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Autoren: Jens Lossau und Jens Schumacher

Lektorat: Oliver Hoffmann

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

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© Feder&Schwert 2016

E-Book-Ausgabe 2016

ISBN 978-3-86762-270-7

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-269-1

Der Elbenschlächter ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH 2016.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

„Die Lust ist eine Art Vollendung des Wirkens.“

– Thomas von Aquin,

Summe gegen die Heiden

Prolog

Statt Ekstase kam Zerstörung.

Seit mehr als einer Stunde beobachtete Waiko schon die Yrithisfalter, die um die einzige Gaslaterne an der brüchigen, mit verfaultem braunem Moos überzogenen Hausfassade schwirrten und die Luft mit dem leisen Summen ihrer zerbrechlichen Flügel schwängerten. Die Laterne sonderte einen gelblich-grünen Schimmer ab, den der wallende Nebel sofort verschluckte. Waiko hatte sich die Zeit damit vertrieben, die dunkelblauen Nachtfalter zu zählen, aber es waren bald zu viele geworden, und sie flatterten zu hektisch, sodass er die Übersicht verloren hatte. Er ließ seinen Blick über das feuchte Kopfsteinpflaster gleiten. Am Straßenrand lag eine tote Ratte von der Größe eines jungen Ferkels, daneben zerbrochene grüne Flaschen und schmieriger Unrat, dessen Ursprung nicht mehr zu erkennen war.

Der Nebel fraß nicht nur das grünliche Licht, jenes ungesunde Leuchten, das an tote Orkhaut erinnerte, die man ihrem Besitzer schon vor langer Zeit abgezogen hatte. Der wallende weiße Dunst fraß auch die Geräusche.

Normalerweise herrschte zu dieser nächtlichen Stunde in Foggats Pfuhl klammheimliche, für Eingeweihte jedoch deutlich spürbare Unruhe. Versteckte Bewegungen überall, die Ahnung illegaler Geschäfte, zwielichtiger Dienstleistungen, Schatten in den Schatten.

Nicht so in dieser Nacht. Keine Droschken, keine Vulwoogs, keine Passanten. Keine Kunden. Nur die dunkelblauen Yrithisfalter. Waiko, dessen spitze Elbenohren das Einzige an ihm waren, was seiner Zugehörigkeit zu einer einstmals edlen Rasse noch Tribut zollte, hörte, wie die Flügel der Nachtinsekten an das Glas der Laterne schlugen, in der die Gasflamme flackerte.

Keine verlorenen Seelen auf der Suche nach nächtlichem Trost.

Verfluchte Kälte, bei Yremio! Waiko zog die Nase hoch und rieb die Hände aneinander.

Das Viertel, seit Jahrhunderten im allgemeinen Sprachgebrauch als der Pfuhl bekannt, war das dunkelste und schmutzigste von ganz Nophelet, der „Sternförmigen“. Waiko hatte sich mit diesem Bild nie anfreunden können. In seinen Augen ähnelte die Hauptstadt Sdooms eher einem gewaltigen, unförmigen Kraken mit unzähligen Armen. Einer dieser Arme, weit in den Süden hinabreichend, war Foggats Pfuhl.

Im Grunde handelte es sich um kaum mehr als eine einzige lange Straße. Hunderte Schenken, Bordelle und ähnliche Etablissements, dazu etliche Seitengässchen, in denen sich Schatten mit Schatten paarten und niemand sah, wenn schwarzes Blut in den Rinnstein floss, bildeten ein niemals schlafendes Biotop für Vergnügungssüchtige, Zuhälter, Betrüger und Halsabschneider. Hier trafen sie sich zum Hehlen, Huren, Schachern, Stehlen und Töten, ein Zustand nächtlicher Anarchie, der von der Obrigkeit stillschweigend hingenommen wurde. Warum hätte man auch etwas dagegen unternehmen sollen? Wer so dumm, unvorsichtig oder waghalsig war, seinen Fuß in dieses Viertel zu setzen, der wusste genau, worauf er sich einließ, wusste, dass in den unzähligen, winzigen Gässchen abseits der Hauptstraße, dem eigentlichen Pfuhl, der Abgrund und die Verwerflichkeit regierten und der Tod.

Der Tod hatte hier viele hässliche Gesichter. Besonders in letzter Zeit war er kreativ und brutal. Das wusste Waiko. Er betrachtete die Yrithisfalter in der fast vollkommenen Stille. Vergeblich versuchte er, seine besorgten Gedanken zu unterdrücken, doch sie kehrten immer zu den schrecklichen Ereignissen der letzten beiden Zenite zurück, und Angst breitete sich in ihm aus, erzeugte einen bitteren Geschmack nach Mandelöl auf seiner Zunge. Angst war ein Geschwür, das nicht einmal die besten Thaumaturgen Nophelets zu heilen verstanden.

Natürlich wusste er um das Schicksal der vier. Jeder Lustknabe im Pfuhl wusste davon. Waiko hatte keines der Opfer persönlich gekannt, aber das machte die Angelegenheit nicht weniger real. Im Gegenteil! Er wusste, was es hieß, um diese Zeit unter einer Gaslaterne an einem leer stehenden, seines baldigen Einsturzes harrenden Haus zu stehen und auf Freier zu warten. Er kannte die Hoffnung, die Nacht um ein paar Kaunaps reicher hinter sich zu lassen, nachdem er im Gegenzug die Lust zahlungswilliger Besucher durch seine flinken Finger hatte gleiten lassen, bis die Schattengestalten ächzten vor Ekstase.

Unzählige Nächte hatte er damit zugebracht. Normalerweise dachte er nicht darüber nach. Er hütete sich davor zu reflektieren. Anfangs, vor einer gefühlten Ewigkeit, hatte er sich vor Trollen und Vampyren im Pfuhl gefürchtet, Kreaturen, die möglicherweise mehr Interesse an seinem Leben als an seinem Körper hegen könnten. Doch es waren stets nur Menschen zu ihm gekommen. Menschen, die nach Alkohol, Verbrechen und Scheitern stanken. Waiko kannte diesen Geruch nur zu gut.

Er sah erneut zu der toten Ratte am Straßenrand und überlegte, ob er lieber einen anderen Standort aufsuchen sollte, vielleicht auf der breiten Hauptstraße. Aber dort war die Konkurrenz zu groß.

Elbische Lustknaben waren erst vor wenigen Jahren in Mode gekommen. Was genau dazu geführt hatte, wusste Waiko nicht, aber es hatte fraglos mit dem unaufhaltsamen sozialen Abstieg zu tun, dem sein Volk seit über einem Zyklus unterworfen war. Nachdem sie all ihre Ländereien und Standesprivilegien verloren hatten, waren letztlich auch seine Brüder und Schwestern darauf angewiesen, sich ihren Lebensunterhalt mit eigenen Händen zu verdienen. Oder mit eigenen Mündern. Oder was ihre Freier sonst verlangten.

Und die Freier, sie kamen! Die unübersehbaren Relikte der einstigen elbischen Grazie, ihrer in unzähligen Liedern und Gedichten gerühmten Schönheit, Anmut und Eleganz waren exakt das, was die einsamen Schattenmenschen begehrten.

In dieser Nacht schrie niemand in Foggats Pfuhl. Jedenfalls nicht vor Ekstase.

Waikos erster Freier, rund fünf Jahre zuvor, war ein schweigsamer Mann mit rotem Haar und blasser Haut gewesen, ungesund und alkoholkrank, aber reich, dessen Atem nach einem tiefen Teich und dem allgegenwärtigen Müll des Pfuhls gestunken hatte und dessen Samen aggressiv, wie etwas Lebendiges, durch seine Elbenmundhöhle bis in seine Nase geschossen war. Waiko hatte sich in dieser Nacht schmutzig und minderwertig gefühlt. Das kranke, grüne Gaslicht hatte ihn verspottet, ihn ausgelacht: Sieh dich an, armseliger Vertreter einer einstmals edlen Rasse! Was ist von euch übrig geblieben außer eurem blonden Haar, den dünnen Schnurrbärten und den spitzen Ohren? Ihr, die ihr einst durch Wälder rittet und die hektischen Städte mit ihren stinkenden Bewohnern miedet, seid blasse Kakerlaken geworden, die in Selbstmitleid versinken und doch nicht sterben können, jedenfalls nicht so rasch, wie ihr es euch wünscht. Nie wieder wird es sein, wie es einst war!

Doch die Kaunaps entschädigten ihn. Es war viele Dekaden her, dass die Elben die letzten Reste ihrer inneren Stärke verloren und ihre Weisheit über Bord geworfen hatten, dass sie in die Städte gezogen und ein unbedeutendes Rädchen in einer kalten, alles verschlingenden Maschinerie geworden waren. Die deprimierende Perspektivlosigkeit ihrer Situation schien sich sogar auf ihren Nachwuchs auszuwirken. Immer weniger Versierte waren unter den neugeborenen Elben Sdooms. Auch Waiko hatte an sich nie Anzeichen für eine thaumaturgische Begabung bemerkt.

Er dachte noch immer über die vier nach, als ein Geräusch aus dem dichter werdenden Nebel unmittelbar vor ihm erklang.

Hätte er gewusst, was sich ihm da näherte, er wäre gewiss gerannt. Und Waiko konnte schnell rennen, sehr schnell.

Es war, als materialisiere sich der prächtige Vulwoog direkt vor seinen Augen aus dem Nichts. Das Stöhnen und Ächzen aus seinem Dampfkessel klang wie ein unheilvolles Wehklagen, erfüllte von einem auf den anderen Augenblick die stille Nacht. Weißgrauer Dampf vermischte sich mit Nebel. Die dunkelblauen Yrithisfalter stürzten sich sogleich auf die hinter Glasscheiben flackernden Öllampen des Gefährts.

Waiko spürte, wie sein Herz von innen gegen seinen Brustkorb hämmerte. Es war nicht das erste Mal, dass ihm in Foggats Pfuhl ein Vulwoog begegnete, aber noch nie war ein solches Gefährt derart plötzlich, wie ein keuchender Drache, vor ihm aufgetaucht, ein Drache, in dessen Rücken Röhren und Ventile steckten und aus dessen Gedärmen Fahrgäste durch ockerfarben getönte Fenster in die vorbeiziehende Nacht gafften.

Die Häuser in Foggats Pfuhl, so sagte man, flüsterten stetig miteinander, und so manches geflüsterte Wort hatte in jüngster Vergangenheit auch Waikos spitze Elbenohren erreicht.

Man sagte, dass den vieren das Schlimmste auf unbeschreibliche Weise widerfahren sei. Niemand wusste Genaueres, nur dass die Jungen auf bestialische Art und Weise zu Tode gebracht worden waren. Etwas Abnormes sei mit den Körpern geschehen, ein Zusammenspiel aus verbotener Thaumaturgie und unaussprechlicher Perversion.

Seitdem herrschte unter den Lustknaben im Pfuhl eine gewisse Paranoia. Aber paranoid waren die Elben auf Nophelets dunkler Meile nicht erst seit den aktuellen Ereignissen, und es widersprach Waikos pragmatischer Art, sich in etwas hineinzusteigern. Wenn es um Kaunaps ging, war er gut im Verdrängen.

Warum aber schlug ihm das Herz jetzt so fest gegen die Rippen?

Waiko schluckte und blickte in die hellen Lampen des ächzenden Vulwoogs.

Ganz ruhig, dachte er. Das hier ist ein Geschäft wie jedes andere. Du bist überreizt. Lass dich nicht vom Geschwätz der Narren verwirren.

Waiko war kein ängstlicher Typ. Richtig mutig war er allerdings auch nicht, bestenfalls tollkühn, wenn die Situation oder ein ausreichendes Entgelt es erforderten. Seine grazilen Beine, die man schon für wenige Kaunaps spreizen durfte, rannten schnell über das Kopfsteinpflaster von Foggats Pfuhl, wenn es die Umstände nötig machten.

Dennoch …

Die Tür des Vulwoogs öffnete sich, ein Schatten floss heraus. Ein Mann in einem dunklen Mantel, in den Schwaden aus Nebel und Vulwoogdampf nur verschwommen zu erkennen. Er schien etwas in Händen zu halten, möglicherweise eine schwarze Tasche. Waiko konnte es nicht genau erkennen.

Der Schatten hob einen Arm.

Waiko schluckte abermals. Verdammt, er musste sich jetzt zusammenreißen. Er brauchte die Kaunaps! Beim alten Pakko, der ihm eine enge, schäbige Kammer seines nicht minder engen, schäbigen Hauses vermietet hatte, stand er übel in der Kreide, und Pakko war niemand, der einen mit dem Mietzins im Rückstand befindlichen Elb lange körperlich unversehrt ließ. Waiko hätte ihm die Miete durchaus mit seinen lustspendenden Fertigkeiten vergolten, wie es viele seiner Bekannten im Pfuhl bei ihren Vermietern taten. Doch Pakkos Potenz hatte sich, ebenso wie sein Humor und sein Mitgefühl, schon vor einer Ewigkeit verabschiedet. Zurückgeblieben war ein bösartiges, triebloses Neutrum, gierig und erbarmungslos.

Routine, dachte Waiko. Du nennst deinen Preis, kassierst die Kaunaps im Vorfeld, erledigst deinen Job, und das war’s. Die Nacht ist noch jung. Wer weiß, vielleicht erwischst du noch zwei weitere Kunden, dann wäre die Miete beisammen. Oder möglicherweise reicht schon dieser eine hier. Männer in Vulwoogs sind spendabel.

Waiko riskierte einen Blick in Richtung der Fahrerkabine und versuchte, hinter den ockerfarbenen Fenstern den Chauffeur des Vulwoogs ausfindig zu machen. Aber das fahle, kranke Orklicht spiegelte sich in den Scheiben, er konnte nichts erkennen.

Der Mann (der potenzielle Kunde, dachte Waiko) ließ den Arm sinken und trat einen weiteren Schritt vor, wobei seine Hand unter dem weiten Mantel verschwand. Dann grüßte er Waiko mit einer warmen, festen Stimme, wobei er leicht stockte, so als hätte er gerade etwas gegessen und noch Fleisch zwischen den Zähnen.

Der Fremde kam näher.

Waiko erkannte, dass der Mann keinen Mantel trug, wie er zunächst angenommen hatte. Es war ein Cape, ein wallender Überwurf, der jetzt von einem plötzlichen Windstoß aufgebauscht wurde.

Noch immer konnte er kein Gesicht erkennen. Aber irgendwie wusste Waiko, dass der Mann, der sich ihm näherte, grinste.

Seine Muskeln spannten sich. Innerhalb weniger Sekunden konnte er zwei Straßen weit entfernt sein, wo es mehr Licht gab, und …

„Eine wundervolle Nacht, nicht wahr?“, sagte der Fremde leise.

Einen Moment lang lieferten sich in Waiko Instinkt und Geldgier ein Duell. Er öffnete den Mund, atmete die feuchte Nacht, die nach Salzlake und Brackwasser schmeckte.

„In der Tat“, erwiderte er. „Eine wundervolle Nacht.“

Erst mal Konversation machen. Die Kontrolle behalten. Kontrolle und Übersicht, das war in seinem Gewerbe die halbe Miete.

„Eine Nacht für etwas Großes.“ Der Fremde bewegte sich.

Ein plötzlicher Schmerz in Waikos Brust, tief.

Dann ging das Licht aus.

Der Nebel war durch Waikos spitze Ohren in sein Gehirn gedrungen und hatte sich seiner grauen Zellen bemächtigt. Sämtliche Empfindungen schienen wie in Watte gepackt. Einen Moment lang befand der Rest von Waikos Persönlichkeit, dass ihn dies beunruhigen müsste, doch dann kam der Schmerz, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als in den Zustand tauber Ohnmacht zurückkehren zu können.

Einst, so hieß es, waren Elben die empfindsamsten Geschöpfe von ganz Lorgonia gewesen, hatten für Menschen unfühlbare Schwingungen wahrnehmen können, sensibler noch als Vampyre in der Nacht. Waiko hatte sich nie für sonderlich empfindsam gehalten, manchmal hatte er sich deswegen nicht einmal richtig dem elbischen Blut zugehörig gefühlt.

Als hinter der Wand aus Nebel die unsägliche Pein aufkochte und wie ein loderndes Feuer durch seine Brust raste, ahnte er jedoch, dass diese Qual für ihn weitaus unerträglicher und grausamer war, als es einem gewöhnlichen Menschen beschieden gewesen wäre.

Er zwang seine verklebten Augenlider auseinander. Er lag auf dem feuchten Kopfsteinpflaster, das Gesicht dicht neben der toten Ratte. Über ihm ragten die Schatten der baufälligen Häuser in die Höhe, schräg, schäbig und marode wie Zahnstümpfe im Maul eines greisen Bettlers. Irgendwo keuchte der Vulwoog. Waiko versuchte, einen Arm zu heben, die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen. Die unfassbaren Schmerzen im Brustkorb raubten ihm die Luft zum Atmen. Es fühlte sich an, als habe etwas die Muskulatur zwischen den Rippenbögen durchstoßen und bohre, taste sich nun durch das weiche, empfindliche Innerste seines Leibes.

Was war geschehen? Der Schattenmann hatte sich auf ihn zubewegt. Dann hatte ihn ein Gewicht getroffen, ein Gewicht, nicht von außen, sondern von innen, etwas Schweres, Unsichtbares hatte sein Elbenherz berührt und zum Stocken gebracht …

Verbotene Thaumaturgie und unaussprechliche Perversion, flüsterte es in seinem bebenden Verstand.

Die verbotene Thaumaturgie spürte er bereits.

Jetzt kam die Perversion.

Der Mann aus dem Vulwoog ragte wie ein finsteres Mahnmal vor ihm auf. Waiko vernahm ein Schaben wie von Metall auf bloßliegendem Bein, als etwas zwischen seinen Ripnen hindurch in seine Brust fuhr, tiefer und immer tiefer. Ein Geräusch, als zerquetsche man eine überreife Tomate mit der Hand. Der Schmerz formierte sich zu einer massiven Mauer, einer Mauer, an der sein Verstand zu zerschellen drohte wie ein außer Kontrolle geratener Vulwoog, der führerlos gegen ein Bergmassiv kracht.

Ein gespenstisch weißes Gesicht schob sich in sein Sichtfeld.

„Ihr Monopol wird fallen“, flüsterte der Mann mit dem Umhang jemandem zu, der sich außerhalb von Waikos Gesichtsfeld zu befinden schien. Dann verschwand er zwischen seinen Beinen.

Sekunden später explodierte etwas Bestialisches zwischen seinen Schenkeln. Ein Schmerz, durchdringender und verzehrender als alles, was Waiko je gekannt hatte, ballte sich in seinem Schritt zusammen, schoss durch seine Adern, überflutete seinen Magen, erreichte seine Brust, wo sein Herz aufgab und vor der alles verzehrenden Qual kapitulierte.

Aber der Schmerz starb nicht. Im Gegenteil, er jagte auf einem Hitzefloß weiter stromaufwärts, brüllte in seinem Kopf. Seine Augen traten aus den Höhlen. Waiko versuchte zu schreien, doch noch während die brackige Luft von Foggats Pfuhl in seine kollabierenden Lungen strömte, wusste er, dass dieser Schmerz das Letzte war, was er in seinem erbärmlichen Leben empfinden würde. Ein einziger Trost blieb ihm auf dem Höhepunkt der Pein: die Gewissheit, dass sein Gehirn und damit all seine Empfindungen in wenigen Sekundenbruchteilen ein für alle Mal aussetzen würden. Er würde die furchtbare, verzehrende Hitze in seinen sterblichen Überresten hinter sich lassen, weit hinter sich, bald, bald wäre es vorbei, bald …

Es war nicht bald vorbei.

Sink

– 1 –

Es war noch früh am Morgen, zumindest aus Sicht eines frisch rasierten Trolls, den der Durst auf die Straße getrieben hat.

Ohne Eile schlenderte Jorge die verschlafenen, nach verschüttetem Wein riechenden Straßen des Fassviertels entlang und pfiff ein Liedchen. Nur wenige Passanten kamen ihm entgegen, und die sahen kaum anders aus, als man es von Zechern nach einer langen Nacht erwartet hätte – verquollene Gesichter, blutunterlaufene Augen, die eine oder andere Gesichtsverletzung. Die meisten Fußgänger mieden seinen Blick, wechselten sogar die Straßenseite, sobald sie ihn sahen. Jedermann wusste, dass man einem Troll – insbesondere am Morgen – am besten aus dem Weg ging. Da halfen auch Jorges makellose Rasur, seine dezente Kleidung aus grobem schwarzem Leder, sein schlendernder Gang und das heitere Liedchen nichts. Ob Mensch, Elb oder Zwerg, man erkannte ihn. Jorge überragte alle anderen um mindestens drei Köpfe, ein vor Kraft strotzender Berg aus Muskeln, Fett und unkalkulierbaren Launen.

Das Fassviertel bestand fast ausschließlich aus Kneipen und Gaststätten. Anders als der Pfuhl bezog es seinen fragwürdigen Ruf allerdings nicht aus einem Übermaß an Kriminalität, sondern eher aus den häufigen Tumulten, die mit dem hemmungslosen Alkoholkonsum seiner Besucher einhergingen.

Jorges zielloser Blick fiel auf ein dunkelbraunes Holzschild, das über dem Eingang einer Schenke baumelte. Ein lachendes Skelett mit einem Bierkrug war darauf abgebildet, darunter stand der Name des Ladens: Zum Entbeinten. Leise quietschten die Metallösen des Schildes im Wind, der noch die Alkoholfahnen aus unzähligen Kehlen vor sich hertrieb.

Jorge hatte die Nacht ebenfalls mit Trinken zugebracht, in seiner Stammkneipe Erlauchter Lurd am anderen Ende des Viertels. In den frühen Morgenstunden war er – wie üblich – besoffen wie ein Eber in sein Zimmer in der Zubergasse gewankt und nach Sekunden auf seiner Bettstatt in ein traumloses Koma gefallen.

Nach einem für Trollverhältnisse kurzen, aber erholsamen Schlaf hatte er sich am Morgen auseinandergerollt und die Reste eines gesottenen Krügerschweins vom Vortag vertilgt. Jorge liebte Krügerschweine, er verspeiste jeden Zenit mindestens acht Stück, mit Schwanz und Schnauze. Im Anschluss an dieses deftig-köstliche Frühstück hatte er beschlossen, den Tag mit einem kleinen Verdauungsspaziergang zu begrüßen. Nach wenigen Schritten an der frischen Luft hatte er jedoch festgestellt, dass der Durst der vergangenen Nacht mit Verstärkung zurückgekehrt war, und seine Schritte hatten ihn unweigerlich erneut die Säufermeile entlanggeführt.

Von den nächtlichen Erlebnissen waren in seinem Gehirn nur noch verschwommene Eindrücke vorhanden. Es hatte da wohl einen Konflikt gegeben, der etwas mit seiner Definition von Betrug beim Kartenspiel zu tun hatte. Oder so ähnlich. Jorge konnte sich nicht an die Einzelheiten erinnern, schließlich hatte es wichtigere Dinge gegeben, mit denen er sich beschäftigen musste. Seine rechte Hand tat weh. Die fremden Blutspritzer und der abgebrochene Schneidezahn von Wem-auch-immer sahen auf seiner Lederkluft nicht gut aus.

Allem Anschein nach hatte er den Konflikt nachhaltig gelöst.

Jorge hörte auf zu pfeifen, legte den Kopf zurück und rülpste viehisch. Ein Geschmack nach halb verdautem Krügerschwein schoss in seinen Mund. Er zuckte die Achseln und stieß die angelehnte Tür des Entbeinten auf.

Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Das zurückliegende nächtliche Gelage hing wie ein stinkender Schleier in der Luft: kalter Rauch, verschüttetes Bier, Paraffin, Schwefel, Urin, Erbrochenes, ein leichter Eisengeruch und vergammeltes Holz. An den Wänden hingen Geweihe von Harschtipplern und Ewusrauden, die zu jagen schon seit Langem verboten war. (Interessanterweise bekam man im Entbeinten nach wie vor ein vorzügliches Ewusraudensteak, wenn man ausdrücklich danach fragte.) Bläulicher Dunst, der vergessen hatte, sich zu verziehen, schwebte bewegungslos in der Mitte des Raumes. Die Tische, auf denen Kerzen in einfachen Metallhaltern standen, waren frisch gesäubert. Sie glänzten noch feucht, man sah die Schlieren, die das Putztuch hinterlassen hatte. Zusammengekehrter Unrat türmte sich neben der Tür, Scherben, Essensreste, Zigarrenstumpen.

Jorge ließ seinen Blick fachmännisch über die Tische und die niedrige, dunkle Holzdecke zu den mit ehemals grünem Filz bedeckten Wänden schweifen, von dem vor lauter Brandlöchern kaum noch etwas übrig war. Tief sog er die Luft in seine Nüstern.

Im gesamten Raum gab es nur ein schmales Buntglasfenster auf der rechten Seite, durch das kaum Licht fiel. Der Tresen lag in trübem Dämmer. Unförmige Flaschen, die wie geschmolzen aussahen, reihten sich auf Regalen aneinander, gefüllt mit vielfarbigen Likören und selbst gebrannten Schnäpsen. Dazwischen verlor sich ein hellgelber Schrumpfkopf, vertrocknet und lächerlich. In seinen Augen steckten Korken.

Der Wirt stand hinter der Theke, ein kleiner, dicker Mann in brauner Kluft, mit grauen Koteletten und einer schwarzen, flachen Mütze auf dem Kopf. Er war gerade dabei, Gläser in einen Schrank mit Türen aus gelbem Butzenglas einzusortieren. Ohne aufzublicken, sagte er: „Wir haben geschlossen, kommen Sie am Abend wieder. Verdammtes Dreckspack!“

Jorge versuchte seit Jahren, einen Rat zu beherzigen, den ihm ein guter Freund, der zugleich sein Vorgesetzter war, einmal gegeben hatte. Er lautete: „Fang nach Möglichkeit keinen Streit an – aber beende ihn immer.“ Jorge, der ein Verfechter großzügiger Auslegungen war, hatte daraufhin vier goldene Regeln aufgestellt, wann er auf Diplomatie zur Beilegung eines Konflikts verzichten und guten Gewissens Kiefer zertrümmern durfte:

– Erstens: bei trollspezifischer Provokation

– Zweitens: bei jeglicher Art von Grenzüberschreitung, verbal oder körperlich

– Drittens: wenn sein Gegenüber beschissen aussah und/ oder sich so verhielt

– Viertens: wenn ihm der Sinn danach stand

Die Vergangenheit hatte ihn gelehrt, dass Regel Nummer vier am häufigsten zur Anwendung kam.

Niemand in Nophelet bezeichnete einen Troll ungestraft als „Verdammtes Dreckspack“!

Mit raschen Schritten durchquerte er die dämmrige Kneipe und baute sich vor dem Tresen auf. Erst jetzt sah der Wirt auf. Er musste den Kopf sehr hoch heben. Für einen Moment schien alles Blut aus seinem Gesicht zu weichen, als er die riesige Gestalt sah. Geistesabwesend putzte er das Glas fertig, das er in der Hand hielt, und stellte es in den Schrank. Seine Miene verfestigte sich, und er starrte Jorge herausfordernd an, so als könne er den Troll mit seinem hypnotischen Blick aus dem Laden fegen.

Noch verbreiteter als die Dummheit ist die Arroganz, sagte ein gewisser alter Freund und Vorgesetzter immer.

Jorge fuhr sich über das glatt rasierte Gesicht. Er enthaarte sich jeden Morgen an allen sichtbaren Stellen, auch auf der Stirn. Vor einigen Zeniten hatte er einmal gegen die strenge Auflage des IAIT verstoßen, nach der Trolle im öffentlichen Dienst ein möglichst menschenähnliches Erscheinungsbild zu pflegen hatten. Das hatte Ärger gegeben, und nur die Fürsprache seines langjährigen Kollegen hatte ihn vor einem Rausschmiss bewahrt. Seither vermied er solche ungewollten Provokationen.

Jorge legte einen Arm, so dick und muskulös wie anderer Leute Oberschenkel, auf den Tresen, öffnete die Pranke und deutete ein Winken an.

„Wir haben geschlossen“, stieß der Wirt zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Jorge grinste und entblößte Zähne, deren Größe und Form an Grabsteine erinnerten.

„Ich muss Sie wohl kaum auf die Schankverordnung aufmerksam machen?“ Der Wirt deutete auf ein halb von Tüchern verhängtes Schild an der grünen Wand. „Kein Ausschank oder sonstiger Betrieb vor der zwölften Mittagsstunde. Sie müssen wieder gehen, schnell.“

Jorge dachte nicht im Traum daran, wieder zu gehen, schon gar nicht schnell. Er hatte Brand, und der Tanz hatte gerade erst begonnen.

„Weißt du, Wirt“, sagte er, „wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Mir egal!“ Noch immer winkten seine Finger, und er zwang sie zum Stillstand. „Also, mein Lieber, Bier soll’s sein. Eines von diesen ganz großen. Weißt du, warum es Bier sein soll? Ganz einfach: Ich habe Durst. Entsetzlichen Durst. Warum tust du mir nicht einen Gefallen und machst mir gleich zwei Biere? Oder drei? Das wäre mal was! Ich hab’s: Mach drei Biere und dann noch vier Wurzelschnäpse, wo wir schon mal dabei sind, und zwar schnell, sonst fang ich an zu husten.“

Im Gesicht seines Gegenübers regte sich kein Muskel. „Nein“, sagte er gefährlich leise.

Die Dummen rannten gerne blind in ihr Verderben.

Jorge zog eine buschige Augenbraue hoch. „Weißt du, wir Trolle haben da noch ein Sprichwort, und es geht so: Doch.“

„Nein. Wir haben geschlossen, und die Schankverordnung besagt, dass …“

„Ich bin die Schankverordnung, lieber Freund“, behauptete Jorge. „Also, jetzt mal Spaß beiseite: Bier und Wurzelschnäpse bitte, ich habe Durst. Sag mal, wie heißt du eigentlich? Irgendwoher kenne ich dich doch?“

„Hören Sie, ich könnte Sie einfach …“

„Du bist doch der Dolder, oder? Vor lauter Freude darüber, dass ihm der Name des Trottels eingefallen war, stieß sich Jorge vom Tresen ab, brachte dabei zwei Barhocker zu Fall und schlug sich mit der Hand so fest gegen den Hinterkopf, dass sein langes Haar nach vorne flog. Es klang, als prügele jemand mit einem Hammer auf einen rohen Schinken ein. „Dolder, natürlich. Hab dich sofort beim Reinkommen erkannt. Der alte Dolder!“

Jetzt zitterten die Muskeln im Gesicht des Wirts, das Blut verabschiedete sich endgültig aus der oberen Körperregion und verschwand – irgendwohin.

„Sie … Sie kennen …? Woher kennen Sie mich?“

Jorge drehte eine Pirouette. Das bedeutete, er schleuderte seinen Leib einmal im Kreis herum, sodass die dunklen Bodendielen unter seinen Füßen ergeben ächzten. „Dolder, dacht ich’s mir doch. Jetzt aber mal wirklich Spaß beiseite, Dolder. Wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Spaß beiseite. Ich bin vom IAIT – hier, siehst du?“ Er streckte eine Pranke aus, als wollte er Dolder an der Gurgel packen. An seinem Ringfinger steckte der klobige Identifikationsring des Instituts. „Das kennst du, nicht wahr, Dolder? Ich meine, unsere Behörde? Ich bin übrigens einer der ranghöchsten Beamten dort. Jetzt sag bloß, du kennst das Institut für angewandte investigative Thaumaturgie nicht? Das IAIT? Ausgeschlossen! Du bist doch mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, erinnerst du dich? Wir hatten schon miteinander zu tun.“

Dolder schien plötzlich mit der Theke verwachsen zu sein. Seine Gesichtshaut ahmte täuschend echt die Maserung des Holzes nach. „Sie sind? Vom IAIT? Und Sie? Sie kennen? Mich? Und wollen jetzt? Bier? Und Schnaps?“

Jorge drehte den Kopf in Richtung des leeren, dämmrigen Schankraums, als hätte sich dort ein unsichtbares Publikum versammelt. „Eine Zigarre für den Mann, bei Batardos! Er hat’s kapiert. Ja, ich kenne dich, Dolder, sehr gut sogar.“ Tatsächlich war ihm lediglich der Name des Wirts wieder eingefallen, mehr wusste er nicht von ihm, aber die Masche zog immer. Schließlich hatte jeder irgendwelche Leichen im Keller. „Wie auch immer, Dolder, ich bin ein ganz hohes Tier beim IAIT, aber wenn du mich ‚Tier‘ nennen würdest, würde ich dir die Fresse polieren, jedoch, ich sehe, du bist klug, Dolder, du hältst dein Maul. Jetzt gib dieser Kehle Flüssigkeit, sonst kriege ich Komplexe.“

Der Wirt mit Namen Dolder fuhr sich mit der Hand unter die schwarze Mütze und kratzte sich am Haaransatz. Dann kehrte überraschenderweise sein Selbstvertrauen zurück. „Nun, werter Herr, wenn Sie vom IAIT sind, sollten gerade Sie mit der offiziellen Schankverordnung vertraut sein, und die besagt, dass ich Ihnen nichts ausschenken darf, selbst wenn ich es wollte. Es ist so, dass …“

„Ich habe es schon einmal gesagt, Dolder, aber vielleicht ist es dir in der Zwischenzeit entfallen: Ich bin die Schankverordnung. Ich bin der alleroberste Beamte beim IAIT. Weißt du, wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Halt jetzt die Klappe, ja? Weißt du eigentlich, wer vor dir steht? Ich war es, unter dessen Leitung seinerzeit der Aufstand der Zwerge in den Minen von Nékal-Rekák niedergeknüppelt wurde, die mit illegalen thaumaturgischen Mitteln Silber zu fördern versuchten. Höchste IAIT-Belobigung und der ganze Quatsch. Ich darf alles, Dolder, verstehst du meine Worte? Wir sprechen von dem Zwergenaufstand! Hast bestimmt in der Zeitung davon gelesen. Es gab viele rollende Zähne und geborstene Knochen, gingen alle auf mich, wenn du verstehst, was ich zart andeuten möchte. Also halt die Schnauze und schenk aus, sofort.“

Die Sache lief ein bisschen aus dem Ruder. Allmählich war Jorge richtig genervt. Das trockene Brennen in seiner Kehle wurde unerträglich.

„Sie können hier nicht einfach …“

„Ich kann. Denn weißt du, wer ich bin? Ich bin Jorge. Jorge der Erwischer!“ Jorge hatte sich den Titel im selben Moment ausgedacht, da er ihn ausgesprochen hatte, aber er fand, er klang verdammt gut.

Ein Schatten huschte über Dolders Gesicht. Auf seinen Zügen wurde aufkeimende Ehrfurcht von plötzlicher Erkenntnis beiseitegewischt. Er stützte sich mit den Armen auf dem Tresen ab und schob sein Gesicht nach vorn. „Jorge, der Erwischer, wie? Jetzt weiß ich endlich, woher ich Sie kenne. Sie waren vor zwei Zeniten schon mal hier!“

Jorge dachte kurz nach. Eine dumpfe Erinnerung begann in seinem Hinterkopf Form anzunehmen. „Hier?“ Er warf einen unsicheren Blick durch den Schankraum. „Nun, das kann schon sein, Dolder. Weißt du, Jorge der Erwischer kommt viel herum. Um zu erwischen! Durchaus möglich, dass …“

„Jorge der Erwischer schien mir damals ein weitaus weniger trinkfester und besonnener Troll zu sein, als er jetzt vorgibt. Ich erinnere mich, dass Sie es waren, der infolge eines Streits – es ging um eine Lappalie, einen harmloser Rempler – vor ziemlich genau zwei Zeniten meine halbe Einrichtung demoliert hat. Der Schaden belief sich auf fast hundert Silberkaunaps.“ Dolder verengte die Augen zu Schlitzen. „Doch, ich bin mir jetzt völlig sicher – Sie waren das. Blaak! Sie haben fünf meiner Stammgäste grundlos ins Klinikum geprügelt, sämtliche Tische und Stühle und den halben Tresen zerlegt!“

Jorge sah Dolder an. Konnte es sein, dass der Kerl recht hatte? „Wie auch immer“, sagte er diplomatisch und zuckte die Achseln. „Das war gestern, nicht heute. Wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Vergiss es. Kein Grund, einen Dürstenden vertrocknen zu lassen. Ich war in meinem Leben als Erwischer schon in beinahe jeder Schenke des Fassviertels, ziemlich sicher auch in dieser, und ich bin bekannt wie eine bunte Glophendogge. Wie gesagt, als oberster Beamter des IAIT kommt man viel herum und …“

„Verlassen Sie sofort mein Lokal. Ich setze sonst auf der Stelle einen Notwortwurf ab.“

Jorge spuckte auf den Boden. „Leck mich.“

„Ich warne Sie …“

Jorge trat einen Schritt zurück und strich sich das Haar aus dem Gesicht. War es denkbar, dass Dolder versiert war? Unsinn, einen Notwortwurf konnte quasi jeder absetzen, es gab thaumaturgische Apparate ausschließlich für diesen Zweck.

Jorge schnappte sich einen Barhocker und hob ihn in die Höhe, als besäße er kein Gewicht. „Immer diese unkooperativen Menschen, seufzte er. Du willst mich also warnen, Dolder? Du willst mich warnen? Jetzt warne ich dich mal – dich und deine Knochen. Und deine Zähne, die kullern nämlich gleich in deinen Arsch!“

Jorge presste die Beine des Hockers zusammen, der sich knirschend zusammenfaltete, als bestünde er aus Zahnstochern. Eines der langen, massiven Beine behielt er wie einen Knüppel in der Hand, den Rest ließ er polternd zu Boden fallen. „Du befindest dich auf einer Reise in Richtung Schmerz, bei Batardos. Einer Reise in Richtung Schmerz.“

„Sie können mir keine Angst …“

„Einer Reise in Richtung Schmerz.“

„Sie haben weder die Befugnis noch …“

„Richtung Schmerz!“

In diesem Moment wurde die Tür des Entbeinten von außen aufgestoßen, und ein junger Bursche mit halblangem braunem Haar und schlaksigen Gliedern erschien auf der Schwelle. Atemlos blickte er sich um. Als er Jorge sah, der mit erhobenem Stuhlbein vor dem Wirt stand, zögerte er. Dann, als würden Jorge und der Wirt lediglich Nettigkeiten austauschen, erschien ein erleichtertes Lächeln auf seinen jugendlichen Zügen, und er betrat den Schankraum.

„Bei Ubalthes!“, rief er. Seine Stimme klang hell und fröhlich. Er war fast noch ein Junge. „Da sind Sie ja, Agent Jorge! Gut, dass ich Sie endlich gefunden habe. Geheimrat K. meinte, falls der Wortwurf in Ihre Privatunterkunft in der Zubergasse Sie nicht erreicht, soll ich der Reihe nach alle Kneipen des Fassviertels abklappern. Himmel, ich bin seit einer Ewigkeit unterwegs!“

Der junge Bote trat neben Jorge, der ihn um vier Köpfe überragte, klopfte ihm auf die untere Hälfte seines breiten Rückens und setzte sich dann ganz in seiner Nähe an einen Tisch. „Ein Bier, bitte“, sagte er zu Dolder. „Himmel, hab ich einen Durst. Kein Wunder, bei der ganzen Rennerei.“

Jorges Arm mit dem Stuhlbein sank herab. Dolder sah aus, als hätte er in etwas Verfaultes gebissen. Ungläubig starrte er den Neuankömmling an. „Sagt mal, seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?“ Er brachte nur ein Flüstern zustande.

„Also, wer schickt dich?“ Jorges Stimme klang mit einem Mal ganz sanft. Junge Menschen waren ihm grundsätzlich lieber als ausgewachsene.

„Geheimrat K.“, sagte der Bursche. „Es scheint um etwas Wichtiges zu gehen. Der Geheimrat weiß schließlich, dass Sie um diese Zeit des Tages, äh … nun, noch nicht gerne behelligt werden.“

„Geheimrat K.?“, wiederholte Jorge verwirrt. „Ach so, du meinst das Maul! Hat es gesagt, was es will?“

„Nein, aber es muss wirklich dringend sein. Warum sollte er mir sonst den Auftrag erteilen, sämtliche Spelunken im Fassviertel abzuklappern? Er hat gesagt: Geh sofort los, Rusasus – das ist nämlich mein Name, Rusasus. Also, er hat gesagt: Rusasus, hier ein wichtiger Auftrag für dich, zieh los und schaff mir Agent Jorge her, so schnell es geht. Das hat er gesagt. Bin nur gerannt, der Auftrag war ja wichtig, da beeilt man sich besser. War in fast allen Kneipen des Viertels. Sind ja fast … wie viele Kneipen gibt es hier eigentlich? Ziemlich viele?“

„Sauviele“, bestätigte Jorge. Er blickte zu Dolder, der verloren hinter dem Tresen stand und ins Nichts starrte, wahrscheinlich auf der Suche nach dem Universum, wie er es bisher gekannt hatte.

„Ihr Stuhl ist ja kaputt“, sagte Rusasus und deutete auf die Überreste des Hockers in Jorges Hand.

„Wie? Ach so, ja. Schlechte Qualität, mein Junge.“ Er schleuderte das Stuhlbein quer durch den Schankraum. Es prallte gegen die grüne, brandlöchrige Filzwand und brach in der Mitte entzwei. „Na, dann wollen wir das gute, alte Maul mal lieber nicht warten lassen, was? Weißt du, wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Auf geht’s!“

„Danke, ich bleibe noch einen Moment. Gönne mir ein Bierchen, hab ich mir verdient.“

Jorge legte dem Jungen eine Pranke auf die Schulter. „Zweifelsohne hast du das, mein Sohn. Dolder? Einen Humpen Bier für meinen Freund, und zwar schnell!“

Damit drehte Jorge der Erwischer sich um und verließ den Entbeinten.