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Ricarda Huch

Der Fall Deruga

Kriminalroman

Ricarda Huch

Der Fall Deruga

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
EV: Verlag Ullstein & Co, Berlin/Wien, 1917
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-47-9

null-papier.de/640

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Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

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I

Wer ist der An­walt, der mit Jus­tiz­rat Fein her­ein­ge­kom­men ist?« frag­te eine Dame im Zuschau­er­raum ih­ren Mann, »und warum hat der An­ge­klag­te zwei An­wäl­te? Fein ist al­ler­dings wohl nur ein Schau­stück.«

»Wenn der Be­tref­fen­de ein An­walt wäre, lie­bes Kind, wür­de er einen Talar tra­gen«, ant­wor­te­te der Ge­frag­te vor­wurfs­voll. »Aber wer es ist, kann ich dir auch nicht sa­gen.« Ein vor dem Ehe­paar sit­zen­der Herr dreh­te sich um und er­klär­te, der frag­li­che Herr sei der An­ge­klag­te Dr. De­ru­ga.

»Ist das mög­lich?« rief die Dame leb­haft, »wis­sen Sie das be­stimmt?«

Der alte Herr lach­te ver­gnügt. »So be­stimmt wie ich weiß, dass ich der Mu­sik­in­stru­men­ten­ma­cher Reich­ardt vom Kat­zen­tritt bin; der Herr Dok­tor wohnt näm­lich bei mir.«

Die Dame mach­te große Au­gen. »Lässt man denn einen Mör­der frei her­um­lau­fen?« frag­te sie. »Ich dach­te, er wäre im Ge­fäng­nis. Ist es Ih­nen nicht un­heim­lich, einen sol­chen Men­schen in Ih­rer Woh­nung zu ha­ben?«

»Ja, se­hen Sie, gnä­di­ge Frau«, sag­te der alte Mann, »der Herr Jus­tiz­rat Fein hat ihn bei mir ein­ge­führt, weil er mich schon lan­ge kennt und sei­nen Kli­en­ten gut ver­sorgt wis­sen woll­te, und wenn der Herr Jus­tiz­rat so viel Ver­trau­en in mich setzt, dass er sei­ne Gei­gen und Flö­ten von mir re­pa­rie­ren und sein Töch­ter­chen Un­ter­richt im Zither­spie­len bei mir neh­men lässt, so schickt es sich, dass ich auch wie­der Ver­trau­en zu ihm habe. Und er hat mir sei­nen Kli­en­ten wärms­tens emp­foh­len, der sich bis jetzt als ein lie­ber, gut­ar­ti­ger Mensch ge­zeigt hat, wenn auch et­was wun­der­lich.«

»Du darfst nicht ver­ges­sen, lie­bes Kind«, sag­te der Ehe­mann, »dass ein An­ge­klag­ter noch kein Ver­ur­teil­ter ist.«

»Sehr rich­tig, sehr rich­tig«, sag­te der Mu­sik­in­stru­men­ten­ma­cher und woll­te eben al­ler­lei merk­wür­di­ge Fäl­le von Jus­tizirr­tü­mern er­zäh­len, als das Er­schei­nen der Ge­schwo­re­nen sei­ne Auf­merk­sam­keit ab­lenk­te.

Sie fin­de es doch un­ge­hö­rig, flüs­ter­te die jun­ge Dame ih­rem Man­ne zu, dass ein des Mor­des Ver­däch­ti­ger sich so frei be­we­gen dür­fe, noch dazu ei­ner, der so aus­se­he, als ob er zu je­dem Ver­bre­chen fä­hig wäre.

»Man soll sich hü­ten, nach dem Äu­ße­ren zu ur­tei­len, lie­bes Kind«, sag­te der Ehe­mann. »Aber ab­ge­se­hen da­von wür­de ich auch die­sem Men­schen nicht über den Weg trau­en. Es ist merk­wür­dig, wie leicht­gläu­big und wie un­ge­schickt im Aus­le­gen von Phy­sio­gno­mi­en1 das Volk ist.«

Die meis­ten Zuschau­er hat­ten den­sel­ben un­güns­ti­gen Ein­druck von Dr. De­ru­ga emp­fan­gen, der durch Nach­läs­sig­keit in Klei­dung und Hal­tung und mit sei­nen neu­gie­rig be­lus­tig­ten Bli­cken, die den Saal durch­wan­der­ten, der Ma­je­stät und Furcht­bar­keit des Or­tes zu spot­ten schi­en.

»Ich dach­te, er hät­te schwar­zes, krau­ses Haar und Feu­er­au­gen«, be­merk­te die jun­ge Frau ta­delnd ge­gen ih­ren Mann.

»Aber, Kind­chen«, ent­geg­ne­te die­ser, »wir ha­ben doch auch nicht alle blaue Au­gen und blon­des Haar.«

»Er stammt aus Ober­ita­li­en«, misch­te sich ein Herr ein, »wo der ger­ma­ni­sche Ein­schlag sich be­merk­bar macht.«

Ein an­de­rer füg­te hin­zu, er ver­tre­te doch einen durch­aus ita­lie­ni­schen Ty­pus, näm­lich den der ver­schla­ge­nen, heim­tücki­schen, rach­süch­ti­gen Wel­schen,2 wie er seit dem frü­hen Mit­tel­al­ter in der Vor­stel­lung der Deut­schen ge­lebt habe.

Un­ter­des­sen war ein Ge­richts­die­ner an den An­ge­klag­ten her­an­ge­tre­ten und hat­te ihn auf­ge­for­dert, sich auf der An­kla­ge­bank nie­der­zu­las­sen, was er folg­sam tat, um sein Ge­spräch mit dem Jus­tiz­rat Fein von dort aus fort­zu­set­zen.

»Se­hen Sie, da kommt der Jä­ger vor dem Herrn, Dr. Bern­bur­ger«, sag­te der Jus­tiz­rat, auf einen jun­gen An­walt bli­ckend, der eben den Zuschau­er­raum be­trat. »Den hat die Baro­nin Trusch­ko­witz auf Ihre Spu­ren ge­hef­tet, und eine gute Spür­na­se hat er, wie Sie se­hen. Er ist Ihr ge­fähr­lichs­ter Feind, der Staats­an­walt ist nur ein Po­panz.«

De­ru­ga be­trach­te­te Dr. Bern­bur­ger, der an­ge­le­gent­lichst in sei­ne Pa­pie­re ver­tieft schi­en.

»Ich glau­be, er ist Ih­nen eben­so ge­fähr­lich wie mir«, sag­te er dann mit freund­li­chem Spott, die große, be­que­me Ge­stalt des Jus­tiz­rats be­trach­tend. »Ei­gent­lich ge­fie­le mir der Bern­bur­ger ganz gut, wenn er nicht ein so ge­mei­ner Cha­rak­ter wäre.«

Der Jus­tiz­rat wen­de­te sich um und sag­te, den Arm auf das Ge­län­der stüt­zend, das die An­kla­ge­bank ab­schloss: »Brin­gen Sie mich jetzt nicht zum La­chen, Sie ver­zwei­fel­ter Ita­lie­ner! Wir ha­ben alle Ur­sa­che, uns ein Bei­spiel an sei­nen Gei­er­ma­nie­ren zu neh­men.«

»Er hat wirk­lich et­was von ei­nem Raub­vo­gel«, sag­te De­ru­ga, »ein fei­ner Kopf, so möch­te ich aus­se­hen. Sehe ich ihm nicht ähn­lich?«

»Be­neh­men Sie sich ähn­lich«, sag­te der Jus­tiz­rat, »und hal­ten Sie Ihre Ge­dan­ken zu­sam­men! Mensch, Ihre Sa­che ist nicht so si­cher, wie Sie glau­ben. Der Bern­bur­ger hat zwei­fel­los Ma­te­ri­al im Hin­ter­halt, mit dem er uns über­rum­peln will; also pas­sen Sie auf!«

»Aber ja«, sag­te De­ru­ga ein we­nig un­ge­dul­dig. »Ihren Kopf be­hal­ten Sie auf alle Fäl­le, und an mei­nem braucht Ih­nen nicht mehr zu lie­gen als mir.«

Jetzt flo­gen die Tü­ren im Hin­ter­grun­de des Saa­l­es auf, und der Vor­sit­zen­de des Ge­richts, Ober­lan­des­ge­richts­rat Dr. Zeu­ne­mann, trat ein, dem die bei­den Bei­sit­zer und der Staats­an­walt folg­ten. Der Luft­zug hob den Talar des rasch Vor­wärts­schrei­ten­den, so­dass sei­ne stram­me und statt­li­che Ge­stalt sicht­bar wur­de. Er grüß­te mit ei­ner Ge­bär­de, die we­der her­ab­las­send noch ver­trau­lich war und eine an­ge­mes­se­ne Mi­schung von Ehr­er­bie­tung und Zu­ver­sicht ein­flö­ßte. Sei­ne Per­sön­lich­keit er­füll­te den bäng­lich fei­er­li­chen Raum mit ei­ner ge­wis­sen Hei­ter­keit, in­so­fern man die Emp­fin­dung be­kam, es wer­de sich hier nichts er­eig­nen, was nicht durch­aus in der Ord­nung wäre. Er rieb, nach­dem er sich ge­setzt hat­te, sei­ne schö­nen, brei­ten, wei­ßen Hän­de leicht an­ein­an­der und ging dann an das Ge­schäft, in­dem er die Aus­wahl der Ge­schwo­re­nen be­sorg­te. Es ging glatt und flott vor­an, je­der fühl­te sich von ei­ner wohl­tä­ti­gen Macht an sei­nen Platz ge­scho­ben.

»Mei­ne Her­ren Ge­schwo­re­nen«, be­gann er, »es han­delt sich heu­te um einen et­was ver­wi­ckel­ten Fall, des­sen Vor­ge­schich­te ich Ih­nen kurz zu­sam­men­fas­send vor­füh­ren will.

Am 2. Ok­to­ber starb hier in Mün­chen, in­fol­ge ei­nes Krebs­lei­dens, wie man an­nahm, Frau Min­go Swie­ter, ge­schie­de­ne Frau De­ru­ga. Sie hat­te nach ih­rer vor sieb­zehn Jah­ren er­folg­ten Schei­dung von De­ru­ga ih­ren Mäd­chen­na­men wie­der­an­ge­nom­men. In ih­rem Te­sta­ment, das An­fang No­vem­ber er­öff­net wur­de, hat­te sie ih­ren ge­schie­de­nen Gat­ten, Dr. De­ru­ga, zum al­lei­ni­gen Er­ben ih­res auf etwa vier­hun­dert­tau­send Mark sich be­lau­fen­den Ver­mö­gens er­nannt, mit Bei­sei­te­set­zung ih­rer Ver­wand­ten, von de­nen die Guts­be­sit­zersgat­tin Baro­nin Trusch­ko­witz, eine Cou­si­ne, die nächs­te war. Auf das Be­trei­ben der Baro­nin Trusch­ko­witz und auf ge­wis­se zu­rei­chen­de Ver­dachts­grün­de hin, die Ih­nen be­kannt sind, ver­an­lass­te das Ge­richt die Ex­hu­mie­rung der Lei­che, und es wur­de fest­ge­stellt, dass die ver­stor­be­ne Frau Swie­ter nicht in­fol­ge ih­rer Krank­heit, son­dern ei­nes furcht­ba­ren Gif­tes, des Cu­ra­re, ge­stor­ben war.

Als dem seit sieb­zehn Jah­ren in Prag an­säs­si­gen Dr. De­ru­ga das Gerücht von ei­nem ge­gen ihn im Um­lauf be­find­li­chen Ver­dacht zu Ohren kam, reis­te er hier­her, um zu er­fah­ren, wer sei­ne Ver­leum­der, wie er sie nann­te, wä­ren, und sie zu ver­kla­gen. Es wur­de ihm mit­ge­teilt, dass das Ge­richt be­reits den Be­schluss ge­fasst habe, die An­kla­ge auf Mord ge­gen ihn zu er­he­ben, und dass er sei­ne An­kla­ge bis zur Been­di­gung des Pro­zes­ses ver­schie­ben müs­se. Un­ter die­sen be­son­de­ren Um­stän­den, da der An­ge­klag­te sich ge­wis­ser­ma­ßen selbst ge­stellt hat­te, wur­de an­ge­nom­men, dass Flucht­ver­dacht nicht vor­lie­ge, und von ei­ner Ver­haf­tung einst­wei­len ab­ge­se­hen. Ver­däch­tig mach­te den An­ge­klag­ten von vorn­her­ein, dass er sich in be­deu­ten­den fi­nan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten be­fand. Fer­ner be­las­te­te ihn die Tat­sa­che, dass er am Abend des 1. Ok­to­ber ver­gan­ge­nen Jah­res eine Fahr­kar­te nach Mün­chen lös­te und erst am Nach­mit­tag des 3. Ok­to­ber nach Prag in sei­ne Woh­nung zu­rück­kehr­te. Ei­nen ge­nü­gen­den Ali­bi­be­weis ver­moch­te der An­ge­klag­te nicht zu er­brin­gen.

Dies sind also die Haupt­grün­de, die das Ge­richt be­wo­gen ha­ben, die An­kla­ge auf Tot­schlag zu er­he­ben. Es wird an­ge­nom­men, dass De­ru­ga sei­ne ge­schie­de­ne Frau auf­such­te, um Geld von ihr zu er­bit­ten, be­zie­hungs­wei­se zu er­pres­sen, und dass er sie bei die­ser Ge­le­gen­heit, ir­gend­wie ge­reizt, viel­leicht durch eine Wei­ge­rung, tö­te­te. Al­ler­dings scheint der Um­stand, dass De­ru­ga Gift bei sich ge­habt ha­ben muss, für einen über­leg­ten Plan zu spre­chen. Al­lein das Ge­richt hat der Mög­lich­keit Raum ge­ge­ben, der ver­zwei­fel­te Spie­ler habe da­mit sich selbst ver­nich­ten wol­len, wenn sein letz­ter Ver­such miss­län­ge, und nur in ei­nem un­vor­ge­se­he­nen Au­gen­blick der Er­re­gung da­von Ge­brauch ge­macht.«

Wäh­rend des letz­ten Sat­zes hat­te der Staats­an­walt ver­ge­bens ver­sucht, durch Ver­dre­hun­gen sei­nes ha­ge­ren Kör­pers und Deu­tun­gen sei­nes kno­ti­gen Zei­ge­fin­gers die Auf­merk­sam­keit des Vor­sit­zen­den auf sich zu len­ken. »Ver­zei­hung«, sag­te er, in­dem er sei­nem lan­gen, wei­ßen Ge­sicht einen süß­li­chen Aus­druck zu ge­ben such­te, »ich möch­te gleich an die­ser Stel­le be­to­nen, dass ich per­sön­lich die­ser Mög­lich­keit nicht Raum gebe. Wa­rum hät­te der Mann es denn so ei­lig mit dem Selbst­mor­de ge­habt? Er amü­sier­te sich viel zu gut im Le­ben, um es so Hals über Kopf weg­zu­wer­fen.

Fer­ner möch­te ich dar­auf hin­wei­sen, dass der An­ge­klag­te auf das erst­ma­li­ge Be­fra­gen des Un­ter­su­chungs­rich­ters die ab­scheu­li­che Un­tat ein­ge­stand, oder, bes­ser ge­sagt, sich ih­rer rühm­te, um sie mit eben­so großer Dreis­tig­keit her­nach zu leug­nen.«

»Ja­wohl, ja­wohl, wir kom­men dar­auf zu­rück«, sag­te der Vor­sit­zen­de mit ei­ner Hand­be­we­gung ge­gen den Staats­an­walt, wie wenn ein Ka­pell­meis­ter etwa einen vor­lau­ten Blä­ser be­schwich­tigt. »Ich will zu­nächst den An­ge­klag­ten ver­neh­men.«

»Sie müs­sen auf­ste­hen«, flüs­ter­te der Jus­tiz­rat sei­nem Kli­en­ten zu, der mit schläf­ri­ger Mie­ne den Saal und das Pub­li­kum be­trach­te­te.

»Auf­ste­hen, ich?« ent­geg­ne­te die­ser er­staunt und bei­na­he ent­rüs­tet. »Nun also auch das. Ste­hen wir auf«, fuhr er fort, er­hob sich lang­sam und hef­te­te einen scharf durch­drin­gen­den Blick auf den Prä­si­den­ten; man hät­te mei­nen kön­nen, er sei ein Exa­mi­na­tor und Dr. Zeu­ne­mann ein zu prü­fen­der Kan­di­dat.

»Sie hei­ßen Si­gis­mondo Enea De­ru­ga«, be­gann der Vor­sit­zen­de das Ver­hör, die bei­den klang­vol­len Vor­na­men durch eine ganz ge­rin­ge Do­sis von Pa­thos her­vor­he­bend, die ge­nüg­te, die Zu­hö­rer zum La­chen zu brin­gen. De­ru­ga warf einen ste­chen­den Blick in die Run­de. »Ist es hier etwa ein Ver­bre­chen, nicht Jo­hann Schul­ze oder Karl Mül­ler zu hei­ßen?« sag­te er.

»Beant­wor­ten Sie bit­te schlecht­weg mei­ne Fra­gen«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann kühl. »Sie hei­ßen Si­gis­mondo Enea De­ru­ga, sind in Bo­lo­gna ge­bo­ren und sechs­und­vier­zig Jah­re alt. Stimmt das?«

»Ja­wohl.«

»Sie ha­ben in Bo­lo­gna, Pa­dua und Wien Me­di­zin stu­diert und sich erst in Linz, dann in Wien nie­der­ge­las­sen, nach­dem Sie dort das Hei­mat­recht er­wor­ben hat­ten. Stimmt das?«

»Es wäre wirk­lich eine Schan­de«, sag­te De­ru­ga, »wenn Sie nach vier Mo­na­ten nicht ein­mal das rich­tig her­aus­ge­bracht hät­ten.«

»Ich er­in­ne­re Sie noch­mals, An­ge­klag­ter«, sag­te der Vor­sit­zen­de, den das sich er­he­ben­de Ge­läch­ter ein we­nig är­ger­te, »dass Sie sich an die kur­ze und kla­re Beant­wor­tung der an Sie ge­rich­te­ten Fra­gen zu hal­ten ha­ben. Es ist Ihre Schuld, dass sich die Vor­un­ter­su­chung so lan­ge hin­ge­zo­gen hat. Ich er­grei­fe die Ge­le­gen­heit, Ih­nen einen ernst­li­chen Vor­halt zu ma­chen. Sie be­fol­gen au­gen­schein­lich den Grund­satz, das Ge­richt durch Un­ge­hö­rig­kei­ten und Wun­der­lich­kei­ten hin­zu­hal­ten und ir­re­zu­füh­ren. Sie ver­schlim­mern da­durch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu er­rei­chen. Die Un­ter­su­chung nimmt ih­ren si­che­ren Gang trotz al­ler Stei­ne, die Sie auf ih­ren Weg wer­fen. Sie ste­hen un­ter ei­ner schwe­ren An­kla­ge und tä­ten bes­ser, an­statt die ge­gen Sie zeu­gen­den Mo­men­te durch un­ge­bär­di­ges und zü­gel­lo­ses Be­tra­gen zu ver­stär­ken, den Ge­richts­hof und die Her­ren Ge­schwo­re­nen durch Auf­rich­tig­keit in ih­rer dor­ni­gen Ar­beit zu un­ter­stüt­zen und für sich ein­zu­neh­men. Sie be­fin­den sich in ei­nem Lan­de, wo die Jus­tiz ih­res ver­ant­wor­tungs­vol­len Am­tes mit un­er­schüt­ter­li­cher Un­be­stech­lich­keit und Un­par­tei­lich­keit wal­tet. Der Höchs­te und der Nied­rigs­te fin­det bei uns nicht mehr und nicht we­ni­ger als Ge­rech­tig­keit. Wir er­war­ten da­ge­gen vom Höchs­ten wie vom Nied­rigs­ten die­je­ni­ge Ehr­furcht, die ei­ner so hei­li­gen und wür­di­gen In­sti­tu­ti­on zu­kommt. Der Ge­bil­de­te soll­te sie uns frei­wil­lig dar­brin­gen; aber im Not­fall wis­sen wir sie zu er­zwin­gen.«

»Ja, ja«, sag­te De­ru­ga gut­mü­tig, »nur zu, ich wer­de schon ant­wor­ten.«

Dr. Zeu­ne­mann hielt es für bes­ser, es da­bei be­wen­den zu las­sen, und fuhr fort: »Sie ver­hei­ra­te­ten sich im Jah­re 18.. mit Min­go Swie­ter aus Lü­beck, er­ziel­ten aus die­ser Ehe ein Kind, eine Toch­ter, die vier­jäh­rig starb, und kurz dar­auf, vor jetzt sieb­zehn Jah­ren, wur­de die Ehe ge­schie­den. Als Grund ist bös­wil­li­ge Ver­las­sung von sei­ten der Frau an­ge­ge­ben, und zwar hat Frau Swie­ter das Wie­ner Kli­ma vor­ge­schützt, wel­ches sie nicht ver­tra­gen kön­ne. In Wirk­lich­keit sol­len Ihr un­ver­träg­li­cher Cha­rak­ter und Ihr un­be­re­chen­ba­res Tem­pe­ra­ment, das zu Ge­walt­ta­ten neigt, Ihre Frau zu die­sem Schritt ver­an­lasst ha­ben.«

Da Dr. Zeu­ne­mann bei die­sen Wor­ten fra­gend zu Dr. De­ru­ga hin­über­sah, sag­te die­ser: »Es wird das bes­te sein, wenn Sie sich schlecht­weg an die in den Ak­ten be­find­li­chen An­ga­ben hal­ten.«

Der Vor­sit­zen­de un­ter­drück­te eine An­wand­lung zu la­chen und fuhr ge­las­sen fort: »Bald nach er­folg­ter Schei­dung zo­gen Sie von Wien nach Prag und üb­ten dort Ihre Pra­xis aus, wäh­rend Frau Swie­ter sich in Mün­chen nie­der­ließ, wo sie einen Teil ih­rer Ju­gend­jah­re ver­lebt hat­te. Auf wei­te­re Da­ten wer­den wir ge­le­gent­lich zu­rück­kom­men. Er­zäh­len Sie uns jetzt, was Sie am 1. Ok­to­ber des vo­ri­gen Jah­res ge­tan ha­ben.«

»Da ich kein Ta­ge­buch füh­re«, sag­te Dr. De­ru­ga laut, »noch mei­ne täg­li­chen Ver­rich­tun­gen durch einen Ki­ne­ma­to­gra­fen oder ein Gram­mo­phon auf­neh­men las­se, ist es mir lei­der un­mög­lich, Ih­nen den Ver­lauf des Ta­ges mit ma­the­ma­ti­scher Ge­nau­ig­keit wie­der­zu­ge­ben. Ich wer­de eben ge­früh­stückt, ei­ni­ge Pa­ti­en­ten be­sucht, zu Mit­tag ge­ges­sen und her­nach eine Stun­de im Café ge­ses­sen ha­ben. Dann wer­de ich in der Sprech­stun­de meh­re­re Exem­pla­re der mir sehr un­sym­pa­thi­schen Gat­tung Mensch un­ter­sucht ha­ben. Ge­gen Abend ging ich aus, um eine mir be­freun­de­te, hoch­an­stän­di­ge Dame zu be­su­chen. In der Nähe des Bahn­hofs be­geg­ne­te ich ei­nem Kol­le­gen, der mich frag­te, ob ich auch in den ärzt­li­chen Ve­rein gin­ge. Ich sag­te, ich kön­ne lei­der nicht, da ich ver­rei­sen müs­se. Worauf er mich bis zum Bahn­hof be­glei­te­te. Ich nahm aufs Ge­ra­te­wohl eine Kar­te nach Mün­chen, weil ich ja sonst mei­ne Lüge hät­te zu­ge­ste­hen müs­sen, und auch weil mir ein­ge­fal­len war, dass auf die­se Wei­se die mir be­freun­de­te Dame si­cher wäre, nicht kom­pro­mit­tiert zu wer­den.«

»Wei­gern Sie sich nach wie vor«, frag­te Dr. Zeu­ne­mann, »den Na­men die­ser hoch­an­stän­di­gen Dame zu nen­nen?«

»Ich habe ja schon ge­sagt, dass mir dar­an liegt, sie nicht zu kom­pro­mit­tie­ren«, ant­wor­te­te De­ru­ga.

»Ich gebe Ih­nen zu be­den­ken, Herr De­ru­ga«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann war­nend, »dass Ihre Rit­ter­lich­keit auf sehr wa­cke­li­gen Fü­ßen steht. Soll­te eine Dame zu­las­sen, dass sich ein Freund um ih­ret­wil­len in sol­che Ge­fahr be­gibt? Da möch­te man schon lie­ber an­neh­men, dass die­se Dame gar nicht exis­tiert. Die gan­ze Ge­schich­te, die Sie vor­brin­gen, ent­behrt der Wahr­schein­lich­keit. Dass Sie eine Dame be­such­ten und Tage und Näch­te bei ihr zu­brach­ten, wäre an sich bei Ih­rer Le­bens­füh­rung nicht un­glaub­lich. Auch das mag hin­ge­hen, dass Sie den Wunsch hat­ten, sie nicht zu kom­pro­mit­tie­ren, aber das Mit­tel, das Sie zu die­sem Zweck ge­wählt ha­ben wol­len, kann man nur als un­ge­eig­net und lä­cher­lich be­zeich­nen. Je­mand, der sich in so schlech­ter fi­nan­zi­el­ler Lage be­fin­det wie Sie, gibt nicht zwei­und­drei­ßig Mark für eine Fahr­kar­te aus, die er nicht braucht.«

»Ein­und­drei­ßig Mark fünf­und­sieb­zig Pfen­nig«, ver­bes­ser­te De­ru­ga.

»Die Kar­te von Prag nach Mün­chen kos­tet zwei­und­drei­ßig Mark«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann scharf.

»Der um­ge­kehr­te Weg ist fünf­und­zwan­zig Pfen­ni­ge bil­li­ger«, be­harr­te De­ru­ga.

»Las­sen wir den Wort­streit«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann. »Man wirft auch ein­und­drei­ßig Mark und fünf­und­sieb­zig Pfen­ni­ge nicht fort, wenn man in Geld­ver­le­gen­hei­ten ist.«

»Ein ver­stän­di­ger Deut­scher wohl nicht«, ent­geg­ne­te De­ru­ga, »aber ich habe grö­ße­re Dumm­hei­ten in mei­nem Le­ben ge­macht als die­se. Üb­ri­gens war ich nicht in Geld­ver­le­gen­heit, ich hat­te nur Schul­den.«

Der Staats­an­walt rang die Hän­de und wen­de­te die Bli­cke nach oben, wie wenn er den Him­mel zum Zeu­gen ei­ner sol­chen Ver­wil­de­rung an­ru­fen woll­te. Dann bat er um das Wort und frag­te, wie es zu­ge­he, dass der An­ge­klag­te ge­nug Geld für eine so un­vor­her­ge­se­he­ne Rei­se bei sich ge­habt hät­te.

Statt der Ant­wort griff De­ru­ga in sei­ne Wes­ten­ta­sche, zog eine Hand­voll Geld her­vor und zähl­te: »Sech­zig, drei­und­sech­zig, sieb­zig, vierund­sieb­zig Mark. Sie se­hen, ich könn­te auf der Stel­le nach Prag rei­sen, wenn ich es nicht vor­zö­ge, in Ih­rer an­ge­neh­men Va­ter­stadt zu blei­ben.«

»Wa­rum be­zahl­ten Sie Ihre Schul­den nicht, wenn Sie Geld hat­ten?« rief der Staats­an­walt, des­sen Stim­me, wenn er sich auf­reg­te, einen krei­schen­den Ton an­nahm.

»O, dazu reich­te es bei wei­tem nicht«, lach­te De­ru­ga. »Ich hat­te nur so viel, um mei­ne täg­li­chen Be­dürf­nis­se zu be­frie­di­gen.«

Der Vor­sit­zen­de er­klär­te die­se Zwi­schen­fra­gen durch eine Hand­be­we­gung für be­en­det. »Sie blei­ben also da­bei, An­ge­klag­ter«, frag­te er, »dass Sie zum Schein eine Fahr­kar­te nach Mün­chen lös­ten. Was brach­te Sie ge­ra­de auf Mün­chen?«

»Das ist eine schwie­ri­ge Fra­ge«, sag­te De­ru­ga. »Hät­te ich eine Kar­te nach Frank­furt oder Wien ge­nom­men, könn­ten Sie sie eben­so gut stel­len. Vi­el­leicht ist ein Psy­cho­ana­ly­ti­ker an­we­send und könn­te uns in­ter­essan­te Auf­schlüs­se über die Ge­dan­ken­as­so­zia­ti­on ge­ben, und ob sie ge­fühls­be­tont war oder nicht. Mei­ne Spe­zia­li­tät sind Na­sen-, Hals- und Ra­chen­krank­hei­ten.«

»Was ta­ten Sie, nach­dem Sie die Kar­te ge­löst hat­ten?« frag­te der Vor­sit­zen­de wei­ter.

»Ich stell­te mich an die Bar­rie­re«, er­zähl­te De­ru­ga, »ging, als sie ge­öff­net wur­de, an den Zug, stieg aber nicht ein, son­dern ging mit­tels ei­ner vor­her ge­lös­ten Per­ron­kar­te zu­rück. Dann such­te ich die schon öf­ters ge­nann­te Dame auf, bei der ich bis zum Nach­mit­tag des 3. Ok­to­ber blieb.«

»Die Un­wahr­schein­lich­kei­ten häu­fen sich«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann. »Wel­cher Arzt wird ohne zwin­gen­de Grün­de an­dert­halb Tage von sei­ner Pra­xis weg­blei­ben?«

»Ich bin der An­sicht«, sag­te De­ru­ga, »dass nicht ich für die Pra­xis da bin, son­dern dass die Pra­xis für mich da ist.«

»Ein be­denk­li­cher Grund­satz für einen Arzt«, mein­te Dr. Zeu­ne­mann.

»Wa­rum?« ant­wor­te­te De­ru­ga leicht­hin. »Die meis­ten Pa­ti­en­ten kön­nen sehr gut ein paar Tage war­ten, die üb­ri­gen brauch­ten über­haupt nicht zu kom­men. Wich­ti­ge Fäl­le hat­te ich da­mals nicht.«

»Ihre Pa­ti­en­ten wa­ren al­ler­dings nicht ver­wöhnt«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann. »In den letz­ten Jah­ren hat­ten Sie so­gar eine An­zahl ver­lo­ren, weil sie nach­läs­sig und un­auf­merk­sam in der Füh­rung Ih­rer Pra­xis wa­ren. Im­mer­hin war es selbst an Ih­nen auf­fal­lend, dass Sie au­ßer der Zeit, ohne Ab­mel­dung, zwei Tage ab­we­send wa­ren. Sie ka­men nach Ih­rer ei­ge­nen Aus­sa­ge, die von Ih­rer Haus­häl­te­rin be­stä­tigt wur­de, am 3. Ok­to­ber kurz vor vier Uhr wie­der in Ih­rer Woh­nung an. Bei­läu­fig sei be­merkt, dass der von hier kom­men­de Schnell­zug um drei Uhr zwan­zig Mi­nu­ten in Prag ein­trifft. Ihre Sprech­stun­de war noch nicht vor­über, und es war­te­ten zwei ge­dul­di­ge Pa­ti­en­ten, die sich von Ih­rer Haus­da­me mit der Aus­sicht auf Ihr bal­di­ges Er­schei­nen hat­ten ver­trös­ten las­sen. Sie wei­ger­ten sich aber, die­se gut­mü­ti­gen Herr­schaf­ten, die ei­ni­ger Rück­sicht wohl wert ge­we­sen wä­ren, an­zu­neh­men, weil Sie, so sag­ten Sie zu Ih­rer Haus­häl­te­rin, müde wä­ren und sich zu Bett le­gen woll­ten. Ihr Auf­ent­halt bei der in ih­rer Tu­gend so hei­klen Dame muss also sehr an­stren­gend ge­we­sen sein.«

»Ich fin­de Frau­en im­mer an­stren­gend«, sag­te De­ru­ga, »be­son­ders wenn sie dumm sind.«

»Neh­men wir also an«, sag­te der Vor­sit­zen­de, wäh­rend der Staats­an­walt die Hän­de rang und sei­ne un­ter dia­bo­lisch ge­schwänz­ten Brau­en fast ver­schwin­den­den Au­gen zum Him­mel rich­te­te, »dass die Ih­nen be­freun­de­te Dame eben­so dumm wie tu­gend­haft ist! Ge­hen wir nun zu ei­nem an­de­ren wich­ti­gen Punkt über! Wol­len Sie er­zäh­len, wann und wie Sie von dem In­halt des Te­sta­men­tes in Kennt­nis ge­setzt wur­den, durch wel­ches die ver­stor­be­ne Frau Swie­ter Sie zum Er­ben ih­res Ver­mö­gens ein­setz­te!«

»An­fang No­vem­ber«, sag­te De­ru­ga, »das Da­tum habe ich mir nicht ge­merkt, durch die zu­stän­di­ge Be­hör­de.«

»Sie sol­len«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann, »Ihr Er­stau­nen und Ihre Freu­de leb­haft ge­äu­ßert ha­ben. Ich be­mer­ke«, wie­der­hol­te er mit Nach­druck ge­gen die Ge­schwo­re­nen, »dass an­de­re Per­so­nen dies be­zeu­gen: Er­stau­nen und Freu­de.«

»O, ed­ler Rich­ter, wack’­rer Mann«, sag­te De­ru­ga lä­chelnd.

»Bit­te Zwi­schen­be­mer­kun­gen zu un­ter­las­sen«, sag­te der Vor­sit­zen­de. »Es ist be­reits halb zwölf Uhr, und ich möch­te bis zur Mit­tags­pau­se mit Ihrem Ver­hör zu ei­nem vor­läu­fi­gen Ende kom­men. Er­zäh­len Sie uns bit­te, wann und wie Ih­nen zu­erst et­was von dem ge­gen Sie er­ho­be­nen Ver­dacht zu Ohren kam!«

»Durch einen sehr an­stän­di­gen Men­schen«, be­gann De­ru­ga, »sehr an­stän­dig und ach­tungs­wert, ob­gleich er nur ein ro­her ita­lie­ni­scher Wein­händ­ler ist. Der Mann heißt Tom­ma­so Ver­zi­el­li und kam vor fünf­zehn Jah­ren als ein ar­mer Teu­fel zu mir, nach­dem er eine fünf­jäh­ri­ge Ge­fäng­niss­tra­fe ver­büßt hat­te. Er hat­te näm­lich einen Po­li­zis­ten nie­der­ge­sto­chen, der eine arme alte Frau ver­haf­ten woll­te, weil sie in ei­nem Bäcker­la­den ein Brot ge­nom­men hat­te. Er war sehr ver­zagt und woll­te nach Ita­li­en zu­rück, denn un­ter Deut­schen, sag­te er, wür­de er doch nicht aus dem Ge­fäng­nis her­aus­kom­men, weil er fort­wäh­rend Din­ge mit an­se­hen müss­te, wo­bei ihm das Blut zu Kop­fe stie­ge. Ich sag­te, das wür­de in Ita­li­en nicht an­ders sein, und re­de­te ihm zu, er soll­te die Men­schen sich un­ter­ein­an­der zer­rei­ßen las­sen, sie wä­ren ein­an­der wert, und es wäre um kei­nen scha­de. Er sol­le hei­ra­ten und nur noch für Frau und Kin­der ar­bei­ten und sor­gen, und au­ßer­dem gab ich ihm den Rat, einen Han­del mit ita­lie­ni­schen Wei­nen und an­de­ren Le­bens­mit­teln an­zu­fan­gen, und schoss ihm ein klei­nes Ka­pi­tal dazu vor. Das hat er mir längst zu­rück­ge­stellt, denn durch Fleiß und In­tel­li­genz brach­te er sich schnell in die Höhe, aber er wid­met mir im­mer noch eine Dank­bar­keit, als ob ich ihm täg­lich neu das Le­ben schenk­te.

Die­ser Ver­zi­el­li also kam Mit­te No­vem­ber am spä­ten Abend in vol­ler Auf­re­gung zu mir ge­lau­fen und er­zähl­te mir, der ita­lie­ni­sche Kon­sul, Ca­va­lie­re Fa­ra­men­go, ein gu­ter al­ter Herr, aber et­was schwach­sin­nig, sei bei ihm ge­we­sen — Ver­zi­el­li hat näm­lich jetzt ein sehr fei­nes Re­stau­rant — und habe sich un­ter der Hand nach mir er­kun­digt und als tiefs­tes Ge­heim­nis ver­ra­ten, dass ich als Mör­der mei­ner ge­schie­de­nen Frau ver­haf­tet wer­den soll­te. Der gute Mensch war au­ßer sich und bot mir sein gan­zes Ver­mö­gen an, wenn ich nach Ame­ri­ka flie­hen woll­te. ›De­ru­ga und flie­hen? Da kennst du De­ru­ga schlecht, gu­ter Freun­d‹, sag­te ich und lief so­fort, trotz Ver­zi­el­lis Fle­hen, zum ita­lie­ni­schen Kon­sul. Der arme alte Herr hat fast einen Schlag­an­fall be­kom­men, so hef­tig stell­te ich ihn zur Rede, und da ich von ihm kei­ne ge­nü­gen­de Aus­kunft be­kam, reis­te ich hier­her, um den Ur­sprung des in­fa­men Gerüch­tes ken­nen­zu­ler­nen.«

»Es muss­te Ih­nen mit­ge­teilt wer­den«, fiel Dr. Zeu­ne­mann ein, »dass das Ge­richt be­reits be­schlos­sen hät­te, die An­kla­ge auf Mord ge­gen Sie zu er­he­ben, und dass Sie eine et­wai­ge Be­lei­di­gungs­kla­ge bis zur Been­di­gung des Pro­zes­ses zu ver­schie­ben hät­ten. Wenn Ihr ers­tes Auf­tre­ten, wie ich nicht un­ter­las­sen will zu be­mer­ken, den Schein der Schuld­lo­sig­keit er­we­cken konn­te, so be­las­te­te Sie hin­ge­gen Ihr Ver­hal­ten dem Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­gen­über in be­denk­li­cher­wei­se. So ha­ben Sie zu­erst auf die Fra­ge, wo Sie vom 1. bis 3. Ok­to­ber ge­we­sen wä­ren, die Ant­wort ver­wei­gert. Dann ha­ben Sie er­zählt, Sie wä­ren in der Ab­sicht, sich das Le­ben zu neh­men, fort­ge­fah­ren, an ei­nem be­lie­bi­gen Hal­te­punkt aus­ge­stie­gen und dann aufs Ge­ra­te­wohl quer­feld­ein ge­gan­gen, bis Sie in eine ganz ein­sa­me Ge­gend ge­kom­men wä­ren. An ei­nem Flus­se hät­ten Sie lan­ge ge­le­gen und mit sich ge­kämpft, bis Sie dar­über ein­ge­schla­fen wä­ren. Nach vie­len Stun­den fes­ten Schla­fes wä­ren Sie er­nüch­tert auf­ge­wacht, hät­ten sich noch eine Wei­le her­um­ge­trie­ben und wä­ren dann heim­ge­fah­ren. Schließ­lich tauch­te die Ge­schich­te von der ge­heim­nis­vol­len Dame auf. Der Born der Fan­ta­sie spru­delt sehr er­gie­big bei Ih­nen.«

»Nicht so wie Sie mei­nen«, sag­te De­ru­ga. »Ich woll­te nur den Un­ter­su­chungs­rich­ter är­gern und kann wohl sa­gen, dass mir das ge­lun­gen ist. Er hat bei­nah Ner­ven­krämp­fe be­kom­men.«

Dr. Zeu­ne­mann ließ eine Pau­se ver­strei­chen, bis das Ge­läch­ter im Pub­li­kum ver­stummt war, und sag­te dann: »Es wun­dert mich, dass ein Mann in Ih­rer Lage, in Ihrem Al­ter und von Ihrem Ver­stan­de sich so kin­disch be­neh­men mag — oder so tö­richt, denn viel­leicht wa­ren Ihre ver­schie­de­nen An­ga­ben auch nur ein Ver­fah­ren, dar­auf zu­ge­schnit­ten, un­si­cher zu ma­chen und ir­re­zu­füh­ren.«

»Sind Sie schon ein­mal von ei­nem täp­pi­schen Un­ter­su­chungs­rich­ter aus­ge­fragt wor­den?« frag­te De­ru­ga. »Nein, wahr­schein­lich nicht. Also kön­nen Sie nicht wis­sen, wie Sie sich in sol­cher Lage be­neh­men wür­den. Al­ler­dings ver­mut­lich ver­nünf­ti­ger als ich. Sie ha­ben eine be­nei­dens­wer­te Kon­sti­tu­ti­on. Sie sind so recht ein Mus­ter­bei­spiel, wie der ge­sun­de Mensch sein soll. Alle Er­schüt­te­run­gen durch häss­li­che Ein­drücke, Fra­gen, Zwei­fel und Lei­den­schaf­ten wer­den bei Ih­nen durch eine ta­del­lo­se Ver­dau­ung ge­re­gelt, so­dass Sie sich im­mer im sta­bi­len Gleich­ge­wicht be­fin­den; ich da­ge­gen bin un­end­lich reiz­bar.«

Dr. Zeu­ne­mann hat­te ver­sucht, den An­ge­klag­ten zu un­ter­bre­chen, aber ohne ge­nü­gen­den Nach­druck. »Sie ha­ben wohl auch mehr Ur­sa­che un­ru­hig zu sein als ich«, sag­te er jetzt mit leich­ter Iro­nie. »Vi­el­leicht wür­den Sie sich woh­ler füh­len, wenn Sie es ein­mal mit voll­kom­me­ner Of­fen­heit ver­such­ten, an­statt sich und uns durch Ihre Win­kel­zü­ge zu rei­zen.«

»Sie, Herr Prä­si­dent, will ich nicht är­gern, dar­auf kön­nen Sie sich ver­las­sen«, sag­te De­ru­ga mit ei­nem freund­lich be­schwich­ti­gen­den Tone, wie man ihn etwa ei­nem Kin­de ge­gen­über an­schlägt.

*

»War­ten Sie im Vor­saal des ers­ten Stockes auf mich«, flüs­ter­te Jus­tiz­rat Fein sei­nem Kli­en­ten zu, als gleich dar­auf die Sit­zung auf­ge­ho­ben wur­de. Von dort aus gin­gen sie zu­sam­men durch ein rück­wär­ti­ges Por­tal in die An­la­gen, die auf eine stil­le Stra­ße ohne Ge­schäfts­ver­kehr führ­ten. Vor ei­nem mit Ge­sträuch be­wach­se­nen Han­ge blieb der Jus­tiz­rat ste­hen, sto­cher­te mit der Spit­ze sei­nes Re­gen­schir­mes in der al­ten, feucht-ver­kleb­ten Blät­ter­de­cke und sag­te: »Da muss es bald Schnee­glöck­chen und Kro­kus ge­ben; ich will ih­nen den Weg ein we­nig frei ma­chen.«

»Kom­men Sie, kom­men Sie«, sag­te De­ru­ga, den Jus­tiz­rat am Arm zie­hend. »Die fin­den ih­ren Weg ohne Sie. Sa­gen Sie, kann ich heu­te Nach­mit­tag wäh­rend der Sit­zung nicht le­sen oder noch lie­ber schla­fen? Das Zeug lang­weilt mich un­be­schreib­lich, Sie könn­ten mir ja einen Stoß ge­ben, wenn ich mich be­tä­ti­gen muss.«

»Ma­chen Sie kei­ne Dumm­hei­ten«, sag­te der Jus­tiz­rat; »heu­te Nach­mit­tag wird wahr­schein­lich der Ho­frat von Mäul­chen ver­nom­men, der sehr schlecht für Sie aus­sa­gen wird. Sie müs­sen also auf­pas­sen, ob Sie ihm nicht Ih­rer­seits et­was am Zeu­ge fli­cken kön­nen.«

»Am Zeu­ge fli­cken!« rief De­ru­ga aus. »Um­brin­gen möch­te ich ihn. Ich has­se die­sen Men­schen, viel­mehr die­sen rosa Wachs­guss über ei­ner Kloa­ke.«

»Hö­ren Sie, De­ru­ga«, sag­te der Jus­tiz­rat. »Ich ver­ste­he Sie öf­ters nicht, doch das am we­nigs­ten, wie Sie ei­nem Men­schen Geld schul­dig blei­ben moch­ten, den Sie hass­ten. Sie hät­ten doch das Geld auch von an­de­rer Sei­te ha­ben kön­nen, zum Bei­spiel von dem gu­ten Ver­zi­el­li.«

»Wahr­schein­lich hät­te es Ihr Ehr­ge­fühl ver­letzt, ei­nem ver­hass­ten Men­schen Geld zu schul­den«, sag­te De­ru­ga. »Se­hen Sie, bei mir ist das an­ders. Mir mach­te es Ver­gnü­gen zu se­hen, was für Angst er um sei­ne Ta­ler hat­te, und wie er sich quäl­te, die Angst nicht mer­ken zu las­sen, son­dern den An­schein zu wah­ren, als wäre es ihm ganz gleich­gül­tig. Denn er will ers­tens für un­er­mess­lich reich und zwei­tens für sehr weit­her­zig in Geld­sa­chen gel­ten. Hät­te ich Geld im Über­fluss ge­habt, wür­de ich ihn wahr­schein­lich doch nicht aus­be­zahlt ha­ben, um ihn zap­peln zu se­hen.«

»Ich glau­be, Sie kön­nen fürch­ter­lich has­sen«, sag­te der Jus­tiz­rat nach­denk­lich, in­dem er den Dok­tor nicht ohne Be­wun­de­rung von der Sei­te be­trach­te­te.

Die­ser lach­te herz­haft und aus­gie­big wie ein Kind. »Das kann ich al­ler­dings«, sag­te er. »Ich möch­te manch­mal ei­nem ein Mes­ser im Her­zen her­um­dre­hen, nur weil mir sei­ne Mund­win­kel nicht ge­fal­len. Ich will mich aber heu­te Nach­mit­tag Ih­nen zu­lie­be zu­sam­men­neh­men, so gut ich kann.«

»Ja, dar­um bit­te ich«, sag­te der Jus­tiz­rat, »ich füh­le mich doch et­was ver­ant­wort­lich für Sie.«

*

Ho­frat von Mäul­chen er­schi­en in ge­wähl­ter Klei­dung, in einen an­ge­neh­men, mon­dä­nen Duft ge­taucht, mit dem leich­ten und si­che­ren Gang des­sen, den all­ge­mei­ne Be­liebt­heit trägt, im Schwur­ge­richts­saa­le. Die Ei­des­for­mel, die der Prä­si­dent ihm vor­sprach, wie­der­hol­te er mit lie­bens­wür­di­ger Ge­fäl­lig­keit und ei­nem leicht fra­gen­den Aus­klang, so, als wol­le er sich bei je­dem Satz ver­ge­wis­sern, ob es dem Vor­sit­zen­den und dem lie­ben Gott so auch recht wäre.

»Der An­ge­klag­te«, be­gann Dr. Zeu­ne­mann das Ver­hör, als alle Förm­lich­kei­ten ab­ge­tan wa­ren, »ist Ih­nen seit Mai 19.., also seit fünf Jah­ren, sechs­tau­send Mark schul­dig. Wol­len Sie, bit­te, er­zäh­len, wie Sie den An­ge­klag­ten ken­nen­lern­ten, und wie es kam, dass er das Geld von Ih­nen borg­te!«

»Bei­des ist schnell ge­tan«, sag­te der Ho­frat. »Ich lern­te De­ru­ga im ärzt­li­chen Ve­rein ken­nen, au­ßer­dem hat er mich ge­le­gent­lich ei­ner klei­nen Wu­che­rung in der Nase be­han­delt. Kol­le­gen emp­fah­len ihn mir, weil er eine be­son­ders leich­te Hand habe, was mei­ne ei­ge­ne Er­fah­rung be­stä­tigt hat. Es han­del­te sich bei mir al­ler­dings um einen sehr ein­fa­chen Fall, aber auch dar­in kann man ja sei­ne Fä­hig­kei­ten be­wei­sen. Ge­wis­se klei­ne Ori­gi­na­li­tä­ten und Wun­der­lich­kei­ten hat­te er an sich, zum Bei­spiel er­in­ne­re ich mich, dass er mich im­mer in der Er­war­tung hielt, als käme et­was au­ßer­or­dent­lich Schmerz­haf­tes, was doch gar nicht der Fall war. Ich habe sa­gen hö­ren, dass er nach Be­lie­ben, sa­gen wir nach Lau­ne, die Pa­ti­en­ten ganz schmerz­los oder sehr grob be­han­del­te. Aber das ge­hört ei­gent­lich nicht hier­her, und so weit mei­ne per­sön­li­che Er­fah­rung reicht, kann ich ihn als Arzt nur lo­ben. Als ich nun ge­le­gent­lich eine Be­mer­kung über die schä­bi­ge Aus­stat­tung sei­nes War­te­zim­mers mach­te, sag­te er mir, er habe kein Geld, um sich so ein­zu­rich­ten, wie er möch­te, wor­auf ich ihm, ei­nem au­gen­blick­li­chen Ge­fühl fol­gend, so viel an­bot, wie er brauch­te. Ich bin viel­leicht kein sehr be­son­ne­ner Rech­ner«, schal­te­te der Ho­frat mit ei­nem Lä­cheln ein, »aber in die­sem Fal­le, ei­nem Kol­le­gen und tüch­ti­gen Arzt ge­gen­über, glaub­te ich gar nichts zu ris­kie­ren.«

»Hat der An­ge­klag­te das Geld für eine neue Ein­rich­tung ver­wen­det?« frag­te der Vor­sit­zen­de.

»Dar­über kann ich aus ei­ge­ner An­schau­ung nichts sa­gen«, ant­wor­te­te der Ho­frat. »Es wur­de mir spä­ter ein­mal zu­ge­tra­gen, ge­schwatzt wird ja viel, die Ses­sel sei­nes War­te­zim­mers wür­den im­mer schä­bi­ger; be­greif­li­cher­wei­se habe ich es aber ver­mie­den, ihn auf­zu­su­chen und mich dar­über zu un­ter­rich­ten.«

»Wol­len Sie sich dazu äu­ßern?« wen­de­te sich der Vor­sit­zen­de ge­gen De­ru­ga. »Ha­ben Sie sich für das ge­lie­he­ne Geld Ihr War­te­zim­mer neu ein­ge­rich­tet?«

»Ge­hört das hier­her?« frag­te De­ru­ga. »Ich glaub­te im­mer, man kön­ne sein Geld ver­wen­den, wie man wol­le, ei­ner­lei, ob es ge­lie­hen oder ge­stoh­len ist.«

»Sie ver­wei­gern also die Ant­wort?«

»So­viel ich mich er­in­ne­re«, sag­te De­ru­ga mür­risch, »habe ich In­stru­men­te, mo­der­ne Ap­pa­ra­te, einen Ope­ra­ti­ons­stuhl und der­glei­chen da­für ge­kauft.«

»Sie ha­ben«, setz­te der Prä­si­dent die Zeu­gen­ver­neh­mung fort, »im Lau­fe der nächs­ten Jah­re den An­ge­klag­ten nie­mals ge­mahnt?«

»Be­wah­re«, er­wi­der­te der Ho­frat. »Ei­nen Kol­le­gen! Über­haupt wür­de ich das ohne ge­nü­gen­de Grün­de nie­mals tun. Ich hat­te das Geld ei­gent­lich schon ver­lo­ren ge­ge­ben, denn das Ge­re­de ging, als be­trie­be De­ru­ga sei­ne Pra­xis nur nach­läs­sig und füh­re ein sehr un­ge­re­gel­tes Le­ben. Ich habe üb­ri­gens, wie ich gleich vor­aus­schi­cken will, der Wahr­heit die­ses Ge­re­des nicht nach­ge­forscht und bit­te, kei­ne Schlüs­se dar­aus zu zie­hen.«

»So ge­hen wir ohne wei­te­res zu dem An­lass über«, sag­te Dr. Zeu­ne­mann, »der Sie be­wog, das Geld zu­rück­zu­for­dern. Wol­len Sie den Vor­gang im Zu­sam­men­hang er­zäh­len!«

»Im Sep­tem­ber vo­ri­gen Jah­res«, be­rich­te­te der Ho­frat, »traf ich mit De­ru­ga in dem schon er­wähn­ten ärzt­li­chen Ve­rein zu­sam­men, nach­dem ich ihn fast ein Jahr lang nicht ge­se­hen und das Geld so­zu­sa­gen ver­ges­sen hat­te. Er rief mir über den Tisch hin­über in ziem­lich form­lo­ser Wei­se zu, er wol­le eine Pa­ti­en­tin, von der er glau­be, dass sie ein Un­ter­leibs­lei­den habe, zu mir schi­cken, ich sol­le sie un­ter­su­chen und nö­ti­gen­falls be­han­deln, aber um­sonst, zah­len kön­ne sie nicht. Mehr über sei­ne Art und Wei­se als über die Sa­che selbst ver­stimmt, er­wi­der­te ich, wie ich gern glau­ben will, ein we­nig kühl, ich sei mit Ar­beit sehr über­häuft, die Kran­ke kön­ne ja zu dem in Be­tracht kom­men­den Kas­sen­arzt ge­hen. Da­rauf wur­de De­ru­ga krei­de­weiß im Ge­sicht und über­häuf­te mich mit ei­nem Schwall von Be­lei­di­gun­gen, wie, dass ich es nur auf Geld­ma­che­rei ab­ge­se­hen hät­te, der Arzt für Kom­mer­zi­en­rä­tin­nen und fürst­li­che Ko­kot­ten wäre und der­glei­chen mehr, was ich nicht wie­der­ho­len will. Ich möch­te be­mer­ken, dass ich glau­be, wie un­ge­recht sei­ne Be­schul­di­gun­gen auch wa­ren und wie un­pas­send auch die Form war, wie er sie er­hob, er mach­te sie bo­na fi­de. Er hat­te die Mei­nung, ich sei ge­müt­los und streb­te nur nach klin­gen­dem Er­folg und äu­ße­rem Glanz, viel­leicht weil ihm in­fol­ge ei­ner ge­wis­sen volks­tüm­li­chen oder zi­geu­ner­haf­ten Ver­an­la­gung der Sinn für ge­re­gel­tes bür­ger­li­ches Le­ben mit sei­nen tra­di­tio­nel­len Be­grif­fen von An­stand und Ehre über­haupt ab­ge­ht. In je­nem Au­gen­blick ver­moch­te ich mich zu die­ser ob­jek­ti­ven An­sicht nicht zu er­he­ben, son­dern, ich ge­ste­he es, ich fühl­te mich ver­letzt und im In­ners­ten em­pört.«

»Bei­nah wäre der rosa Wachs­guss ge­schmol­zen«, flüs­ter­te De­ru­ga dem Jus­tiz­rat zu.

»Ohne mein ent­rüs­te­tes Ge­fühl zu zü­geln oder es nur zu wol­len, ant­wor­te­te ich hef­tig, er habe am we­nigs­ten Ur­sa­che, mir der­ar­ti­ge Vor­wür­fe zu ma­chen, da ich ihm be­reit­wil­lig aus­ge­hol­fen und den Ver­lust nicht nach­ge­tra­gen hät­te. Ich hät­te ihn da­mals für zah­lungs­fä­hig ge­hal­ten, sag­te er bos­haft, sonst wür­de ich ihm nichts ge­borgt ha­ben. Al­ler­dings, sag­te ich, hät­te ich einen Kol­le­gen für so eh­ren­haft ge­hal­ten, dass er sei­ne Schul­den be­zahl­te, und da er mich nun selbst her­aus­for­de­re, sol­le er es auch tun. Der Streit wur­de dann durch meh­re­re Kol­le­gen, die sich ins Mit­tel leg­ten, ge­schlich­tet. Be­vor wir uns trenn­ten, sag­te ich zu De­ru­ga, er sol­le das, was ich vor­hin in hef­ti­ger Auf­wal­lung ge­sagt hät­te, nicht so auf­fas­sen, als wol­le ich ihn drän­gen. Er­lau­ben Sie mir bit­te, fest­zu­stel­len, dass ich der gan­zen Sa­che aus frei­en Stücken nie­mals in der Öf­fent­lich­keit Er­wäh­nung ge­tan ha­ben wür­de!«

»Darf ich bit­ten«, sag­te Jus­tiz­rat Fein, sich an den Zeu­gen wen­dend, »Sie sind nach­her mit kei­nem Wort und mit kei­ner An­deu­tung auf die Geldan­ge­le­gen­heit zu­rück­ge­kom­men?«

»Nein, durch­aus nicht«, ant­wor­te­te der Ho­frat. »Es tat mir im Ge­gen­teil leid, dass ich mir in der Er­re­gung die Mah­nung hat­te ent­schlüp­fen las­sen.«

»Also«, sag­te der Jus­tiz­rat, »war die Lage für Dr. De­ru­ga nicht im min­des­ten ver­än­dert, und es liegt kein Grund zu der Be­haup­tung vor, er habe sich durch­aus Geld ver­schaf­fen müs­sen, um die fäl­li­ge Schuld zu be­zah­len.«

»Ich bit­te sehr«, rief der Staats­an­walt, »durch den Vor­fall im ärzt­li­chen Ve­rein war das Schuld­ver­hält­nis ei­ner gan­zen Rei­he von Kol­le­gen be­kannt ge­wor­den; das ist denn doch eine er­heb­li­che Ver­än­de­rung der Lage. So viel Ehr­ge­fühl dür­fen wir doch bei ei­nem je­den ge­bil­de­ten Man­ne vor­aus­set­zen, dass ihm das nicht gleich­gül­tig war.«

»Neh­men wir, bit­te, Dr. De­ru­ga wie er ist, und nicht, wie er nach der Mei­nung an­de­rer sein soll­te. Da es ihm nichts aus­mach­te, dem Ho­frat von Mäul­chen Geld schul­dig zu blei­ben, für den er au­gen­schein­lich kei­ne be­son­de­re Vor­lie­be hat­te, lag ihm wahr­schein­lich sehr we­nig dar­an, dass ein paar an­de­re Kol­le­gen, mit de­nen er, wie es scheint, ganz gut stand, da­von wuss­ten. Je­den­falls, wenn er frü­her so dick­fel­lig in die­sem Punkt war, wird er nicht plötz­lich so emp­find­lich ge­wor­den sein, dass er ein Ver­bre­chen be­ging, um sich aus der Klem­me zu zie­hen.«

Die ge­mäch­li­che Gran­dez­za, mit der der Jus­tiz­rat da­stand, die Wucht sei­ner mas­si­gen Ge­stalt und sei­nes groß­ge­form­ten, ru­hi­gen Ge­sich­tes über­zeug­ten noch wirk­sa­mer als sei­ne Wor­te und brach­ten sei­nen zap­pe­li­gen Geg­ner au­ßer Fas­sung.

»Ja, wenn der Mensch im­mer so fol­ge­rich­tig wäre!« sag­te er hef­tig. »Da­für, dass Män­ner lie­ber Ver­bre­chen be­ge­hen, als einen Fleck auf ih­rer so­ge­nann­ten bür­ger­li­chen Ehre dul­den, fin­den sich vie­le Bei­spie­le.«

Dr. Zeu­ne­mann hob Ruhe ge­bie­tend sei­ne Hand.

»Eine ver­bre­che­ri­sche Hand­lung wird dem An­ge­klag­ten zu­nächst noch gar nicht zu­ge­mu­tet«, sag­te er. »Wenn er sei­ne ge­schie­de­ne Frau um Geld an­ging, so war das höchs­tens takt­los, und es ist umso we­ni­ger auf­fal­lend, als wir aus vie­len Zeug­nis­sen wis­sen, dass er die­se Hilfs­quel­le öf­ters in Be­tracht zog. Hal­ten Sie«, wen­de­te er sich an den Ho­frat, »die Schuld für ein Mo­tiv, das stark ge­nug ge­we­sen wäre, den An­ge­klag­ten zu ver­an­las­sen, sich auf ir­gend­ei­ne un­ge­wöhn­li­che oder be­denk­li­che, etwa so­gar ver­bre­che­ri­sche Wei­se in den Be­sitz von Geld zu set­zen?«

»Ich muss sehr bit­ten«, wehr­te der Ho­frat ab, »mir die Ant­wort zu er­las­sen. Ich schre­cke umso mehr da­vor zu­rück, ein Ur­teil dar­über zu äu­ßern, als ich nicht in der Lage war, mir ei­nes zu bil­den. Ich bin mit der Psy­che De­ru­gas nicht ver­traut, könn­te mich nur in Fan­tasi­en er­ge­hen, aber selbst­ver­ständ­lich bin ich eher ge­neigt, Gu­tes als Schlech­tes von ei­nem Kol­le­gen zu den­ken.«

»Sie wa­ren«, fuhr der Vor­sit­zen­de fort, »der­je­ni­ge Kol­le­ge, dem der An­ge­klag­te am 1. Ok­to­ber zwi­schen sechs und sie­­­­­­­­­­