Hearts of Blue
Gefangen von dir
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Katrin Kremmler und Julia Lambrecht
Lee Cross ist ein Dieb. Seitdem er denken kann, bewegt er sich auf der dunklen Seite des Gesetzes, und mit 25 Jahren steckt er inzwischen viel zu tief drin, als dass er noch damit aufhören könnte. Doch dann begegnet er Karla Sheehan. Er und die junge Polizistin könnten unterschiedlicher nicht sein. Während sie auf der Karriereleiter ganz nach oben kommen will und Verbrecher jagt, verkörpert Lee alles, wovon sie sich fernhalten sollte. Doch je mehr er versucht, der schönen Gesetzeshüterin aus dem Weg zu gehen, desto deutlicher spürt er, dass sie längst sein Herz gestohlen hat …
»Diebstahl ist natürlich ein Verbrechen und etwas sehr Unhöfliches. Aber wie das meiste unhöfliche Benehmen ist es unter gewissen Umständen entschuldbar. Diebstahl ist nicht entschuldbar, wenn du zum Beispiel in einem Museum bist und findest, dass sich ein bestimmtes Gemälde bei dir zu Hause besser machen würde, es dir einfach schnappst und mitnimmst. Aber wenn du sehr, sehr hungrig wärst und keine Möglichkeit hättest, an Geld zu kommen, wäre es eventuell entschuldbar, sich das Gemälde zu schnappen, es mit nach Hause zu nehmen und aufzuessen.«
Lemony Snicket
London, 2000
Im Zimmer war es so eiskalt, dass man die eigenen Atemwolken sehen konnte.
Alles fühlte sich irgendwie feucht an. Vor einigen Wochen war der Strom abgestellt worden und auch die Zentralheizung. Das alte Sofa im Wohnzimmer war klamm so wie die Decken und Kissen im Schlafzimmer, das sich Lee mit seinen drei Brüdern teilte. Er stieg ins Bett und schloss die Augen, versuchte, das unangenehm feuchtkühle Bettzeug zu ignorieren und einfach einzuschlafen, aber es funktionierte nicht.
Seinen Freunden gegenüber würde er es nie zugeben, aber oft kuschelte er sich eng an seinen älteren Bruder Stu, um sich zu wärmen. Liam und Trevor lagen zusammen in dem zweiten Bett auf der anderen Seite des kleinen Zimmers, und ihre Cousine Sophie schlief im alten Zimmer seiner Mutter. Seine Tante Jenny hatte sie vor Monaten dort zurückgelassen, gleich nach dem Tod von Lees Mum. Dann war sie mit ihrem Freund in einen längeren Urlaub gefahren. »Verkorkst« beschrieb die Familie nicht mal annähernd. Für das Sozialamt war Jenny eingezogen, um sich um die Kinder ihrer verstorbenen Schwester zu kümmern. In Wirklichkeit war sie abgehauen, sonnte sich in Magaluf auf Mallorca, soff sich die Birne zu und hatte den fünf Kindern nur einen Briefumschlag mit Geld dagelassen. Das inzwischen lange aufgebraucht war.
Ein Mann im Anzug und mit Goldringen kam in letzter Zeit immer öfter vorbei und bot Lee eine Möglichkeit an, für seine Familie zu sorgen. Er hatte ihn ein paarmal in der Siedlung gesehen. Einmal hatte er einen Mann halb totgeschlagen, weil der ihm seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, ein anderes Mal hatte er eine Frau besucht, deren Mann gestorben war, und einen Essenskorb für ihre Kinder gebracht. Es war schwierig, den brutalen Schläger mit dem Mann in Einklang zu bringen, der der Witwe geholfen hatte. Wie konnte jemand nett und grausam zugleich sein?
Trotzdem wollte Lee ihm vertrauen. Er wünschte sich, dass der Mann ihm etwas Reales anbot und es nicht nur ein Trick war, weil er seinen teuren Anzug und den eleganten Wagen sah, und tief in seinem Inneren wollte er das alles auch haben. Er hatte es satt, zu leiden und mit anzusehen, wie seine Brüder ein Leben in Armut führten. Er wollte dafür sorgen, dass seine Familie nie wieder fror oder hungrig war, und der Mann war für ihn eine Chance.
Stu hustete und drehte sich auf die Seite, die Augen offen. Auch er konnte nicht schlafen.
»Ich hasse sie«, sagte er und riss Lee aus seinen Gedanken.
»Wir alle hassen sie«, antwortete Lee. »Es war egoistisch von ihr. Sie verdient es, gehasst zu werden.«
»Ich rede nicht von Tante Jenny. Ich rede von Mum. Sie war schlimmer als Jenny. Sie hat uns nie geliebt. Mütter sollen ihre Kinder doch eigentlich lieben.«
»Sie hat nicht mal sich selbst geliebt«, sagte Lee und dachte an sie. »Junkies lieben nur ihr High, sonst nichts.« Seine Mum und ihre Schwester waren in einer zerrütteten Familie aufgewachsen. Es war kein Wunder, dass sie so geworden waren.
Stu ließ den Kopf zurückfallen und starrte an die Decke. »Ich werde nie Drogen nehmen. Das schwöre ich hiermit. Wenn ich je eine einzige Pille anfasse, gib mir eins in die Fresse.«
Lee lachte leise. »Kannst du haben, Alter.«
»Im Ernst«, beharrte Stu. »Du kannst mir sogar die Nase brechen, wenn es mich davon abhält, so ein blödes Junkie-Arschloch zu werden.«
Stu hatte mit seiner Verkündung ihren jüngeren Bruder geweckt. Liam, mit neun der Jüngste, jammerte: »Ihr macht Krach!«
»Sorry, Kleiner. Schlaf weiter. Wir sind schon ruhig«, sagte Lee mit gedämpfter Stimme.
»Ich hab Hunger.« Trevor setzte sich auf und rieb sich die Augen.
Lee und Stu klauten seit Wochen Lebensmittel, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie erwischt wurden. So konnte das nicht weitergehen. Eine Alternative musste her. Wieder fiel Lee der Mann im Anzug ein.
»Wann kommt Tante Jenny wieder?«, fragte Liam. Er war noch zu klein, um zu verstehen, dass sie nie zurückkommen würde. Oder jedenfalls nicht zu ihnen.
»Die kommt gar nicht wieder«, stieß Stu abrupt hervor. Im Umgang mit den kleineren Jungs fehlte ihm Lees Einfühlungsvermögen. Liams Augen wurden feucht, dann brach er in Tränen aus. Lee stieg aus dem Bett und ging zu ihm, um ihn zu trösten. Er legte seinem kleinen Bruder den Arm um die Schultern und wischte ihm die Tränen ab.
»Es wird alles gut. Wir brauchen sie nicht«, versprach er ihm.
»Wie kannst du so was sagen?«, fragte Trevor bitter. »Wir haben nichts. Wir sind nur ein paar Kinder, und keiner interessiert sich einen Dreck für uns.«
»Ich schon«, konterte Lee. »Mir seid ihr alle wichtig, verdammt. Ich lasse mir was einfallen. Einen Plan.«
»Einen Plan?«, meldete sich Liam schniefend.
»Jepp. Ist mir egal, was ich tun oder wen ich fertigmachen muss – ich werde dafür sorgen, dass es uns nie wieder an etwas fehlt. Ich habe es satt, so zu leben.« Schweigen folgte, und er spürte, dass alle drei Jungen ihn anstarrten. Schließlich fragte er: »Wer steht zu mir?«
Sofort streckte Stu die Hand hinüber und legte sie auf Lees. »Ich.«
»Ich auch«, sagte Trevor.
»Und ich auch«, stimmte Liam zu.
Lee sah jedem seiner Brüder in die Augen, ihr Pakt war geschlossen. Morgen würde er losgehen und mit dem Mann im Anzug reden, und mit etwas Glück würde sich ihr Leben ändern.
Er hoffte nur, zum Besseren.
London, 2010
Karla
Als ich Lee Cross zum ersten Mal begegnete, tat ich etwas so Alltägliches wie Lebensmittel einkaufen. Er stand lässig vor einem Wettbüro und sprach meine beste Freundin Alexis an, die ihn kannte, weil sie mal mit seinem Bruder zusammen gewesen war. Als sein Blick auf mir landete, schien plötzlich alles in Zeitlupe abzulaufen, und ich merkte, dass ich rot wurde. Fast gegen meinen Willen fand ich ihn attraktiv, mit seinem zerzausten braunen Haar, den verschmitzten blauen Augen und den Tattoos, die unter seinen Hemdsärmeln hervorschauten.
Um es kurz zu machen: Er wollte mit mir ausgehen, und ich gab ihm eine Abfuhr. Aber er versuchte, mich zu ködern, indem er mir ins Ohr flüsterte.
»Wenn du mitkommst, bringe ich dich mit der Zunge zum Kommen, ganz ohne Gegenleistung.«
Ich kann nicht behaupten, dass ich nicht in Versuchung geriet, aber das lag wahrscheinlich nur an meinen zehn sexfreien Monaten. Ich war Polizistin und nahm meinen Job ernst. Und ein Blick auf Lee Cross genügte mir, um zu wissen, dass er nicht auf derselben Seite des Gesetzes stand wie ich. Und außerdem war er mir zu jung. Zwar nur drei Jahre jünger, aber trotzdem.
Als ich ihm das zweite Mal begegnete, leistete ich Alexis moralische Unterstützung, weil sie Lee um einen Gefallen gebeten hatte und er in unsere Wohnung gekommen war. Er war großspurig, fläzte sich neben mir auf dem Sofa herum und flirtete mit mir. Ich musste mich daran erinnern, dass er tabu war, besonders, als er mir sein selbstsicheres Grinsen zuwarf. Es bedeutete: Ein Wort von dir, und ich vögle dir deine ganze Frustration weg, Süße. Also total nervig. Auf dieses Wort konnte er lange warten. Lee Cross hatte bei mir keine Chance.
Das dritte Mal traf ich ihn, und damit wären wir in der Gegenwart angekommen, als ich einen Typen mit Kapuzenpullover durch eine Gasse verfolgte. Eben hatte ich ihn bei dem Versuch ertappt, ein vor einem Zeitungsladen geparktes Auto zu stehlen, und als er mich sah, riss er aus. Ich trainierte mehrmals die Woche, aber dieser Scheißkerl war zu schnell für mich. Natürlich war ich erleichtert, als ich sah, dass er in eine Sackgasse gerannt war. Sein Pech. Er hatte keinen Ausweg mehr, und mein Partner Tony würde jeden Moment um die Ecke kommen. Aber als der Typ einfach an der drei Meter hohen Mauer hinaufsprang, als wäre es nichts, verflog meine Erleichterung schnell. Was zum Teufel war das denn? Unmittelbar bevor er sich auf die andere Seite fallen ließ, sah er sich um und zwinkerte mir zu.
Frecher. Kleiner. Scheißkerl.
Diese blauen Augen hätte ich überall erkannt, denn sein älterer Bruder besaß ein identisches Paar. Trevor war das zweitjüngste Mitglied der Familie Cross. Er war bereits mehrfach wegen kleinerer Delikte verhaftet worden und hatte keine Haftstrafen vorzuweisen. Noch nicht. Ich könnte wetten, wenn er so weitermachte, würde er früher oder später hinter Gittern landen.
Eine Sekunde verstrich, dann kam Tony neben mir an, stützte die Hände in die Hüften und schnappte nach Luft.
»Ist der über die Mauer gesprungen?«
»Jepp.«
»Scheißkerl.«
»Meine Rede. Komm mit, ich glaube ich weiß, wo wir ihn finden.«
Nach den zwei Begegnungen mit Lee hatte ich meine Hausaufgaben gemacht. Ich wusste, dass er in einer Sozialsiedlung in Hackney wohnte. Ich wusste, dass er fünfundzwanzig Jahre alt war und eine fragwürdige Autowerkstatt mit dem Namen Cross Bros., Gebrüder Cross, besaß, die nur ein paar Minuten von meinem Revier entfernt lag. Und ich wusste, dass er, genau wie sein jüngerer Bruder Trevor, noch nicht im Gefängnis gewesen war. Aber wie gesagt, das war nur eine Frage der Zeit.
Zugegeben, ich hatte es mit meiner Recherche etwas übertrieben und wusste selbst nicht, warum ich solches Interesse an ihm hatte. Ich dachte, dass ich einfach wissen wollte, womit ich es zu tun hatte, denn jedes Mal, wenn wir uns über den Weg liefen, schien er wild entschlossen, mich rumzukriegen.
Tony und ich gingen zum Streifenwagen zurück, und ich sprang hinters Steuer, mein Ziel schon vor Augen. Meine Hände prickelten, und beim Gedanken, einen offiziellen Hausbesuch bei Lee zu machen, schlug mein Herz heftig. Aber ich hatte seinen Bruder bei einer Straftat erwischt und würde ihn auf keinen Fall laufen lassen.
»Ich habe vier gezählt.« Tony nahm unser Spiel wieder auf. Wir zählten Turnschuhe, die von Stromleitungen hingen. Es war ein Zeichen, dass in der Gegend Drogen verkauft wurden. Leider zählten Tony und ich immer mehr Turnschuhe, als wir uns vornehmen konnten. Und außerdem konnten wir baumelnde Turnschuhe nicht als Grund für Hausdurchsuchungen benutzen. Darum funktionierten sie so gut. Alle wussten, was sie bedeuteten, da sie eigentlich gar nichts bedeuteten.
Als wir in Lees Straße ankamen, die aus zwei langen Häuserzeilen bestand, fiel mir auf, dass einige der Häuser in ganz gutem Zustand waren, während andere entweder mit Brettern vernagelt waren oder verfielen. Es war eine Gegend, in der man nachts nicht gern zu Fuß unterwegs war … eigentlich auch tagsüber nicht. Lees Haus, Nummer 52, war noch am besten in Schuss. Es hatte Dreifachverglasung, und davor stand ein frisierter schwarzer Ford Focus RS mit getönten Rückfenstern.
»Woher hast du gewusst, dass wir hierherkommen müssen?« Tony musterte verächtlich das Auto, so wie ich. Es war einfach so verdammt typisch.
»Ich habe den Typen erkannt. Er wohnt hier.« Ich packte das Lenkrad und blickte hinaus. Wir stiegen aus dem Wagen und gingen aufs Haus zu, als Tony sagte: »Du hattest schon mit ihm zu tun, hm?«
Ich zuckte die Schultern, hob den Türklopfer und schlug dreimal kräftig gegen die Tür.
»So was in der Art.«
Die Gardinen am Fenster des übernächsten Hauses bewegten sich, und ich sah eine alte Frau hervorspähen. Sie schien zu erschrecken, als sie mich sah, und ließ die Gardine schnell wieder fallen. Bei Lee konnte man den Fernseher laufen hören, und Stimmen, die sich unterhielten. Dann kam jemand über den Flur und öffnete die Tür. Es war eine kleine Frau, wohl Anfang zwanzig, mit elfenhaftem Gesicht und kurzem braunen Haar. Ich fragte mich, ob sie Lees Freundin war. Sie kaute Kaugummi, legte den Kopf schief und starrte mich ausdruckslos an.
»Ja?«
»Guten Abend, Miss. Wir suchen Trevor Cross und wollen ihm ein paar Fragen zu heute Abend stellen. Ist er zufällig zu Hause?«
Die Frau starrte mich weiter ausdruckslos an, dann verdrehte sie die Augen und rief über die Schulter: »Lee! Es sind die Bullen, sie fragen nach Trev.«
»Ich koche das Abendessen, sag ihnen, er ist nicht da«, rief Lee zurück, und vom Klang seiner Stimme bekam ich ein kleines Prickeln im Magen. Es war zwei, vielleicht drei Monate her, dass ich ihn zuletzt gesehen hatte. Natürlich war ich nicht allzu glücklich über meine Reaktion. Dass er die Wahrheit sagte, was das Abendessen anging, wusste ich, als mir eine Knoblauchwolke in die Nase stieg. Was immer er da kochte, es roch köstlich.
Sie drehte sich wieder zu mir um, ich starrte sie mit harter Miene an, und sie schluckte.
»Schätze nicht, dass die so einfach wieder gehen, Cousin.« Also war sie seine Cousine?
»Okay, komme gleich«, blaffte Lee.
Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu, der bedeutete: Zufrieden? Dann drehte sie sich um und stolzierte ins Haus zurück. Ich sah zu Tony hinüber. Er wirkte gelangweilt. Solche Dinge waren unsere tägliche Routine; aber weil es um Lee Cross ging, langweilte ich mich ganz und gar nicht. Ich rückte mein Funkgerät zurecht, strich mit den Händen über mein Notizbuch, das sicher in meiner Brusttasche verstaut war, und zog meine Krawatte gerade. Ich spielte nervös herum, und meine Unruhe wuchs immer mehr, je länger Lee uns warten ließ.
Ich hörte schlurfende Schritte, und dann streckte ein kleiner Junge von drei oder vier Jahren schüchtern den Kopf aus der Tür. Er war total süß, und ich grinste schon wie eine Idiotin, bevor ich meine Mimik wieder im Griff hatte.
»Hallo, wie heißt du denn?«, fragte ich und bückte mich, um ihm in die Augen zu sehen. In der Sekunde, in der ich ihn ansprach, flitzte er davon. Manchmal bekamen Kinder Angst, wenn sie die Uniform sahen.
Eine Sekunde später kam Lee durch den Flur auf uns zu und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Er trug Jeans und ein T-Shirt, und ich gönnte mir einen Augenblick, um die kunstvollen Tattoos auf seinen Armen zu betrachten und wie eng die Jeans an seinen schmalen Hüften saß, bevor ich mich wieder aufrichtete. Lee hob die Augenbrauen. Seine Miene verriet nicht viel, sein Blick wanderte kurz zu Tony, dann wieder zu mir. Er wirkte gelassen. Das hier war sein Territorium, und es gefiel mir nicht. Er hatte die Oberhand, keine Frage.
Er verzog den Mund zu einem langsamen, unbeschwerten Lächeln und betrachtete mich. »Wusste ich doch, dass du früher oder später bei mir anklopfst, Snap.«
»Da war ein kleiner Junge«, platzte ich heraus. Keine Ahnung, warum.
»Das ist Jonathan. Der Sohn meiner Cousine Sophie. Sie wohnen bei uns.«
»Ach so.« Ich starrte ihn eine Sekunde lang dümmlich an, dann erinnerte ich mich wieder, warum ich gekommen war, und räusperte mich. »Also, wir sind dienstlich hier. Ich habe gerade deinen Bruder Trevor verfolgt, nachdem ich ihn bei dem Versuch erwischt habe, einen Honda zu stehlen. Wenn er hier ist, würde ich gern mit ihm reden.«
Lee verschränkte die Arme. »Wie ich schon sagte, er ist nicht da. Aber woher weißt du, dass es Trev war? Da draußen gibt’s eine Menge Jungs, die so gut aussehen wie der kleine Teufelskerl. Ich schätze, du hast den Falschen, Baby.«
»Sie sprechen mit einer Polizeibeamtin. Zeigen Sie etwas Respekt«, erklärte Tony gereizt.
Lee sah Tony an, dann mich, und dann senkte er grinsend den Kopf und sagte leise: »Bitte entschuldige, Karla.« Wie er meinen Namen aussprach, verschaffte mir wieder dieses prickelnde Gefühl im Magen, aber ich ließ mir nichts anmerken. Bis jetzt hatte er mich nie mit meinem richtigen Namen angesprochen, immer nur mit dem Spitznamen, den er mir verpasst hatte: Snap, oder die längere Version, Gingersnap.
»Für dich Constable Sheehan«, sagte ich nachdrücklich.
Wiedererkennen blitzte in seinen Augen auf, und er fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »Hast du Sheehan gesagt?«
Ich kniff die Augen zusammen. »Genau.«
»Ach du Scheiße.«
»Habe ich Ihnen nicht gerade gesagt, Sie sollen etwas Respekt zeigen?«, fiel ihm Tony ins Wort, jetzt verärgert.
Dieses Mal sah Lee ihn nicht einmal an. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf mich gerichtet. »Bist du zufällig mit Superintendent Sheehan verwandt?«
Ich schluckte, meine Kehle wurde schlagartig trocken. Er kannte meinen Dad. Fantastisch. »Das geht dich nichts an. Und wenn du uns jetzt helfen könntest, deinen Bruder zu finden …«
»Oh Himmel, du bist mit ihm verwandt, nicht? Wer ist er, dein Onkel? Dein Alter? Bitte sag mir nicht, du bist mit dem Arschloch verheiratet, sonst vergeht mir die Lust aufs Abendessen.«
Für eine Sekunde fiel ich aus der Rolle und verzog angeekelt das Gesicht. »Igitt, nein. Er ist mein Vater, du …« Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig bremsen, bevor ich den Satz mit dem Wort »Idiot« beendete.
»Scheeeiße! Dein Dad? Verdammt, Snap, jetzt tust du mir echt leid.«
Und es war sein Ernst. In seiner Miene lag ehrliches Mitgefühl, aber ich machte ein betont stoisches Gesicht. Praktisch jeder, der meinen Vater kannte, wusste, dass er ein autoritärer, streitlustiger Tyrann war, aber hervorragend im Job. Im Privaten nicht so sehr.
»Das diskutiere ich nicht mit dir. Ruf deinen Bruder an und sag ihm, er soll herkommen. Wenn er unschuldig ist, wie du sagst, sollte er gegen ein paar Fragen nichts einzuwenden haben.«
Lee sagte kein Wort. Stattdessen starrte er mich an, und auf einmal kam mir meine Uniform zu eng, meine Stichschutzweste zu schwer vor. Langsam griff er in die Hosentasche seiner Jeans und zog ein iPhone heraus. Er tippte ein paar Mal auf das Display und hob es ans Ohr, dabei ließ er mich die ganze Zeit nicht aus den Augen. Ich stand nah genug bei ihm, um zu hören, dass es ein paarmal klingelte und dann auf Voicemail schaltete.
»Er geht nicht ran.«
»Was Sie nicht sagen«, sagte Tony mit todernstem Gesicht und winkte mir. »Komm, mit dem kommen wir nicht weiter.«
»Ach, ihr wollt gar nicht zum Essen bleiben?«, neckte Lee. Er grinste wieder und streckte die Hände aus. »Und ich habe mir doch solche Umstände gemacht.«
Tony wollte schon mit einer bösen Bemerkung kontern, als sich auf seinem Funkgerät die Zentrale meldete. Er trat zur Seite und ließ mich allein mit Lee, der sich an den Türrahmen lehnte und mir einen erhitzten Blick zuwarf. »Ich muss schon sagen, du gefällst mir in Uniform.«
»Ach halt doch die Klappe.« Ich verdrehte die Augen. An meiner Uniform war nichts Attraktives. Im Grunde war es Männerkleidung an einer Frau.
»Es ist mein Ernst. Wie wär’s, wenn du eine Weile mit hoch in mein Zimmer kommst und ich dir zeige, wie gut sie mir gefällt?« Er hielt inne, blickte zu meinem Kopf hinauf und zwinkerte. »Die Mütze kannst du auflassen.«
Völlig gegen meinen Willen kicherte ich los und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein, danke, Tom Jones.«
»Damit du’s weißt, das Lied hat Randy Newman geschrieben. Tom Jones hat nur eine Coverversion gemacht«, witzelte Lee.
Ich musste mich schwer zusammennehmen, um meine Professionalität wiederzugewinnen und sein anzügliches Geplänkel mit einem Eimer kaltem Wasser zu löschen. »Wenn du deinen Bruder siehst, sag ihm, er soll zu mir aufs Revier kommen.«
»Verdammt, Snap, du bist wirklich Ross Sheehans Tochter. Deine Kindheit muss die Hölle gewesen sein.«
Das Mitgefühl in seiner Stimme traf mich unvorbereitet. Ich schluckte, sagte aber nichts. Unsere Blicke trafen sich, und etwas Schweres und Unausgesprochenes hing zwischen uns. Er trat einen Schritt über die Schwelle und auf die Straße. Ich blickte auf meine Stiefelkappen und dann wieder hoch, und eine Haarsträhne löste sich hinter meinem Ohr. Lee streckte die Hand aus, als wollte er sie zurückstreichen, aber dann erstarrte er. Einen Constable zu berühren, konnte technisch gesehen als Angriff gelten. Und technisch gesehen konnte ich ihn dafür verhaften. Vielleicht ließ er es deshalb. Oder vielleicht auch aus einem anderen Grund.
Sein Blick wurde weicher, und er flüsterte: »Wenn dieser lange Typ mit der miesen Laune nicht bei dir wäre, wäre das was ganz anderes hier.«
Ich sah zu Tony hinüber, der gerade sein Gespräch mit der Zentrale beendet hatte. Lee drehte sich um, ging lässig ins Haus zurück und schloss leise die Tür hinter sich. Tony nickte mir zu und winkte mir, ihm zurück zum Streifenwagen zu folgen.
Und das wollte ich auch, doch da öffnete sich plötzlich die Tür des Nachbarhauses, und ein kleines Mädchen kam herausgerannt. Sie war erst fünf oder sechs, und jemand brüllte ihr nach, wieder ins Haus zu kommen. Ich starrte sie an, ihrer struppiges braunes Haar, ihre blauen Augen und die schäbigen Kleider. Ihre Augen waren groß und voller Angst. Eine Sekunde lang starrte sie zurück, dann rannte sie zu Lees Tür und begann wild zu klopfen. Die Tür öffnete sich, und Lee kam wieder heraus. Das Mädchen rannte sofort zu ihm und klammerte sich an sein Bein. Er bückte sich und strich ihr sanft übers Haar.
»Was ist los, Kleines?«, fragte er, und das Mädchen flüsterte ihm etwas ins Ohr. Seine Miene verhärtete sich, er nickte und schickte sie ins Haus. Sein Blick landete auf mir, aber nur für eine Sekunde. Er sagte kein Wort, richtete sich nur auf und schloss die Tür.
Etwas an dieser Szene tat mir in tiefster Seele weh. Vernachlässigte Kinder waren mein einziger wirklich wunder Punkt, und dafür gab es einen Grund. Zu sehen, wie das Mädchen zu Lee gerannt war, als wäre er ihr glorreicher Retter, weckte Gefühle in mir, über die ich lieber nicht nachdenken wollte. Ich hörte, wie im Nachbarhaus jemand die Treppe heruntertrampelte, und dann kam eine dünne Frau mit fettigen Haaren und Augenringen heraus und schrie nach ihrer Tochter.
»Ich schwör bei Gott, Billie, du kommst jetzt schleunigst rein, oder ich geb dir wirklich Grund zum Heulen.«
Sie blieb abrupt stehen, als sie mich erblickte, und kniff wütend die Augen zusammen. »Und was willst du, Bullenschwein?«
»War das Ihre Tochter?« Ich ballte hart die Faust. Ich hasste sie schon jetzt. Es war nicht mein Job, Leute zu hassen, aber in diesem Fall konnte ich nichts dagegen machen. Sie trat aus ihrem Haus, als hätte sie wirklich vor, mich anzugreifen. Warum dachten Cracksüchtige immer, dass sie es mit einem aufnehmen konnten? Sie schafften höchstens einen Schlag, dann war ihre Energie verpufft. Jetzt streckte sie mir ihren Zeigefinger entgegen.
»Das ist das Problem mit euch Bullen. Immer mischt ihr euch ein, wo man euch nicht haben will.«
Ich hörte, dass Tony wieder aus dem Wagen stieg und zu uns herüberkam.
»Gibt es ein Problem, Miss?«, fragte er die Frau.
Beim Anblick meines kräftig gebauten Kollegen starb ihre Bravour einen schnellen Tod. Sie schüttelte den Kopf. »Nee, kein Problem«, beeilte sie sich zu antworten, dann ging sie in ihr Haus zurück und knallte die Tür hinter sich zu.
Tony tätschelte meine Schulter. »Gehen wir.«
Sobald wir wieder im Wagen saßen und uns angeschnallt hatten, stieß ich einen langen Seufzer aus. »Manchmal wäre ich gern ein Mann. Keiner hat Angst vor einer Frau von eins siebzig.«
»Hey, ich habe dich beim Training gesehen. Du hast die Hälfte der männlichen Kollegen auf die Matte gelegt, bevor sie auch nur blinzeln konnten. Vor dir sollten alle Angst haben«, sagte Tony und grinste.
Ich lächelte ihm zu. Es stimmte. Zweimal die Woche trainierte ich die philippinische Kampfkunst Eskrima, so blieb ich fit und konnte mich verteidigen, wenn es sei musste. Und in meinem Metier war es meistens nötig.
»Also, woher kennst du den Typen?«, fuhr Tony fort und sah zu Lees Haus zurück, während ich losfuhr.
»Meine Mitbewohnerin war mal mit seinem Bruder zusammen. Sie hat ihre Lektion gelernt.« Und er weckt Gefühle in mir, fügte mein Gewissen hinzu. Gefühle, auf die ich kein Recht habe.
Tony spitzte die Lippen und sah aus dem Fenster auf die alles andere als schöne Gegend. Ich fand schon meine eigene Wohngegend tough, aber hier war es wirklich ziemlich trostlos.
»Kann ich mir vorstellen«, sagte er. »Solche Familien bedeuten immer Probleme, Karla.«
Ich hasste es, dass er recht hatte. »Wem sagst du das«, seufzte ich, und dann fuhren wir los, um uns um einen Verkehrsunfall auf der A10 zu kümmern.
Als ich endlich Feierabend machte, dachte ich nur noch an ein schönes langes Bad und vielleicht etwas zu essen vom Chinesen. Aber leider wurden meine Träumereien von Detective Inspector Katherine Jennings unterbrochen. Wenn ein Mensch das Äquivalent dazu sein konnte, von Möwen angeschissen zu werden, dann DI Jennings. Ich prallte mit ihr zusammen, als ich aus dem Revier kam, und zwar wortwörtlich. Weil ich nämlich nur noch an den verdammten Lee Cross mit seinem attraktiven Gesicht, seinem frechen Lächeln und den forschenden Augen denken konnte.
»Herrgott noch mal, passen Sie doch auf, wo Sie hingehen, Sheehan«, blaffte sie.
Ich stand auf Katherines persönlicher Abschussliste. Es hatte irgendetwas mit einer alten Fehde zwischen ihr und meinem Dad zu tun. Sie hatten vor Jahren gemeinsam an einem Fall gearbeitet, und anscheinend hatte er sie bei einem besonders brutalen Streit eine nichtsnutzige, vertrocknete alte Fotze genannt, aber meiner Ansicht nach steckte noch mehr dahinter. Wie auch immer, dank meines lieben alten Dads verachtete sie den Boden, auf dem ich ging, und hatte als meine Vorgesetzte von Anfang an alles getan, um es mir so schwer wie möglich zu machen.
»Tut mir leid, Ma’am, nächstes Mal passe ich besser auf.« Ich sagte es ganz schlicht, ohne Sarkasmus oder Frechheit, aber Katherine hatte ein Talent dafür, Aggressionen zu entdecken, wo keine waren.
»Noch einmal in diesem Ton, Constable, und ich lasse Sie in ein Drecksloch am Arsch der Welt versetzen, bevor Sie auch nur Zeit haben, sich bei Ihrem Daddy auszuheulen.«
Ich hatte mich kein einziges Mal in meinem Leben ›bei meinem Daddy ausgeheult‹, aber sollte sie eben das letzte Wort haben. Es war die einzige Möglichkeit, nicht noch mehr von ihrem Zorn auf mich zu lenken. Ich nickte und schluckte meinen Ärger hinunter, drehte mich still auf dem Absatz um und ging weiter.
Als ich zu Hause ankam, fand ich Alexis mit dem Gesicht nach unten auf dem Sofa liegend, während im Fernsehen eine Soap lief. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder mir Sorgen machen sollte. Diese Trübsal war bei ihr praktisch Dauerzustand, seit die Liebe ihres Lebens vom Erdboden verschwunden war. Um es kurz zu machen, sie hatte eine Affäre mit ihrem Boss gehabt, und er hatte sich aus dem Staub gemacht, nachdem er seinen eigenen Vater krankenhausreif geschlagen und ihn fast umgebracht hatte.
Man konnte nicht sagen, dass wir hier ein ereignisarmes Leben führten.
»Mann, das Sofa muss ja toll riechen«, kommentierte ich trocken und stellte die Tüte vom Chinesen auf den Couchtisch. »Darf ich auch mal? Gibt doch nichts Schöneres, als mal wieder ordentlich an der Couch zu schnüffeln.«
»Ich rieche nicht am Sofa«, jammerte Alexis, setzte sich auf und warf mir einen bösen Blick zu. »Ich habe versucht, mein Gefühl von abgrundtiefer Einsamkeit und Verzweiflung auszudrücken. Du weißt schon, wie Performance-Kunst, bloß mieser.«
Ich lachte und drückte ihr leicht die Schulter. Ihr Herz war in diesen letzten Monaten schlimm durch die Mangel gedreht worden, und ich konnte nachvollziehen, wie sie sich fühlte. »Aber mal im Ernst, wie geht’s dir?«
»Scheiße, wie immer.«
»Ich habe an dir immer deine Ehrlichkeit geliebt, weißt du das?«
Ihr Blick wanderte zur Tüte, der Anblick entlockte ihr den Anflug eines Lächelns.
»Und ich habe an dir immer geliebt, dass du so spitze bist und nach deiner Schicht was zu essen mitbringt. Darf ich?«
»Hau rein.«
Sie nahm die Tüte, brachte sie in die Küche, holte Teller heraus und verteilte die gebratenen Nudeln. Ich trat mir die Stiefel von den Füßen und ging in mein Schlafzimmer, um mir die Uniform auszuziehen. Als ich zurückkam, saß Alexis wieder auf der Couch, stürzte sich auf ihr Essen und hatte mir einen vollen Teller hingestellt.
»Und, wie war’s auf der Arbeit?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.
»Alles bestens, bis ich im Gehen mit DI Jennings zusammengeprallt bin. Ich schwöre, so wie sie saugt mir niemand die Lebensfreude aus.« Ich beschloss, Alexis nichts von meiner Begegnung mit Lee zu erzählen, und war mir selbst nicht ganz sicher, warum.
Sie hob die Gabel in die Luft und stieß einen langen Seufzer aus. »Ich sage dir, Karla, du musst die Schlampe wegklicken. Sonst triezt sie dich nur immer weiter, bis du explodierst, und dann hat sie einen echten Grund, dich zu feuern.«
Ich starrte sie an. »Sie wegklicken?«
Sie starrte zurück. »Du weißt schon, wie im Computer.«
Ich konnte ein Kichern nicht unterdrücken. »Ich weiß, was ›wegklicken‹ bedeutet, Lexie. Ich habe es bloß noch nie in diesem Kontext gehört.«
»Na, jetzt hast du’s gehört. Klick sie weg. Du hast nie irgendwas gemacht, um ihr Benehmen zu rechtfertigen, und es geht mir auf die Titten, dass du das einfach so mit dir machen lässt. Meine Freunde lassen sich keinen Scheiß gefallen.«
Ich kicherte noch mehr.
Sie kniff die Augen zusammen.
Ich seufzte. »Sieh mal, ich verstehe, was du meinst, aber ich glaube, mein Dad hat ihr mal irgendwas ganz Schlimmes angetan, von dem niemand weiß. Das würde ich ihm wirklich zutrauen. Ich meine, sie ist auch bei den anderen kein Sonnenschein, aber mir gegenüber ist das echter Hass. So giftig ist man nicht ohne guten Grund.«
»Du solltest mal deinen Dad fragen. Wäre gut, wenn das endlich mal offen auf den Tisch kommt.«
»Ähm, hast du meinen Vater in letzter Zeit getroffen? Er ist nicht direkt der Typ für vertrauensvolle Gespräche.«
Alexis runzelte die Stirn, warf mir einen verständnisvollen Blick zu, und wir aßen in einträchtigem Schweigen fertig. Als ich mir später ein Bad einlaufen ließ, um mich mal wieder ausgiebig in der Wanne zu entspannen, dachte ich immer noch an Dad. Meine Eltern waren beide in Nordbelfast geboren und aufgewachsen, auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts. Und als Protestant im Nordirland der 1960er und 70er hatte man kein harmonisches Leben. Mein Dad arbeitete für die Polizei von Nordirland, bis ihm Mitte der 80er ein Job bei der Metropolitan Police hier in London angeboten wurde. Ich wurde etwa zwei Jahre nach dem Umzug geboren, als einziges Kind eines Paars mit sehr asymmetrischer Machtdynamik.
Mein Vater war eins fünfundneunzig, schlank und zäh, mit braunem Haar und blauen Augen. Meine Mutter war nur knapp über eins fünfzig, klein und ängstlich, mit rotem Haar und braunen Augen. Mit meinen eins siebzig, rotem Haar und blauen Augen, hart im Nehmen, aber feinfühlig, war ich ein ausgewogener Mix aus beiden.
Meine Mutter ließ sich von meinem Vater schikanieren, und das Traurige war, dass sie anscheinend damit zufrieden war, immer so weiterzumachen. Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, zu der ich sein wollte wie sie. Und erst recht an keine, zu der ich wie mein Dad sein wollte. Ich weiß, das klingt lustig, denn offenbar bin ich ja in seine Fußstapfen getreten und zur Polizei gegangen. Aber die Sache ist: Ich bin nicht zur Polizei gegangen, um ihm zu gefallen. Sondern weil ich Leuten helfen wollte, und sogar noch mehr, um ihm zu beweisen, dass er unrecht hatte.
Als Kind war ich ein halber Junge. Meine Idole waren Figuren wie Sarah Connor und Ellen Ripley, und trotzdem musste ich jeden Tag herumsitzen und mir anhören, dass mein Dad Sachen sagte wie: Frauen haben bei der Truppe nichts zu suchen, sie sind zu willensschwach. Wozu braucht man Polizistinnen? Wie wollen sie kräftemäßig einen Mann überwältigen?
Gleichzeitig musste ich damit umgehen, dass er mich und Mum ständig kritisierte, und irgendwie verwandelte sich das bei mir in das tief sitzende Bedürfnis, alles zu tun, um meinen Wert zu beweisen. Das einzige Problem dabei war: Katherine Jennings konnte mich auf den Tod nicht ausstehen, und solange das so war, würde ich es nie zum Sergeant schaffen. Sieben Jahre bei der Truppe, und immer noch war ich nur ein kleiner Constable. Natürlich war Dad ganz aus dem Häuschen vor Freude, dass ich es nie zu einer Beförderung gebracht hatte. Es bewies ihm, dass er recht hatte.
Jedes Mal, wenn ich meine Eltern zum Abendessen besuchte, musste ich mir anhören, wie er sich darüber ausließ, dass ich doch einfach meinen Job kündigen und etwas weniger Gefährliches machen sollte, einen Frauenberuf wie zum Beispiel Kellnerin oder Floristin. Irgendwann demnächst würde ich die wütende Tirade, die sich seit Jahren in mir aufstaute, nicht mehr zurückhalten können. Eines Tages würde alles aus mir herausbrechen.
Ich holte tief Luft, ließ mich ins Schaumbad sinken und versuchte, mich von meinen Gedanken an meinen Vater zu befreien und an etwas Entspannenderes zu denken. Prompt blitzte Lees Gesicht wieder vor mir auf und versetzte mich auf ganz andere Art in Aufregung. Vom Regen in die Traufe. Unwillkürlich entfuhr mir ein kleines Lachen, weil ich mir vorstellte, wie mein Vater schauen würde, wenn ich Lee eines Tages zum Abendessen mitbrachte. Das wäre es fast wert. Nur um sein Gesicht zu sehen und die pulsierende Ader an seiner Stirn, die immer aussah wie der Vesuv kurz vor dem Ausbruch.
Ich schloss die Augen, tauchte mit dem Kopf unter Wasser und erinnerte mich daran, wie ich Lee zum ersten Mal getroffen hatte.
»Hast du einen Freund?«, hatte er gefragt, die Hände lässig auf das Metallende meines Einkaufswagens gestützt. Er hatte einen wirklich intensiven Blick, und das Muskelspiel an seinen Unterarmen war faszinierend.
»Geht dich gar nichts an«, hatte ich geantwortet und versucht, mich auf die Waren vor mir im Regal zu konzentrieren.
»Du benimmst dich, als hättest du einen. Oder sind alle Cops so verklemmt?«
Mir entfuhr ein kleines Lachen. »Hör mal, du bist total auf dem Holzweg, und ich muss einkaufen, also lass mich bitte in Ruhe, okay?«
Er lehnte sich ein Stück näher heran. »Wie lange kennst du Alexis? Sie hat dich nie erwähnt, als sie und Stu zusammen waren.«
Ich hob eine Braue. »Hm, warum wohl? Leuten wie dir erzählt man im Allgemeinen nicht, dass man Freunde bei den Strafvollzugsbehörden hat.«
Sofort tat es mir leid, wie voreingenommen ich klang, aber es war die Wahrheit. Lee stand die Kategorie »zwielichtig« ins Gesicht geschrieben, von den Tattoos zu dem oberschlauen Schimmer in seinen Augen. Typen wie er waren mir schon begegnet, normalerweise bei der Arbeit. Sie klauten einem Geldbeutel und Telefon aus der Tasche und waren über alle Berge, bevor man auch nur merkte, dass man um ein paar hundert Mäuse erleichtert worden war.
Sein Lächeln stand im Widerspruch zu der plötzlichen Härte in seinem Gesicht. »Leuten wie mir?«
»Tut mir leid, ich hätte das nicht sagen sollen. Ich kenne dich schließlich nicht.«
»Stimmt, tust du nicht.«
»Und will es auch nicht.«
Er ließ den Einkaufswagen los, kam zu mir herüber und flüsterte: »Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.« Ich sah mit gesenktem Kopf zu ihm auf und atmete abrupt ein, weil er mir so nah kam. Er roch nach Zigaretten und Aftershave, und plötzlich wurde mir klar, dass ich seine körperliche Nähe genoss. Ich trat zurück und riet ihm mit einem intensiven Blick, sein Glück nicht herauszufordern. Er nahm die Warnung nicht ernst. Stattdessen streckte er die Hand aus und zog eine meiner Haarsträhnen zwischen seine Finger.
»Ich liebe dieses Haar, verdammt. Du bist wunderschön. Geh mit mir aus.«
Aha, er war also einer von den Männern, die auf Rothaarige standen. Bevor ich antworten konnte, rettete mich Alexis, die hinter Lee trat und ihm frech auf den Hintern haute. Gott, sie war so toll. Manchmal war es einfach herrlich, eine Freundin zu haben, die genau wusste, wann Rettung vonnöten war.
Ich hob den Kopf aus dem Wasser, atmete tief ein und versuchte, meine Gedanken an Lee abzuschütteln. An einen Mann zu denken, den ich niemals haben konnte, war Zeitverschwendung.