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Das Eingangszitat stammt aus
The Perks of Being a Wallflower von Stephen Chbosky
Mit freundlicher Genehmigung von
MTV/Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc.
Copyright © 1999 by Stephen Chbosky
© 2016 CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg
Text © Michael Sieben
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb
Umschlaggestaltung: formlabor
Umschlagfotos: photocase.com © misterQM; shutterstock.com © Telnov Oleksii / Roman Sigaev
Lektorat: Brigitte Kälble
Herstellung: Karen Kollmetz
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92788-7
Für meine Familie
Things change. And friends leave.
Life doesn’t stop for anybody.
Stephen Chbosky, The Perks of Being a Wallflower
Mein T-Shirt ist voller Flecken. Am Kragen sieht es besonders übel aus, der ist richtig verkrustet. Geht Blut wieder raus? Ich weiß, das sollte mir jetzt egal sein. Aber es ist mein Lieblings-T-Shirt. Olivgrün, mit einem schwarzen Stern vorne drauf. Ein Geburtstagsgeschenk von Josie. Und jetzt ist es voll mit Blut. Dunkelrote Flecken, beinahe schwarz. Vielleicht kann man es auf sechzig Grad waschen, aber dann geht es bestimmt ein und passt nicht mehr. Besser, man nimmt Fleckensalz. Mit Fleckensalz bekommst du alles raus, sagt meine Mutter. Sie hat bestimmt welches zu Hause. Meine Jeans hat sie ja auch sauber gekriegt, letzten Monat, als ich damit in der Fahrradkette hängengeblieben bin. Blut ist sicher nicht schlimmer als Öl. Wo bleiben meine Eltern überhaupt? Frau May ist schon längst da. Ob Josie ihr schon alles erzählt hat? Vorhin hat sie kein Wort rausbekommen, ich habe es genau beobachtet. Aber so wie mich Frau May jetzt ansieht, weiß sie Bescheid. Ich gucke weg und zähle die Flecken auf meinem T-Shirt. Keine Ahnung, warum. Ich bin einfach ein Idiot. Keiner weiß, ob es der Krankenwagen noch rechtzeitig in die Klinik schafft, und ich mache mir Sorgen, ob mein T-Shirt im Arsch ist.
Der Streifenwagen ist nicht mehr der neueste. Das Sitzleder ist abgewetzt und die Rückenlehnen sind voller Striemen und Kratzer. Wer hier hinten schon alles gesessen hat? Schläger. Mörder. Besoffskis. Und jetzt ich. Aber ich warte ja nur, ich bin nicht verhaftet. Oder doch? Die Wagentür steht jedenfalls offen und Handschellen haben sie mir auch keine angelegt. Also bin ich auch nicht festgenommen. Außerdem hätten die mir sonst meine Rechte vorlesen müssen. Oder gibt es das nur in Amerika?
Frau May redet mit dem Polizisten mit der Zahnlücke. Ich frage mich, ob sie wieder eine Fahne hat. Dann hätte sie nämlich nicht Auto fahren dürfen. Manchmal riechst du es schon, wenn sie zur Tür reinkommt. Josie sagt, das würde nicht oft vorkommen, aber ich habe es ja letzte Woche erst wieder erlebt. Heute drückt der Polizist bestimmt ein Auge zu. Wenn er das darf. Oder er bringt Josie und ihre Mutter mit dem Einsatzwagen nach Hause. Die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen ist so breit, dass man locker einen Cent durchschieben könnte. Wie bei einem Spielautomaten. Ich muss grinsen. Hoffentlich sieht niemand her. Ich kann doch jetzt nicht grinsen, nach allem, was passiert ist. Ob das am Alkohol liegt? Ich fühle mich gar nicht mehr betrunken, kein bisschen. Vorhin in Göbels Keller war ich total dicht. So richtig, mit Sachen doppelt sehen und allem. Aber spätestens seit ich den Schlag auf die Nase bekommen habe, bin ich wieder nüchtern.
Man hört immer noch das Grollen von der Autobahnbrücke, selbst um diese Zeit. Da fahren ständig Autos, auch jetzt, sonntags früh um drei. Das hörst du bis rüber zu Göbels. Die haben zwar eine fette Villa, aber du kannst da nie draußen sitzen. Oder du gewöhnst dich an den Lärm, kann auch sein. Der gelbe Honda Civic macht so schnell jedenfalls keinen Krach mehr. Er liegt auf dem Dach, im Dickicht zwischen Wald und Straße, und sieht aus wie ein Käfer, der nicht mehr auf die Beine kommt. Totalschaden, schätze ich. So wie sich der Aufprall angehört hat, würde es mich nicht wundern. Aus dem Auspuff qualmt es ein bisschen, aber die Feuerwehr hat schon Entwarnung gegeben. Autos fliegen irgendwie nur im Fernsehen in die Luft.
Eine junge Polizistin hat das Loch in der Leitplanke mit Flatterband abgesperrt. Als ob das eine gefährliche Stelle wäre, nur weil jetzt keine Leitplanke mehr da ist. Dem Civic hat die ja auch nicht geholfen, der ist durchgerast, als wäre sie aus Pappe. Vielleicht soll das Band die Gaffer fernhalten, damit die Polizei in Ruhe Spuren sichern kann. Welche Spuren auch immer. Der Unfall ist ja ganz woanders passiert. Mitten auf der Straße nämlich, dort, wo das Blut auf dem Asphalt schon getrocknet ist. Vorhin, als noch kein Blaulicht da war, hat sich der Mond drin gespiegelt und ich habe gedacht, es wäre Öl. Erst als die Sanitäter mit ihren Taschenlampen gekommen sind, habe ich es gecheckt. Inzwischen spiegelt sich nichts mehr auf der Straße. Trotzdem kannst du noch genau erkennen, wo Juri gelegen hat, weil der Asphalt hier dunkler ist. Außerdem sind da noch die Scherben vom Scheinwerfer. Eine hat mich am Oberschenkel getroffen. Nur ein kleiner Schnitt, nichts Wildes.
Josie steht drüben auf der anderen Straßenseite, bei Göbel und dem Rest. Ihr Gesicht ist kreidebleich, die Schminke verschmiert. Sonst benutzt sie nie Schminke. Heute hat sie sich mit Kajal einen schwarzen Strich unter die Augen gemalt, extra für Göbels Party. Hat ihr echt gut gestanden. Ein bisschen Lippenstift hatte sie auch drauf. Der ist allerdings längst weg. Jetzt zieht sie ihre Jacke bis zum Kinn und nimmt den Reißverschlussschieber in den Mund. Sie zittert. Mir ist überhaupt nicht kalt, obwohl ich nur mein Stern-T-Shirt anhabe. Meine Jacke muss noch bei Göbel im Keller liegen. Ich habe sie nicht angezogen, als ich zur Ponderosa gegangen bin. Es war ja noch warm, vierzehn, fünfzehn Grad bestimmt. Inzwischen ist es natürlich kälter geworden, aber ich friere trotzdem nicht. Im Fernsehen bekommen sie am Ende immer so eine Aludecke umgelegt, die golden glänzt. Schwer vorstellbar, dass so ein Ding warm hält.
Vorhin war einer der Sanitäter bei mir und wollte sich meine Nase ansehen, aber ich habe ihn weggeschickt. Ich weiß auch so, dass sie gebrochen ist, ich hab es gleich gewusst. So was spürst du. Hat richtig geknirscht, als ich den Ellenbogen ins Gesicht gekriegt habe, wie wenn man auf einen morschen Zweig tritt. Inzwischen tut es nicht mehr weh. Nur wenn ich meine Nase anfasse, dann schon. Sie ist ganz schön geschwollen, ich kann sie sehen, ohne zu schielen, so dick ist sie. Das nervt, weil ich ständig hingucken muss.
Jetzt kommt noch ein Blaulicht. Ich hätte Verstärkung für die Feuerwehr erwartet, aber es ist ein Polizeiwagen, der dritte. Die scheinen den Brand im Griff zu haben. Ging ja schnell. Also dafür, dass die zu Fuß durch den Wald mussten und schwere Feuerlöscher auf dem Rücken hatten. Mit dem Auto kommst du ja nicht durch. Für was brauchen die denn noch mehr Polizisten? Wegen Münze? Das können die vergessen. Wenn der abgehauen ist, sollten sie Suchhunde auftreiben und einen Hubschrauber mit Scheinwerfer. Sonst kriegen die Münze nie. Der kennt sich aus im Wald. Und er hat genug Zeit gehabt, ein Versteck zu finden. Oder sich ganz aus dem Staub zu machen.
Die Pistole haben sie längst sichergestellt. Eine Ceska CZ 75. Ich habe ihnen gezeigt, wo sie liegt. Vorne an der Straße, im Graben. Einer von der Spurensicherung hat sie in eine durchsichtige Plastiktüte gesteckt und mitgenommen. Der hätte sie gar nicht so vorsichtig anfassen müssen, nur mit zwei Fingern und Handschuhen und so. Ich hätte ihm auch gleich sagen können, dass da überall meine Fingerabdrücke drauf sind.
Auf der Autobahnbrücke rauscht der Verkehr, als ob nichts gewesen wäre. Inzwischen gibt es bestimmt Neues von Juri. Ich könnte rüber zu den anderen und sie fragen. Hat ja keiner gesagt, dass ich im Auto bleiben soll. Aber die reden sowieso nicht mit mir. Josie schon gar nicht. Die denkt, dass ich an allem schuld bin. Dass Juri wegen mir in Lebensgefahr schwebt. Aber das stimmt nicht. Also, nicht ganz. Wieso brauchen meine Eltern so lange? Mit dem Auto sind es gerade mal zwanzig Minuten von uns zu Hause. Ich kann kaum durch die Nase atmen, weil sie so geschwollen ist. Wie viel Blut habe ich wohl verloren? So viel kann es nicht gewesen sein, einen halben Liter höchstens, sonst wäre ich längst ohnmächtig geworden.
Frau May legt den Arm um Josies Schultern und zieht sie langsam weg von den anderen. Josie windet sich aus der Umklammerung und fällt Nele um den Hals. Die beiden bleiben bestimmt eine halbe Minute so stehen, dann erst lassen sie sich los. Nele hat jetzt von Josies Make-up einen schwarzen Fleck im Gesicht. Sieht ein bisschen emomäßig aus, so wie bei Tonne. Josie verabschiedet sich von ihr, dann gehen sie und ihre Mutter über die Straße und an mir vorbei. Ich warte darauf, dass Josie hochguckt und mich ansieht, aber sie starrt nur auf den Boden, auf ihre Vans und die Glasscherben, die unter ihren Füßen knacken. Auf einmal wird mir doch kalt. Ich reibe mir mit den Händen über die nackten Arme. Sie fühlen sich irgendwie taub an. Ich muss mit Josie reden. Soll sie mir lieber Vorwürfe machen oder mich beschimpfen, aber sie darf nicht einfach so gehen. Als ich aussteige, fährt mir ein stechender Schmerz durchs Bein. Die Wunde an meinem Oberschenkel. Komisch, dass die jetzt plötzlich anfängt wehzutun. Die ganze Zeit habe ich nichts gespürt.
Göbel kommt auf mich zu. Vorhin war der rotzbesoffen und hat ins Rosenbeet seiner Mutter gepinkelt. Kein Wunder, er hat mindestens eine halbe Flasche Berentzen getrunken. Und dauernd Sambuca-Shots. Das mit dem Rosenbeet haben alle saulustig gefunden. Schneider hat es ihm gleich nachgemacht. Schneider macht ihm immer alles nach. Ich glaube, Göbel will mich über den Haufen rennen. Aber er bleibt stehen, ganz nah vor mir. Sein Atem stinkt nach Rauch und saurem Apfel, ich rieche es durch meine verstopfte Nase.
– Lass Josie in Ruhe, sagt er.
Was willst du denn, Göbel, du hast mir gar nichts zu sagen. Mir gehen viele Antworten durch den Kopf, aber ich bringe keinen Ton raus.
Im Hintergrund tut sich was. Ich kann es nicht genau erkennen, Göbel verstellt mir die Sicht. Ein Schatten hat sich aus der Gruppe gelöst und kommt auf uns zu. Göbels Verstärkung. Als ob er die bräuchte. Göbel ist fett und er hat Kraft. Gegen den hätte ich keine Chance. Außer weglaufen, aber das mache ich nicht. Der Typ mit dem Kapuzenpulli baut sich neben ihm auf. Den fand ich vorhin schon scheiße, weil er die ganze Zeit mit der Kapuze auf dem Kopf rumläuft und sich supercool dabei vorkommt.
Der Polizist mit der Zahnlücke mischt sich ein. Er schiebt sich an Göbel und dem Kapuzentyp vorbei und sagt ihnen, dass sie nach Hause gehen sollen. Aber sie gehen nicht, sie machen nur ein paar Schritte rückwärts und lassen mich nicht aus den Augen. Es ist mir peinlich, dass mich ein Polizist beschützen muss. Ich hätte mir lieber von Göbel eine reinhauen lassen. Das hätte mir jetzt auch nichts mehr ausgemacht.
Der Polizist führt mich wieder zum Auto. Er heißt Koslowski und will mit mir reden. Wir setzen uns auf die Rückbank, Koslowski macht die Tür zu. Ich kriege es nicht hin, ihn nach Juri zu fragen. Weiß nicht, wieso. Ich bekomme meinen Mund einfach nicht auf. Vielleicht, weil ich Schiss vor der Antwort habe. Wenn es etwas Neues gäbe, hätte es Koslowski schon gesagt. Er dreht sich jetzt zu mir, legt seinen Arm auf die Kopfstütze und fragt, wie das alles passiert ist. Dabei weiß er doch längst Bescheid. Warum soll ich es ihm noch mal erzählen? Darf der mich überhaupt einfach so ausfragen? Wenn mein Vater bloß schon da wäre. Der ist Anwalt, der weiß, was die dürfen und was nicht. Ich schaue über Koslowskis Schulter nach draußen. Göbel und Kapuze haben aufgegeben und stehen wieder bei den anderen. Von Josie und ihrer Mutter ist nichts mehr zu sehen. Sie haben sie also fahren lassen. Dabei hatte Frau May mit Sicherheit was intus. Wenn Koslowski das nicht gemerkt hat, ist er echt ein Anfänger.
– Kris, sagt er. – So heißt du doch, oder?
Ein bisschen erinnert er mich an meinen Vater, der hat auch so eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Nur nicht ganz so groß. Mein Vater hat mich allerdings noch nie Kris genannt, glaube ich. Manchmal sagt er Kristian, aber nur ganz selten. Wenn wir zu Hause am Tisch sitzen, sagt er einfach du. Wenn er mich ruft, ruft er hey. Hey, wo bleibst du? Hey, mach dies, hey, mach das. Meine Eltern hätten mich Hey taufen sollen.
Warum hat Koslowski die Tür zugemacht? Wenn zu ist, riecht es im Auto krass nach Wunderbaum. Grüner Apfel. Mir wird ein bisschen schlecht, weil mich der Geruch an den Berentzen erinnert. Ich hätte nicht so viel davon trinken sollen. Bin ich jetzt doch verhaftet? Nehmen die mich mit auf die Wache? Ich muss Koslowski sagen, dass es nicht meine Schuld war. Dass alles so schnell ging, dass ich plötzlich die Pistole in der Hand hatte und … mir wird ganz flau im Magen, wenn ich daran denke.
– Kris, hörst du mir zu? Ist alles okay?
Koslowski nimmt den Arm von der Kopfstütze. Er trägt eine Pistole, Handschellen und einen Schlagstock am Gürtel. Um mich abzulenken, frage ich ihn, ob er schon mal auf jemanden geschossen hat. Mein Hals fühlt sich rau an und tut ein bisschen weh beim Sprechen. Ich habe ja seit Ewigkeiten kein Wort gesagt. Koslowski sieht mich lange an. Dann schüttelt er den Kopf und reibt über das schwarze Holster, in dem seine Waffe steckt. Er ist noch nicht lange Polizist, sagt er, drei Jahre, und in dieser Zeit hat er sie erst ein Mal gezogen.
– Was ist mit dir, Kris? Wolltest du heute auf jemanden schießen?
Koslowski guckt, als ob er mich gerade nach meiner Lieblingssorte Eis gefragt hätte. Ich bin so perplex, dass ich ihm nicht mal das hätte sagen können.
Ein Auto kommt. Noch bevor ich den Wagen sehe, weiß ich, dass es der grüne VW-Passat meiner Eltern ist. Wer soll es sonst sein? Josie und ihre Mutter sind längst zu Hause. Die anderen pennen bei Göbel, wahrscheinlich wissen ihre Eltern nicht mal Bescheid. Mein Vater guckt ernst, als er aus dem Auto steigt, aber so guckt er eigentlich immer. Meine Mutter hat verheulte Augen und fummelt an dem Kreuz, das um ihren Hals baumelt. Ich fahre mit den Fingern über die Flecken auf meinem Shirt. Jetzt sind sie trocken. Vielleicht hätte man was machen können, solange sie feucht waren. Salz drauf oder so. Bei Rotwein macht man das, fällt mir ein, aber jetzt ist es sowieso zu spät.
Es ist ein warmer Apriltag. Wir haben die Matratze aus der Hütte geholt und den Hügel hinauf zu der Stelle geschleppt, von der man den besten Blick über den Stadtwald und die Siedlung hat. Die Sonne versinkt allmählich hinter der Knochenhausfassade und taucht die Wohnblöcke in oranges Licht. Der Feierabendverkehr rauscht über die Autobahnbrücke, die sich auf vier Betonpfeilern über das Tal spannt. In den Büros im Gewerbegebiet gehen die ersten Lichter an, eine Baumarktreklame blinkt neongelb.
Die Matratze ist eins sechzig breit, wir haben alle drei darauf Platz. Josie hat ihre Jacke zusammengeknüllt und unter den Kopf gesteckt. Sie liegt in der Mitte zwischen Juri und mir, die Augen geschlossen, eine Zigarette in den Fingern. Die Asche wird gleich auf ihren Kapuzenpulli bröseln, wenn sie nicht aufpasst. Sie trägt ihre Vans, die dunkelblauen, die schon so durchgelaufen sind, dass sich rechts ihr großer Fußzeh durch die Kappe bohrt. Meine Lieblingsschuhe, sagt sie manchmal, und zeigt uns dann stolz, dass sich die Sohlen schon ablösen. Arctic Monkeys steht auf dem weißen Streifen an der Seite, in Kugelschreiberblau und von zwei Blitzen eingerahmt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die wirklich mag, eigentlich steht sie auf Pharrell und so, aber die Monkeys und die Blitze kommen natürlich hundertmal cooler.
Juri kaut auf dem Lederband, das er seit Fuerte um den Hals hat. Der Anhänger – ein J für Juri – ist ihm auf den Nacken gerutscht. Aus irgendeinem Grund macht er ein Riesengeheimnis darum, wo er das Ding herhat. So als ob in seinem Urlaub was gelaufen wäre und er den Anhänger von einem Mädchen bekommen hätte. Wir müssten ja nicht immer alles wissen, hat er vorhin gesagt und gegrinst. Ich schätze, er hat sich den Anhänger selbst gekauft.
– Achtundvierzig Stunden, sagt Juri durch die Zähne.
– So lange? Das kann nicht sein, antwortet Josie und zieht die rechte Augenbraue hoch, ohne einen Millimeter mit der linken zu zucken.
Keine Ahnung, wie sie das hinkriegt, ich kann nur beide Brauen gleichzeitig.
– Doch, sagt Juri. – Achtundvierzig Stunden, da bin ich mir ziemlich sicher. Vorher rührt die Polizei keinen Finger.
– Und was war mit dem Jungen aus der Kolpingstraße?
– Mongo-Andi?
– Eh, Mongo sagt man nicht, das ist diskriminierend.
– Was denn sonst?
– Down-Syndrom.
– Down-Syndrom-Andi?
– Sag doch einfach Andi.
– Bei dem war es auf jeden Fall was anderes.
– Wieso?
– Weil er ein Mongo ist.
– Idiot, sagt Josie und betrachtet die Spitze ihrer Zigarette.
Seit ein paar Wochen raucht sie. Allerdings nicht auf Lunge. Josie zieht immer nur kurz und hektisch an ihrer Kippe, so als ob sie Schiss hätte, sich die Lippe zu verbrennen. Benson & Hedges, die mit den weißen Filtern. Ich habe nur einmal geraucht, zusammen mit Göbel. Ist schon ein bisschen her. Er hat sich eine angezündet und so getan, als ob er der krasseste Kettenraucher in der Siedlung wäre (die Kippe beim Reden im Mundwinkel und so). Und dann hat er noch schlimmer husten müssen als ich.
Die Verpackung von meinem Wassereis flattert über das Gras. Ich habe sie vorhin so halb unter die Matratze gestopft, anscheinend nicht tief genug. Mit der Ferse versuche ich sie zu erwischen, aber ich bin zu langsam. Das Teil segelt den Abhang zur Ponderosa runter.
Die Hütte so zu nennen war Josies Vorschlag. Gleich als wir sie das erste Mal mitgenommen hatten, kam sie mit der Idee. Sie hat uns dieses Foto von sich und ihrem Vater gezeigt, das sie in ihrem Portemonnaie mit sich rumträgt: Herr May kniet vor einer Schrebergartenlaube im Gras und hat seinen Arm um die lachende, etwa zehn Jahre alte Josie gelegt. Über dem Eingang hängt ein Holzschild, auf dem in Großbuchstaben Ponderosa steht. So heißt die Ranch aus Bonanza, hat Josie uns erklärt, kennt ihr doch, oder? Juri und ich haben genickt, klaro, kennt doch jeder. Zu Hause haben wir dann erst mal gegoogelt, was bitte schön eine Bonanza sein soll. Eine Westernserie, aus den Sechzigern? Ernsthaft? Also ich fand den Namen am Anfang gar nicht cool. Juri auch nicht. Aber wenn Josie mit ihrem toten Vater kommt, kannst du natürlich nichts sagen. Das Argument zieht immer, da gibt es nicht viel zu diskutieren.
Die Ponderosa ist kaum größer als die Häuschen in der Kolonie hinter dem Bahndamm. Es gibt nur einen Raum mit zwei Fenstern, bei einem ist die Scheibe zerbrochen, wir haben es mit Plastikfolie und Kreppband zugeklebt. Über dem Eingang beginnt das Flachdach zu bröckeln, an einer Stelle ragt die Spitze eines rostigen Stahlgitters aus dem Beton. Unter dem Dachvorsprung glänzen feuchte Spinnweben. Rambo was here steht mit Edding an der Außenwand, daneben FICKEN, knallrot. Untendrunter ein Gesicht im Profil: Hakennase, Riesenkinn, Iro. Vom Hinterkopf fehlt ein Teil, da ist der Putz abgeblättert und die braune Ziegelsteinwand lugt hervor. Ansonsten gibt es noch ein paar unleserliche Tags, ein Anarchozeichen, Schlangenlinien, Buchstaben, schwarz und schief. Der Drahtzaun um das Grundstück ist hinter der Hütte niedergetrampelt, vorne und an den Seiten stehen sowieso nur noch die Pfosten. Im Gestrüpp liegen faulige Pressspanplatten und eine Kabelspule, die vor sich hin rostet.
Drin hat sich in den letzten zwei Jahren viel Zeug angesammelt: ein mit gelbem Filz überzogener, platter Hallenfußball, den Juri im Herbst aus der Turnhalle gezockt hat, ein Campingtisch, ein Bürostuhl, ein Hocker mit aufgeplatztem Bezug, aus dem der Schaumstoff quillt, ein uraltes Radio mit Kassettendeck, das noch nie an war, weil wir es nicht auf die Kette kriegen, passende Batterien zu kaufen, eine Petroleumlampe, ein Super-Soaker NERF 33596 BOTTLE BLITZ, ein Karton mit Flyern gegen Tierversuche, den Josie angeschleppt hat, ein UNO-Kartenset, eine volle Flasche Sprudel und drei angefangene, ein zusammengerolltes Borat-Poster von Juri, das nicht an der Wand kleben bleiben wollte (zum Glück), ein paar alte X-Men-Comics. An der fensterlosen Wand lehnt normalerweise die Matratze. Jemand hat sie letzten Sommer im Wald entsorgt, ganz in der Nähe des Grillplatzes. Muss ein Zugezogener gewesen sein. In der Regel wirft die Siedlung ihren Schrott unter die Brücke, da kommst du nämlich gut mit dem Auto hin.
– Damals war die Polizei sofort da, sagt Josie, nachdem sie eine Weile nachgedacht hat. – Das weiß ich genau. Dabei war der Kleine gerade mal eine Stunde weg. Wenn überhaupt.
– Logo waren die sofort da, sagt Juri. – Weil der behindert ist und allein nicht klarkommt.
– Das hat doch damit nichts zu tun. Der Andi kennt den Heimweg vom Neuen Spielplatz genauso gut wie alle anderen. Vielleicht sogar noch besser.
– Keine Ahnung. Ich hab nie was mit dem zu tun gehabt. Googel doch mal. Also das mit den achtundvierzig Stunden. Vielleicht gilt das auch nur für Erwachsene.
– Ich hab hier kein Netz, weißt du doch. Mach du mal.
– Mein Akku ist gleich leer. Kris? Hey Kris, pennst du?
Juri beugt sich über Josie und will mir einen Zock auf die Schulter geben, aber ich habe aufgepasst und drehe mich weg.
– Du warst auch schon mal schneller, Renner, sage ich.
– Dein Glück, Prosniak.
Es ist das erste Mal in diesem Jahr, dass wir uns bei der Ponderosa treffen. Wurde auch Zeit. Erst war es zu kalt, dann hat es ständig geregnet und dann, als das Wetter endlich besser geworden ist, waren Osterferien. Zwei Wochen, Josie bei ihrer Tante in Stuttgart, Juri mit seinen Eltern auf den Kanaren. Auf Fuerteventura, zum Windsurfen. Juri macht immer supercoole Sachen in den Ferien. Über Weihnachten, zum Beispiel, da war er snowboarden, zehn Tage lang. Sein Vater hat halt Kohle. Dem gehört das Autohaus im Gewerbegebiet und er macht irgendwas mit Immobilien. Meine Eltern hatten keine Zeit wegzufahren, oder keine Lust. Mein Vater arbeitet sowieso lieber, als Urlaub zu machen, das war schon immer so. Die Kanzlei ist klein, sagt er, da kann nicht einfach jemand einspringen, wenn du weg bist. Deswegen ist er auch nie krank. Wenn er sagt, er muss arbeiten, dann muss er arbeiten, da gibt es gar keine Diskussion. Jedenfalls nicht mit meiner Mutter, die hat sich noch nie beschwert. Seit mein Bruder den Unfall auf Korfu hatte, will die sowieso nicht mehr ins Ausland. Wenn was passiert, dann stehst du da und es versteht dich kein Mensch. Mein Bruder war neun, als er vor das Motorrad gerannt ist, und hat seitdem ein steifes Bein. Ich bin zweieinhalb Jahre jünger als er und kann mich kaum noch daran erinnern. Meine Mutter schon. Die macht sich heute noch Vorwürfe, dabei konnte sie überhaupt nichts machen, sagt mein Vater.
Josie und Juri waren also zwei Wochen weg. Die ersten Tage habe ich mich so hardcore gelangweilt, dass mir nichts anderes übriggeblieben ist, als mich mit Göbel zum Wastelands 3-Zocken zu treffen. Am Anfang war ich fast jeden Tag bei ihm im Hobbykeller, vier, fünf Stunden am Stück mindestens, bis mir die Daumen wehtaten. Eigentlich sind Göbel und ich nicht so wahnsinnig dicke, aber zum Daddeln brauchst du auch nicht best friends zu sein. Die Zeit ist auf jeden Fall schnell rumgegangen – bis er irgendwann die Pornohefte von seinem Vater rausgeholt hat. Pornohefte, wirklich wahr. Keine Ahnung, was der mit ein paar Hochglanzbildchen will, wenn er sich ganze Filme im Netz angucken kann. Gut, Papa Göbel ist halt eine andere Generation. Generation Sexheft, sozusagen. Außerdem waren das keine normalen Pornohefte, sondern so Fetischkram. Für Leute, die auf, na ja, Schamhaare stehen. Richtig viele Schamhaare, um genau zu sein, bei manchen Frauen gingen die bis zum Bauchnabel. Ich fand das eklig. Aber wie das so ist, dann musst du ja erst recht hinschauen.
– Gefällt dir, was?, hat Göbel gesagt und dämlich gegrinst. – Aber nur gucken, dein Ding bleibt in der Hose.
Das fand der sauwitzig. Als ob mir auf so was einer abgehen würde. Als ob ich es so dringend nötig hätte, nur weil ich keine Freundin habe. Bei Göbel musst du aufpassen, der erzählt sonst überall rum, dass du voll auf Schamhaare abfährst. Danach bin ich nicht mehr hin. Keine Lust mehr auf Wastelands 3 und keine Lust mehr auf Göbel und seine Sexheftchen. Außerdem war Nessa wieder da und Göbel hatte sowieso keine Zeit mehr. Sorry, aber sie hätten ein bisschen was nachzuholen, sie hätten sich ja eine Woche lang nicht gesehen, zwinker zwinker.
Die nächsten Tage habe ich zu Hause rumgesessen, gelesen, ferngesehen und mir auf Facebook die Urlaubsfotos meiner Schulfreunde angeguckt. Das waren mal richtig miese Ferien. Mein Bruder war ständig unterwegs, Fußballspielen auf dem Bolzplatz beim S-Bahnhof. Ich geh ins Tor, hat er gesagt, als ich gefragt habe, wie er das macht mit seinem Bein. So richtig gecheckt habe ich das nicht, weil, du musst doch auch als Torwart schnell sein und den Ball abspielen und so, aber ich habe nicht weitergefragt.
Kurz vor Schulanfang ist eine Postkarte aus Stuttgart gekommen. Supernett hier, viele neue Leute kennengelernt, Samstag geht’s leider schon zurück, nächste Woche treffen? LG Jo. Warum sie aus Josie, was sowieso schon kurz für Josephine ist, immer Jo machen muss, geht mir nicht in den Kopf. Als ob die eine Silbe so viel Zeit kosten würde. Warum schreibt sie nicht gleich J Punkt? Und dann die neuen Leute. Was will sie ständig mit neuen Leuten? Ich habe keine Lust auf neue Leute, neue Leute sind in der Regel bescheuert, jedenfalls die, die Josie manchmal anschleppt. Weil, das sind meistens Typen, die scharf auf sie sind. Zum Glück haben die sich noch alle die Zähne an ihr ausgebissen.
Samstagnachmittag hat sie dann angerufen, um mir die Stuttgart-Storys zu erzählen. Ich habe das alles gar nicht wissen wollen. Ist mir doch egal, was Kittel beruflich macht und was Robi für ein Auto fährt. Trotzdem habe ich brav zugehört. Anderthalb Stunden lang. Dafür habe ich eigentlich die goldene Ohrmuschel verdient.
Mit Juri habe ich erst Montag in der Schule gesprochen. Er hat ausgesehen, als ob er gerade vom Strand kommt, mit einem I-Love-Fuerte-Shirt und Sonnenbrille, dabei war es draußen grau und bewölkt, von Sonne keine Spur. Das Surfen fand er cool, aber am Anfang reibst du dir am Brett brutal die Plauze auf, hat er gesagt und mir dann ungefähr hundert Strandfotos auf seinem Handy gezeigt, die im Prinzip alle das gleiche Motiv hatten (Meer, Sand, Palmen, Wellen, Meer). Ob er hier was verpasst hätte, wollte er wissen. Nichts, habe ich geantwortet, absolut gar nichts. Außer, dass ich jetzt unschlagbar wäre bei Wastelands 3.
Juri hat die Brille abgenommen und gegrinst.
– Also das werden wir noch sehen, Prosniak.
Auf dem Hang verschwinden nach und nach die letzten Sonnenflecken, gleich liegt der ganze Hügel im Schatten. Ein Windstoß schüttelt die Baumkronen, das Blätterrauschen übertönt für einen kurzen Moment den Lärm von der Autobahn. Eine Fliege mit grünem Hinterteil krabbelt über meinen Arm. Sie reibt die Vorderbeine gegeneinander und spaziert dann meinen Handrücken runter. Es gibt wahnsinnig viele Fliegen im Stadtwald. Ich glaube, das kommt vom Grillplatz, weil da immer Pappteller und Essensreste und Bierflaschen aus den Mülleimern quellen, und die nie geleert werden.
– Wie kommst du auf die Sache mit … Andi, frage ich Josie.
– Hast du nicht zugehört? Wegen Münze.
– Münze? Dein durchgeknallter Nachbar? Was ist mit ihm?
– Der ist nicht durchgeknallt, sagt Josie und macht eine Pause. – Na ja, ein kleines bisschen vielleicht. Exzentrisch halt. Jedenfalls ist er seit Sonntag nicht mehr in seiner Wohnung gewesen. Du merkst ja sofort, ob er da ist oder nicht. Das Haus ist total hellhörig. Und bei Münze läuft normalerweise vierundzwanzig Stunden am Tag das Radio, oder der Fernseher, leise ist es da nie. Meine Mutter war schon ein paarmal nachts drüben, weil die Musik so laut war, dass wir nicht einschlafen konnten. Und seit drei Tagen: Totenstille nebenan.
Sie steht auf, nimmt einen Zweig vom Boden und lässt ihn durch die Luft kreisen. Josie ist immer ein bisschen zappelig, die kann nicht lange auf ihrem Hintern hocken bleiben. Liegt vielleicht daran, dass sie so dünn ist. Dicke Leute haben es bestimmt bequemer, weil die auf einem Fettpolster sitzen. Josie hat ungefähr null Polster. Kein Wunder, dass sie nicht stillhalten kann. Also sie sieht jetzt auch nicht krank aus, als ob sie sich nach dem Essen die Zahnbürste in den Hals schieben würde oder so. Josie ist einfach naturdünn.
– Samstagabend habe ich ihn noch streiten gehört. Das muss so gegen zehn gewesen sein. Ich war allein zu Hause, meine Mutter hat sich mit ihrem neuen Typen getroffen. Sie geht mit Renate essen, hat sie gesagt, aber ich bin ja nicht blöd. Das wäre das erste Mal gewesen, dass sie sich für Renate so aufmotzt. Ich hocke also vor dem Laptop und gucke Kill Bill, als es drüben losgeht. Erst stecke ich mir die Kopfhörer in die Ohren und versuche mich auf den Film zu konzentrieren, ich habe den ja noch nie gesehen. Dann werde ich doch ein bisschen neugierig und höre zu. Das werd ich niemals machen, schreit Münze, und: Du bist völlig verrückt geworden, hau ab aus meiner Wohnung. Oder so ähnlich. Dann eine andere Stimme, aber ganz leise und nicht zu verstehen. Die Tür knallt, Schritte auf dem Flur. Münze flucht. Kurze Zeit später geht er dann selbst raus.
Josie drischt mit dem Ast auf einen Brennnesselbusch ein. Grüne Blattfetzen fliegen herum, die sie in der Luft zu erwischen versucht.
– Aber das Beste kommt noch. Mitten in der Nacht, ich war schon längst im Bett, rüttelt und kratzt es an der Wohnungstür. Als ob jemand versucht aufzuschließen und das Schloss nicht trifft. Als ich auf den Flur komme, hat meine Mutter schon aufgemacht. Vor uns steht Münze und ist sturzbetrunken. Erst als er mich sieht und unsere Möbel und alles, kapiert er, dass er sich in der Tür geirrt hat.
Josie wirft den Stock ins Gras und klatscht ihre Hände ab. Meine Nase fängt an zu laufen. Das habe ich manchmal, das kommt ganz plötzlich, richtig viel Rotz, dünn wie Wasser, ich weiß auch nicht, woran das liegt. Diesmal sind vielleicht die Brennnesselpollen dran schuld, keine Ahnung. Josie tastet ihre Hosentaschen ab und hält mir ein Taschentuch hin.
– Und was ist dann passiert?, frage ich und putze mir die Nase.
– Na, er hat sich entschuldigt. Er hätte einen über den Durst getrunken, es täte ihm leid und so weiter. Aber meine Mutter wollte das nicht hören und hat, ohne was zu sagen, die Tür zugeschlagen. Die kennt da nichts. Das war das letzte Mal, dass ich Münze gesehen habe.
Juri tippt mit der Ferse nachdenklich ins Gras. Er hat die blauen Shorts an, die ihm knapp über die braun gebrannten Knie gehen. Juri ist immer der Erste, der in kurzen Hosen zur Schule kommt. Okay, heute ist es tatsächlich warm genug, aber er hat sie auch schon Ende März getragen und da waren es gerade mal elf, zwölf Grad.
– Weißt du, was mich an der Sache wirklich wundert?, fragt er Josie.
– Nein, was?
– Dass du Kill Bill noch nicht gesehen hast. Jetzt guck nicht so, war doch nur ein Spaß. Also, lass mich mal überlegen, was ist mit Münze? Vielleicht ist sein Besucher in der Nacht zurückgekommen und hat ihn umgebracht.
– Juri, sag doch so was nicht.
Josie nimmt eine Zigarette aus der Packung und sucht in ihren Taschen nach Feuer.
– Stellt euch mal vor, fährt Juri fort. – Münze kommt nach Hause. Er macht das Licht an und da sitzt einer, da sitzt ein Typ am Küchentisch und hat eine Knarre in der Hand. Bevor Münze was machen kann, drückt er ab, bäm bäm, zwei Schuss. Einer in den Bauch, ein zweiter in die Brust, um sicherzugehen. Mit Schalldämpfer natürlich, damit die Kleine von nebenan und ihre Mutter nichts hören. Münze fällt um wie ein Brett und ist sofort tot. Der Mörder verwischt seine Spuren und verschwindet.
Josie hat das Feuerzeug gefunden. Es kommen aber nur Funken raus. Sie schüttelt es kräftig und versucht es dann noch einmal. Eine kleine blaue Flamme bleibt stehen, die aber sofort ausgeht, als sie die Zigarette dranhält.
– Das ist doch dummes Zeug, sagt sie, die unangezündete Kippe zwischen den Lippen. – Wenn da seit Tagen eine Leiche liegen würde, dann würde man das riechen, das würde bis auf den Flur stinken. Tut es aber nicht.
– Vielleicht waren es mehrere, sage ich. – Und die haben Münzes Leiche mitgenommen.
– Und sie mit Gewichten im See versenkt, sagt Juri. – Oder hier im Wald vergraben.
Er tippt noch einmal mit der Ferse auf den Boden.
– Oder sie haben die Leiche auf einer Müllkippe abgeladen, sage ich.
– Oder in Säure aufgelöst, sagt Juri.
– Wie bei Breaking Bad.
– Ja, genau, wie bei Breaking Bad.
– Ihr seid echt Idioten, sagt Josie. – Kann man sich auch mal ernsthaft mit euch unterhalten?
– Könnte schwierig werden, sagt Juri und grinst.
– Mach dir keine Sorgen, sage ich. – Münze wird im Urlaub sein. Oder Familie besuchen, Bekannte. Oder er ist ausgezogen. Es gibt tausend Erklärungen.
Ich muss niesen, dreimal kurz hintereinander. Mein Hals ist plötzlich ganz trocken und kratzt. Entweder sind das die Pollen oder ich kriege eine Erkältung.
– Ich weiß nicht, sagt Josie. – Tatsache ist, dass Münze mit jemandem Ärger hatte und seitdem verschwunden ist. Wenn er in den nächsten Tagen nicht auftaucht, geh ich zur Polizei.
– Tu das, sagt Juri und steht auf. – Kris, was für ein Buch stellst du nächste Woche in Deutsch vor?
– Weiß noch nicht genau. Das also ist mein Leben, vielleicht? Was ist mit dir?
– Keine Ahnung. Sind Comics erlaubt?
– Das kannste vergessen.
Auf der Brücke ist es ruhiger geworden, es fahren nur noch vereinzelt Autos über die Trasse. Im Gewerbegebiet sind viele Bürofenster schon wieder dunkel. Die Ponderosa liegt jetzt ganz im Schatten. Die Schmierereien an der Wand kann man nur noch lesen, wenn man die Augen zusammenkneift. Wird Zeit, dass wir aufbrechen. Wenn Josie nicht pünktlich zu Hause ist, kriegt sie Stress mit ihrer Mutter. Aber das scheint sie im Moment nicht zu interessieren. Sie steckt Zigarette und Feuerzeug zurück in die Packung und schiebt sich einen Kaugummi in den Mund. Dann lässt sie sich seufzend nach hinten auf die Matratze fallen. Juri schlurft mit den Händen in der Hosentasche durch das knöchelhohe Gras. Er findet Josies Stock, hebt ihn auf und bricht ihn in zwei Teile, die er nacheinander den Hügel hinunterwirft.