Klaus Buchner
Diktatur der Märkte
Diktatur der Märkte
Aufbruch in die sozio-ökologische Wende
Tectum Verlag
Klaus Buchner
Diktatur der Märkte
Aufbruch in die sozio-ökologische Wende
© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018
E-Pub 978-3-8288-7027-7
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4161-1 im Tectum Verlag erschienen.)
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Dieses Buch ist einer Freundin und ihren Kolleginnen gewidmet, die mehrfach behinderte Jugendliche betreuen und dabei auch schwere körperliche Arbeit leisten. Weil ihr Verdienst zu gering ist, werden sie später von ihrer Rente nicht leben können. Sie werden auf unser Sozialsystem angewiesen sein.
Wie ist es möglich, dass ein Teil unserer Bevölkerung immer ärmer wird, wo doch unsere gesamte Wirtschaftsleistung ständig neue Rekorde bricht?
Die kursiv gekennzeichneten Kapitel enthalten Anregungen für den Aufbruch in die sozio-ökologische Wende
Inhalt
1. Warum dieses Buch?
2. Unser Finanzsystem oder: Wer profitierte von der Bankenkrise?
Woher kommt unser Geld?
Die wunderbare Geldvermehrung
Wie man aus faulen Krediten „gutes“ Geld macht
Abschaffung wichtiger Regeln
Das Kartenhaus stürzt ein
Die Profiteure der Krise
Goldman Sachs
Neue Regeln für die Zukunft?
3. Die Europäische Union
Entstehung der Europäischen Gemeinschaft
Der Verfassungsentwurf und der Vertrag von Lissabon
Die Struktur der EU
Wie kann die EU demokratischer werden?
Die EU als neoliberaler Wirtschaftsraum
Lobbyarbeit und Drehtüren
Wir brauchen strengere Regeln
Der Euro
Ist der Euro zu retten?
Griechenland – die soziale und ökologische Katastrophe
4. Schrankenloser Kapitalismus und seine Denkfabriken
Die Idee des Neoliberalismus
European Round Table of Industrialists
Das Council on Foreign Relations
Andere wichtige Denkfabriken
Wozu brauchen wir Staaten?
US-Spionage und deutsche Konzerne
Andere Länder
Freihandelsabkommen der neuen Generation
Einfluss auf die Medien
Unsere Aufgabe
5. Hunger und Armut in der Welt
Unter- und Mangelernährung
Diese Hungerkatastrophe müsste nicht sein
Freihandelsabkommen mit Entwicklungsländern
Zehn Regeln für Handelsverträge
Entwicklungshilfe
Die drei K: Klimawandel, Krieg, Korruption
Agrarkonzerne
Spekulationen
Flüchtlingsströme
Flüchtlingspolitik und das Beispiel von Mecheln
Armut bei uns?
Vorbild Schweiz für eine soziale Mindestsicherung
6. Überwachung
Neue Möglichkeiten
Von der Wiege bis zur Bahre
Bekämpfung von Terrorismus und Unruhen
7. Was tun?
Dank
Empfohlene Literatur
Anmerkungen
1. Warum dieses Buch?
Es gärt in Europa. Am 17. September 2016 gingen in Deutschland 320.000 Bürger auf die Straße und demonstrierten gegen die „Freihandels“-Abkommen CETA, TTIP und TiSA. Sie zeigten ihren Unmut gegen die deutsche Bundesregierung und die Europäische Kommission, die diese Abkommen gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung durchsetzen wollten. Die Demonstrationen hatten aber nur geringen Erfolg, ebenso wenig wie eine EU-Bürgerinitiative zu diesem Thema, die drei Millionen Bürger unterschrieben, die die EU-Kommission aber nicht einmal annahm. Wenige Monate zuvor stimmten die Briten für ihren Austritt aus der EU, und auch in Österreich wurden Stimmen laut, die Ähnliches forderten. Immer wieder hört man das Wort „Wutbürger“, auch wegen des Unvermögens der EU, eine Lösung für die Verteilung der Flüchtlinge und für die Krisen in Griechenland und in den anderen südeuropäischen Ländern zu finden.
Ein weiteres Problem, das von den Regierungen nicht gelöst wird, beschäftigt viele Menschen: der Hunger in der Welt. Gandhi sagte einmal: „Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.“ Tatsächlich erzeugt die Gier der Industrienationen und vor allem die einiger weniger Menschen diesen Hunger. Es ist ein Skandal, dass das Vermögen von einem einzigen Prozent der Weltbevölkerung größer ist als das der restlichen 99 Prozent1 und dass dieses eine Prozent seinen Besitz immer weiter vergrößert.2 Und wer sehr viel Geld hat, will meist auch die Politik bestimmen. Die Folge: Überall in der Welt öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter, zugleich geht die politische Macht Stück für Stück von unseren Parlamenten auf undemokratische „Governance“-Strukturen3 über. Schon 1999 meinte David Rockefeller: „Aber die andere Seite der Medaille ist, dass jemand an die Stelle der Regierung treten muss, und Unternehmen scheinen für mich der logische Ersatz dafür zu sein.“4 Ähnlich äußerte sich auch der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der unsere demokratischen Regierungen als „Rückfall in vergangene Jahrhunderte“ bezeichnet.5
Dieses Buch will die Hintergründe dieser doch gravierenden Situation, in der wir uns befinden, aufzeigen und dabei auch Ross und Reiter nennen. Das sind vor allem unser Finanzsystem und die internationalen Konzerne, die die Märkte immer mehr beherrschen. Vorgestellt werden aber auch Organisationen und Denkfabriken („Think-Tanks“), die großen Einfluss auf unsere Regierungen haben. Zu all diesen Themen gibt es schon viele sehr gute Bücher6. Aber kaum jemand hat genügend Zeit, sie alle zu lesen. Daher scheint eine kurze, leicht verständliche Übersicht über die wichtigsten Entwicklungen7 angebracht. Dieses Wissen ist nötig, um die gegenwärtigen Veränderungen zu stoppen, die nicht nur unseren Wohlstand und unser Sozialsystem, sondern vor allem auch unsere Demokratie bedrohen. Wir müssen uns der Gefahr bewusst werden, diese Entwicklung aufhalten und für eine gerechtere und friedlichere Welt kämpfen. Dazu formuliert dieses Buch Ziele, die auch im Druck besonders hervorgehoben werden. Denn wer in der Demokratie schläft, wird in der Diktatur aufwachen.
2. Unser Finanzsystem oder:
Wer profitierte von der Bankenkrise?
Was ist ein Einbruch in eine Bank
gegen die Gründung einer Bank?
Bertolt Brecht
Woher kommt unser Geld?
Geld ist zunächst ein Tauschmittel. Dafür könnte man ebenso gut Perlen oder Muscheln verwenden, so, wie es andere Kulturen getan haben. Das wirft aber sofort die Frage auf: Woher kommt das Geld? Anders gefragt: Wer darf es „erschaffen“, und wer bekommt das so geschaffene Geld?
Die meisten unserer Mitbürger glauben, es sei der Staat oder wenigstens eine staatlich kontrollierte Stelle, die entscheidet, wie viel Geld im Umlauf ist. Früher war dies auch tatsächlich der Fall. Aber wer weiß schon, dass die US-amerikanische „Federal Reserve Bank“, die heute den Geldfluss in großen Teilen der Welt beeinflusst, ein rein privates Unternehmen ist? Wer weiß, dass die Europäische Zentralbank zwar den Staaten gehört, die den Euro verwenden, aber einen Mann an ihrer Spitze hat, der eng mit dem privaten Finanzinstitut Goldman Sachs verbunden ist?8
Noch bis in die 1970er-Jahre galt im größten Teil der westlichen Welt der Gold- bzw. Silberstandard. Das bedeutet, dass die Regierung eines Landes einen fixen Umrechnungskurs seiner Währung in Gold bzw. Silber garantierte. Im Prinzip durfte jedes Land nur so viel Geld ausgeben, wie es an diesen Edelmetallen besaß. Ein Problem des Goldstandards ist, dass dabei der Wirtschaft manchmal nicht genügend Geld zur Verfügung steht, das sie für Investitionen braucht. So erholten sich einige Länder wie Deutschland und die USA von der Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren erst, nachdem sie den Goldstandard vorübergehend aufgegeben hatten. Später brachte vor allem der Vietnamkrieg einen unersättlichen Bedarf an Geld in den USA, und der amerikanische Präsident Nixon zog die Notbremse: Am 15. August 1971 verkündete er in einer Fernsehansprache, der Goldstandard und damit die Konvertierbarkeit des Dollars in Gold9 werde aufgegeben. Im Rückblick war von einem „Nixon-Schock“ die Rede.
Heute gründet sich in den meisten Ländern die Währung nicht mehr auf feste Werte wie Gold. Der Staat garantiert also nicht mehr, das ausgegebene Geld zu einem festen Kurs in Gold, Silber oder irgendetwas anderes umzutauschen. Der Wert einer Währung basiert einzig und allein auf dem Vertrauen, das man in sie hat. Mit anderen Worten: Ein Euro oder ein Dollar ist genau so viel wert, wie jemand bereit ist, dafür herzugeben. Das verleitet natürlich dazu, dass die Zentralbanken so viel Geld drucken, wie sie es für nützlich halten. Geld erschaffen dürfen aber nicht nur die Zentralbanken; jede Bank, die Kredite ausgibt, kann das. Wie das in der Praxis geschieht, zeigt folgendes Beispiel:10
Herr Huber will sein Haus sanieren und nimmt dafür einen Kredit von 100.000 Euro auf. Die Bank schreibt ihm dieses Geld auf seinem Konto gut. Damit bezahlt Herr Huber die Firmen, die die Sanierung durchführen; diese verwenden das Geld für die Materialien, die Löhne ihrer Angestellten usw. Das heißt, das Geld des Kredits gelangt in den allgemeinen Wirtschaftskreislauf. Vor der Kreditvergabe hat es gar nicht existiert; es entsteht meist erst in dem Moment, wenn es Herrn Hubers Konto gutgeschrieben wird. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten:
1. Die Bank verfügt über das Geld für den Kredit, z.B. aus den Sparguthaben ihrer Kunden. Dann könnte sie theoretisch Herrn Huber dieses Geld überweisen. Praktisch wird sie das aber nicht tun, weil sie mit dem Geld „Besseres“ machen kann, z.B. damit spekulieren, um den daraus entstehenden Profit selbst einzustreichen.
2. Die Bank von Herrn Huber hat 1 Prozent der Kreditsumme11, also 1.000 Euro, als Eigenkapital. (Natürlich hat jede Bank immer 1.000 Euro zur Verfügung. Bei den Summen, mit denen Banken oft arbeiten, wird das aber nicht immer für 1 Prozent zutreffen.) Dann darf sie nach unseren Bankgesetzen den Kredit an Herrn Huber seinem Konto gutschreiben – einfach so, ohne einen Gegenwert. Die 100.000 Euro minus 1.000 Euro = 99.000 Euro werden also „erschaffen“.
3. Hat die Bank von Herrn Huber keine 1.000 Euro Eigenkapital, kann sie diese bei der Europäischen Zentralbank (EZB) oder bei einer anderen Bank als Kredit aufnehmen (sofern sie dort den ihr gewährten Kreditrahmen nicht überzieht). Nimmt sie es bei der Zentralbank auf, muss sie dafür nur den sogenannten „Leitzins“ bezahlen. Man beachte: Dieser Leitzins ist wesentlich niedriger als der Zinssatz, den sie von Herrn Huber für den Kredit bekommt. Außerdem zahlt die Bank diesen niedrigen Zins nur für 1.000 Euro, während Herr Huber seinen Zins für 100.000 Euro zahlen muss. Ein gutes Geschäft für die Bank!
Mit der Rückzahlung eines Kredits verschwindet das verliehene Geld wieder aus den Bilanzen der Bank.12 Es wird also „vernichtet“.
Bild 1: Geldmenge M2 der Europäischen Zentralbank in Milliarden Euro. Die Angaben beziehen sich auf den Januar des jeweiligen Jahres.
Beachte: Von 2000 bis 2018 hat sich die Geldmenge fast verdreifacht (genauer: Faktor 2,72)! Dabei enthält M2 keine Gelder aus Spekulationsgeschäften wie Derivate oder ABS. Diese sind ein Vielfaches der hier gezeigte Geldmenge M2.
Erklärung: Die Geldmenge M2 enthält alles Bargeld im Umlauf (d.h. außerhalb des Bankensystems), den Zentralgeldbestand der Kreditinstitute, die Sichteinlagen der Nichtbanken, sowie die Spareinlagen und Termingeldeinlagen mit vereinbarter Laufzeit bis zu zwei Jahren
(Vereinfachte Darstellung des Wikipedia-Artikels https://de.wikipedia.org/wiki/Geldmenge aufgerufen am 30.3.2018. Dort findet man auch die Zahlenangaben zu Bild 1)
Sie haben richtig gelesen: Unser Geld wird durch Kredite erzeugt. Es ist aber nur ein sehr kleiner Teil unseres Geldes, das auf diese Weise durch Kredite an Privatpersonen hervorgebracht wird. Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, hat wiederholt Hunderte von Milliarden Euro „gedruckt“, also erschaffen, um südeuropäische Staaten und damit den Euro selbst zu retten (vgl. dazu auch Bild 1). Am meisten Geld entsteht jedoch, wenn die Banken es für sich selbst schöpfen. Wenn jemand Banknoten fälscht, wird er als Betrüger verurteilt. Aber die Banken drucken ja keine Geldscheine, sie schreiben sich die Beträge nur auf ihren Konten gut. Das können sie nach dem oben beschriebenen Muster machen, wenn sie gewisse Regeln einhalten.13 Was sie mit diesem Geld tun können, zeigen folgende Beispiele:
Die wunderbare Geldvermehrung
Mit der Kredit- und Hypothekenvergabe begnügt sich heute keine Bank mehr, denn die Rendite für das Eigenkapital der Bank wäre viel zu gering. Schließlich richten sich ja die Boni der Top-Manager nach dem Gewinn der Bank. Deshalb wurden in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten viele neue Geschäftstricks erfunden, vornehm „Finanzinstrumente“ genannt. Früher waren die meisten von ihnen verboten, weil sie im normalen Leben schlicht als Betrug bezeichnet würden. Den Finanzinstituten gelang es jedoch, die Politiker davon zu überzeugen, solche „unnötigen“ gesetzlichen Beschränkungen fallen zu lassen. Das Problem dabei ist nur, dass unser Geld zwar von den Banken erschaffen und verwaltet wird, dass es aber unser aller Geld ist, das unsere Wirtschaft und unseren Wohlstand bestimmt. Verspekuliert sich eine Bank im großen Stil, muss sie fast immer mit Steuergeldern gerettet werden, schließlich drohen beim Konkurs einer großen Bank alle in ihr angelegten Gelder für Renten, Pensionen, Investitionen usw. verloren zu gehen – es wären also sehr viele Bürger und Wirtschaftsunternehmen empfindlich geschädigt. Diese Banken sind einfach „zu groß, um zu scheitern“. Sie haben es geschafft, so viel Geld zu verwalten, dass sie jedes riskante Geschäft eingehen und dabei doch sicher sein können, im Notfall vom Steuerzahler gerettet zu werden.
Das ließe sich sehr einfach verhindern, wenn es den Banken, die Gelder von Kunden verwalten, verboten wäre zu spekulieren. Ein solches Verbot, das sogenannte „Trennbanksystem“ (oder „Glass-Steagall-Gesetz“), gab es früher in den USA;14 es wurde jedoch am 12. November 1999 von US-Präsident Clinton aufgehoben. Ohne diesen Schritt hätte die Finanzkrise von 2008 keine derart gravierenden Auswirkungen gehabt, ohne ihn wäre es nicht in dieser Form zur Insolvenz von Lehman Brothers gekommem, einer Bank, die 2008 unter der unglaublichen Schuldenlast von mehr als 600 Milliarden US-Dollar zusammenbrach.15
Ein Finanzinstrument, mit dem sehr viel Geld verdient wird, sind die „Derivate“. Die Idee dahinter ist einfach: Wenn beispielsweise ein Bauer Weizen anbauen will, so weiß er nicht, wie hoch der Preis dafür zur Zeit der Ernte sein wird: Möglicherweise gibt es irgendwo auf der Erde Missernten, die ihn in die Höhe treiben, er kann aber auch tief sinken, wenn aus irgendwelchen Gründen ein Überangebot auf dem Markt herrscht. Deshalb verkauft der Bauer seinen Weizen, bevor er ihn überhaupt erzeugt hat, zu einem vereinbarten Festpreis. Damit trägt der Käufer das Risiko. Derivate sind also eine Art Wette, bei der jemand eine Ware zu einem Festpreis kauft und später zu einem vorher festgelegten Termin (in unserem Beispiel nach der Ernte) erwirbt und zu dem dann gültigen Preis wieder verkauft – oder auch nur verkaufen kann.16 Diese Wetten gibt es auch anders herum: Jemand vereinbart, dass er ein bestimmtes Produkt zu einem festgelegten Zeitpunkt kauft, wenn es einen vereinbarten Preis über- oder unterschreitet.
Wetten kann man so ziemlich auf alles. Das geht sogar so weit, dass die Commerzbank selbst „Zertifikate“ verkaufte, die darauf spekulierten, dass der Wert ihrer eigenen Aktie unter einen Euro, also ins Bodenlose fallen würde.17 Im Klartext: Die bereits angeschlagene Bank lädt zur Spekulation auf ihren eigenen Untergang ein,18 nur, um noch ein paar Euro für die Wette einzunehmen. Das Problem mit dem Handel von Derivaten ist, dass er mit der realen Wirtschaft kaum noch etwas zu tun hat, weil es sich um Wetten handelt. Das Volumen ist unvorstellbar: 2013 waren es 640 Billionen Dollar, also fast zweihundert Mal so viel wie das deutsche Bruttosozialprodukt19 und nicht ganz das Zehnfache des globalen Bruttoinlandsproduktes. Es ist durchaus denkbar, dass durch ein unvorhergesehenes Ereignis wie eine Finanzkrise viele Wetten gleichzeitig gewonnen oder verloren werden. Dann aber wird es äußerst schwierig, das Geld dafür aufzubringen. Warren Buffett, ein weltbekannter Investment-Manager, schrieb schon 2003, also noch lange vor der Bankenkrise: „Unserer Ansicht nach sind Derivate finanzielle Massenvernichtungswaffen, und sie bergen Gefahren, die im Augenblick zwar verborgen, potenziell jedoch todbringend sind.“20
Die Derivate sind an sich schon etwas Verrücktes. Noch irrsinniger ist aber, dass der Handel mit ihnen meist von Computern durchgeführt wird, und zwar im Takt von Tausendstelsekunden. Auch das ließe sich leicht stoppen, wenn man wieder eine Börsen-Umsatzsteuer (Transaktionssteuer) einführen würde, die für jede Transaktion nur einen kleinen Bruchteil eines Prozents betragen müsste. Auch wenn die Börsenumsatzsteuer noch so klein wäre, kämen doch bei Tausenden von Transaktionen beträchtliche Summen zusammen, die diesen Handel, der nichts mehr mit der Realwirtschaft zu tun hat und keinen ökonomischen Mehrwert für die Gesellschaft bringt, unrentabel machen würden. Diese Steuer wurde in Deutschland unter der Kohl-Regierung abgeschafft, wie wir noch sehen werden. Zu ihrer Wiedereinführung können sich unsere Politiker trotz aller guten Argumente nicht durchringen; die Börsenmanager haben sie zu sehr im Griff.
Wie man aus faulen Krediten „gutes“ Geld macht
Die größte Katastrophe, die wir seit etwa zehn Jahren erleben,
sind in der Tat die nicht realen Finanztransaktionsgeschäfte,
die kein Mensch mehr versteht, noch nicht einmal die,
die diese Transaktionen vornehmen.
Jürgen Heraeus 2011 im Handelsblatt21
Ein weiteres Finanzinstrument, das 2008 die weltweite Finanzkrise befeuert hat: Die Verbriefung fauler Kredite. In den USA wurden durch die extrem niedrigen Zinsen viele Menschen angeregt, sich Immobilien zu kaufen. Das entsprach dem Ziel von Präsident George W. Bush, wonach möglichst alle Amerikaner Hausbesitzer werden sollten. Dabei erhielten auch solche Kunden Kredite, von denen eigentlich klar war, dass sie auf Dauer weder für die Zinsen noch für die Rückzahlungen aufkommen konnten. Und wenn sie nicht einmal die übliche Anzahlung für eine Immobilie leisten konnten, bekamen sie selbst dafür noch einen Kredit. Um mit solch fragwürdigen Geschäften trotzdem einen Gewinn zu erwirtschaften können, geben die Finanzinstitute das Risiko einfach weiter: Die Bank, die die Kredite ausgegeben hat, verkauft ihre Kreditforderungen an eine „Finanzierungsgesellschaft“. Das bedeutet, dass der Bankkunde, der sich gerade ein Haus gekauft hat, plötzlich nicht mehr mit seiner Bank, sondern mit einer ganz anderen Gesellschaft verhandeln muss. Diese pfändet zahlungsunfähige Kunden meist gnadenlos. Die übrigen Kredite werden zu Tausenden in Wertpapiere („Asset Backed Securities“, ABS) zusammengefasst und weiterverkauft. Der Trick dabei ist, dass der Käufer der ABS meist keine Ahnung davon hat, welche Kredite sich hinter seinen Papieren verstecken. Damit ist die Bank des Kreditnehmers das Risiko los und kann mit den Gebühren für die Ausgabe neuer fauler Kredite weiter Geld verdienen. Die Finanzierungsgesellschaft wiederum treibt von den Kreditnehmern die Zinsen ein und gibt diese ganz oder nur teilweise an die Käufer der ABS weiter. Wenn zu viele der faulen Kredite nicht bedient werden und so die Finanzierungsgesellschaft die Zinsen an die ABS-Käufer nicht bezahlen kann, droht Letzteren ein Wertverlust bis hin zum Totalausfall. Trotzdem wurden die ABS von den Ratingagenturen – das sind gewinnorientierte Privatunternehmen, die sich auf die Bewertung von Wertpapieren spezialisiert haben – meist mit der Bestnote AAA bewertet und damit als sichere Geldanlagen bezeichnet. Die letzte Finanzkrise führte daher in den Medien zu einem – freilich kurzen – Aufschrei, die Ratingagenturen standen für eine gewisse Zeit in der Kritik. Es wurden auch Strafen verhängt; so musste Moody’s 864 Millionen Dollar zahlen.22 Das hat allerdings nicht verhindert, dass sich der Wert von Moody’s seit 2008 fast verdreifacht hat.23
Auch in Deutschland kam bei den Banken Goldgräberstimmung auf, als die fragwürdigen „Finanzinstrumente“ erfunden wurden, mit denen sich die Gewinne enorm steigern ließen. Nach der Schätzung von Werner Taiber (WestLB) betrugen die faulen Kredite, die Ende 2005 allein in den deutschen Banken lagerten, annähernd 300 Milliarden Euro, davon in den öffentlich-rechtlichen Banken 60 bis 100 Milliarden Euro.24 In den USA sprach man von „stupid German money“, stürzten sich doch gerade viele deutsche Banken auf die US-amerikanischen ABS. Für einen Teil davon musste bei der Bankenrettung 2008/09 letztlich der Steuerzahler aufkommen. Schlimmer war, dass Banken, die zu viele dieser faulen Kredite besaßen, selbst nicht mehr als kreditwürdig galten. War ihr Eigenkapital aufgebraucht, konnten sie keine Kredite mehr vergeben. Dadurch gingen zahlreiche Unternehmen in Konkurs, und viele der dort Beschäftigten wurden arbeitslos. All dies führte 2009 zu einer folgenschweren Rezession.
Abschaffung wichtiger Regeln
Um die neuen Finanzinstrumente wie ABS überhaupt nutzen zu können, mussten die Gesetze geändert werden. In den USA war es Präsident Clinton, der es den Banken erlaubte, mit den Einlagen ihrer Kunden zu spekulieren und den Gewinn daraus selbst einzustreichen. Im Vorfeld hatten die größten transnationalen Banken und Konzerne in den 1990er-Jahren ihre Kräfte gebündelt, 5 Milliarden Dollar investiert und 3.000 Mitarbeiter für Öffentlichkeits- und Lobbyarbeiten eingestellt. Damit gelang es ihnen, die Regierung zur Abschaffung der Gesetze zu bewegen, die solche Finanzgeschäfte verboten hatten.25 Auch alle Bundesregierungen seit Bundeskanzler Kohl lockerten Schritt für Schritt die Regeln. Es war also nicht so wichtig, welche der Farbkombination aus Schwarz, Rot, Grün und Gelb gerade am Ruder war – was die eine Regierung nicht machte, ging bei der anderen dann doch noch durch. Aber der Reihe nach:
Am 22. Februar 1990 schaffte die Regierung Kohl die Börsenumsatzsteuer ab, die für jede Transaktion einen winzig kleinen Prozentsatz26 an Steuern verlangte. Dadurch machte die Regierung den sogenannten „Hochfrequenzhandel“ möglich, bei dem Computer innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde Wertpapiere kaufen und wieder verkaufen. Später hat man ohne Erfolg versucht, diese Steuer als „Finanztransaktionssteuer“ wiedereinzuführen.
Die rot-grüne Bundesregierung von Kanzler Schröder ließ bestimmte „Hedgefonds“ in Deutschland zu, die zu sehr vielen Firmenpleiten führten. Das entsprechende Gesetz wurde zwischen Januar und August 2003 formuliert. Genau zu dieser Zeit saß eine Mitarbeiterin des „Bundesverbands Investment und Asset Management“ als Leihbeamtin in der Abteilung „Nationale und Internationale Finanzmarkt- und Währungspolitik“ des Bundesfinanzministeriums, die weiterhin von diesem Lobbyverband bezahlt wurde. Gleichzeitig arbeitete dort auch ein Mitarbeiter der Deutschen Börse.27 Da ist es nicht verwunderlich, dass das damals ausgearbeitete Gesetz neben der Zulassung von Hedgefonds auch noch erhebliche Steuererleichterungen für Börsengeschäfte gewährte.
Außerdem beschloss Bundeskanzler Gerhard Schröder mit seinen Ministern Clement und Eichel am 16. Februar 2003, die erste „Bad Bank“ zu gründen, in die die gesamten Schrott-Immobilienkredite der Hypovereinsbank ausgelagert wurden. Die Rettung allein dieser einen Bad Bank mit dem Namen Hypo Real Estate (HRE) kostete den Steuerzahler nur im Jahr 2008 mehr als 30 Milliarden Euro und darüber hinaus noch Garantien in Höhe von 145 Milliarden Euro.28 Damit war aber der Durst der HRE nach Geld noch lange nicht gestillt. Weitere Rettungen mit Steuergeldern folgten 2009 und 2010. Ein pikantes Detail: Zunächst musste die Hypovereinsbank als „Mutter“ der HRE alle Risiken tragen. Aber nur ein Tag nach Ablauf dieser Frist stellte man plötzlich fest, dass die HRE praktisch pleite war; am 2. Oktober 2008 musste sie vom Staat mit unseren Steuergeldern gerettet werden.
Nach Rot-Grün machte Schwarz-Rot im gleichen Stil weiter. Bereits im Koalitionsvertrag von 2005 wurde die Abschaffung vieler „unnötiger“ Beschränkungen für die Finanzwirtschaft beschlossen, um den Börsenplatz Deutschland zu stärken. Außerdem wurde die Ausweitung des Verbriefungsmarkts vereinbart, also jenes Bereichs der Finanzgeschäfte, der sich genau solche Produkte wie ABS ausdachte und damit handelte. Dabei war damals schon klar, dass die neuen Finanzinstrumente zu einem globalen Crash führen können. Die Bundesregierung ging sogar so weit, die Verordnung der EU von 200229 nicht umzusetzen30, die unter anderem verlangt, dass Unternehmen ihre Briefkastenfirmen in die Bilanzen mit einbeziehen und dass ihr Vermögen marktgerecht bewertet wird. Das erfolgte in Deutschland erst 2009, als es bereits zu spät war. Wenigstens einige Folgen der Finanzkrise hätten, wäre die Bundesregierung dem pünktlicher nachgekommen, abgemildert werden können.
Das Kartenhaus stürzt ein
Im Jahr 2008 stürzte schließlich das Kartenhaus ein. Als in den USA die Immobilienpreise sanken und die Zinsen für die Kredite wieder stiegen, konnten viele der Hausbesitzer sie nicht mehr bezahlen. Wegen der praktisch 100-prozentigen Kreditfinanzierung brachte selbst die Verpfändung solcher Immobilien nur einen Teil des Kredits wieder ein. Banken, die zu viele der neuen Finanzinstrumente mit faulen Krediten wie die genannten ABS besaßen, erlitten so große Verluste, dass ihr Eigenkapital aufgebraucht war und sie zahlungsunfähig wurden. Sie waren nicht mehr in der Lage, Kredite auszugeben, die die Wirtschaft dringend benötigt hätte. Der DAX sank in ein tiefes Loch. Um Schlimmeres zu verhindern, stellte die Bundesregierung 480 Milliarden Euro an Steuergeldern zur Verfügung,31 also durchschnittlich 6.000 Euro von jedem Bundesbürger, egal ob Säugling oder Greis. Wie viel davon tatsächlich abgerufen wurde, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall handelt es sich um eine gewaltige Umverteilung von Geld der Bevölkerung hin zu den Banken und ihren Besitzern.
Eigentlich sollte man in einer Demokratie erwarten, dass das Parlament und damit auch die Bürger über die Verwendung solcher Summen Bescheid wissen. Die 480 Milliarden für die Bankenrettung waren damals immerhin fast das Doppelte des Bundeshaushalts. Trotzdem bleibt vieles im Dunklen. Der Bundestag beschloss nämlich, das Geld dem staatlichen „Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung“ SoFFin zu übertragen, der als „Sondervermögen“ des Bundes nicht den üblichen Haushaltsregeln unterlag.32 Welche Banken wie viel Geld erhielten, entschied allein der SoFFin. Nicht einmal die Mitglieder des Haushaltsausschusses im Bundestag hatten irgendwelche Mitspracherechte. Sie erfuhren zwar, welche Bank wann wie viel Geld bekam, waren aber zum Stillschweigen über alles verpflichtet, was sie gesehen und gehört hatten. Eine demokratische Kontrolle war damit nicht möglich – obwohl doch gerade das Haushaltsrecht oft als das „Königsrecht“ des Parlaments bezeichnet wird.
Nicht nur in Deutschland musste der Steuerzahler für die Bankenrettung aufkommen: Im Oktober 2008 genehmigte das Repräsentantenhaus der USA ein Rettungspaket von 700 Milliarden Dollar; im selben Monat stellte Großbritannien 500 Milliarden Pfund zur Verfügung, und schon ein Jahr zuvor hatte die EZB mehr als 200 Milliarden Euro bereitgestellt.33 Auch andere Länder wie die Schweiz mussten kräftig zahlen.
Für die Bevölkerung war die Bankenkrise verheerend. Die Finanzierungsgesellschaften, an die die Kreditforderungen weiterverkauft worden waren, pfändeten die zahlungsunfähigen Hausbesitzer gnadenlos. Dadurch verloren in den USA seit 2007 rund 10 Millionen Menschen ihre Häuser.34 Weltweit gingen in den Jahren 2008 und 2009 fast 34 Millionen Arbeitsplätze verloren,35 und der Handel brach um 12 Prozent ein.36 Der DAX stand Anfang 2008 noch bei 8.046 Punkten; am 6. März 2009 waren es nur noch 3.666 Punkte.37 Die deutschen Anleger verloren innerhalb kurzer Zeit 140 Milliarden Euro.38
Die Profiteure der Krise
Bevor die Banken gerettet werden mussten, machten sie mit ihren dubiosen „Finanzinstrumenten“, unter anderem mit Schrottpapieren und dem Verkauf von faulen Krediten (ABS), enorme Gewinne. Als sie durch diese Geschäfte in Schwierigkeiten gerieten, musste dann aber der Staat mit unseren Steuergeldern helfen. Die Gewinne waren nämlich zu diesem Zeitpunkt bereits an die Manager und die Aktionäre der Banken ausbezahlt, und niemand kam auf die Idee, wenigstens die Manager haftbar zu machen. Zwar war nicht alles Geld für die Bankenrettung verloren; immerhin bekam der Staat in einigen Fällen Anteile an den geretteten Banken, und in anderen wurden stattliche Beträge zurückbezahlt, als die Banken wieder Gewinn machten. Trotzdem gilt auch hier das Prinzip, dass die Gewinne der Banken privatisiert werden, für ihre Verluste aber zumindest teilweise die Steuerzahler, also wir alle, aufkommen müssen.
Noch skandalöser wird die Bankenrettung, wenn man sich die Gehälter und Boni der beteiligten Manager anschaut, die sie auch dann noch erhielten, nachdem sie ihre Bank in den Ruin getrieben hatten. Hier nur einige Beispiele:39 Stefan Ortseifen brachte als Chef der „IKB Deutsche Industriebank AG“ diese 2007 in den Konkurs. Noch ein Jahr zuvor erhielt er 1 Million Euro Jahresbonus zusätzlich zu seinem Gehalt. Kurze Zeit später ermittelte der Staatsanwalt gegen ihn wegen Untreue und wegen des Verstoßes gegen das Wertpapierhandelsgesetz. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe und zu 100.000 Euro Strafe verurteilt40. Letztere konnte er bequem aus seinen Boni bezahlen. HRE-Vorstandsvorsitzender Georg Funke, der seine Bank ebenfalls an die Wand gefahren hat, verdiente 2007 1,9 Millionen Euro – offenbar zahlt es sich aus, wenn man eine Bank in den Bankrott führt. Deutsche-Bank-Chef Ackermann verdiente im Jahr 2008 zwar nur 1,4 Millionen Euro, dafür erhielt er aber im Jahr darauf ein Gehalt von 1,3 Millionen, zusammen mit den Boni waren es fast 9,6 Millionen. Dabei musste die Deutsche Bank allein im letzten Quartal 2008 einen Verlust von 4,8 Milliarden Euro verzeichnen.41
Auch in den anderen großen deutschen Banken wurde gut verdient. Trotzdem war das im Vergleich zu manchen amerikanischen Banken eher bescheiden: Im Jahr 2006 wurden an der Wall Street insgesamt 33,9 Milliarden Dollar nur an Boni ausbezahlt. Dabei sahen sich erfolglose Banker besonders belohnt: O’Neal, Chef der Investmentbank Merryl Lynch, wurde 2007 gefeuert und bekam eine Abfindung von 161,5 Millionen Dollar. Im Jahr zuvor hatte er „nur“ 48 Millionen Dollar verdient.42 Richard Fuld führte Lehman Brothers in den Konkurs; 2007, im Jahr zuvor, verdiente er noch 47,7 Millionen Dollar. Der bestbezahlte Banker des Jahres war aber Lloyd Blankfein. Er erhielt 2007 bei Goldman Sachs 68 Millionen Dollar, und im Krisenjahr 2008 waren es immer noch 40,95 Millionen. Natürlich lässt sich noch mehr verdienen, wenn man selbst Finanzunternehmer ist. Stephen Schwarzman gründete zusammen mit G. Peterson die Investmentfirma Blackstone und nahm 2008 etwa 702 Millionen Dollar ein.
Bei diesen Zahlen darf man nicht vergessen, dass 2008 sehr viele Kleinanleger ihr Geld verloren haben – nicht nur durch die Pleite von Lehman Brothers, sondern auch durch Finanzinstrumente, die sich letztlich für sie als wertlos erwiesen. Außerdem flossen viele Milliarden an Steuergeldern in die Bankenrettung. Gerade in diesem Jahr haben aber einige wenige Personen ungeheuer viel Geld verdient.
Es wäre nicht wert, das alles aufzuschreiben, wenn der Verdienst dieser Manager inzwischen auf ein vernünftiges Maß beschränkt worden wäre. Dass es nicht so weit kommt und das kranke Bankensystem so bleibt, wie es ist, dafür sorgen allerdings schon die Lobbyisten. Der Kreislauf funktioniert nach wie vor: Erfolgreiche Banker werden im „Nebenberuf“ Professoren an angesehenen Universitäten oder halten zumindest Vorlesungen. Sie bringen den Studenten bei, dass das jetzige System das einzig richtige sei. Die Verantwortlichen in den Regierungen sind aber gerade die guten Absolventen solcher Universitäten, die also den Unterricht erfolgreicher Manager besonders verinnerlicht haben. Außerdem spenden die großen Finanzinstitute großzügig an die Universitäten, die wegen der mangelhaften Finanzierung durch den Staat auf diese Gelder angewiesen sind. Noch wichtiger ist, dass Spenden und Sponsoring-Gelder direkt an die politischen Parteien fließen. (Eine Ausnahme ist die Ökologisch-Demokratische Partei ÖDP, die seit Beginn ihres Bestehens ein Verbot von Spenden und Sponsoring in ihrer Finanzordnung bzw. im Programm festgeschrieben hat). Deshalb wird sich nur etwas ändern, wenn keine Partei mehr Gelder von Firmen annehmen darf oder wenn die etablierten Parteien abgewählt werden.
Am dreistesten aber war die schwarz-rote Bundesregierung, als sie Gesetze zur Regulierung des Finanzmarkts von einer Anwaltskanzlei formulieren ließ, die vor allem für Geldinstitute arbeitete. Es ist zwar normal, dass man bei der Ausarbeitung eines Gesetzes alle betroffenen Seiten hört. Aber die Formulierung von Gesetzen muss auf jeden Fall in den Ministerien oder in den Fraktionen des Bundestags geschehen, sind sie doch allen Bürgern und nicht nur einer Interessengruppe verpflichtet. Von einer Kanzlei, die von ihren Mandanten, hier aus der Finanzwirtschaft, abhängt, kann man nicht erwarten, dass sie die dringend nötigen Reformen einführt, um dem Treiben der Finanzinstitute Grenzen zu setzen. Die Bundesregierung hat aber in der Finanzkrise das „Finanzmarktstabilisierungsgesetz“ auf den Weg gebracht, das komplett von der Frankfurter Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer ausgearbeitet wurde. Der „Focus“ schreibt dazu: „Zwar betont Steinbrück [Anm.: der damalige Finanzminister], seine Leute hätten die Formulierungshilfen der Anwälte gecheckt. Tatsächlich aber erhielten die Mitglieder der Bundesregierung sowie die Spitzen der Koalition im Oktober 2008 aus dem Finanzministerium einen Entwurf für die Rechtsverordnung zur Bankenrettung, an dem zuletzt die Freshfields-Anwälte Gunnar Schuster und Alexander Glos gearbeitet hatten. Letzterer ist ein Sohn des damaligen Bundeswirtschaftsministers Michael Glos (CSU). Bis zur Verabschiedung der Eilverordnung am darauffolgenden Montag um 8.30 Uhr wurde – von wem auch immer – nur noch sehr wenig geändert.“43 Auch an zwei weiteren Gesetzen, die bestimmt nicht zum Nachteil der Finanzwelt abgefasst waren, war die Kanzlei Freshfields beteiligt44. Diesen fremden Sachverstand ließ sich das Ministerium im Jahr 2008 immerhin fast 1,8 Millionen Euro kosten, obwohl die Juristen im Finanzministerium sicher in der Lage gewesen wären, selbst einen Entwurf für diese Gesetze auszuarbeiten. Dazu sagte Linke-Chef Bernd Riexinger später der Mitteldeutschen Zeitung: „Stattdessen geht man ausgerechnet zu Bankenlobbyisten, um sich ein Bankenrettungsgesetz schreiben zu lassen. Das riecht bestenfalls nach Verschwendung von Steuergeld und schlimmstenfalls nach Betrug.“45 So wundert es niemanden, dass die Finanzkrise Deutschland derart heftig getroffen hat; schließlich hatten seit mehr als zehn Jahren alle Bundesregierungen nach der Pfeife der immer gierigeren Banken getanzt, die ihr Risiko zum guten Teil auf den Steuerzahler abwälzen konnten.
Goldman Sachs
Wer extrem viel Geld hat, will meistens auch politische Macht. Heute beherrschen einige wenige Finanzimperien große und kleine Staaten. Dabei soll keineswegs abgestritten werden, dass diese Gruppen manchmal von einem aggressiven Nationalismus geprägt sind, wie später noch gezeigt wird. Meist genügt es den Finanzinstituten, wenn sie die Wirtschaft, insbesondere die Finanzwirtschaft, die Medien und weitgehend auch die Außenpolitik in ihrem Sinn beeinflussen – so, wie das früher bei vielen Kolonialmächten der Fall war. Mit der Finanzpolitik werden natürlich auch die Rahmenbedingungen für das Sozialwesen und die Umweltgesetze festgelegt.
Ein Beispiel dafür ist die US-amerikanische Finanzgruppe Goldman Sachs46. Mit einem Vermögen von 700 Milliarden Euro47 tätigt sie nicht nur Geschäfte unvorstellbaren Ausmaßes, sondern platziert auch ganz offen ihre Leute an die Schaltstellen der Politik48. Sie war es, die wesentlich zur Krise von Griechenland beigetragen hat, indem sie die Schulden dieses Landes bei der Einführung des Euro durch Tricks verschleierte.49 So ist Griechenland heute Mitglied der Eurozone, obwohl es die Euro-Kriterien nie erfüllt hat. Insofern ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Loukas Papadimos als Finanzfachmann und „Retter aus der Not“ im November 2011 zum griechischen Ministerpräsidenten berufen wurde. Er war von 1994 bis 2002 Chef der griechischen Zentralbank und hat zusammen mit Goldman Sachs die Verschleierung des griechischen Haushaltsdefizits zu verantworten. Als Ministerpräsident verordnete er seinem Land einen brutalen Sparkurs, um die angehobenen Zinsen für die Staatsschulden aufzubringen und damit die Banken zu bedienen. Und Mario Monti, der am 14. November 2011 Italiens Regierungschef wurde, war „Internationaler Berater“ von Goldman Sachs. Weder Papadimos noch Monti hatten sich zuvor als Spitzenkandidaten einer Partei allgemeinen Wahlen gestellt.50 Wen wundert es da noch, dass auch Mario Draghi, seit dem 1. November 2011 Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), ebenfalls eine hohe Position bei Goldman Sachs innehatte: Von 2002 bis 2005 war er Vizepräsident dieser Firma in London, und seine Abteilung hatte die Jahre zuvor Griechenland geholfen, bei der Einführung des Euro die Staatsschulden zu verschleiern51. Unter Draghis Leitung kündigte die EZB dann auch an, entgegen ihren Statuten faule Kredite gefährdeter Eurostaaten in unbegrenzter Menge aufzukaufen.52 Die Gelder, die die EZB dafür zahlt, gehen direkt an Goldman Sachs und die anderen Banken, die die Kredite vorher erworben haben. Das zeigt, wie stark Goldman Sachs in die Eurokrise verwickelt ist und wie dabei Verträge und elementare demokratische Regeln missachtet werden.
Mit seiner Niedrigzinspolitik erreicht Draghi zwar, dass die europäischen Staaten weiterhin die Verbindlichkeiten für ihre Verschuldungen zahlen können und damit nicht insolvent werden. Das würde nämlich die EZB in ernste Schwierigkeiten bringen, weil die an Länder in Zahlungsschwierigkeiten vergebenen faulen Kredite, die die EZB aufgekauft hat, dann endgültig verloren wären. Mit seiner Politik schafft Draghi aber auch eine neue Immobilienblase und verhindert gleichzeitig die längst überfälligen Reformen: Statt weiterhin auf Pump zu leben, müssten die Euroländer ihre Wirtschaft sanieren und ihren Haushalt in Ordnung bringen. Außerdem müssten die Regeln für die Banken so verschärft werden, dass die geschilderten Exzesse nicht mehr möglich sind. Aber all das ist nicht im Sinn von Goldman Sachs und den anderen Großbanken.
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