Dialog vom Marsyas

An Gerhart Hauptmann

Man soll immer nur mit dem Edelsten umgehen;
alles übrige ist Erniedrigung.
WAGNER

Wir sahen an, was der Sammler oder wie er, aus den dunklen Zuständen der Heimat abgelöst, um betrachtend, erhorchend durch die Welt zu schweifen, sich jetzt lieber nennen hört: der Planet von der Reise mitgebracht, und waren eben dabei, uns nach diesen Photographieen und wie er sie uns, Erinnerung aus seinen Heften ergänzend, kräftig zu beleben verstand, die Zeichnungen vorzustellen, die im fünften Saal der venezianischen Akademie sind. Erst wurden die des Leonardo bewundert, wenn auch unser junger Künstler, der Respekt nicht kennt und sich immer nur an sein lautes Gefühl hält, von diesen bizarren, bald schauerlichen, bald lächerlichen, niemals natürlichen, immer heftig über irdisches Maß hinausgetriebenen Köpfen fand, sie wären nicht gesehen, sondern Leonardo hätte hier damit gespielt, menschliche Stirnen oder Nasen oder Lippen willkürlich als bloße Linien zu behandeln, an welchen er beliebig, mit Verachtung der Wahrheit, seinen Übermut ausgelassen, in einer gewiß amüsanten, aber doch die Treue des wahren Zeichners, er nannte Dürer, verletzenden Art. Doch nahm sich der Meister, bei dem wir versammelt waren, der Blätter an, indem er, ähnlicher in der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand und auch in unserer Albertina gedenkend und auf den Vasari verweisend, nach welchem sie keineswegs Karikaturen, sondern Abbildungen aus dem Leben wären, uns bat zu beachten, wie groß es wirke, daß diesen Zeichnungen jeder Gedanke an einen Zuschauer fehlt, und wie Leonardo sichtlich in seine Werke doch immer nur sich selbst eingetragen habe, was sein Auge sah, sein Sinn vernahm, unbekümmert, ob es gefallen oder empören würde. Wenn erzählt wird, fuhr er fort, daß er oft Verbrechern zum Galgen folgte, um die Zeichen der Todesangst auf ihren Stirnen zu sehen, oder auch daß er gern seltsam aussehende Leute, sei es, daß er in ihrem Antlitz eine besondere Tücke oder aber einen ungewöhnlich komischen Streich der Natur fand, zu sich in das Haus gelockt habe, um ihnen beim Essen mit munteren Freunden solche Späße vorzutragen, daß sie darüber und durch den Wein erregt aus vollem Halse lachen mußten, so wollen wir uns erinnern, daß er ebenso später, als ihm Lisa, die Frau des Messir Giocondo, saß, sie mit lieblicher Musik umgab, bis leise, von so süßen Tönen angezogen, Lächeln auf ihre Wangen glitt. Denn er wußte, wessen die Natur fähig ist, wenn sie gereizt wird, aber daß sie, leichten oder trägen Sinnes und auch immer gleich wieder von neuen Wünschen abberufen, es gern beim ersten Versuche vergeßlich bewenden läßt, weshalb sie den strengeren Künstler braucht, um sich auszuführen und zu vollenden. Er ging ihr nach, soweit sie kommt. Oft aber ließ er sie, die schnell ermüdet, dann hinter sich zurück, und wir haben doch erst durch ihn erfahren, was aus ihr, denkt man sie aus und hilft ihr nach, alles werden kann, sowohl nach der Seite der Schönheit hin als auch wie hier nach der andern Seite; er war freilich zu tief eingedrungen, um noch das Schöne und das andere zu trennen, bis in solchen Grund, wo diese Begriffe verloren sind. So meinte der Meister und schlug nun ein neues Blatt auf, aus jenem Skizzenbuch, das einst dem Raffael zugeschrieben war, sagend: »Hier seht her, um die Macht Leonardos zu fühlen, was sie gewesen ist, indem ihr, noch seinen rein aufnehmenden Geist in den Augen, jetzt die andern vergleicht, welche, während sie die Natur anzuschauen glauben, den Blick nicht vom Publikum lassen können. Immer fragen es ihre Gestalten: ›Bin ich nicht lieb?‹ Was es ihnen denn, geschmeichelt, auch prompt mit Bewunderung vergilt.«

Da wies der Sammler, der gerecht ist, während uns der Meister oft wiederholt, solche Tugend solle man lieber den Himmlischen überlassen, noch ein Blatt der venezianischen Sammlung her, dieses wirklich von Raffael, wie er beteuerte, nämlich den Marsyas mit dem Apoll, jenem Bild im Louvre ähnlich, das als der Raffael des Morris Moore bekannt, übrigens auch ungewiß ist, früher dem Mantegna zugewiesen, dann von manchen dem Perugino, jedenfalls als ein Umbrisches Werk erkannt. Von seinen Wanderungen und den Vermutungen der Kenner erzählte der Sammler nun, auch gab er an, worin es anders als die Zeichnung ist, auf welcher die Burg, die das Bild in blühender Gegend zeigt, die Leier, der Köcher und die Pfeile des Gottes fehlen, dieser aber dafür durch einen in seiner stillen Linie fast wie Musik süß wirkenden Stamm von seinem Gegner geschieden ist. Und dann beschrieb er uns noch mit Worten das Blatt, indem er es zugleich zärtlich, fast lüstern, von leisen Fingern anzufühlen erfreut war, um es mit allen Sinnen zu schmecken, und sprach: »Es ist in einem blaßrosigen Schimmer gehalten, nur an den Haaren des Gottes dunkle, in der Landschaft aber weiß. Links sitzt Marsyas auf einem Trunk, ein turnerisch ausgebildeter junger Mensch, leicht vorgebeugt, und die leise Neigung des Körpers, die behutsam die Flöte mehr wie liebkosende Hand und der in Vergessenheit der ganzen Welt und völliger Versunkenheit erloschene Blick lassen uns die Andacht, ja fast Angst des Künstlers empfinden, der nach seinen inneren Stimmen hinlauscht; alles an ihm ist durch ein starkes Gefühl von Ergriffenheit oder Sehnsucht gebunden. Apoll aber steht aufrecht da, den rechten Arm in die Hüfte gelegt, während sich die linke Hand um seinen langen Stab schließt. Das Haupt, von dem Locken an den Hals und in den Nacken ringeln, mit bekränzter Stirne, ein wenig gesenkt, blickt er zum Bläser lässig mit unbewegter Miene hin, die freilich unser Meister, der anderes bei sich hegt, vielleicht wieder leer, am Ende sogar kokett finden wird, während mir doch ist, als ob man die leise Verachtung, in welcher sich der schaffende Geist vor den dumpfen Bemühungen unbewußter Kraft zu sichern weiß, kaum liebenswürdiger ausdrücken könnte.«

»Dies also«, fragte der Meister, »scheint dir der Sinn des Blattes zu sein?« Und lächelnd wendete er sich dem jungen Künstler zu: »Du verzeihst, wenn wir, was dich, und du hast ja für dich ganz recht, nervös macht, uns doch nicht abgewöhnen können: in Werken der Kunst einen Sinn zu suchen.«

»Da die Zeichnung vortrefflich ist,« sagte der Künstler, aufmerksam über das Blatt gebeugt, »mag sie immerhin einen haben.«

»Sie ist es«, bestätigte der Meister. »Ich verkenne Raffael nämlich durchaus nicht, wie der Planet zu glauben scheint. Es hat vielleicht kein Maler je mehr Talent gehabt. Das weiß ich schon, nur müßt ihr mir erlauben, Talent, wenn es losgelöst ist, nicht so zu schätzen, wie meistens geschieht. Wenn es nicht auf einer großen Natur ruht und durch diese sozusagen entschuldigt wird, kommt es mir eher unheimlich vor. Übrigens aber achte ich Raffael, weil er schön war und sich nicht geplagt hat. Auch an diesem Blatt gefällt mir, daß es keine Mühe zeigt, sondern jene kindlich, bisweilen freilich schon auch fast kindisch unschuldige Lust an gefälligen und angenehmen Linien, die sich dieser doch sonst so sehr verdorbene Mensch wie durch ein Wunder bewahrt hat. Gedacht aber wird er sich kaum viel dabei haben.«

»Wenn ich dich recht verstehe,« griff nun der Arzt ein, zum Sammler gewendet, »so meinst du, er stelle hier den, der seine Kunst kann und bedacht hat, gegen den nur gefühlvollen Dilettanten, oder wie wir heute sagen würden: den Künstler gegen den Naturalisten auf. Das ließe sich ja hören, aber ich würde dann doch um einen andern Marsyas bitten müssen, wie zum Beispiel ich mich erinnere, daß der in Hellbrunn bei den Wasserkünsten ist, schon an die Fichte gebunden und vom Skythen, der das Messer wetzt, bedroht, wirklich ein so ruppiger Kerl, daß man dem Apollo seinen Sieg gönnt. Dagegen dieser hier, wie still und versonnen er sitzt, eher in der Haltung eines sanften bukolischen Dichters, ist mir dazu viel zu manierlich.«

»Ich gebe ja zu,« sagte der Sammler, »daß der Ausdruck niemals Raffaels starke Seite war. Was irgend eine Gestalt oder Situation, sei es der Mythen, sei es unserer Legenden, bedeuten mag, ist ihm im Grunde gleich und doch eigentlich immer nur ein Vorwand, sich in der Darstellung edel gegliederter Menschen zu ergehen. Wie seine Madonnen, unsere im Grünen oder die mit dem Stieglitz oder die schöne Gärtnerin, anmutig sitzende junge Frauen sind, so werden hier nur zwei Jünglinge gezeigt, ein innig wünschender und ein stolz verachtender, und nur leise schimmert der alte Sinn der Fabel doch noch hervor, der natürlich viel stärker an jenem gierig taumelnden Marsyas wirkt, wie ihn die Alten gebildet haben.«

»Von dir, Planet,« sagte der Meister da, »wundert es mich eigentlich, auch dich so schlechthin die Alten sagen zu hören, wie dies viele tun, da doch dir bekannt sein muß, daß es auch unter ihnen frühe und späte und zur selben Zeit wieder von verschiedenen Gesinnungen und, was wichtiger ist, immer solche von Talent und andere ohne Talent gab. Von ›den Alten‹ zu sprechen ist nicht viel klüger als von ›den Deutschen‹, zu welchen auch schließlich Wolfram von Eschenbach ebenso wie Paul Lindau gehört.«