Eingeleitet und herausgegeben von W. Fred
Mit Lichtdrucken und Strichätzungen nach den Originalen
Von Daumier, Monnier u.A.
München 1912 bei Georg Müller
» Physiologie des eleganten Lebens« ist der erste Band dieser Sammlung unveröffentlichter Aufsätze Balzacs von mir genannt worden, so wie Balzac selbst die eine Abhandlung, die er für irgendeine längst vergessene Zeitschrift geschrieben hatte, betitelt hat. Sie war eine jener vielen Arbeiten, die Balzac für die Stunde und den Tag geschrieben hat, und in denen er ein System, ein Schema eines Lebensausschnittes zu geben sich anschickte. Ein Teil jener grossen schematischen Darstellung des Lebens, die dieser grosse Dichter vorgehabt hat, dem es immer ein Ziel war, schematisch, vollständig, enzyklopädisch zu sein, und von dem es doch keine einzige Zeile gibt, die in einem tieferen Verstande schematisch, langweilig ist.
Man hat unter den Aufsätzen Axiome gefunden. Man hat unter diesen Aufsätzen Beweise und praktische Anweisungen gefunden, man hat unter diesen Aufsätzen, wenn man sie aufmerksam genug gelesen hat, Wahrheiten gefunden, die heute noch ebenso Wahrheiten sind, wie vor Jahrzehnten, im Gegensatz zu jenen andern Wahrheiten, die am nächsten Morgen Lügen sind, und ins Wesen dieser Literatur eindringend, hat Stefan Zweig die Sammlung als Balzacs »Codices vom eleganten Leben« gerühmt.
Dieser zweite Band nun enthält gleichfalls Aufsätze, die Balzac das eine Mal für La Mode oder La Carricature, das andere Mal für irgendeinen journalistisch-aktuellen Sammelband geschrieben hat, und sie handeln wiederum sozusagen von banalen, von gleichgültigen Dingen, vom Alltag. Wiederum der eine von den Dingen der Mode, der andere von den Gebräuchen jener »fashionablen« Menschen, die nicht immer zu der geistigen oder seelischen Elite gehören, und die der Snob verachtet. Und indes er verachtet, spricht er sich selbst sein Urteil, denn er gehört zu ihnen. Man mag in diesem Buche Teile aus einer kleinen Schrift über »Die Kunst, Krawatten zu binden« lesen, und man mag in diesem Buche dann eine »Monographie des Rentiers« finden, wie einen Beitrag zur »Physiologie des Beamten« und eine »Theorie über moderne Reizmittel«.
Das scheint eine sonderbare Zusammenstellung, und dennoch glaube ich, ist der Titel »Physiologie des Alltagslebens« gerechtfertigt. Es handelt sich wirklich immer um Dinge des Alltagslebens, wie es damals war, heute noch ist und morgen sein wird; im Wesen nämlich: denn Balzac hat das Ewige dieser Menschlichkeiten hervorgespürt und drückt es bald aphoristisch, bald logisch deduzierend, immer plastisch aus. Spricht er davon, wie so ein Rentner ist, wie der sich am Morgen erhebt, um seinen langen Tag totzuschlagen, wie er es angefangen hat, um sein Ideal, nämlich dieses Rentnerleben voll Langweile, zu erreichen, spricht er davon, wie ein Beamter es fertig bringt, Seiten mit wichtigen Nichtigkeiten vollzukritzeln, was das dem Staat kostet und was es dem Staate einbringt; spricht er davon, wie man den Kaffee zu bereiten hat, nicht nur, dass er einem schmeckt, sondern damit der Reiz, die stimulierende Kraft auf unser Nervensystem möglichst lange anhält, spricht er davon, wie man seine Krawatte zu binden hat, aus welchem Gewebe sie sein soll und welchen psychischen Charakter so eine Äusserlichkeit ausdrückt, – überall bemerkt man, dass die Stoffe Banalitäten sind, die Art der Behandlung aber jenes sonderliche Gemisch von tiefer Anteilnahme und Ironie, das schon als Ton des ersten Bandes zu bemerken Gelegenheit war. Dies Gemisch von Ironie und Anteilnahme ist vielleicht das Schönste, jedenfalls das Einprägsamste an dem Balzacschen Stile dieser Bücher. Selbst der Spott und Hohn, der da und dort zutage tritt, ist Liebe zu den ironisierten Typen, den ironisierten Zuständen. Gewiss, sentimental, empfindsam ist Balzac seinen Gestalten gegenüber nicht. Seine Beziehung zu ihnen ist manchmal die des Botanikers zu den Pflanzen im Herbarium, des Zoologen zu den aufgespiessten Käfern. Ja, man kann schon manchmal an Vivisektion denken, so scharf ist das Messer der Dialektik, so nahe rückt der Betrachter seinen Subjekten als Objekten an den Leib. Nur – die Untersuchung mag noch so scharf sein, sie tötet nicht. Unter Balzacs Feder wachsen die Figuren in eine Wirklichkeit, die grösser, stärker ist als jene, die sie hatten, bevor er Lupe und Mikroskop nahm. Und darum glauben wir, Kinder eines späteren Jahrhunderts, in Leuten, denen wir auf der Strasse begegnen, die Modelle zu erkennen, die er vor Augen gehabt hat. Das Büro, das er schildert, scheint das, in dem wir uns gestern den Pass geholt haben, unser Sektassessor ist ein Enkel des Ministerneffen, dem Balzac lächelnd die Hand geschüttelt hat, indes er ihn für die Sektion vormerkte. Die Anteilnahme, die der Balzacschen Kleinkunst, wie wir sie hier vor uns haben, Leuchtkraft gibt, ist die Anteilnahme eines Dichters, dem nichts im Leben gleichgültig ist, sowie es in die Sphäre seiner Spiegelung gerät. Balzac kümmert sich um diese Dinge, Beamte, Rentiers, Tabak und Krawatten, weil er über sie schreiben will. Er hat vielleicht vorher noch nie darüber nachgedacht, wann die Leute angefangen haben, Krawatten zu tragen, wenn er wahrscheinlich auch früher schon darüber nachgedacht hat, wie der Kaffee auf seine Nerven wirkt, wenn er arbeiten will. Aber in dem Augenblick, wo er anfängt, darüber zu schreiben, ob nun der Anstoss die Aufforderung einer Redaktion – heute würde man sagen, der telephonische Anruf eines Zeitungsverlages – ist oder irgendein anderer zufälliger Grund, – von diesem Augenblick an gehört seine ganze Seele diesen Menschen oder Dingen.
Man lese einmal in seinen Briefen an Madame de Hanska nach, wie er schreibt, wie er Korrekturen liest, und man wird wiederum finden, dass durch allen Hass und alle Ironie, mit der er sich selbst, seinen »Schriftstellereibetrieb« – um ein neues Wort aufzunehmen – verspottet, jener Eifer, jenes Fieber sozusagen durchschlägt, das ihn befällt von dem Augenblicke an, wo ein belangloses Thema plötzlich Materie, Stoff, Anlass zu seinen Gedanken und Gefühlen, Bemerkungen geworden ist.
Er hat eine sonderbare Methode. Er fängt historisch an, macht lange Einleitungen, wird dann ungeduldig und bricht ab. Das scheint wie Nachlässigkeit eines Vielschreibers. Hat man aber erst eine Reihe dieser Aufsätze gelesen, so merkt man, dass es doch nicht so ist. Er könnte sich ja seine Einleitungen schenken, wenn es ihm nur um das Füllen von ein paar Seiten, das Einstreichen eines Honorars zu tun wäre. Dieser Mann hat es ja wahrhaftig nicht notwendig gehabt, Zettelkasten auszuräumen, um den Platz zu füllen. Er könnte sicher sein, auch ohne historische Hinweise, auch ohne Erzählen von Anekdoten sein Kapitel fertigzubringen. Es fällt ihm ja wahrhaftig genug ein, und wenn es einmal so aussieht, als hätte er keine eigene Beziehung zu einem Stoff, so fällt ihm eine sonderbare Gruppierung von Worten ein, seine Sätze werden zu Pointen, zu Bitterkeiten, zu Witzen, zu Spötteleien, zu Wehmut, zu Schmerz, ohne dass er mühselig darum ringen muss. Weil ihm eben das Schreiben die Lebensform ist.
Dennoch aber lässt er sich nicht abhalten, historisch zu werden, fast philologisch. Er erzählt, wie das mit der Seide ist, aus der man dann melancholisch wirkende Halstücher macht, er erzählt, wie das mit dem Kaffee ist, vom Ursprung, von den Zeiten der ersten Verwendung oder von den Persönlichkeiten, die auf die oder jene Mode Einfluss gehabt haben. Man merkt den Reflex der Lektüre anderer Bücher oder manches Weges in die Bibliothek, die damals noch keine Bibliothèque nationale, sondern eine Bibliothèque royale war. Aber wie oft er das auch tut, immer kommt ihm der Spott dazwischen. Jener Spott über sich selber, der dann manchmal zu einem Spott über die Gegenstände wird, an denen er doch tiefen Anteil nimmt. Natürlich ist der Rentier, den er schildert, lächerlich, weil er gesehen ist mit den scharfen Augen Balzacs, die Distanz des Dichters vor seiner Figur diese grotesk erscheinen lässt. Aber derselbe Rentier ist auch durch Balzac ein Mensch, den wir als Bruder fühlen mit all seinen grotesken und schrullenhaften Eigenschaften, weil er gesehen und geschildert ist von Balzac, dessen Herzschlag den Rhythmus seiner Darstellungen schafft. Auch der Beamte, dessen Monographie Balzac in diesem Bande gibt, ist ja eigentlich ein kläglicher und armer Mensch. Im Grunde genommen hat Balzac eine furchtbare Wut auf ihn. Die Wut gegen die Bureaukratie, die Wut gegen die Kleinlichkeit, wahrscheinlich auch oft die Erinnerung – bewusste oder latente Erinnerung – an Begegnungen mit hochmütigen, mit törichten Beamten, mit denen er sich herumschlagen musste. Aber indes er sich in die Seele dieser Menschen hineinfühlt, vergisst er zwar nicht zu notieren, wie es kommen musste, und immer wieder kommen muss, dass dieser Beamte und so ziemlich alle Beamten so oder so Narren oder arme, gehetzte Sklaven mit niedrigen Instinkten sind, aber er entdeckt auch, warum sie es sind, versteht sie. Er verzeiht ihnen nicht, denn eine solche törichte Überheblichkeit fehlt dem Darsteller der menschlichen Komödie ja überhaupt, sondern er weiss sie uns nahezubringen. Wir erinnern uns plötzlich, dass wir alle die Beamten kennen, dass wir alle diese Rentiers kennen, dass wir sie nicht nur in ihren lächerlichen Augenblicken kennen, sondern auch in jenen sonderbaren Momenten, wo sich plötzlich die Tragikomödie ihres Lebens enthüllt, wo wir auch die andere Seite sehen, das Elend, das persönliche Elend, das Elend des Standes. Und wir sehen, woher dieses Elend kommt und wir fühlen, dass diesem Elend wohl noch lange nicht abzuhelfen sein wird. Das hat auch Balzac gefühlt. Und deshalb ist fast Herzlichkeit hinter seinem Zorn, und aus all seiner Ironie spricht wirkliches Gefühl, wenn es auch Balzac nicht selbst hinausschreien möchte, neben allen Scherzen über die Torheiten des Rentiers, über die Torheiten des Beamten, über die Torheiten des »Fashionablen«.
In einem einzigen Kapitel dieses Buches scheint Balzac eigentlich nur lehrhaft, seriös zu sein. Das ist das Kapitel über die modernen Reizmittel. Modern sind nun diese Reizmittel für uns leider seit langem nicht mehr; es sind Kaffee, Tee, Tabak, und wir sind alle diese Dinge längst gewöhnt. Hier wird Balzac ernster, als er sonst ist. Natürlich, er macht von Zeit zu Zeit einen Scherz, erzählt irgendeine phantastisch-groteske englische Geschichte, die man aufs Wort glauben soll, oder verhöhnt einen gerade berühmten Zeitgenossen, wie denn alle diese Schriften journalistischen Charakter haben, der ihnen auch durch die Übersetzung nicht genommen werden sollte. Aber bei diesem Kapitel bleibt er ernst und es ist, so sonderbar das scheint, das persönlichste Kapitel dieses Buches, wenn es auch nicht das amüsanteste ist. Denn es zeigt den Balzac, der seine Maschine heizt. Nur so kann ich es deuten. Seine Maschine heizen. Er hat in dieser Schrift ausgesprochen, was erst Generationen nach ihm klar und scharf formuliert haben, den Zusammenhang zwischen den Reizmitteln und dem geistigen Schaffen.
Er weiss ganz genau, was wir heute erst nach biologischen, nach physiologischen, nach medizinischen Experimenten und Erfahrungen wissen, dass jeder Reiz sich mit der Zeit abstumpft, dass, wenn man die Wirkung des Reizes erhalten will, man sorgfältig mit dem Reizmittel umgehen muss, in seiner Dosierung, in seiner Verwendung, mit den Surrogaten, mit der Zeit der Anwendung usw. klug sein. Das alles weiss Balzac schon. Es steht nicht nur zwischen den Zeilen, sondern manchmal auch in so deutlichen Sätzen, als wären sie aus einem Lehrbuch der Psychiatrie vom Jahre 1912. Moral fehlt natürlich in der Abhandlung vollständig; es sei denn die eine Moral, dass wir uns keinen Reiz entgehen lassen sollen, und dass wir trotzdem schauen müssen, nie dahin zu kommen, dass die Fülle der Unlustgefühle, die uns der Gebrauch eines Reizmittels einbringt, grösser wird als die Fülle der Lustgefühle, die er uns verschafft. In diesem Sinne soll man die paar Seiten über den Kaffee oder Tee eigentlich zwei- oder dreimal lesen. Man könnte sie ebensogut auch auf den Alkohol und ebensogut auf das Opium anwenden, man könnte sie ebensogut auf das Spazierengehen und ebensogut auf die Erotik anwenden, und man könnte schematisch, wie Balzac es gelegentlich ist, aus ihnen ein ganzes System der Lebenstechnik entwickeln.
Heisst das aber nicht, diese Aufsätze, Früchte gelegentlicher Stunden, fast möchte man sagen toter Stunden, oder Zwischenpausen zwischen grossen Arbeiten etwas zu schwer, etwas zu tragisch, etwas zu pathetisch nehmen? Vielleicht. Balzac selbst mag irgend etwas davon gespürt haben, wenn er unmittelbar nach einer ernsthaften historischen oder psychologischen Auseinandersetzung einen Witz macht, den man, wäre er ein Berliner – welche Vorstellung! – einen schnoddrigen Witz nennen würde, so kaltschnäuzig ist er. Oder wenn er mit irgendeiner aktuellen Anspielung, die wir heute kaum mehr verstehen, und die in vielen Fussnoten zu erklären ich nicht für notwendig gefunden habe, mit einem Wortspiel oder mit einem jähen Gedankenspiel den Kreis scheinbar schliesst. Vielleicht bedarf der Übersetzer der Nachsicht des Lesers. Er hat es nämlich unterlassen, alles zu erklären und zu kommentieren, hat es selbst dort unterlassen, wo eine Erklärung des Details möglich und nützlich gewesen wäre. Ich war der Meinung, dass man dieses Buch in seinem Innersten erfassen müsse, anstatt es Zeile für Zeile zu zerpflücken. Das Buch sollte nicht allzuviel von seiner Leichtigkeit einbüssen, und ich glaubte, dass es den Eindruck jeder dieser Seiten, vor allem aber den Zusammenhang zerstören, den Ton verwischen würde, wenn jeder Anspielung auf irgendeine Aktualität des Jahres achtzehnhundertundsoundsoviel die Erklärung, die das Konversationslexikon oder die Enzyklopädie ergeben hätte, hinzugefügt wäre. Der Herausgeber muss sich noch im besonderen bei den Philologen entschuldigen. In der kleinen Schrift über die Krawatten sind nämlich ganze Kapitel weggelassen.
Das ist ein sonderbares Buch, das mir der Zufall in die Hände spielte. Es ist unzweifelhaft von Balzac, darüber kann ich die Gemüter beruhigen. Sogar die höchst kritische Bibliographie der Bibliothèque nationale zeigt das an, und zeitgenössische Schriften geben den Beweis, dass Balzac der Verfasser dieser anonym erschienenen kleinen »Physiologie« ist. Aber wenn auch Balzac der Autor ist, in diesem einen Fall schien mir die Vollständigkeit von Übel. Man hätte nämlich auch alle die Tafeln mit reproduzieren müssen, durch die »Die Kunst, seine Krawatte zu binden« aufs genaueste illustriert wird. Und dann »stimmt« sozusagen das meiste nicht mehr. Die Meinungen über den Anstand in Krawattenfragen haben sich geändert; dann, wir wollen ja nicht unsere Krawatten heute so binden, wie es die Zeitgenossen Balzacs getan haben, wir haben ja auch nicht die Möglichkeit, in jenen Geschäften zu kaufen, die Balzac in dem Buch als die besten Quellen für den fashionablen Mann angegeben hat. Die sechzehn praktischen Lektionen amüsieren vor allem durch die – Überschriften. Balzac weiss von einer cravate sentimentale und einer mathematique, von einer à la gastronome und à l'Indépendance. Natürlich auch von einer englischen und amerikanischen. Und der Verdacht ist nicht abzuweisen, dass es von einigen dieser Künste, die Krawatte zu binden und zu tragen, nur den Titel gegeben hat, nur die Bosheit. Das gilt, glaube ich, ebenso von der »coquille dite pucellage« – der Staatsanwalt wünscht, dass ich die Übersetzung lasse – wie von der »jesuitique«, der romantischen à la Byron und der komödiantischen à la Talma. Diese kleinen Scherze muss der intime Freund Balzacscher Art schon im französischen Original aufsuchen. Uns bleibt hier trotz allem noch genug: eine Art Kostümgeschichte, fast Kulturgeschichte, gesehen durch das Temperament der Krawattenfreunde, eine geistreiche Erklärung der »Incroyables«. Das muss genügen. Aus diesem Grunde ist also von diesem Buche nur ein Teil, sozusagen das Prinzipielle, hier gegeben worden, wenn es auch an Reiz nicht gefehlt hat, das Ganze zu geben, besonders da selbst die Franzosen die Schrift seit der ersten Ausgabe nie wieder erscheinen liessen, und fast niemand sie also kennt. Franzosen sind nicht so bücherlüsterne Menschen wie wir. So haben sie die Originalausgabe, ein kleines, vergilbtes, nur in wenigen Exemplaren in Paris und hier in der Lipperheide-Sammlung (allerdings ohne dass Balzacs Autorschaft gekennzeichnet ist) von mir gesehenes Exemplar nie neugedruckt. Vielleicht geschieht es jetzt, wenn sie auf dem Umwege über unser Tun hier darauf aufmerksam gemacht werden. Diese »L'art de mettre sa cravate«, »Die Kunst, seine Krawatte zu binden« und zu tragen – man begreift rasch genug, dass Balzac gewusst hat, dass das Binden allein noch nicht, sondern das Tragen das wichtigste ist, nämlich die Art, wie man sich mit seiner Krawatte, mit allen seinen Kleidungsstücken in der Welt bewegt, – ist ein Gegenstück zu einer andern kleinen Schrift: »L'art de payer ses dettes«, die wir im dritten – und wir versprechen es – letzten Bande dieser Ausgabe unveröffentlichter Schriften Balzacs bringen wollen.
Als Zeichnungen, als Bilder, nicht als Illustration zu den Texten sind diesmal vor allem Blätter von Daumier und Monnier hier beigefügt worden, weil beide ebenso wie Gavarni (es ist ja schon in der Einleitung des ersten Bandes davon die Rede gewesen) Männer aus demselben Geistes- und Gefühlskreise wie Balzac waren. Nicht so gross wie er, aber begabt mit hellen Augen. Wie sie die Menschen rasch mit der Kohle oder Feder zu fassen verstanden haben, so hat sie auch Balzac in seinen kurzen Kapiteln von Mode und Alltag erfasst. Den grossen Blick für die Zusammenhänge hat Daumier nicht gehabt, er ist eben ein Zeichner, kein Dichter. Trotzdem wüssten wir, selbst wenn er nicht ein Zeitgenosse Balzacs gewesen wäre, keinen andern Künstler aus der Heerschar aller Künstler aller Zeiten, der dieses Buch besser illustriert hätte, wenn es nämlich überhaupt darauf ankäme, es zu illustrieren. Die Balzacschen Worte bedürfen keiner Illustrationen. Das Buch bedarf dieser Ergänzung nicht. Aber Balzac ist unser Lehrmeister und er weiss es: das Überflüssige ist das Notwendige. Darum haben wir diese Blätter von Daumier, Monnier, Trimolet, Vernet und anderen aus dem gleichen Kreise zwischen die Seiten Balzacs drucken und heften lassen.
W. Fred.
Anthropomorphes Wesen nach Linné, 1 Säugetier nach Cuvier, Abart der Gattung Pariser, Familie der Aktionäre, Stamm der Einfältigen, der Civis inermis der Alten, entdeckt vom Abbé Terray, beschrieben von Silhouette, neu festgestellt durch Turgot und Necker, auf Kosten der »produzierenden Klassen« (siehe: Saint-Simon) endgültig dem Besitzstand der Welt einverleibt.
Dieses aber sind die wesentlichen Charakterzüge dieses bemerkenswerten Stammes, wie sie heute die hervorragendsten Kenner und Deuter Frankreichs und des Auslandes anerkennen:
Der Rentier erreicht eine Höhe von fünf bis sechs Fuss, seine Bewegungen sind im allgemeinen langsam; aber die fürsorgliche Natur, auf die Erhaltung der schwächeren Gattungen bedacht, hat ihm die Omnibusse geschenkt, mit deren Hilfe die meisten Rentiers sich von einem Punkt der Atmosphäre von Paris zum andern bewegen; entzieht man ihnen die Pariser Luft, so leben sie überhaupt nicht mehr. Jenseits dieser Grenze kränkelt der Rentier und geht ein.
Seine grossen Füsse sind von Knopfstiefeln bedeckt, seine Beine stecken in bräunlichen oder rötlichen Beinkleidern. Im Hause krönt ihn ein kreisrundes Mützchen; im Freien deckt ihn ein Hut, der zwölf Franken kostet. Seine Krawatte ist aus weissem Musselin. Fast alle diese Individuen sind mit Stöcken bewaffnet und einer Tabacière, der sie ein schwärzliches Pulver entnehmen, mit dem sie unaufhörlich ihre Nasenlöcher anstopfen, eine Gewohnheit, die der französische Fiskus sehr geschickt auszunützen versteht. Wie alle zur Gattung Mensch gehörenden Individuen ist er ein Säugetier und scheint ein vollkommenes organisches System zu besitzen: eine Wirbelsäule, ein Zungenbein, ein Schulterbein, ein Jochbein; alle Glieder bewegen sich ordentlich in den Gelenken, werden geölt aus den Synovialdrüsen, zusammengehalten durch die Muskeln und Nerven. Der Rentier hat zweifellos Venen und Arterien, ein Herz und Lungen. Er nährt sich von Gemüsen, von gerösteten oder gebackenen Ceralien, verschiedenen Fleischsorten oder gefälschter Milch von Tieren, die der städtischen Verzehrungssteuer unterworfen sind. Allein trotz den hohen Preisen dieser Nahrungsmittel, die eine besondere Eigentümlichkeit unserer Stadt Paris sind, hat sein Blut weniger Aktivität als das der andern Gattungen.
Er weist noch andere bemerkenswerte Abweichungen auf, die seine Einordnung in eine besondere Klasse nötig machen. Sein Gesicht ist bleich, oftmals wulstig und ohne Eigenart, was auch eine Eigenart ist. Die wenig beweglichen Augen haben den stumpfen Ausdruck jener toten Fische, die im Schaufenster von Chevet ausgestreckt auf Petersilie liegen. Der Haarwuchs ist spärlich, das Fleisch zäh, die Organe sind träge. Der Rentier besitzt gewisse narkotische Eigenschaften, höchst wertvoll für die Regierung, die sich denn auch seit fünfundzwanzig Jahren um die Erhaltung und Fortpflanzung dieser Gattung ausserordentlich angestrengt hat: in der Tat ist es für jedes Individuum aus dem Stamme der Künstler, dem unbezwingbaren Geschlechte, mit dem jene stets auf Kriegsfuss leben, schwer möglich, nicht einzuschlafen, wenn es einen Rentier reden hört; seine langsame Sprechweise, sein stupider Ausdruck und sein jeder Bedeutung entbehrendes Idiom machen den Künstler ganz einfach stumpfsinnig. Die Wissenschaft hat die Aufgabe gehabt, die Gründe solcher sonderlichen Kräfte zu erforschen.
Auch beim Rentier ist das Knochengehäuse des Schädels mit jener grauweisslichen, weichen, schwammigen Masse angefüllt, die den wirklichen Menschen unter den Anthropomorphen den ruhmreichen Titel »Könige der Tiere« eingetragen hat, – eine Bezeichnung, die sie in der Tat durch ihren Missbrauch aller Dinge der Schöpfung rechtfertigen – allein, wenn beim Rentier diese Masse auch vorhanden ist, weder Vauquelin, Darcet, Thénard, Flourens, Dutrochet, Raspail, noch irgendein anderer Naturforscher konnte trotz den eifrigsten Versuchen in ihr auch nur die geringsten Keime von Gedanken feststellen. Bei allen bis heute im Laboratorium des Kosmos destillierten Rentiers ergab die Analyse dieser Substanz folgende Zusammensetzung: 0,001 Urteilskraft, 0,001 guten Geschmack, 0,069 Gutmütigkeit und der Rest Bedürfnis, irgendwie zu leben. Die Untersuchungen, die Phrenologen über die äussere Schale des intellektuellen Mechanismus eines Rentiers anstellten, haben die Erfahrungen der Chemiker bestätigt: sie ist völlig rund und weist keinerlei Höcker oder Erhöhung auf.
Ein berühmter Autor arbeitet an einem Traité de Rienologie, wo alle Besonderheiten des Rentiers sehr eingehend beschrieben sind, und wir wollen diesem schönen Werk nichts schnöde vorwegnehmen. Die Wissenschaft sieht dem Erscheinen dieser Arbeit mit um so grösserer Ungeduld entgegen, da der Rentier eine Errungenschaft der modernen Zivilisation bedeutet. Die Römer, die Ägypter, die Perser, alle diese Völker wussten nichts von der sonderbaren Form des nationalen Schuldensystems, das man Kredit nennt, und durch das erst das Rentenwesen ermöglicht wurde. Niemals wollten sie glauben (credere, daher Kredit), dass man ein Stück Land und Boden durch einen beliebigen Papierfetzen ersetzen könne. Cuvier hat nicht eine Spur dieser Gattung an den Petrefakten entdecken können, die uns von so vielen vorsündflutlichen Tieren erhalten worden sind. Es sei denn, dass man den in einem Steinbruch aufgefundenen petrifizierten Mann, der vor einigen Jahren die Schaulust vieler Neugieriger angelockt hat, als ein Specimen der Gattung gelten lassen will. Aber wie viele schwierige Fragen würde diese Annahme aufwerfen! Sollte es also Hauptbücher und Wechselagenten schon vor der Sündflut gegeben haben? Nein, sicher hat es keine Rentiers vor der Regierung Ludwig XIV. gegeben. Das Datum seiner Entstehung ist das der Ausgabe von Pfandbriefen auf das Pariser Rathaus. Der Schotte Law hat dann sehr viel für die Vermehrung dieser jämmerlichen Gattung getan. Die Existenz des Rentiers hängt wie die der Seidenraupe von einem Blatt ab, und wie das Ei des Schmetterlings wird er höchstwahrscheinlicherweise auf Papier in die Welt gesetzt. Trotz allen Anstrengungen der harten Logiker, denen wir die berühmten Arbeiten des Wohlfahrtsausschusses verdanken, ist es unmöglich, diese Gattung zu verleugnen seit Errichtung der Börse, Emission der Anleihen, nach den Schriften von Ouvrard, Bricogne, Laffitte, Villèle und anderen Individuen aus dem Stamme der Wucherer und Minister, die sich redlich bemühen, die Rentiers zu peinigen. Ja, der schwache und sanftmütige Rentier hat Feinde, gegen die ihn die soziale Welt nicht zur Genüge mit Kampfmitteln gerüstet hat. Übrigens auch die Deputiertenkammer widmet ihnen, wenn auch widerwillig, ein besonderes Kapitel bei der Besprechung des Jahresbudgets.
Daumier
In diesen Betrachtungen können auch jene – übrigens erfolglos gebliebenen Versuche – nicht unerwähnt gelassen werden, die Produzenten sowie Nationalökonomen, diese von Saint-Simon und Fourier erschaffenen Stämme, unternommen haben, und die nichts Geringeres anstrebten, als die Wiederausmerzung dieser Gattung, die sie als einen Schmarotzer betrachteten. Aber solches Urteil, solche Einordnung geht meines Erachtens doch zu weit. Es wird die frühere Arbeit des Rentiers nicht in Rechnung gesetzt. Gibt es ja unter dieser Gattung mehrere Individuen, insbesondere in der Varietät der Pensionierten und Militärs, die einmal – gearbeitet haben. Es ist nicht wahr, dass der Rentier sich seines sozialen Gehäuses erfreut, ohne dass es ihm durch eigenes Recht gehört, der schleimigen Polypenmasse gleich, die man in der Muschelschale findet. Alle, die das Geschlecht der Rentiers austilgen wollen – und einige Nationalökonomen bestehen unglücklicherweise auf dieser These –, beginnen damit, die grundlegende Wissenschaft umstürzen zu wollen und Tabula rasa mit der politischen Zoologie zu machen. Wenn diese unbesonnenen Neuerer Erfolg hätten, würde Paris das Fehlen der Rentiers sehr bald schmerzlich empfinden. Der Rentier stellt eine wunderbare Übergangsstufe zwischen der gefährlichen Familie der Proletarier und den merkwürdigen Familien der Industriellen und Hauseigentümer dar, bildet das Mark der Gesellschaft: er ist der Regierte par excellence. Er ist mittelmässig, jawohl! Gewiss, der Instinkt der Individuen dieser Klasse ist darauf gerichtet, alles zu geniessen, ohne etwas selbst herzugeben. Aber sie haben ihre Energie vorher tropfenweise hergegeben, sie haben sogar als Nationalgarde Posten gestanden! Übrigens, man kann ihre Nützlichkeit gar nicht ohne flagrante Undankbarkeit gegen die Vorsehung leugnen. In Paris ist der Rentier wie Watte, die zwischen die anderen beweglicheren und heikleren Gattungen gepackt ist, um zu hindern, dass sie sich gegenseitig zerbrechen. Man entferne den Rentier, – und man unterdrückt irgendwie den Schatten in dem sozialen Bild, die Physiognomie von Paris verliert ihre charakteristischesten Züge. Dem Beobachter dieser Varietät aus der Klasse der Papierbeschmierer entginge der Anblick dieser merkwürdigen Menschlichkeiten, die über die Boulevards gehen, ohne weiterzukommen, die zu sich selber sprechen, die Lippen bewegen, aber keinen Ton hervorbringen; die drei Minuten brauchen, um den Deckel ihrer Tabatière auf- oder zuzumachen, und deren bizarre Profile die köstlichen Extravaganzen der Callot, Monnier, Hoffmann, Gavarni, Granville rechtfertigen. Die Seine, diese schöne Königin, verlöre ihre treuesten Kurmacher. Ist es nicht der Rentier, der sie besucht, wenn sie Treibeis führt, wenn sie völlig vereist ist, wenn sie, ein Flüsschen, den niedrigsten am Pont Royal verzeichneten Wasserstand erreicht, wenn sie zu einem Bach zusammengeschrumpft ist, der sich im Sande verliert? Zu jeder Jahreszeit findet der Rentier einen Anlass, um an die Seine zu gehen und tiefsinnig ins Wasser zu blicken.
Der Rentier steht auch oft sinnend vor den Häusern, die der Demolierwut der Gattung der Bauspekulanten anheimfallen. Unerschrocken wie alle seinesgleichen pflanzt er sich breitbeinig auf, die Nase in der Luft, wohnt dem Fallen eines Ziegelsteines bei, den der Maurer mit seinem Hebel aus der Mauer stemmt. Er verlässt seinen Platz nicht, ehe der Stein herabgefallen ist, er hat einen heimlichen Pakt geschlossen zwischen sich und dem Stein; erst wenn der Fall geschehen ist, geht er, aufs äusserste beseligt, von dannen. Harmlos, wie er ist, nimmt er sonst an keinerlei Umsturzbestrebungen teil. Der Rentier verdient Bewunderung, denn er führt die Funktionen des antiken Chores aus. Comparse in der grossen sozialen Komödie, weint er, wenn man weint, lacht, wenn man lacht, und pfeift seine Melodie zu den Freuden und Leiden des öffentlichen Lebens. In eine Ecke des Theaters gedrückt, triumphiert er über die Triumphe von Algier, von Constantine, von Lissabon, von Ulloa so gut, wie er den Tod Napoleons beklagt oder die Katastrophen von Fieschi, von Saint-Méry, von der rue Transnonain. Er betrauert den Hingang berühmter Männer, deren Name ihm unbekannt ist; er übersetzt die pompösen Nachrufe der Zeitungen in seinen Stil, den des Rentiers. Er liest die Zeitungen, die Prospekte, die Plakate, die ohne ihn ganz zwecklos wären.
Sind nicht eigens für ihn jene Worte erfunden worden, die nichts sagen und zu allem passen? Zum Beispiel Fortschritt, Dampf, Asphalt, Garde nationale, demokratisches Element, Versammlungsrecht, Gesetzmässigkeit, Einschüchterung, Strömung und Aufruhr? Sie sind verschnupft? Schön, der Kautschuk erstickt den Schnupfen! Sie empfinden die schreckliche Langsamkeit der Bureaukratie, die alle Aktivität in Frankreich hemmt, kurz, Sie sind aufs äusserste aufgebracht? Der Rentier sieht Sie an, schüttelt den Kopf, lächelt und sagt:
»Tja, das Gesetz!«
Die Geschäfte gehen schlecht?
»Da hätten wir den Einfluss der demokratischen Elemente!«
Bei jeder Gelegenheit bedient er sich dieser geheiligten Worte, deren Konsum im Laufe der letzten zehn Jahre dermassen überhandgenommen hat, dass dereinst hundert Historiker zu tun haben werden,