Bettina Hitzer
Krebs
fühlen
Eine Emotionsgeschichte
des 20. Jahrhunderts
Klett-Cotta
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Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von Luis Jiminez Aranda,
»The Visit of the Doctor«, 1897, © akg-images
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-96459-2
E-Book: ISBN 978-3-608-11589-5
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Für Christoph
Felix, Carlotta und Henrietta
Im Tafelteil befindet sich die farbige Version des Porträts der Valentine Godé-Darel ebenso wie drei weitere Gemälde aus dem Zyklus von Ferdinand Hodler.
Kapitel 1
Mit dem Abstand von mehr als 100 Jahren blickt uns aus diesem Porträt die(2) damals 37-jährige Valentine Godé-Darel in(2) die Augen, festgehalten über eine längere Zeit hinweg von Ferdinand Hodler, Schweizer(2) Symbolist und Maler des Jugendstils. 1910, als Hodler dieses(3) Bild seiner Geliebten malte, wusste Valentine Godé-Darel noch(3) nicht, dass sie an Unterleibskrebs erkranken würde, einer zu diesem Zeitpunkt fast immer tödlichen Krankheit. Zwei Jahre später zeigten sich jedoch die ersten Krankheitszeichen und kurz darauf bekam ihre Krankheit auch einen Namen: Krebs. Hodler, der(4) sich bereits zuvor in seinem Werk häufig mit dem Tod auseinandergesetzt(1) hatte, begleitete das Sterben Valentine(1) Godé-Darels malend(4) bis zum letzten Tag ihres Lebens am 25. Januar 1915. Mehr als 50 Ölgemälde und weit über 100 Zeichnungen dokumentieren Hodlers Blick(5) auf seine Geliebte, viele zeigen ihren körperlichen Verfall ebenso wie ihre zunehmende Zurückgezogenheit in sich selbst, ihren Blick, der sich dem Betrachter mehr und mehr entzieht.
Dieser Zyklus als bildliches Protokoll der Jahre, in denen eine Frau mit Krebs lebte und(1) an Krebs starb, ist einzigartig, nicht nur für seine Zeit, das frühe 20. Jahrhundert. Er öffnet ein Fenster, durch das der Betrachter aus dem Abstand eines Jahrhunderts berührt wird, durch das er auf die Unausweichlichkeit des Sterbens, auf(2) die Zerstörung durch Krankheit und die Fähigkeit zu Leiden und(1) Mitleiden, auf die (Un-)Möglichkeit von Nähe im Sterben blicken(3) kann – eine zeitlose Begegnung. Daneben aber erzählen die Bilder von einem Krankheitsverlauf und einem Sterbeprozess, die(4) eine Zeit und einen Ort haben, von den Gefühlen des(1) Malenden und der Sterbenden, die(5) in diese Zeit und an diesen Ort gehören.
Fast 100 Jahre später starb der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. 44(1)-jährig hatte er erfahren, dass in seinem Kopf ein bösartiger Tumor wuchs(1), ein Glioblastom. Mehr als drei Jahre lang protokollierte er(1) in einem Blog, was er tat, dachte, fühlte, wie er operiert, bestrahlt(1) und(1) mit Medikamenten behandelt wurde, wie sein Körper und sein Geist reagierten und wie Kraft und Fähigkeiten ihn schließlich verließen. Sechs Tage, bevor er sich am 26. August 2013 in Berlin erschoss, veröffentlichte Herrndorf den(2) letzten Eintrag auf seinem Blog, den seine Freunde nach seinem Tod unter(2) dem Titel »Arbeit und Struktur« herausgaben.[1] Doch trotz der von ihm selbst initiierten öffentlichen Sichtbarkeit seiner Krankheit und seines Sterbens erteilte(6) Herrndorf jedem Versuch seines Internetpublikums, mit ihm persönlich in Kontakt zu treten, eine klare Absage, erlaubte er – insofern Valentine Godé-Darel ähnlich(5) – den Blick von außen, aber nicht die persönliche Begegnung.
In einem seiner letzten Gedichte kreisten seine Gedanken um die Frage von Distanz und Nähe, um die grundsätzliche Unverstehbarkeit und Unteilbarkeit von Gefühl und(2) Erfahrung im Leben und Sterben.
Niemand(7) kommt an mich heran
bis an die Stunde meines Todes.
Und(3) auch dann wird niemand kommen.
Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.[2]
Der hier angedeutete Blick auf zwei Menschen, deren Krebserkrankung und Sterben in(8) unterschiedlicher Weise öffentlich erzählt wurde, verweist auf zwei meiner Grundannahmen. Sie geben Antwort auf zwei radikal entgegengesetzte Fragen. Zunächst: Sind die Gefühle nicht(3) das ganz Eigene, Innere, das keinem anderen Menschen wirklich mitgeteilt werden kann, insbesondere nicht im Moment des Leidens und(2) Sterbens als(9) Moment der existentiellen Einsamkeit? Wie kann ich als Historikerin beanspruchen, eine Geschichte dieser weder mitteilbaren noch zu verallgemeinernden Gefühle schreiben(4) zu wollen? – Dann: Fürchten nicht Menschen zu aller Zeit in gleicher Weise schwere Krankheiten, sei es die Pest, die Tuberkulose oder eben den Krebs? Sind es nicht die immer gleichen Gefühle der(5) Verzweiflung, Trauer(1) und(1) Angst, vielleicht(1) auch der Resignation und des Sich-Fügens, der Hoffnung und(1) der Wut, die(1) Menschen bewegen, wenn sie mit einer tödlichen Krankheit konfrontiert werden, einer für alle Menschen in ihrer Radikalität letztlich gleichen Herausforderung? Ist es also gerade im Hinblick auf eine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs nur das Gewand der Gefühle, das(6) im Lauf der Geschichte ausgetauscht wird, nicht aber ihre tatsächliche Gestalt?
Als Menschen auf der Suche nach Halt und Sinn, erfüllt von dem Wunsch, berührt zu werden, lesen und betrachten wir vergangene Zeugnisse wie die Bilder der Valentine Godé-Darel, als(6) ob wir sie unmittelbar verstehen oder doch zumindest leicht übersetzen könnten, als ob wir mit allen Menschen über die Zeit hinweg eine Art lingua franca, ein Grundvokabular der Gefühle teilten(7): Liebe, Angst, Verzweiflung(2), Trauer(2). Diese(2) Annahme ist keineswegs naiv oder trivial, sondern aus ontologischer Sicht legitim. Aus historiographischer Sicht ist sie jedoch fragwürdig, denn die Vorstellung, Gefühle blieben(8) sich in ihrer Grundsubstanz immer gleich, entpuppt sich als höchst voraussetzungsreich.
Heute sind es vor allem die kognitive Psychologie und(1) die Neurowissenschaften, die ihren Forschungen das Axiom einer Universalität der Gefühle zugrunde(9) legten. Am deutlichsten kam dies in der jüngeren Vergangenheit in der Suche nach den sogenannten basic emotions, einem bestimmten Set universal gleicher Grundgefühle, zum(10) Ausdruck.[3] Doch auch aus den Reihen der neurowissenschaftlichen Emotionsforschung wird diese Annahme zunehmend kritisiert und relativiert.[4]
Aus Sicht der Emotionsgeschichte sind Gefühle zunächst(12) einmal das, was Menschen als Gefühl beschreiben(13) und erleben.[5] Gefühle haben immer eine körperliche Entsprechung, da Nervenreizungen, Synapsenverbindungen ebenso wie biochemische Vorgänge das Fühlen begleiten. Doch gerade mit Blick auf die damit in vielem verwandte Schmerzforschung wird(1) deutlich, dass die Relevanz, Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit durch den Blick auf das körperlich Nachweisbare allein nicht zu erfassen sind.[6] Die Schmerzforschung ist(2) konfrontiert mit Phänomenen wie dem Phantomschmerz, dem chronischen Schmerz(1) ohne(1) erkennbare Ursache, dem nicht gefühlten Schmerz des(2) Soldaten in der Kampfsituation sowie der Möglichkeit der mentalen Schmerzregulation. Dementsprechend(3) ringt sie seit langem mit dem Problem, dass Schmerz zwar(4) zweifellos an den Körper gebunden ist, dennoch aber selbst bei ähnlichem körperlichen Befund vollkommen unterschiedlich empfunden werden kann.
Wenn die Emotionsgeschichte Gefühl nicht(14) als feststehende analytische Kategorie versteht, so wie es die Sozialgeschichte etwa mit dem Begriff der Klasse vorgeführt hat, muss sie ihren Gegenstand anders bestimmen. Die Alternative könnte lauten, nach den jeweiligen historischen Begrifflichkeiten Ausschau zu halten und deren Bedeutungen und Verwendungsweisen im Sinne der Historischen Semantik als Gegenstand zu definieren: Gefühl ist(15) immer das, was die Menschen als solches empfunden und benannt haben. Mit einer solchen, aus den Quellen herausgelesenen Definition des Gefühls und(16) der Gefühle kann(17) das Gefühl ebenso(18) wie einzelne Gefühle dann(19) auch dort aufgefunden werden, wo der Begriff selber fehlt. Ebenso können historische Bedeutungsverschiebungen von Gefühlsbegriffen nachvollzogen werden.
Doch stößt dieses Vorgehen immer dann an eine Grenze, wenn die Kontinuität der Begrifflichkeiten abbricht oder der zentrale Begriff des Gefühls fehlt(20). Handelt es sich etwa noch um eine Gefühlsgeschichte, wenn(21) von Gefühlen gar(22) nicht mehr oder noch gar nicht die Rede ist? Wenn nur Sentimente, Leidenschaften und Passionen zur Sprache kommen, die sich zwar – zugegeben – historisch-begrifflich mit dem späteren Begriff des Gefühls verbinden(23) lassen, aber doch mit vielfachen semantischen Verschiebungen? Sicherlich ist hier die Brücke zeitgenössischer Übersetzungsversuche ein zwar anspruchsvoller, aber methodisch vielversprechender Weg.[7] Aber scheint er nicht kaum gangbar in einem Projekt wie diesem, in dem es nicht zentral um ein bestimmtes Gefühl und(24) dessen Geschichte geht, sondern um eine vielgesichtige Analyse des historischen Verhältnisses von Gefühl und(25) Gefühlen einerseits(26) und der Auseinandersetzung mit der Krebskrankheit andererseits?
Denn das, was diese Gefühlsgeschichte auszeichnet(27), ist nicht das Bemühen, einen weiteren bisher vernachlässigten Begriff ins Tableau der Geschichte einzufügen. Die Gefühlsgeschichte gewinnt(28) ihre Bedeutung, weil sie beansprucht, mit dem Gefühl einen(29) in mancher Hinsicht besonderen und bedeutsamen Gegenstand zu erforschen. Damit ist der Punkt erreicht, an dem ich so etwas wie eine historisch informierte Basisdefinition des Gefühls geben(30) möchte, die versuchsweise universale Gültigkeit beansprucht.
Ich fasse das Gefühl als(31) eine Empfindung des Menschen, die sich auf der historisch variabel verstandenen Grenze von Körper und Nicht-Körper bewegt. Fühlen ist an Sinnesempfindungen gebunden, ist aber doch mehr als die bloße Registrierung eines Körperzustands oder einer körperlichen Reaktion. Genauso wenig geht das Gefühl im(32) Denken auf. Worin dieses Mehr des Gefühls besteht(33), wo genau es im Hinblick auf Körper und Nicht-Körper zu verorten ist – all dies ist nicht Teil meiner Basisdefinition, sondern lässt sich nur im Rückgriff auf historisch und kulturell variable Konzepte des Gefühls erschließen(34). So verstanden ist die Fähigkeit, Gefühle zu(35) empfinden, eine Grundtatsache menschlicher Existenz als einer körperlichen und sozialen Existenz. So wie die Fähigkeit zum Sprechen dem Menschen angeboren ist, das Sprechen und die Sprache jedoch gelernt werden müssen, ist auch das Fühlen Ergebnis von Lernprozessen, in deren Verlauf ein grundsätzliches Verständnis davon erlernt wird, was Gefühle sind(36) und wozu sie gut (oder schlecht) sein können, welche Gefühle es(37) gibt, wie diese sich anfühlen und benannt werden, welche Rhetorik der Gefühle im(38) je verschiedenen sozialen Miteinander angebracht ist, ob und wie Gefühle bearbeitet(39) werden können.
Bei diesen Lernprozessen geht es also nicht allein um das Erlernen von Ausdrucks- und Sagbarkeitsregeln, sondern auch um die Prägung des Fühlens selbst, das nur als Möglichkeit immer schon da ist. Nicht nur das: Diese Annahme beansprucht, die spätestens(40) seit der westlichen Moderne angenommene Unterscheidung von innerem »authentischen« Gefühl(1) und(41) äußerem, durch Gefühlsregeln bestimmten(42) Ausdruck in Frage zu stellen.[8] Denn die bereits im inneren Gespräch mit mir selbst vorgenommene(2) Wahrnehmung, Benennung oder Beschreibung eines Gefühlszustands greift auf erlernte Begriffe zurück und damit auf ein Netz aus Bedeutungszuschreibungen, Normen, Regeln sowie körperlichen und sprachlichen Ausdrucksformen. Dieser Prozess der Navigation des Gefühls, um(43) den Begriff des amerikanischen Historikers William M. Reddy zu(1) gebrauchen, überschreitet die Trennung zwischen einem Innen und einem Außen des Gefühls.[9] Das bedeutet auch, dass das benannte Gefühl nicht(44) alles umgreift, was der Mensch fühlt. Genau dies erscheint sogar als besonderes Charakteristikum des Gefühls, die(45) Tatsache, dass Gefühle an(46) ihren Rändern unscharf bleiben. Aus diesem Grund sind Prozesse der Gefühlsnavigation oft(47) nicht endgültig, erfolgen immer wieder aufs Neue und führen dann zu einem anderen Ergebnis. Diese immer neuen Suchbewegungen tragen ihrerseits zum Wandel von Gefühlskonzepten und(48) -bewertungen bei.[10]
So betrachtet sind Gefühle also(49) aus Sicht der Emotionsgeschichte universal (als grundsätzliche Fähigkeit zum Gefühl), individuell(50) (als bis zu einem gewissen Grad ganz eigene Gefühlsnavigation einer Person) und(51) historisch (als Ergebnis dieser Navigationsprozesse in der sozialen Kommunikation). Damit verliert die Angst vor(3) oder in der Krebskrankheit ihre anfangs konstatierte Fraglosigkeit. Die Angst änderte(4) ihre Gestalt, weil sich Krebskranke im Verlauf des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Räumen aufgehalten haben, sich mit verschiedenartigen Therapien konfrontiert(1) sahen, wechselnden Heilungschancen begegneten(1), weil Ärzte, Schwestern und(1) Pfleger ihnen je nach historischem Kontext anders gegenübertraten. Doch auch die Art und Weise, wie sich Angst anfühlte(5), veränderte sich, weil sich Vorstellungen über die Natur von Angst, über(6) ihren Sinn, ihren Wert, ihre Rationalität wandelten: Denn wenn ich Angst für(7) Feigheit halte, verachte ich mich vielleicht für meine Angst, suche(8) womöglich in Einsamkeit mit meiner Angst fertig(9) zu werden, weil ich sie verstecken möchte. Halte ich Angst für(10) würdelos, kann(1) mir das Bemühen um Würde innere(2) Festigkeit geben – oder mich in die Verzweiflung treiben(3). Erachte ich Angst für(11) schädlich, macht mir meine Angst eventuell(12) sogar zusätzlich Angst, sorgt(13) dafür, dass ich mich schuldig fühle(1) – und lässt mich unter Umständen Hilfe suchen, damit es mir gelingt, meine Angst zu(14) überwinden und in Hoffnung umzuwandeln(2).
Angst – genauso(15) wie jedes andere Gefühl – kann(52) sich also sehr unterschiedlich anfühlen. Auch wenn diese Angst immer(16) meine Angst bleibt(17), ist ein großer Teil der Fühlweisen meiner Angst das(18) Ergebnis von Geschichte: Die Angst ist(19) also weder historisch kontingent noch vollkommen determiniert. Und genau um diese historisch geprägten Fühlweisen geht(53)(20) es in dieser Gefühlsgeschichte der(54) Krebskrankheit.
Im 20. Jahrhundert gewann die Auseinandersetzung mit der Relevanz von Gefühlen für(56) die Krebserkrankung eine herausragende Bedeutung. Sie prägte Diskussionen über die Natur des Selbst, des(1) Körpers und des Todes, und(4) Krebs avancierte zur viel gebrauchten Metapher politischer Bewegungen und politischer Kultur. Krebs wurde mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert zu einer Leitkrankheit Westeuropas und der USA.[11] Zwar gab es die Krebskrankheit bereits in der Antike, und es finden sich Hinweise darauf, dass Krebs auch im Mittelalter zu den gefürchteten, da nur schwer heilbaren und(2) für ihre Schmerzhaftigkeit berüchtigten(5) Krankheiten zählte.[12] Allerdings war das, was mittelalterliche oder frühneuzeitliche Ärzte als Krebs benannten, ein eher seltenes Leiden. Meist(3) wurde Krebs diagnostiziert, wenn Geschwüre und Tumoren äußerlich(2) sichtbar waren, das heißt überwiegend als Haut-, Gesichts(1)- oder Brustkrebs. Innere(1) Krebserkrankungen waren zwar nicht unbekannt, wurden aber selten als solche diagnostiziert.
Dies änderte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Chirurgen nach(1) Einführung der Äthernarkose sowie(1) der Anti- und später Asepsis weiter(1) ins Innere des Körpers vorwagten. Zur gleichen Zeit wandelten sich Vorstellungen über das hohe Alter, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr per se als pathologisch galt(1), so dass der Befund »Altersschwäche« seltener als Todesursache auf(5) den Totenscheinen akzeptiert wurde.[13] Zunehmend wurde nach einer im engeren Sinne »krankhaften« Todesursache Ausschau(6) gehalten, so dass Pathologen öfter(2) Obduktionen vornahmen und auf diese Weise Krebs als Todesursache identifizierten(7), wo wenige Jahrzehnte zuvor hohes Alter als Erklärung ausgereicht hätte. Parallel wuchs das Interesse an einer detaillierten statistischen Erfassung(1) der Welt, das sich unter anderem in einer weiter ausdifferenzierten Todesursachenstatistik niederschlug. Krebs wurde 1905 erstmals im Deutschen Reich als eigenständige Todesursache statistisch(8) erfasst(2).[14] Bereits nach wenigen Erhebungen wurde deutlich, dass mehr Menschen an Krebs verstarben als zuvor angenommen. Damit wurde Krebs zum Thema, das sowohl in der Zeitungsöffentlichkeit als auch in internen Behördenschreiben diskutiert wurde.
Die öffentliche Meinung war sich überwiegend darin einig, dass die Zahl der Krebskranken und -toten ständig zunehme. Von Ärzten, Gesundheitspolitikern und(1) Journalisten wurde diese Beobachtung dadurch erklärt, dass Krebs eine Zivilisationskrankheit sei, also in irgendeiner noch nicht genau zu erklärenden Weise auf die veränderten Lebensumstände in den zivilisierten Ländern zurückzuführen sei.[15] Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, gründeten Ärzte und Gesundheitspolitiker in(2) Europa ebenso wie in den USA, in Asien und in Südamerika Gesellschaften zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheit, so zum Beispiel im Deutschen Reich (1900), in Großbritannien und Spanien (1902), in Ungarn (1903) und Portugal (1904), in Österreich, Dänemark und Schweden (1905), in Frankreich und den USA (1906), in Japan (1907) und in der Schweiz (1910).[16]
Die Zellularpathologie Rudolf(1) Virchows, eine(1) der medizinischen Denkrevolutionen dieser Jahre, spielte für die Wahrnehmung und Erklärung dieser Krankheit eine große Rolle. Denn durch Virchows Forschungen(2) wurde deutlich, dass Krebs auf zellulärer Ebene identifiziert werden konnte. Außerdem entdeckte man nun, dass Krebszellen den gesunden Körperzellen ähnelten, auch wenn sie sich durch bestimmte Eigenschaften wie ihre übermäßig große Vermehrungsgeschwindigkeit von diesen unterscheiden ließen. Einerseits wurde Krebs auf diese Weise neu definiert, nämlich als »Entartung« vormals gesunder Zellen, die lokal entsteht und dann um sich greift. Andererseits boten die Untersuchungstechniken der Zellularpathologie ein(2) scheinbar eindeutiges Kriterium, um Krebstumoren von(3) anderen, nun als gutartig definierten Tumoren zu(4) unterscheiden: die Wachstums- und Stoffwechseleigenschaften der Zellen.[17] Zwar unterschieden auch zuvor Kliniker durch Tast- und Sichtdiagnose zwischen lebensbedrohlichen und weitgehend harmlosen Tumoren. Doch(5) die im Labor getroffene Entscheidung verhieß größere Eindeutigkeit.
Neben die Chirurgie, als(2) deren Domäne die Krebskrankheit im 19. Jahrhundert galt, trat damit auf diagnostischer Ebene die Pathologie.[18] In(3) therapeutischer Hinsicht etablierte sich um 1900 die Radiologie als Hilfs- oder Alternativanwendung zur Chirurgie, zunächst(3) in Gestalt von Röntgenbestrahlungen, bald(2) auch in Form radioaktiver Behandlungen. Damit(2) gewannen medizinische Disziplinen Einfluss auf die Krebsdiagnose und -therapie, die in der Folgezeit Vorstellungen vom Körper und von der Gesellschaft, von gesund und krank, von Naturbeherrschung und Naturzerstörung ebenso wie von Kampf und Bedrohung prägen sollten.
Noch heute ist Krebs eine Leitkrankheit der westlichen Welt. Viele Menschen werden als Patienten oder(1) als deren Angehörige und Freunde mit Krebs direkt konfrontiert. Krebs wird in Umfragen und Medien regelmäßig als eine der am meisten gefürchteten Krankheiten identifiziert. Die medizinische Forschung, die(1) nach sogenannten Onkogenen(1), das heißt krebsdisponierenden Genen(1), sucht, und zu einer individualisierenden Betrachtung der Krebskrankheit tendiert, stößt Debatten über die Natur des Menschen und die Möglichkeit einer in uns verborgenen, aus unserem Inneren stammenden Bedrohung an. Diese Diskussionen zwingen uns, der beunruhigenden Vorstellung der Krebskrankheit als einer »distorted version of our normal selves« zu begegnen, die wir möglicherweise niemals vollständig »besiegen« können, ohne uns selbst zu vernichten.[19] Das heutige Verständnis von Risikofaktoren und(1) möglichen Präventionsmaßnahmen stellt(1) uns vor die Notwendigkeit, über das dem Leben und unserem Körper eingeschriebene Risiko nachzudenken(2) sowie abzuwägen, welchen Preis wir für ein Mehr an relativer Sicherheit zu zahlen bereit sind. Damit wirft die Krankheit Krebs in ihren mannigfaltigen Facetten die Frage nach den Grenzen der heutigen Medizin auf – im therapeutischen, im menschlichen und(1) im ethischen ebenso(1) wie im ökonomischen Sinn.
Seit Beginn der 1990er Jahre sind die sogenannten »emerging diseases« als ganz anders geartetes Bedrohungsszenario an die Seite der Krebskrankheit getreten.[20] Dahinter steht die Sorge, dass(21) hoch ansteckende, bisher(1) wenig oder gänzlich unbekannte Viruserkrankungen vom Tier auf den Menschen überspringen und eine Pandemie auslösen könnten, der die Mediziner zunächst weitgehend machtlos gegenüberstehen würden. Der letztlich schnell unter Kontrolle gebrachte Ausbruch der Lungenkrankheit SARS in den Jahren 2002/03 oder die Ebola-Epidemie von(1) 2014 stehen für diese Form einer neuartigen Bedrohung. Doch auch in anderer Hinsicht kann man die späten 1980er Jahre als eine Übergangsperiode im Hinblick auf die Krebskrankheit bezeichnen.
Die Chemotherapie(1) etablierte sich im Laufe der 1970er Jahre als fester Bestandteil vieler Krebstherapien und weckte durch ihre Erfolge bei der Behandlung der(3) zuvor als unheilbar geltenden(1) Leukämie ebenso(1) wie des Hodgkin-Lymphoms große(1) Erwartungen. Damit einher ging die Hinwendung zur sogenannten integrativen Therapie, die von vorneherein alle beteiligten(4) Spezialisten bei der Ausarbeitung eines Therapieplans einbeziehen sollte. Zugleich bedeutete dieser Ansatz auch insofern einen Paradigmenwechsel, als Krebs nun auch von Schulmedizinern als eine Krankheit begriffen wurde, die den »ganzen« Menschen betrifft. In der Konsequenz wurden »adjuvante« oder »komplementäre« Therapien, die(1) auf die Stärkung des Körpers und das körperliche Wohlbefinden der(1) Patienten zielten(2), stärker einbezogen. Mit Blick auf die »Lebensqualität« der(1) Patienten im(3) »Leben mit Krebs« – so zwei neue Schlagworte – wurden psychische Aspekte stärker berücksichtigt und in die Hände von Psychoonkologen gelegt(1). Institutionell wurde dem mit der Gründung von Tumorzentren Rechnung(1) getragen, die auch die Nachsorge und(1) Rehabilitation organisieren sowie soziale Hilfen vermitteln sollten. Das erste bundesdeutsche Tumorzentrum wurde(2) zwar bereits 1967 an der Universitätsklinik Essen-Duisburg nach dem Vorbild der amerikanischen Comprehensive Cancer Centers gegründet, weitere Gründungen erfolgten aber erst ab den späten 1970er Jahren. Mit diesen Tumorzentren erschien(3) die Praxis, die Diagnose dem Patienten zu(4) verheimlichen, endgültig unzeitgemäß – sie markieren den Endpunkt einer Entwicklung, die bereits lange zuvor begonnen hatte.
Zwei andere Bewegungen machten Krebs dezidiert zum öffentlichen Thema: zum einen die Hospizbewegung, die(1) in Deutschland von vielen lokalen Vereinen getragen wurde, zum anderen die Gründung von Selbsthilfegruppen seit(1) den 1980er Jahren. Diese Gruppen dien(t)en dazu, die Interessen, Probleme, Forderungen und Gefühle von(57) an Krebs erkrankten Menschen zu formulieren und diesen mehr öffentliche Sichtbarkeit zu verleihen. Hier konnten Menschen während oder nach einer Krebstherapie Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig unterstützen und Hilfe organisieren.
Erst seit Beginn der 1980er Jahre lässt sich ein signifikanter Anstieg der Heilungsraten vieler(3), wenn auch längst nicht aller Krebskrankheiten feststellen. Deshalb zählen immer mehr Onkologen Krebs(2) inzwischen zu den chronischen Krankheiten(2). Denn viele Krebserkrankungen lassen sich so behandeln, dass die Erkrankten entweder endgültig geheilt werden(4) oder aber so lange mit kontrollierbaren Tumoren leben(6) können(2), dass sie schließlich an einem anderen Leiden sterben(4). Die(10) Bedeutung dieses Wandels legte die britische Historikerin Joanna Baines eindrucksvoll(1) dar, indem sie die Krankheitsgeschichten ihrer Großmutter und ihrer Mutter mit(1) ihrer eigenen, noch nicht zu Ende gelebten Krebsgeschichte konfrontierte.[21]
Die hier erzählte Geschichte der Krebskrankheit setzt in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts an, als die Krankheit Krebs ihren Aufstieg zur Leitkrankheit des Jahrhunderts begann, in einer Zeit der wachsenden Angst vor(22) Krebs, wie es der französische Historiker Pierre Darmon formulierte(1).[22] Sie endet schließlich mit den 1990er Jahren und nimmt damit noch den Beginn des deutlich veränderten neuen Krebsregimes in den Blick.
Ein(1) konstitutives Merkmal der Krebsgeschichte im 20. Jahrhundert ist Unsicherheit – Unsicherheit(2) in(3) einer Epoche, in der Sicherheit zunehmend zu einem gesellschaftlichen Leitbegriff wurde. Diese Unsicherheit lässt(4) sich auf vielen Ebenen identifizieren. Unsicherheit kennzeichnete(5) schon die Diagnose. Zwar hatte die Zellularpathologie Kriterien(3) entwickelt, mit denen sich per definitionem Krebszellen unter dem Mikroskop erkennen ließen. Aber bedeuteten Krebszellen im mikroskopischen Schnitt, dass jemand an Krebs erkrankt war? Bereits im frühen 20. Jahrhundert hatten Kliniker beobachtet, dass sich manche Krebserkrankungen nur sehr langsam und damit nicht mehr innerhalb der Lebensspanne des Patienten zum(5) tödlichen Krebs entwickelten, während andere Tumoren rasant(7) wuchsen, metastasierten und(1) schnell zum Tod führten(9). Wie sollte man die einen von den anderen unterscheiden? Mit den im Verlauf des 20. Jahrhunderts stetig verfeinerten Diagnosetechniken konnten bald auch Zellen entdeckt werden, die »abnorm« waren, aber nicht alle Eigenschaften einer Krebszelle zeigten. Handelte es sich bei diesen Zellen immer um Vorstufen von Krebszellen, wie es die Begriffe carcinoma in situ oder präkanzerös nahelegten? Mussten diese also ausnahmslos als Krebs behandelt werden, damit sie sich nicht zu Krebszellen entwickelten? Viele Ärzte waren sich dieser diagnostischen Unsicherheit bewusst(6), wenn sie den Patienten auch(6) meistens verborgen blieb und erst im späten 20. Jahrhundert breiter diskutiert wurde. Denn die Entscheidung, »abnorme« Zellen im Zweifelsfall als Krebs zu behandeln, um kein für den Patienten möglicherweise(7) tödliches Risiko einzugehen(3), trafen die Ärzte in der Regel ohne den Patienten.
Nicht(8) weniger unsicher waren(7) Therapie und(5) Prognose. Schlug(1) die gewählte Therapie bei(6) dem einen Patienten an(9), versagte sie bei einem anderen mit dem scheinbar gleichen Krebs, wieder ein anderer schien auf die gleiche Therapie zunächst(7) gut zu reagieren, bald traten jedoch Rezidive oder(1) Metastasen auf(2), die schnell zum Tod führten(10). Die längste Zeit des 20. Jahrhunderts konnten diese Unterschiede weder vorhergesagt noch erklärt werden. Erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts fand man Unterscheidungsmerkmale der scheinbar gleichen Organkrebse auf molekularer beziehungsweise genetischer Ebene(1), etwa bestimmte Hormonrezeptoren beim(1) Brustkrebs oder(2) krebsdisponierende Gene(2), die heute dazu benutzt werden, Frauen auf ihr Brust- und Eierstockkrebsrisiko zu(4) testen oder bestimmte Chemotherapien von(2) vorneherein als unwirksam auszuschließen. Dementsprechend unsicher waren(8) Aussagen über die verbleibende Lebenszeit der an Krebs erkrankten Menschen. Zwar griffen Ärzte bei ihren Prognosen auf(2) klinische Erfahrungen oder auf Krebsstatistiken auf der Grundlage von Stadieneinteilungen zurück. Oft erlebten sie jedoch, dass den Menschen deutlich weniger oder überraschend mehr Lebenszeit blieb als erwartet und vorhergesagt.
Auch in Fragen der Ätiologie blieb die Unsicherheit ein(9) ständiger Begleiter.[23] Viele Theorien der Krebsentstehung wurden erforscht: So prüfte man in Labor und Klinik, ob chemische Stoffe, Strahlen, Verletzungen(3), Traumata, Parasiten, Viruserkrankungen, genetische Faktoren(1), Genussmittel, Nahrungsmittel, psychische Dispositionen und(3) Gefühle als(58) Krebsursachen in Frage kämen. Aber was waren die entscheidenden Faktoren dafür, dass aus einzelnen Krebszellen die Krankheit Krebs wurde? Ging immer eine systemische Schwächung des Körpers voraus oder begann der Krebs stets lokal begrenzt? Für die Karzinogenität vieler(1) Stoffe ließen sich experimentell oder(1) epidemiologisch Nachweise(2) erbringen. Die Berufskrebse, wie etwa der sogenannte Schneeberger Lungenkrebs, wiesen(1) bereits früh auf die krebserregende Wirkung bestimmter Elemente hin, die alltägliche Praxis der Radiologie zeigte, dass Strahlen Tumoren(4) verursachen(8) konnten, psychologische Tests(2) und daraus erstellte Persönlichkeitsprofile von(1) Krebskranken schienen auf die Beteiligung von psychischen Faktoren zu deuten – und diese Liste ließe sich fortsetzen. Dennoch blieb die Frage nach der einen Krebsursache mehr oder weniger offen. Immer fraglicher schien es im Laufe des 20. Jahrhunderts, ob sich überhaupt die eine Krebsursache finden ließe.
Der amerikanische Krebsforscher Bert Vogelstein, der(1) als einer der ersten an der Sequenzierung von Krebsgenomen arbeitete, argumentiert, die Krebskrankheit eines jeden Patienten sei(10) einzigartig, da sich jeder Krebstumor aus den einzigartigen Genen eines Menschen durch jeweils einzigartige Mutationen entwickelt.[24] Wenn diese Erkenntnis auch verhältnismäßig neu ist, wurde doch bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen unterschiedlichen Krebskrankheiten je nach Lokalisation des Tumors und(9) Gewebsherkunft der Krebszellen unterschieden. Diese Unterscheidungen waren nicht nur bedeutsam für die Wahl der Therapie, sondern(8) auch dafür, wie Menschen ihre Krebskrankheit wahrgenommen haben, mit welcher Form der Sichtbarkeit, der Tabuisierung, der(1) Versehrtheit sie umgehen mussten.
Dennoch soll in dieser Geschichte der Krebskrankheit zunächst nicht zwischen verschiedenen Krebserkrankungen unterschieden werden. Denn bei aller Unterschiedlichkeit sind auf der hier im Mittelpunkt stehenden Ebene der Gefühlspraktiken und(59) des Gefühlswissens die Gemeinsamkeiten groß, war die Vorstellung von Krebs als einer Krankheit dominant, so dass die Verschiedenartigkeit von Krebserkrankungen nur dann thematisiert wird, wenn sie deutliche Unterschiede in den emotionalen Praktiken und Wissensbeständen nach sich zog.
Die fehlenden Gewissheiten angesichts einer von vielen als individuelle und gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommenen Krankheit öffneten einen Raum, in dem Gefühle eine(60) besondere Bedeutung erhielten. Handeln und Entscheiden (auch die Entscheidung, nicht zu handeln) waren gefragt. Angesichts der Unsicherheit auf(10) allen Ebenen spielten Gefühle als(61) Entscheidungshilfe und Überzeugungsmittel eine große Rolle. Wenn es um Krebs ging, schien der Tod immer(11) ganz nah, ohne dass die »Betroffenen« wussten, wie nah. Die existentielle Bedrohung stand jedoch – anders etwa als im Fall der Grippeepidemien des(3) 20. Jahrhunderts – nicht unmittelbar bevor. Darum setzte die Begegnung mit Krebs komplexe und langwierige Gefühlsnavigationen, -beziehungen und -praktiken in Gang. Diese stehen hier im Mittelpunkt.
Über Krebs wurde im 20. Jahrhundert überall geredet oder beredt geschwiegen: auf der Straße, beim Bäcker oder Friseur, bei der Zeitungslektüre im Café, in Film- oder(1) Fernsehstudios, auf(1) Bürofluren oder im Wohnzimmer, in Parlamenten, Vortragssälen oder Gotteshäusern. Es gab jedoch auch Räume, in denen die Krebskrankheit dauerhaft im Vordergrund stand, deren Gestalt und tatsächliche Benutzung wesentlich durch die Begegnung mit der Krebskrankheit bestimmt wurde. Neben dieser konkreten Dimension des Räumlichen findet sich eine metaphorische Raumdimension in den Schriften von Medizinern, Journalisten, Politikern und direkt Betroffenen. Die Vorstellung, die Krebskrankheit herrsche über ein Reich, unterwerfe den Kranken unter dessen Regeln und Gesetze, ist eine Metapher, die(1) schon mit Rudolf Virchows Idee(3) des Zellenstaats angelegt war, sich aber in unterschiedlicher Form durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch finden lässt. Diese Raummetapher ebenso wie die tatsächliche Existenz von »Krebs-Räumen« im 20. Jahrhundert legen es nahe, die Gefühlsgeschichte der(62) Krebskrankheit an und in diesen Räumen aufzusuchen.[25]
So stehen vier Räume im Vordergrund, in denen Menschen im 20. Jahrhundert vorrangig mit Krebs konfrontiert wurden: die Räume des Forschens, die Räume der Früherkennung, die(1) Räume der Diagnosemitteilung sowie(1) schließlich die Räume der Behandlung, des(9) Weiterlebens oder Sterbens. In(11) diesen Räumen wurde ein bestimmtes Verständnis der Krebskrankheit entworfen. Dort fand dieses Wissen Eingang in Praktiken, wurde durch diese verändert und immer wieder neu geschaffen. Gefühle waren(63) ein wesentlicher Bestandteil dieser Praktiken. Teil des »Krebswissens« war Gefühlswissen(64), das heißt Vorstellungen darüber, welche Gefühle und(65) Gefühlshaltungen heilsam(66), schädlich(5), hilfreich oder störend sein könnten. Dieses Gefühlswissen prägte(67) die Begegnungen zwischen den Patienten und(11) dem medizinischen Personal. Es floss in die Architektur und Gestaltung der Räume und Dinge ein, die für die Krebsbehandlung geschaffen(10) wurden. Annahmen über Gefühle und(68) deren Wirkungsweisen wurden bei der Vermittlung von Krebswissen an das Laienpublikum diskutiert. Ebenso beeinflusste diese Art von Gefühlswissen den(69) Umgang mit Krebspatienten während(12) und nach der eigentlichen medizinischen Behandlung sowie(11) mit denjenigen Menschen, bei denen Ärzte und Ärztinnen keine Chance auf Heilung mehr(6) sahen.
Krebs erklären und erforschen, Krebs erkennen, über Krebs sprechen und Krebs erfahren – so steht es auf den Schildern der Türen, die zu den hier in vier Kapiteln erkundeten Räumen führen. Ob man die Tür eines solchen Raumes in Deutschland, in den USA, in Spanien oder Großbritannien öffnete, war in mancher Hinsicht kaum von Bedeutung, da viele Debatten transnational geführt wurden. Die Unterschiede zwischen Westeuropa, den USA, manchmal auch Osteuropa und Südamerika waren im Hinblick auf die Benennung allgemeiner Probleme und Fragen oft minimal. Dort allerdings, wo es um konkrete Praktiken in diesen Räumen geht, lassen sich zum Teil deutliche Unterschiede ausmachen. Zudem wurde die Gestaltung dieser Räume wesentlich mitbestimmt durch medizinische, berufsständische und institutionelle Traditionen sowie durch die Struktur von Gesundheitssystemen und deren Finanzierung, die überwiegend im Rahmen der Nationalgeschichte zu fassen sind. Diese Geschichte hat darum ihren Ort in Deutschland, allerdings immer mit dem Blick auf mögliche Transfers und Verflechtungen im Transnationalen.
Eine deutsche Geschichte, die mit der Wende zum 20. Jahrhundert beginnt und um 1990 endet, steht vor einem Problem: Wie soll sie nach 1945 weitererzählt werden? Ich habe mich dafür entschieden, keinen systematischen Vergleich zwischen DDR- und BRD-Geschichte zu verfolgen. Stattdessen schreibe ich die Jahrzehnte zwischen 1945/49 und den 1990er Jahren als eine in zwei Strängen nebeneinander verlaufende Geschichte – zwei Stränge, die in manchen Räumen so nah beieinander bleiben, dass sie als eine Geschichte mit unterschiedlichen Ausprägungen gelten können. In anderen Räumen dagegen sind die Unterschiede größer, so dass die jeweiligen Entwicklungen voneinander getrennt dargestellt werden.[26]
Im ersten Raum dieser Geschichte wird die Krebskrankheit erforscht, und so nimmt dieses Kapitel die Leserinnen und Leser mit(1) in Labore und Klinikstationen. Um den Ursachen der Krebskrankheit auf die Spur zu kommen, wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts zahlreiche Faktoren erkundet. Zugleich wurde eine Unzahl an Stoffen im Laborexperiment und(2) in klinischen Studien auf(1) ihre therapeutische Wirksamkeit geprüft. Hier steht allerdings eine Forschungsfrage im Mittelpunkt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur an den Rändern der akademischen Medizin verfolgt und erst seit den 1940er Jahren von der Forschung in(2) den Blick genommen wurde: die Frage nach der Rolle von Gefühlen bei(70) der Entstehung von Krebs.[27] Auch wenn dieser Zusammenhang also erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter dem Schlagwort »Psychosomatik« intensiver(1) erforscht wurde, ist das weitgehende Fehlen einer psychosomatischen Krebsforschung(2) in(3) der ersten Jahrhunderthälfte für eine Gefühlsgeschichte der(71)(3)(72)(4)