überlegung für richtig hält.
Es ist, was der New Work Pionier Frithjof Bergmann in seiner berühmten Phrase formulierte, was man »wirklich, wirklich will«.7 Menschen, die in einer grenzenlosen Konsumgesellschaft aufgewachsen sind, mögen sich nicht immer darüber im Klaren sein, dass diese verlockende, so wichtige, so richtige Formel auch und vor allem bedeutet: harte Arbeit. Zusammenhänge erschließen sich als Ergebnis von mehr als einem Zweifel und vielen Versuchen, Irrtümern und Experimenten, bevor wir, mit Glück, den Wald und die Bäume sehen können.
Zusammenhänge verstehen ist Entwicklungsarbeit, eine langsame und gründliche Tätigkeit. Die Arbeitsteiligkeit und die seit Jahrhunderten immer weiter getriebene Spezialisierung und Automatisierung hat uns einen ungeheuren Wohlstand gebracht, aber uns auch der Übersicht über unser Leben beraubt – und damit unserer Handlungsfähigkeit. Bertrand Russell hat diesen Zusammenhang vor 70 Jahren in einem einfachen Gleichnis dargestellt. Die Moderne hat unser Leben erleichtert, unsere Lebenserwartung gesteigert, uns viel mühsame Plackerei vom Hals geschafft. Aber der Preis dafür ist auch die Abhängigkeit von den Technologien, die nun die Prozesse abwickeln, die wir früher selbst erledigen mussten. Ein Schiffbrüchiger des 17. Jahrhunderts, ein Robinson Crusoe, konnte mit etwas Glück durchaus einige Jahre auf einer einsamen Insel überleben, weil er in seinem Alltag in der »Zivilisation« noch ausreichend Fertigkeiten und Kenntnisse erwarb, die er auch auf der Insel brauchte. Aber wer kann heute schon Feuer machen, wenn das Holz nicht vom Baumarkt kommt, kann funktionierende Speere aus Weiden anfertigen oder Kleidung aus Tierfellen? Kaum jemand wird in der Lage sein, ohne den zivilisatorischen Kontext, also die Gesamtheit von Technologien und ihrer Organisation, zu überleben. Wir sind also in einer weitaus abhängigeren Lage als die Robinsons.
Wenn Freiheit etwas bedeutet, dann ist es die Rückgewinnung der Handlungskompetenz dort, wo es uns wichtig ist.
Dabei geht es nicht um ein romantisches Zurück zur Natur. In der Moderne ist das Zurück keine Option. Der Robinson Crusoe unserer Tage muss nicht alles können, er ist umgeben von Könnern. Seine Autonomie findet in Netzwerken statt. Je stärker die Individualisierung nach vorne drängt, desto klarer wird ihr Zusammenhang mit dem Wir. Noch nie zuvor hing die Erlangung unserer Autonomie, unserer Selbstbestimmung, so sehr vom Austausch mit anderen ab. Die Freiheit hat immer eine Schwester, einen Bruder, zahlreiche Verwandte, eine große Familie. Die Freiheit ist keine Waise, keine Insel.
Wer nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung strebt, muss die Welt um sich herum verstehen, ihre Angebote erkennen können, Möglichkeiten abwägen und Zusammenhänge verstehen. Das sind Kernkompetenzen der Wissensgesellschaft.
Entscheidungswissen ist Bürgerpflicht
Das betrifft vor allen Dingen auch die Nutzung von Expertise und Technologie. Die Person selbst muss entscheiden können, ob sie eine Technologie nutzen will oder nicht. Viele unserer Regeln und Gesetze passen wir – unter teils heftigen Diskussionen – dieser Entwicklung zur Person bereits an.
Um herauszufinden, was man will, um also sein Leben und seine Entscheidungen in einen für die Entscheider nachvollziehbaren Zusammenhang zu stellen, bedarf es beständiger Bestandsaufnahmen. Die Inventur, die Analyse unserer aktuellen Möglichkeiten, wird zu einer Dauereinrichtung, die wiederum zum Verstehen, zur Erkenntnis, zur Zugänglichkeit von Wissen führen soll. Komplexität erschließen bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Entscheiden setzt bewusstes Erkennen voraus: den Zusammenhang.
Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat das in einem Videostatement8 aus dem Jahr 2012 deutlich gemacht. Der alte Satz von Karl Marx, dass »die Philosophen die Welt nur unterschiedlich interpretiert hätten, es gehe aber darum, sie zu verändern«, stimme im 21. Jahrhundert und einer komplexer gewordenen Welt nicht mehr. Was man verändern (und entwickeln) will, muss man natürlich interpretieren, und zwar, bevor man handelt. Žižek macht das an der Sprach- und Ideenlosigkeit fest, die er in vielen Jahren vonseiten der sogenannten Antikapitalisten, insbesondere Aktivisten, erfahren hat. Sie wüssten zwar, was ihnen »am System« missfällt, aber selten, was sie praktisch an dessen Stelle rücken wollten. Offensichtlich, so Žižek, hätten sie ein diffuses Unbehagen, dem der nüchterne Zusammenhang fehle.
Es handelt sich dabei um Annahmen, die in Vermutungen eingebettet sind und die dem Realitätscheck nicht standhalten. Deshalb lehnt Žižek das verbreitete Mittel des »Politischen Aktivismus« weitgehend ab. »Do not act« ist sein Rat, wenn man nicht vorher wisse, wozu das führt. Die Welt interpretieren, so wie Žižek das vorschlägt, heißt, sie mit »nüchternen Augen« anzusehen.
Diese Abkehr von der wieder so beliebten Form der politischen Selbstverliebtheit, des, um Marx konsequent zu folgen, Besoffenseins an den eigenen Ideen, ist eine Voraussetzung für die Kontextkompetenz.
Dazu muss man Selbstkritik üben, im Wortsinn, immer wieder konstruktiv an den Gewissheiten zweifeln.
Zusammenhänge sind kein Fertigprodukt. Sie entstehen immer wieder neu. Das ist seit jeher so.
Das Wort Kontext bedeutet in seiner ursprünglichen Form so viel wie Webrahmen. In einer wohlständigen, entwickelten Gesellschaft, in der die Sorge um die tägliche Existenz – nicht für alle, aber für immer mehr Menschen – in den Hintergrund tritt, sollte jeder in der Lage sein, seinen eigenen Stoff zu weben.
Aber alles Neue hat auch eine Herkunft. Wir erfinden uns nicht ständig neu. Viel wichtiger als die Flucht nach vorn, die hinter der Phrase vom Neuerfinden steckt, ist die Selbstvergewisserung. Daraus beziehen wir Orientierung und Sinn. Wer weiß, wo es langgeht, muss erst mal wissen, wo er ist.
Vielleicht fragen wir heute so viel nach Purpose, Sinn und Zweck, um uns die mühsame Arbeit, eigene Antworten zu finden, zu ersparen. So bedienen wir uns bei den allgegenwärtigen Sinnstiftungen, jenen Leihanstalten der Orientierung, die in Form von Religionen und Ideologien, Bewegungen und Strömungen, Moden und Trends über uns gekommen sind. Hier wimmelt es vor falschen Kausalitäten und einfachen Antworten nur so, und der Schaden ist groß.
Eine nüchterne Analyse vor dem Handeln, so wie es Žižek vorschlägt, würde bedeuten, dass sich viele, die die Welt verändern wollen, erst einmal inhaltlich mit dem beschäftigen, was sie für falsch halten. Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen.
Der Industriekapitalismus bedarf einer grundlegenden Veränderung. Technologie kann sich im Zeitalter des Internet of Things und der allgegenwärtigen Digitalisierung zu einem Monstrum entwickeln. Organisationen können statt Orten der gemeinsamen Entwicklung und des Austauschs geistige Gefängnisse sein. Und Bildung, falsch gedacht, kann zu einem Fallstrick für die persönliche Entwicklung werden.
Umso mehr muss man wissen, womit man es zu tun hat. Technik, Wirtschaft, Organisation und die Art der Bildung sind spielentscheidend für eine gelungene, offene Wissensgesellschaft. Und die Voraussetzung dafür ist wiederum eine gründliche Auseinandersetzung mit der westlichen Denkart, der Kultur, die Kausalitäten und Korrelationen bunt durcheinanderwirbelt und der Einheit stets den Vorzug vor der Vielfalt gab. Damit sind die Kapitel und Themenbereiche dieses Buches benannt, in der Hoffnung, sie mögen als Anregung für viele weitere Felder dienen.
Kontextkompetenz bedeutet, im Detail zu denken und dabei den Überblick nicht zu verlieren. Wissen zu wollen, was man wissen kann. Und manchmal auch zu entdecken, was man eigentlich schon weiß. Zusammenhang braucht Zusammenarbeit, kollaboratives Denken und Kooperation. Es geht gerade darum, etwas zusammenzubringen. Hier gilt es besonders kritisch und selbstkritisch zu sein.
In einer Gesellschaft der Vielen und der zunehmenden Individualisierung wird es um die Frage gehen, wie man zwischen dem Ich und dem Wir die Zusammenhänge erhellt, die eine pluralistische Gesellschaft ausmachen.
Man könnte den Begriff Zusammenhänge einfach auch durch das Wort Geschichte ersetzen, durchaus in der Mehrdeutigkeit des Wortes. Geschichte als möglichst exaktes Wissen über die Umstände unserer Entwicklung, unsere Herkunft, das, was uns ausmacht – jene große und kleine Selbstvergewisserung also, von der weiter oben die Rede war. Aber es geht auch um Geschichte im Sinne der amerikanischen »story«. Zusammenhänge sind unsere jeweiligen Storys, unsere Geschichten, an denen wir uns erkennen und die uns verbinden. Geschichte zu kennen und Geschichten zu vermitteln über das, was man tut und will, ist ein wesentlicher Teil der Kontextkompetenz.
Netzwerke
Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat in seinem Buch »On Tyranny« festgehalten, jede Generation müsse ihre Geschichte schreiben, um sich nicht zu verlieren.9 Das ist kein Pathos, sondern klug und wahrhaft nachhaltig, also vorausschauend gedacht. Seine Geschichte schreiben heißt, seinen Zusammenhang zu leben. Die Welt auf die eigene Art und Weise zu verstehen und dies mit anderen zu teilen. Allerdings nicht in der intellektuellen Diskontvariante, die Ideologien oder Identitäre aller Lager bieten. Es wird, nicht zuletzt dank der Digitalisierung, immer wahrscheinlicher, dass wir Komplexität, die Quelle der Vielfalt, nicht reduzieren müssen, sondern erschließen können. Aus Chaos entstehen neue Ordnungen und Sinnzusammenhänge, weit mehr, als wir es gewohnt sind. Dies ist die Welt der Netzwerkkultur, die nicht nach einigen starren Regeln funktioniert, sondern die Bedürfnisse ihrer Akteure besser zu befriedigen vermag als alles, was wir aus der Geschichte kennen. Das ist ein enormer Transformationsschub, der unter materiell guten Bedingungen stattfindet.
Nie zuvor waren die Bewohner dieser Welt wohlhabender, gesünder und lebten so lange wie heute. Trotz aller Krisen und Rückschläge geht es seit Jahrzehnten stetig voran.
Zehntausende Jahre lang bestimmte die Knappheit und der schiere Existenzkampf unseren Alltag und unser Bild von Welt. Hier war es einfach, die Dinge universalistisch zu betrachten. Man konnte alles auf ein Ziel ausrichten: Essen. Trinken. Überleben. Jede Stunde. Jeden Tag. Das war alles. So ging es den meisten bis in unsere Tage, und Millionen sind nach wie vor auf dieser Stufe. Wo sie überwunden ist, geht es aber – auch das ist die Geschichte des Westens in den letzten 250 Jahren – in historisch irrem Tempo aufwärts und weiter. Aus der Gesellschaft der Masse wird eine der »Klasse« im Sinne von Vielfalt, Unterscheidbarkeit und Individualität. Unser »kulturelles Immunsystem« ist aber noch lange nicht so weit. Von Kindesbeinen an haben wir gelernt, dass Vielfalt Chaos bedeutet, Unterscheidbarkeit Ungerechtigkeit, Individualität, Egoismus. Deshalb leben wir im Daueralarm. Die Welt, wie sie geworden ist, passt nicht mehr zu der, in der wir bis vor Kurzem noch lebten. Nun sitzen wir zwischen den Stühlen. Und unser Problem kann keine Methode oder Zauberformel lösen. Aber wir müssen anfangen, uns diese Entwicklung bewusst zu machen, zu lernen, mit Überflüssen richtig umzugehen, Komplexität zu erschließen statt zu reduzieren (darauf kommt dieses Buch immer wieder zurück).
Wir müssen also das, was ist, erst einmal verstehen und uns dann an Lösungen herantasten. Nüchtern, nach bestem Wissen, aber immer mit offenem Ausgang, wie ein Experiment – mit dem Risiko des Scheiterns. Richtig angewendet lässt sich aber die gute alte Strickleiter des Fortschritts, Versuch und Irrtum, daraus basteln, bis wir, immer bessere Ergebnisse erzielend, an brauchbare Ziele gelangen.
Stellen wir uns vor, wir würden Innovationen, nicht nur technologische, sondern vor allen Dingen kulturelle, soziale und solche auf dem Gebiet der Persönlichkeitsentwicklung, des Lernens und der Organisation, als Experimentierfeld sehen? Wir investieren dann nicht mehr in Eigentumswohnungen, Häuschen, Autos oder Aktien von Firmen, die etwas herstellen, was wir nicht verstehen, sondern in unsere eigene Entwicklungsfähigkeit. Daraus mögen sich auch neue, bessere Häuser, Verkehrsmittel, Märkte und Organisationen ergeben, menschengerechtere. Das sind die, bei denen man nicht gebetsmühlenartig wiederholen muss, dass hier »der Mensch im Mittelpunkt« steht – weil das doch bereits Ausgangs- und Endpunkt von allem ist. Der Zusammenhang schlechthin.
Auch wenn es nach Chaos aussieht: Wir sind weiter, als wir denken.
Denn all die Produkte, Güter, Waren und Dienstleistungen, die wir schaffen, um deren Erzeugung sich unser Arbeitsleben und oft genug unser ganzes Denken dreht, haben einen Sinn, der im Verborgenen liegt.
Wir bedienen unsere Interessen, weil wir für unsere Tätigkeit, unser Wissen, Geld erhalten, und auf der anderen Seite befriedigen wir Bedürfnisse, die ebenfalls Interessen sind. Das geht natürlich auch umgekehrt.
Wir können nicht nicht kooperieren.
Wissensgesellschaft und Wissensökonomie bauen auf Netzwerken auf, also auf selbstständigen und dynamischen Akteuren, die sich für eine bestimmte Zeit zu einer bestimmten Aufgabe verbinden und dann neu formieren. Zusammenhänge spiegeln folglich keine Dogmen oder gar Wahrheit in einem absoluten Sinn, vielmehr folgen sie nüchternen Spielregeln und Umgangsformen.
Es geht um die Vernetzung unterschiedlichen Wissens und unterschiedlicher Standpunkte. Man kann das mit Koexistenz und Mehrdeutigkeit übersetzen oder schlicht mit einer neuen Lernstufe von Demokratie und Gesellschaft.
So wird – nach der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Margaret Mead10 gedacht – Vielfalt und Komplexität von »einem Handicap« zu einer Ressource. Wir schaffen Angebote, mit positiver Differenz. Wir werden unterscheidbar. Zusammenhang heißt also nicht mehr: Wir denken alle gleich. Der Kollektivismus, die unselige Gruppenkohäsion, sie wird sich noch mehr als einmal aufbäumen. Aber das sind reaktionäre Abwehrgefechte, ganz gleich, ob sie von Konservativen oder von Linken geführt werden. Der neue Gesellschaftsvertrag formiert sich währenddessen in aller Ruhe neben der Aufgeregtheit der vereinigten Verlierer der Geschichte, die ihre Macht schwinden sehen.
Der neue Gesellschaftsvertrag beruht allerdings auf persönlicher Mitarbeit. Die Aufgabe, sinnvolle Zusammenhänge für sich zu erschließen, nimmt uns niemand ab. Und es gibt die Verpflichtung zu einer neuen Selbst-Verständlichkeit: uns anderen so mitzuteilen, dass sie wissen, was wir wollen. Einfach ausgedrückt: Wir müssen sagen, was Sache ist.
Das muss man freilich erst mal wissen.
Was ist Wasser?
Vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich, gehört jeder von uns zu den Jungfischen, die der amerikanische Dichter David Foster Wallace in seiner 2008 erschienenen Rede »This is Water« so hervorragend beschrieb:
»Ein alter, erfahrener Fisch schwimmt durchs Meer, und dabei begegnen ihm zwei junge Fische. Er wendet sich freundlich an sie: ›Na, Jungs, wie ist das Wasser heute?‹ Doch die beiden jungen Fische antworten nicht, sie sind perplex – und schwimmen geradeaus weiter. Nach einiger Zeit guckt der eine Jungfisch den anderen an und fragt: ›Was zum Teufel ist Wasser?‹«11
Was für ein Gleichnis für die Welt, in der wir leben.
Wir wissen meistens nicht, worin wir uns befinden, worin wir feststecken, uns bewegen, was unsere Welt ausmacht. Nur selten fällt uns auf, dass wir in Routinen und Denkschleifen hängen, die immer wieder zu denselben Problemen führen. Was, zum Teufel, ist Wasser? Stellen wir uns vor, was in den Köpfen der Jungfische vor sich geht, wenn sie sich dieses Rätsel zum ersten Mal vorlegen, und tun wir mal so, als ob sie sich diese Frage wirklich stellen, also nicht bloß ein wenig überrascht sind, um dann weiter – bewusstlos – durchs Wasser zu gleiten.
Aber haben sie denn eine andere Wahl?
Würden sie schlagartig und dann fortlaufend mit der Realität des Wassers konfrontiert und sich ihrer bewusst, dann würden die Jungfische wahrscheinlich verrückt werden. Das Wasser, es steht für die Komplexität dieser Welt, ein Ozean an Möglichkeiten, in dem kein Tropfen dem anderen gleicht und doch alles zusammenhängt. Der alte Fisch hat wohl diese Erkenntnis über lange Jahre gewonnen, und nicht jede Erfahrung auf diesem Weg dürfte angenehm gewesen sein. Die Jungfische aber haben den Zusammenhang zwischen ihrer Existenz und dem großen Meer nie erfahren.
Zusammenhänge bestehen aus Erfahrung, Wissen, Know-how, Gespür und vor allen Dingen aus der Erkenntnis der Welt und der Beziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt.
Zusammenhänge beschreiben die Welt nicht einheitlich, total oder »lückenlos«, vielmehr sind sie Orientierungshilfen in der jeweiligen Situation.
Zusammenhänge sind beweglich, weil sie persönlich sind.
Das gilt in der großen Weltgeschichte genauso wie in kleinen Unternehmen, in Familien und anderen Beziehungen. Zusammenhänge sind Abweichungen, die man wahrnehmen kann. Das Andere – das uns umgibt.
Das ist Wasser.