Vorwort

Am 29. Juni 1871 stach das Schiff » Polaris« von New York unter Kapitän Franz C. Hall in See zur Erforschung des Hochnordens. Der Dampfer nahm seinen Weg über Neufundland an der Westküste Grönlands entlang durch den Smith-Sund und überwinterte in einer Bucht dieser Küste, die Hall »Polaris-Bay« taufte. Dort wurde ein Observatorium errichtet, und von dort aus unternahm man Schlittenreisen nach Süden und Norden. Hall starb nach Rückkehr von einer solchen Fahrt am 8. November 1871. Im August 1872 mußte infolge Kohlenmangels und eines Lecks die Heimfahrt angetreten werden. Am 15. Oktober erlitt die »Polaris« Schiffbruch. Ein Teil der Besatzung, 14 Mann, blieb beim Wrack zurück und baute eine Hütte, »Polaris-Haus«, für den Winter; der andere Teil wurde von einem Eisfelde nach Süden getrieben, auf das man in der Voraussicht des Schiffbruches schon eine Nothütte, alle Boote, viele Geräte, Waffen und Proviant für die gesamte Mannschaft gebracht hatte. Auf der Scholle befanden sich der Meteorologe Friedrich Meyer, der Navigationsgehilfe Tyson, der Koch, der Steward, sechs Matrosen und zwei Eskimofamilien, bestehend aus zwei Männern, Hans und Joseph, zwei Frauen, drei Mädchen im Alter von drei, acht und zehn Jahren, einem sechsjährigen und einem am 12. August geborenen Knaben.

Das Nachstehende ist dem Werk: » Die amerikanische Nordpol-Expedition« von Emil Bessels (Leipzig 1879) entnommen, der sich als Arzt und als Leiter der wissenschaftlichen Abteilung an dieser Expedition beteiligte. Er starb 1888 in Stuttgart.

Über das Schicksal der nach dem Schiffbruch beim Wrack der »Polaris« verbliebenen Besatzung berichtet Band 18 von » Voigtländers Volksbüchern«: » Schiffbruch der ›Polaris›«.

Erwin C. Banck.

196 Tage auf treibender Eisscholle

Während Anfang Mai 1873 im »Polaris-Hause« die Vorbereitungen unserer Heimkehr ihrem Ende entgegen gingen, durchlief alle zivilisierten Lande die Nachricht, daß eine kleine Schar Schiffbrüchiger, in Lumpen gehüllt und dem Hungertode nahe, die Hauptstadt Neufundlands erreicht hätte.

Diese Unglücklichen waren die neunzehn, welche in jener verhängnisvollen Oktobernacht, als die »Polaris« an der Ostküste des Smith-Sundes in Trümmer ging, von uns getrennt wurden.

Unter den Schrecken und Qualen eines Dantischen Höllenringes verlebten sie Wochen und Monate, auf gebrechlichen Eisschollen treibend, von der Finsternis einer arktischen Nacht umfangen, mit dem dreifachen Tode ringend; dem Erfrieren, Verhungern und Ertrinken preisgegeben. Der Sieg mußte teuer erkauft werden, und endlos erschien die Zeit, bis er endlich erkämpft war.

Schlimmer als an Bord des Wracks sah es in jener Nacht, als die Katastrophe hereinbrach, auf dem Eise aus. Auf einem sinkenden Schiffe wurden wir von dem entfesselten Sturme über die hochgehenden Wellen gejagt; von Minute zu Minute mehrte sich der Wasserschwall, der unaufhaltsam sich durch das große Leck ergoß; allein wir besaßen wenigstens Licht und konnten die armseligen Mittel in Anwendung bringen, die Rettung zu verheißen schienen. Doch die anderen, welche auf dem trügerischen Eise Schutz gesucht hatten, umhüllte tiefes Dunkel.

Dichte Schneeschleier, von dem wütenden Orkane aufgewirbelt, umwogten sie in wildem, stürmischem Reigen. Kaum imstande, die Augen zu öffnen oder Atem zu holen, durften sie weder vorwärts noch rückwärts schreiten auf der krachenden Scholle, die bald hinabgeschleudert wurde in die Tiefe eines Wellentales, bald von Wogenkamm zu Wogenkamm geworfen – umtost und umbrandet von dem empörten Meere.

Allmählich legte sich der Wind, das Schneetreiben ließ nach, und das Licht des Mondes beleuchtete vorübergehend die Szene der Verheerung. Erst jetzt ließ die Scholle sich überblicken. Das Bruchstück war nahezu rund und mochte im Umfang etwa vier Seemeilen messen. Dicht am Wasser lagen, in Felle gehüllt, die schreienden Kinder; daneben kauerten jammernd die Mütter, vor Verzweiflung die Hände ringend. Hier und dort zerstreut zeigten sich andere Gruppen. Auf einem abgelösten Eisstück, kaum groß genug, darauf Fuß zu fassen, standen mehrere dunkle Gestalten, welche zu den andern flehten, ihnen Hilfe zu leisten.

Noch waren die Boote unversehrt. Tyson machte den kleinen Fahrkahn flott. Als er eben abstoßen wollte, schlug eine hohe Sturzwelle über ihm zusammen. Der Nachen füllte sich und sank; dem Ruderer blieb kaum Zeit, auf die Scholle zurückzuspringen. Erfolgreicher war der Versuch mit einem der großen Walboote, welches den Koch sowie zwei Matrosen erlöste und zu den übrigen brachte. Alsdann wurden die beiden Schaluppen nach der Mitte der Scholle gezogen, woselbst die Leute sich niederlegten. Doch niemand vermochte zu schlafen.

Als am 16. Oktober der trübe Tag zu dämmern begann, erstiegen sie einen der zahlreichen Eishöcker, mit welchen die Scholle besetzt war. Nach allen Himmelsgegenden schweiften die suchenden Augen – allein von dem Fahrzeuge war nirgends eine Spur zu erblicken. Verschwunden war die Nothütte, verschwunden die Kisten, Fässer und Ballen, welche den Proviant enthielten. Nur etwas Pemmikan (getrocknetes, in Streifen geschnittenes und mit Maismehl bestreutes Fleisch) und Zwieback barg die Scholle – und neunzehn hungrige Menschen, die vor Frost zitterten.

Nach dem Ufer zogen sich einige Wasserstraßen. Diese zu erreichen, mußte als die erste Aufgabe gelten. Die Position der Scholle war noch unbekannt.

Nachdem die Leute etwas Nahrung zu sich genommen hatten, schleppten sie die Boote nach der Richtung, wo das offene Wasser sich zeigte. Nur mit Mühe und großem Zeitaufwand konnten sie kurze Strecken zurücklegen. Als sie das Fahrwasser erreichten, war es 9 Uhr geworden. Sie waren kaum eine Meile gefahren, als das Eis sich schloß. Die Boote mußten auf eine sichere Stelle gezogen werden, um sie vor den Pressungen zu schützen. Ein so rasches Ende der Fahrt hatte niemand erwartet; statt besser zu werden, hatte die Lage sich verschlimmert; man konnte nun weder das Ufer erreichen, noch zu der Scholle zurückkehren, die man vor einigen Stunden verlassen hatte.

Mit der Strömung trieben hohe Eisberge. Durch das wilde Schieben und Drängen wurde die Scholle gehoben, auf welcher die neunzehn lagerten; und als sie schwer zurücksank, wichen die sie umgebenden Trümmer. Noch eine kleine Schwankung – und sie bewegte sich kreisend dem Lande zu.

Hinter einem Vorsprung der Küste zeigte sich plötzlich das Schiff. Um dessen Aufmerksamkeit zu erregen, hißten sie die Flagge und eine schwarze Gummidecke. Ein leichter Nordwind entfaltete beide Signale. Aber an Bord schien diese niemand zu beachten; richtig verfolgte das Schiff den eingeschlagenen Kurs. Dem schwarzen Schlot entquollen dichte Rauchwolken, – es wurden Segel gesetzt, – das Fahrzeug wendete bald nach rechts, bald nach links und verschwand darauf ebenso plötzlich, wie es erschienen war.

Einige der Matrosen machten nun den Versuch, nach ihrer alten Scholle zurückzukehren. Unterwegs gewahrten sie das Schiff, welches mit gerefften Segeln, scheinbar festgemacht, hinter einer Insel lag, welche einige für Northumberland, andere dagegen für Littleton hielten. In ihrem Unwillen glaubten sie, das Fahrzeug wollte ihnen nicht zu Hilfe kommen, und fingen an zu murren und Verwünschungen auszustoßen.

Hätten sie ahnen können, wie ängstlich wir nach ihnen ausschauten, ohne ihre Spur zu entdecken, so würden sie sicher einen zweiten Versuch gemacht haben, um unsere Aufmerksamkeit durch Flaggen oder andere Signale zu erregen. Allein ihre Unzufriedenheit ließ solche Gedanken nicht Raum finden; da sie Rauchwolken bemerkt hatten, mußte ihrer Ansicht nach das Schiff noch seetüchtig sein. In Wirklichkeit aber war dasselbe ein hilfloses Wrack, dessen Besatzung nur mit knapper Not dem Verderben entronnen war.

Die Scholle, auf welcher die neunzehn sich befanden, hatte, zwischen unbeweglichen Eistrümmern festgehalten, ihre Lage kaum geändert. Nun begann sie wieder zu treiben. Wollte man noch einen Versuch machen, das Fahrzeug zu erreichen, so mußte dies ohne Aufschub geschehen. Einige Wasserstraßen, die sich nach Norden zogen, schienen Erfolg zu verheißen; allein ehe man ihnen nahe kam, waren sie wieder geschlossen. Im Laufe des Nachmittags erfolgten noch mehrere nutzlose Versuche, wobei einige der Leute ins Wasser gerieten.

Ermüdet, kalt und hungrig legten sie sich, als der kurze Tag zu Ende ging, auf der höchsten Stelle ihrer Scholle nieder. Es begann heftig zu wehen, und zu dem Wind gesellte sich ein starker Schneefall; die See war in wildem Aufruhr und die Finsternis undurchdringlich. Kurz vor Tagesanbruch wurden die Schläfer durch einen lauten Krach geweckt. Sie rafften sich auf, allein der Dunkelheit wegen konnten sie die Ursache des Geräusches nicht erkennen. Nur zu bald machten sie die Erfahrung, daß die Scholle geborsten war; auf einem der Bruchstücke trieb das zweite Walboot hinaus in die Nacht. Ehe sie versuchen konnten, dasselbe zu retten, hatte es sich ihren Blicken entzogen.

Als es zu tagen begann, war alle Hoffnung geschwunden, das Schiff je wieder zu erreichen. Der Nordoststurm war zum Orkane geworden. Zischend brachen sich die weißgekrönten Wogen an den Feldern und Schollen, welche sich unter der Wucht der Dünung zerteilt hatten und breite Wasserstraßen zwischen sich ließen. Eine Sturzsee folgte der andern; krachend lösten sich geborstene Eisnadeln von den Rändern der Scholle, deren Umfang gegen Mittag um die Hälfte verringert war. Noch ließ das Unwetter nicht nach. Wütend toste die Brandung um das unheimliche Floß und arbeitete unablässig an dessen Zerstörung. Als die Nacht hereinbrach, war dasselbe so klein geworden, daß es die Schiffbrüchigen kaum mehr zu beherbergen vermochte. Doch der Sturm nahm ab, und man atmete wieder freier. An Schlaf war jedoch nicht zu denken: denn wer sich niedergelegt hätte, wäre in Gefahr geraten, hinweggespült zu werden. Alle hielten sich an dem Boote fest.

Lange dauerte es, ehe der kommende Tag hellte. Dichte Nebel lagerten um den Horizont und verschleierten den matten Dämmerungsbogen. Joseph und Hans waren so glücklich, zwei kleine Seehunde zu erlegen, die mit Heißhunger verschlungen wurden. Eines der Felle wurde in Streifen geschnitten und den Hunden überlassen, welche seit der Trennung von dem Schiffe keine Nahrung erhalten hatten. Als der Nebel stieg, kam Land in Sicht. Nach dem Ufer zog sich eine flimmernde Jungeisdecke, über die man unmöglich schreiten konnte; der Aufenthalt auf der Scholle aber wurde mit jeder Stunde bedenklicher.

Erst am 21. gelang es, nach einem größeren Felde überzusiedeln, in dessen Nähe die Scholle getrieben war; bei dieser Gelegenheit entdeckte Joseph das andere Walboot, welches vor einigen Tagen verloren gegangen und das man nun wieder erlangte. Die Eingeborenen errichteten drei Schneehütten. In der geräumigsten fand die Mannschaft ein Unterkommen, eine andere diente Hans und dessen Familie als Obdach; und eine Doppelhütte, nur durch eine Schneewand geschieden, aber mit einem gemeinsamen Eingang versehen, wurde von Tyson und Meyer, sowie von Joseph, Frau Hanne und dem kleinen Pannik bezogen.

Während der beiden folgenden Tage wehte es fast unablässig aus Südosten. Dennoch begab sich Joseph am 23. auf die Seehundsjagd. Er kam nicht zu Schuß, allein er erspähte ein Bruchstück des alten Eisfeldes mit der Nothütte. Dasselbe war etwa drei Meilen von dem Lager entfernt.