Die Geschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich
1923
Desirée klatschte in die Hände. Sie war ein Mädchen von vierzehn Jahren, aber für ihr Alter kräftig entwickelt. Sie lachte wie ein Kind von fünf Jahren.
Mutter! Mutter! rief sie. Schau doch meine schöne Puppe!
Sie hatte von ihrer Mutter einen Flicken bekommen, aus dem sie sich seit einer Viertelstunde abmühte, eine Puppe zu formen, indem sie ihn an einem Ende mit einem Zwirnfaden umwand. Martha sah von ihrem Strumpfe, den sie eben sorgfältig ausbesserte, lächelnd zu dem Mädchen hinüber:
Aber das ist ja nur ein Püppchen und keine Puppe, sagte sie. Du weißt doch, eine Puppe muß einen Rock haben wie eine Dame.
Mit diesen Worten nahm sie aus der Lade ihres Nähtischchens einen Fleck Kattun und gab ihn Desirée; dann beugte sie sich wieder über ihre Arbeit. Beide saßen in einer Ecke der schmalen Terrasse; die Tochter auf einem Schemel zu den Füßen der Mutter. Die Sonne ging an diesem schönen Septemberabende eben unter und übergoß sie mit ihrem ruhig warmen Lichte, während der Garten, der sich vor ihnen ausbreitete, schon im Halbdunkel lag und allmählich in Schlaf sank; kein Laut war in diesem einsamen Winkel der Stadt vernehmbar.
Schweigend arbeiteten die beiden einige Minuten weiter: Desirée gab sich unendliche Mühe, für ihre Puppe einen Rock zusammenzubringen, während Martha zeitweilig von ihrer Arbeit aufsah und mit einer gewissen Traurigkeit auf das Mädchen blickte. Als sie bemerkte, wie sich das Kind nutzlos abmühte, sagte sie:
Gib her! Ich werde die Arme machen.
Sie nahm die Puppe in die Hand. In diesem Augenblicke kamen zwei Jünglinge von siebzehn und achtzehn Jahren die Treppe herunter und begrüßten Martha.
Sei nicht böse, Mutter, sagte Octave lächelnd, ich habe Serge mit zur Musik genommen... Was für eine Menge Leute auf der Promenade Sauvaire waren!
Ich glaubte, ihr müßtet noch in der Schule bleiben, erwiderte die Mutter; sonst würde ich mich geängstigt haben.
Aber Desirée dachte jetzt nicht mehr an ihre Puppe; sie warf sich Serge um den Hals und rief:
Denke dir, der blaue Vogel, den du mir geschenkt hast, ist mir entflohen.
Sie war nahe daran, bei diesen Worten zu weinen, und ihre Mutter, die geglaubt hatte, daß sie an diesen Verlust nicht mehr denke, zeigte ihr vergebens die Puppe, um sie zu beruhigen; das Mädchen nahm den Bruder bei dem Arme und zog ihn in den Garten fort mit den Worten:
Komm, ich will es dir zeigen.
Serge, der stets gefällig war, ging mit, wobei er sie zu trösten suchte. Desirée führte ihn zu einem kleinen Gewächshaus, vor dem auf der Erde ein kleiner Vogelkäfig stand. Hier zeigte sie ihm, wie der Vogel in dem Augenblicke entfloh, als sie die Türe des Bauers öffnete, um zwei Vögel, die raufen wollten, auseinanderzubringen.
Nun, sagte Octave, der sich auf das Geländer der Terrasse gesetzt hatte, das ist doch ganz natürlich: sie greift immer in dem Käfig herum, schaut, wie sie gebaut sind, was sie in der Kehle haben, daß sie so singen; neulich trug sie die Vögel einen ganzen Nachmittag in der Tasche herum, damit sie warm bleiben.
Octave! rief Martha vorwurfsvoll, laß doch das arme Kind in Ruh'!
Desirée hatte nicht gehört; sie erzählte Serge lang und breit, auf welche Weise der Vogel entkommen war.
Schau, so ist er herausgekommen; dann flog er dort hinüber und setzte sich auf den Apfelbaum des Herrn Rastoil; von dort flog er da hinüber auf den Pflaumenbaum, kam dann wieder zurück und schwirrte über meinen Kopf hinweg zu den großen Bäumen der Unterpräfektur hinüber, wo ich ihn aus den Augen verlor – für immer.
Die Kleine weinte.
Vielleicht kommt er doch noch zurück, meinte Serge.
Glaubst du wirklich? ... Weißt du, ich möchte die anderen Vögel in eine Schachtel tun und den Käfig die ganze Nacht offen stehen lassen.
Octave lachte. Martha aber rief das Mädchen zu sich und gab ihr die Puppe, die prächtig ausgefallen war: sie hatte einen steifen Rock, den Kopf bildete ein Stöpsel aus Stoff und die Arme waren an den Schultern festgenäht. Desirée freute sich ungemein darüber und setzte sich, ohne weiter an den Vogel zu denken, auf den Schemel, und herzte und küßte die Puppe in kindlicher Freude.
Serge stand neben seinem Bruder; Martha beugte sich wieder über ihren Strumpf.
Nun, fragte sie, wie hat die Musik gespielt?
Ja, sie spielt jeden Donnerstag, erwiderte Octave. Du solltest doch auch einmal mitgehen; die ganze Stadt ist dort: die Fräulein Rastoil, Frau von Condamin, Herr Paloque, die Frau und Tochter des Bürgermeisters. Warum gehst du nicht auch hin?
Martha sah auf und erwiderte leise:
Ihr wißt doch, Kinder, daß ich nicht gern ausgehe. Hier habe ich meine Ruhe; außerdem kann Desirée nicht allein bleiben.
Octave wollte sprechen, aber ein Blick auf seine Schwester hieß ihn schweigen. Er pfiff leise vor sich hin, sah auf die Bäume der Präfektur hinüber und betrachtete dann aufmerksam die Apfelbäume des Herrn Rastoil, hinter denen soeben die Sonne unterging. Serge zog ein Buch aus der Tasche und las aufmerksam darin, so daß in dem fahlen Lichte, das sich allmählich auf die Terrasse herabsenkte, alle still waren. Martha arbeitete in dieser friedlichen Ruhe des Abends an ihrem Strumpfe weiter und blickte zeitweilig auf ihre Kinder.
Verspätet sich denn heute jeder? sagte sie nach einigen Augenblicken. Es ist schon beinahe zehn Uhr und euer Vater ist noch nicht da ... Ich glaube, er ist auf Tulettes zu gegangen.
Da ist es freilich nicht zu verwundern, erwiderte Octave ... die Bauern von Tulettes lassen ihn nicht sogleich fort, wenn sie ihn einmal haben ... Handelt es sich um einen Weinkauf?
Ich weiß nicht, versetzte Martha. Ihr wißt, er spricht nicht gern von seinen Geschäften.
Wieder wurde es in diesem Kreise still. In dem Speisezimmer, dessen Fenster auf die Terrasse zu geöffnet war, deckte soeben die alte Rosa den Tisch, wobei sie mit den Tellern und dem Eßzeug klapperte. Sie schien nicht gut gelaunt zu sein, denn bald stieß sie die Stühle mit den Füßen weiter, bald brummte sie vor sich hin, bald sah sie zur Haustüre hinaus« nach dem Präfekturplatz hinunter. Als sie einige Minuten so gewartet hatte, trat sie auf die Freitreppe hinaus und rief:
Kommt Herr Mouret nicht zum Essen?
O ja, Rosa, warten Sie nur! erwiderte Martha ruhig.
So muß alles verbrennen. Es ist unrecht gehandelt! Wenn der Herr so lange wegbleiben will, sollte er es doch sagen ... Mir ist es freilich gleich, aber das Essen wird nicht zu genießen sein.
Glaubst du, Rosa? sagte plötzlich jemand ruhig hinter ihr. Wir essen es aber doch.
Mouret war heimgekehrt. Rosa drehte sich um und sah ihrem Herrn in das Gesicht, als wolle sie losbrechen; aber da sie dieser ruhig mit einem gewissen Zug spießbürgerlicher Schelmerei anblickte, fand sie gar keine Worte und ging hinaus. Mouret begab sich auf die Terrasse und ging daselbst eine Weile herum, ohne sich zu setzen; dann trat er auf Desirée zu, deren Wange er streichelte und die ihm zulächelte. Martha hatte zuerst aufgeblickt; als sie aber ihren Gatten sah, begann sie ihre Handarbeit in das Nähtischchen zu legen.
Bist du nicht müde? fragte Octave mit einem Blick auf die staubbedeckten Schuhe des Vaters.
O ja, ein wenig, erwiderte Mouret, ohne weiter ein Wort von dem langen Wege zu sagen, den er zu Fuße gemacht hatte.
Plötzlich sah er inmitten des Gartens eine Hacke und einen Rechen liegen, die die Kinder dort mußten vergessen haben.
Warum verwahrt man nicht die Geräte? rief er. Habe ich es nicht schon hundertmal gesagt? Wenn ein Regen kommt, rosten sie.
Er ereiferte sich nicht weiter, sondern ging in den Garten, holte die Geräte und lehnte sie sorgsam an das kleine Treibhaus. Als er wieder auf die Terrasse hinaufging, sah er sich nach allen Seiten um, ob alles im Garten in Ordnung sei.
Lernst du deine Aufgabe? fragte er Serge, der noch immer in seinem Buche las.
Nein, lieber Vater, erwiderte das Kind. Es ist ein Buch, das mir der Abbé Bourrette geliehen hat; es ist der Bericht über die Missionen in China.
Mouret blieb vor seiner Frau stehen.
War niemand da? fragte er.
Nein, niemand, erwiderte sie sehr überrascht.
Er wollte noch etwas sagen, besann sich aber eines anderen; einen Augenblick blieb er noch stehen, dann trat er auf die Treppe und rief:
Nun, Rosa, wie ist es denn mit dem verbrannten Essen?
Gar nichts ist, rief sie zornig aus der Küche heraus. Jetzt ist alles wieder kalt. Sie müssen warten!
Mouret lachte, während er auf seine Familie schielte; der Zorn der Alten schien ihn zu belustigen. Dann erregten die Obstbäume des Nachbars seine Aufmerksamkeit.
Es ist wirklich auffallend, sagte er leise, welch prächtige Birnen dieses Jahr Herr Rastoil hat.
Martha war seit einigen Augenblicken besonders aufgeregt und schien eine Frage auf den Lippen zu haben. Endlich kam sie ängstlich damit heraus.
Hast du heute jemanden erwartet?
Ja und nein, gab er zur Antwort und ging wieder auf und ab.
Du hast vielleicht den zweiten Stock vermietet.
Erraten!
Nach einer kurzen Verlegenheitspause sagte er in ruhigem Tone:
Bevor ich heute früh nach Tulettes aufbrach, ging ich zu dem Abbé Bourrette. Er hatte es sehr eilig, und ich schloß den Handel ab. Ich weiß, es ist dir nicht angenehm; aber wenn du so recht darüber nachdenkst, kannst du doch keine Einwendungen machen. Der zweite Stock nützt uns gar nichts und gerät in Verfall. Das Obst, das wir in den Zimmern dort aufbewahren, verbreitet eine Feuchtigkeit, die alle Tapeten loslöst ... Weil ich gerade daran denke, vergiß nicht, das Obst aus den Zimmern fortschaffen zu lassen, denn unser Mieter kann jeden Augenblick eintreffen.
Und wir lebten hier so ruhig, versetzte Martha leise.
Ach was, ein Priester macht uns keine Umstände. Er lebt für sich und wir für uns. Diese Schwarzröcke verkriechen sich, wenn sie ein Glas Wasser trinken wollen. Du weißt doch, wie gern ich die Leute habe! Die meisten sind nur Tagediebe! ... Ich habe die Wohnung nur vermietet, weil ich einen Priester gefunden habe. Bei diesen Leuten braucht man sich wegen des Zinses keine Sorgen zu machen, und dann führen sie ein so ruhiges Leben, daß man sie kaum den Schlüssel in das Schloß stecken hört.
Martha war fassungslos. Sie sah sich um, betrachtete das glückliche Haus, den schönen Garten, der im Dämmerlichte vor ihr ausgebreitet lag, die Kinder, kurz das stille Glück, das dieser enge Winkel umschloß.
Weißt du, wer dieser Priester ist? fragte sie.
Nein, aber der Abbé Bourrette hat in seinem Namen gemietet ... Ich weiß nur, daß er Faujas heißt, Abbé Faujas, und daß er aus der Diözese Besançon kommt. Gewiß hat er sich mit seinem Pfarrer nicht vertragen und ist deshalb hierher an die Kirche Saint-Saturnin als Vikar versetzt. Vielleicht ist er mit unserem Bischof Rousselot bekannt. Das geht uns alles aber nichts an ... Ich verlasse mich in dieser Sache auf den Abbe Bourrette.
Aber Martha war noch immer nicht beruhigt und setzte diesmal ihren Kopf auf, was sonst nur höchst selten bei ihr vorkam.
Du hast recht, sagte sie nach kurzem Schweigen, der Abbé ist ein würdiger Herr. Nur kann ich mich erinnern, daß er, als er sich die Wohnung ansah, mir sagte, er kenne den Mann nicht, in dessen Namen er zu mieten habe. Das sei so ein Auftrag, wie er unter benachbarten Priestern häufig vorkomme ... Du hättest denn doch nach Besançon schreiben und Erkundigung einziehen sollen, damit man weiß, wen man in das Haus bekommt.
Mouret wollte nicht böse werden.
Der Teufel wird es nicht sein, erwiderte er lächelnd ... Du zitterst ja förmlich. Für so abergläubisch habe ich dich nicht gehalten. Du wirst doch nicht auch an die Dummheit glauben, daß Priester Unglück ins Haus bringen sollen? Sie bringen zwar auch kein Glück; sie sind eben Menschen wie alle anderen ... Du wirst ja sehen, wenn dieser Abbé hier ist, ob sein Talar mir Furcht einjagt.
Nein, abergläubisch bin ich nicht, das weißt du, erwiderte sie leise. Ich mache mir nur Sorgen.
Er unterbrach sie mit heftiger Gebärde.
Jetzt ist es aber bald genug. Ich habe vermietet; reden wir nicht mehr davon!
Mit dem zufriedenen Lächeln eines Mannes, der glaubt, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, fügte er hinzu:
Das Beste ist dabei, daß ich den zweiten Stock für hundertundfünfzig Franken vermietet habe ... So kommen jetzt jedes Jahr hundertundfünfzig Franken mehr ins Haus.
Martha machte keine Einwendungen mehr; nur ihre Hände zog sie krampfhaft zusammen und drückte sie dann leise gegen die Augen, als wolle sie die Tränen zurückhalten. Sie schielte nach ihren Kindern hin, die von diesem Streit nichts gehört zu haben schienen, da sie ohne Zweifel an solche Szenen schon gewöhnt waren, in denen die spöttische Derbheit ihres Vaters sich gefiel.
Wenn Sie jetzt essen wollen, können Sie hereinkommen, rief Rosa und trat auf die Freitreppe hinaus.
Schön! Kinder, die Suppe steht auf dem Tische! rief Mouret heiter ohne jeden Anflug von übler Laune.
Die Familie stand auf. Desirée, die sich bis jetzt ganz ruhig verhalten hatte, wurde dadurch, daß sich alle erhoben, neuerdings an ihren Verlust erinnert. Sie warf sich an den Hals ihres Vaters und rief:
Papa, mir ist ein Vogel entflohen.
Ein Vogel, mein Kind? Wir fangen ihn wieder.
Dann herzte und küßte er sie; aber er mußte sich auch den Käfig ansehen. Als er mit dem Kinde zurückkam, waren Martha und seine beiden Söhne schon in dem Speisezimmer. Die Strahlen der untergehenden Sonne brachen sich an den Porzellantellern, den Trinkbechern der Kinder und dem weißen Tischtuche. Das Zimmer war warm und anheimelnd mit dem grünen Garten im Hintergrunde.
Als Martha, die sich in diesem friedlichen Räume wieder beruhigt hatte, den Deckel von der Suppenschüssel nahm, ließen sich auf dem Korridor Schritte vernehmen. Rosa kam bestürzt hereingelaufen und meldete stotternd:
Gnädiger Herr! Der Abbé Faujas ist draußen!
Der Sommer ging vorüber. Der Abbé Faujas schien durchaus nicht aus seiner wachsenden Beliebtheit Vorteil ziehen zu wollen. Er schloß sich immer noch bei den Mourets ein, glücklich über die Einsamkeit des Gartens, in den er schließlich auch tagsüber hinabging. Er las sein Brevier in der hinteren Laube und schritt langsam, den Kopf gesenkt, die Gartenmauer entlang. Manchmal schloß er das Buch und verlangsamte noch seine Schritte, als sei er in einen tiefen Traum gesunken. Mouret, der ihn beobachtete, wurde schließlich von einer dumpfen Ungeduld erfaßt, wenn er die schwarze Gestalt sah, die unter seinen Obstbäumen stundenlang hin und her ging.
Man ist nicht mehr Herr in seinem Hause, sagte er leise. Ich kann jetzt nicht aufblicken, ohne diesen Talar zu entdecken. Der Mensch da ist wie die Raben. Er hat ein rundes Auge, das etwas zu belauern und zu erwarten scheint. Ich traue nicht seiner scheinbaren großen Teilnahmlosigkeit.
In den ersten Septembertagen war das Haus des Werkes der heiligen Jungfrau fertig. Die Arbeiten ziehen sich in der Provinz dahin. Freilich hatte der Ausschuß zweimal die Pläne des Herrn Lieutaud durch seine eigenen Gedanken umgestoßen. Als er die Anstalt übernahm, belohnte er den Architekten durch die liebenswürdigsten Lobsprüche. Alles schien ihnen zu gefallen: die großen Säle, die Spielräume, der Hof, der mit Bäumen bepflanzt und mit zwei Springbrunnen geschmückt war. Frau von Condamin war von der Außenseite entzückt, die ihr Gedanke war. Über der Türe war auf einer schwarzen Marmorplatte in goldenen Buchstaben zu lesen: Werk der heiligen Jungfrau.
Die Einweihung gestaltete sich zu einem sehr rührenden Feste. Der Bischof selbst mit dem ganzen Kapitel führte die Schwestern vom heiligen Joseph ein, die bestimmt waren, die Anstalt zu leiten. Man hatte fünfzig Mädchen von acht bis fünfzehn Jahren auf den Straßen des alten Viertels aufgelesen und dort untergebracht. Die Eltern brauchten nur zu erklären, daß sie infolge ihrer Beschäftigung den ganzen Tag vom Hause ferngehalten würden. Herr Delangre hielt eine Rede, die sehr gefiel; er erläuterte in edlem Stile ausführlich diese neuartige Bewahranstalt, die er eine »Schule der guten Sitten und der Arbeit« nannte, wo junge und anziehende Geschöpfe den bösen Versuchungen entrinnen sollten. Gegen das Ende der Rede wurde eine zarte Andeutung auf den eigentlichen Gründer des Werkes, den Abbé Faujas, sehr bemerkt. Dieser befand sich bei den anderen Priestern unter den Anwesenden. Sein schönes, ernstes Gesicht blieb unempfindlich, als alle auf ihn blickten. Martha war auf der Erhöhung, wo sie inmitten der Ausschußdamen saß, errötet. Als die Feier vorüber war, wollte der Bischof das Haus in allen Einzelheiten besichtigen. Trotz der augenscheinlichen Verstimmung des Abbé Fenil ließ er den Abbé Faujas rufen, dessen schwarze Augen nicht einen Augenblick von ihm gewichen waren, und bat diesen, ihn begleiten zu wollen, indem er lächelnd hinzufügte, daß er gewiß keinen besseren Führer wählen könne. Diese Worte machten unter den Anwesenden, die sich zurückzogen, die Runde; am Abend sprach ganz Plassans von dieser Haltung des Bischofs.
Der Ausschuß der Damen hatte in dem Hause ein Zimmer für sich behalten, wo er dem Bischöfe eine Erfrischung anbot; er nahm ein Biskuit und ein Gläschen Malaga an, wobei er Gelegenheit fand, zu jeder der Damen liebenswürdig zu sein. Dies schloß das fromme Fest in glücklicher Weise ab, denn es hatte vor und während der Feier unter den Damen an Kränkungen wegen verletzter Eitelkeit nicht gefehlt. Das zarte Lob Seiner bischöflichen Gnaden brachte alle wieder in gute Laune. Als sie wieder allein waren, erklärten sie, daß alles sehr gut abgelaufen sei, und waren unerschöpflich in Lobsprüchen auf die Huld des Prälaten. Nur Frau Paloque war verletzt; der Bischof hatte, als er allen sich liebenswürdig zeigte, sie übergangen.
Du hattest recht, sagte sie wütend zu ihrem Manne, als sie heimkehrte, ich war bei ihren Dummheiten der Hund! Ein schöner Gedanke, diese verwahrlosten Gassenmädchen zusammenzustecken! ... Ich habe ihnen meine ganze Zeit gewidmet, und dieser kindische Bischof, der vor seiner Klerisei zittert, hat nicht einmal einen Dank für mich gefunden! ... Als ob Frau von Condamin etwas geleistet hätte! ... Diese »Ehemalige« hat ja genug zu tun, um ihre Toiletten zu zeigen. Wir wissen, was wir wissen, nicht wahr? Man zwingt uns schließlich, Geschichten zu erzählen, die nicht jedermann lustig finden wird. Wir haben nichts zu verheimlichen. Und Madame Delangre und Madame Rastoil! Es wäre ein leichtes, sie bis ins Weiße der Augen erröten zu machen. Haben sie sich auch nur aus ihren Salons gerührt? Haben sie sich halb soviel Mühe genommen wie ich? Und diese Madame Mouret, die sich den Schein gab, als leite sie das Ganze, und die nichts anderes tat als sich an den Talar ihres Abbé Faujas zu hängen! Das ist auch so eine Scheinheilige, die uns noch schöne Sachen wird sehen lassen ... Alle, alle haben ein liebenswürdiges Wort erhalten; ich nichts. Ich bin der Hund ... Siehst du, so kann es nicht weitergehen, Paloque. Der Hund beißt schließlich.
Von diesem Tage an zeigte sich Madame Paloque viel weniger gefällig. Sie führte die Schreibereien nur sehr unregelmäßig, schlug die Arbeiten aus, die ihr mißfielen, so daß die Damen davon sprachen, einen Beamten zu nehmen. Martha erzählte ihre Sorgen dem Abbé Faujas, den sie fragte, ob er ihr nicht eine geeignete Persönlichkeit empfehlen könne.
Suchen Sie nicht, erwiderte er ihr; ich werde vielleicht jemanden bekommen ... Lassen Sie mir nur zwei oder drei Tage Zeit.
Seit einiger Zeit erhielt er häufig Briefe mit dem Poststempel Besançon. Sie zeigten alle die gleiche plumpe, häßliche Schrift. Rosa, die sie ihm hinauftrug, behauptete, daß er sich ärgere, wenn er nur den Umschlag sehe.
Er wird grün und gelb, sagte sie. Gewiß kann er die Person nicht leiden, die ihm so oft schreibt.
In Mouret regte sich wegen dieser Korrespondenz einen Augenblick die alte Neugierde. Eines Tages trug er selbst einen solchen Brief hinauf, indem er sich mit liebenswürdigem Lächeln entschuldigte und sagte, Rosa sei nicht da. Der Abbé war ohne Zweifel mißtrauisch, denn er spielte den Erfreuten, als habe er schon mit Ungeduld diesen Brief erwartet. Aber Mouret ließ sich durch dieses Spiel nicht täuschen; er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und hielt das Ohr an das Schlüsselloch.
Wieder von deiner Schwester? fragte die rauhe Stimme der Frau Faujas. Weshalb verfolgt sie dich so?
Dann ward es still; ein Papier wurde heftig zusammengeknittert und der Abbé brummte:
Immer dasselbe Lied. Sie will herkommen und ihren Mann mitbringen, damit ich ihm eine Stelle verschaffe. Sie glaubt, daß wir im Golde schwimmen ... Ich fürchte, sie machen eines Tages einen dummen Streich und kommen uns über den Hals.
Nein, nein, wir brauchen sie nicht, hörst du, Ovide! hub die Mutter wieder an. Sie haben dich nie geliebt, sind immer auf dich eifersüchtig gewesen ... Trouche ist ein Taugenichts und Olympe hat kein Herz. Du sollst sehen, sie wollen allen Vorteil für sich haben. Sie würden dich kompromittieren und dich in allem stören.
Mouret hörte schlecht, da er durch sein unfeines Tun sehr in Aufregung gekommen war. Er glaubte, daß man zur Türe komme, weshalb er sich davonmachte. Übrigens hütete er sich, dieser Tat sich zu rühmen.
Einige Tage später gab der Abbé auf der Terrasse in seiner Anwesenheit Martha eine endgültige Antwort:
Ich kann Ihnen einen Beamten vorschlagen, sagte er ganz ruhig: Es ist einer meiner Verwandten, mein Schwager, der in einigen Tagen von Besançon hier ankommt.
Mouret spitzte die Ohren. Martha schien entzückt.
Ei, um so besser! rief sie aus. Ich war wegen einer guten Wahl in Verlegenheit. Sie sehen ein, ich brauche einen Mann von tadelloser Sittlichkeit bei diesen jungen Mädchen ... Da es sich aber um einen Ihrer Verwandten handelt ...
Ja, erwiderte der Priester. Meine Schwester hatte einen kleinen Wäschehandel in Besançon; sie mußte ihn indes aus Gesundheitsrücksichten aufgeben. Jetzt wünscht sie bei uns zu sein, nachdem ihr die Ärzte die südliche Luft empfohlen haben ... Meine Mutter ist darüber sehr glücklich.
Gewiß, sagte Martha, Sie haben sich vielleicht nie getrennt und wollen wieder vereint sein ... Wissen Sie, was Sie tun können? Oben sind zwei Zimmer, die Sie nicht benutzen. Warum sollten Ihre Schwester und ihr Gatte nicht da wohnen? ... Haben sie keine Kinder?
Nein, sie sind nur ihrer zwei ... Ich hatte wirklich einen Augenblick daran gedacht, ihnen diese zwei Zimmer zu überlassen; nur fürchtete ich, Ihnen lästig zu fallen, wenn ich diese Leute hier wohnen lasse.
Aber ganz und gar nicht, ich versichere, Sie sind ja so friedliche Leute! ...
Sie hielt inne. Mouret zog sie heftig an dem Zipfel ihres Kleides. Er wollte nicht die Verwandten des Abbé in seinem Hause haben, denn er erinnerte sich an die häßliche Art, wie Madame Faujas von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gesprochen hatte.
Die Zimmer sind sehr klein, sagte er, der Herr Abbé könnte gestört sein ... Es wäre für alle besser, wenn die Schwester des Herrn Abbé sich nebenan einmietet; es ist gerade in dem Hause der Paloques vornheraus eine Wohnung frei.
Das Gespräch stockte. Der Priester antwortete nichts und sah in die Luft. Martha glaubte, er sei beleidigt; der rauhe Ton ihres Mannes kränkte sie. Nach einem Augenblicke konnte sie dieses verlegene Schweigen nicht länger ertragen.
Es ist abgemacht, hub sie an, ohne weiter zu versuchen, in geschickterer Weise das Gespräch wieder anzuknüpfen. Rosa soll Ihrer Mutter behilflich sein, die beiden Zimmer zu reinigen ... Mein Mann denkt nur an Ihre Bequemlichkeit; aber in dem Augenblicke, wo Sie es wünschen, hindern wir Sie nicht, nach Ihrem Belieben über die Wohnung zu verfügen.
Als Mouret mit seiner Frau allein war, wurde er zornig:
Ich verstehe dich wirklich nicht. Als ich dem Abbé die Wohnung vermietete, schmolltest du und wolltest keine Katze ins Haus lassen; jetzt könnte der Abbé seine ganze Familie, die ganze Sippe bis zum Urgeschwisterkind mitbringen ... Du bedanktest dich noch ... Ich habe dich doch genug bei dem Kleide gezerrt. Hast du es denn nicht gemerkt? Es war ganz klar, ich wollte diese Leute nicht ... Es sind keine ehrlichen Leute.
Wie kannst du das wissen? rief Martha, die die Ungerechtigkeit aufregte. Wer hat dir das gesagt?
Nun, der Abbé Faujas selbst... Ich habe ihn eines Tages gehört, wie er mit seiner Mutter sprach.
Sie sah ihn scharf an; er errötete ein wenig und stammelte dann:
Kurz, ich weiß es und das genügt ... Die Schwester ist herzlos und ihr Mann ein Taugenichts. Du kannst immer die Beleidigte spielen, es sind dies ihre eigenen Worte, ich erfinde nichts. Du siehst ein, daß ich die Leute in meinem Hause nicht mag. Die Alte war die erste, die von ihrer Tochter nichts hören wollte. Jetzt spricht der Abbé anders. Ich weiß nicht, was ihn dazu kann bestimmt haben. Es ist eine neue Geheimniskrämerei von ihm. Sicherlich braucht er sie.
Martha zuckte die Achseln und ließ ihn schimpfen. Er gab Rosa den Befehl, die Zimmer nicht zu reinigen; aber Rosa gehorchte nur mehr der gnädigen Frau. Fünf Tage lang machte sich sein Zorn in bitteren Worten und schrecklichen Vorwürfen Luft. Wenn der Abbé anwesend war, schmollte er nur und wagte nicht, ihn offen anzugreifen. Schließlich fügte er sich wie immer. Er fand nur Spöttereien gegen diese Leute, deren Ankunft man erwartete. Er zog die Schnüre seines Geldbeutels noch besser zusammen, sonderte sich noch mehr ab und zog sich ganz in den selbstsüchtigen Kreis zurück, in dem er sich bewegte. Als die Trouches sich an einem Oktoberabend einstellten, sagte er einfach:
Teufel! Die riechen nicht gut, sie sehen verdammt verdächtig aus.
Der Abbé Faujas schien wenig geneigt, seine Schwester und seinen Schwager am Tage ihrer Ankunft sehen zu lassen. Die Mutter stand auf der Schwelle der Haustüre. Sobald sie sie um den Präfekturplatz kommen sah, paßte sie auf und warf unruhige Blicke in das Vorhaus und in die Küche. Aber ihre Vorsicht war erfolglos. Als die Trouches eintraten, kam gerade Martha mit ihren Kindern aus dem Garten herauf.
Ei, da ist die ganze Familie, sagte sie mit einem verbindlichen Lächeln.
Frau Faujas, die gewöhnlich sich immer beherrschen konnte, geriet ein wenig in Verlegenheit und stotterte eine Antwort. Sie standen sich einige Minuten mitten im Vorhause einander prüfend gegenüber. Mouret war schnell die Stufen der «Freitreppe hinaufgegangen; Rosa hatte sich auf der Schwelle der Küchentüre aufgestellt.
Sie müssen sich sehr glücklich fühlen, wandte sich Martha an Frau Faujas.
Da sie die Verlegenheit fühlte, die alle stumm machte, wollte sie sich gegen die Neuangekommenen liebenswürdig zeigen und wandte sich mit den Worten zu Trouche:
Sie sind mit dem Fünfuhrzuge angekommen, nicht wahr? ... Wie weit ist es von Besançon bis hierher?
Man fährt siebzehn Stunden mit der Eisenbahn, erwiderte Trouche und zeigte seinen zahnlosen Mund. In der dritten Klasse zu fahren, ist schrecklich, sage ich Ihnen ... Es wird einem der Magen förmlich umgedreht.
Er fing an zu lachen mit einem sonderbaren Geräusche der Kinnbacken. Madame Faujas warf ihm einen schrecklichen Blick zu. Dann versuchte er einen zerbrochenen Knopf seines schmierigen Rockes festzumachen und hielt zwei Hutschachteln vor sich hin, eine grüne und eine gelbe, ohne Zweifel um die Flecke zu verbergen. Sein rötlicher Hals blähte sich unter der Schleife einer schwarzen, zusammengedrehten Krawatte fortwährend und ließ nur das Ende eines schmutzigen Hemdes sehen. In seinem blatternarbigen Gesicht, dem man alle Laster ablesen konnte, flammten zwei kleine schwarze Augen, die fortwährend mit verstörten und gierigen Blicken die Leute und die Sachen betrachteten; die Augen eines Diebes, der das Haus besichtigt, wo er eines Nachts einbricht.
Mouret glaubte, daß Trouche die Schlösser betrachte.
Der schaut, um Abdrücke zu nehmen, der Taugenichts, dachte er.
Unterdessen sah Olympe ein, daß ihr Mann eine Dummheit gesagt habe. Sie war eine große, magere, schmächtige Blondine mit einem platten, unangenehmen Gesichte. Sie trug eine kleine Kiste von weichem Holze und ein großes Paket, das in ein Tischtuch eingebunden war.
Wir hatten uns Kissen mitgenommen, sagte sie und wies mit einem Blicke auf das große Bündel hin. Mit Kissen geht es schon in der dritten Klasse; man fährt dann so bequem, als sitze man in der ersten. Es ist eine bedeutende Ersparnis! Wenn man auch noch soviel Geld hat, braucht man es doch nicht zum Fenster hinauszuwerfen, nicht wahr. Madame? Gewiß, erwiderte Martha, ein wenig über diese Leute erstaunt.
Olympe trat ein wenig in die Helle vor und fuhr in einschmeichelndem Tone fort:
Es ist gerade so mit den Kleidern; ich ziehe auf die Reise nur das Schlechteste an. Ich sagte zu Honoré: »Was, dein alter Rock ist gut genug.«. Er hat auch seine Arbeitshose an, eine Hose, die er sonst nicht mehr trägt ... Sie sehen, ich habe mein schlechtestes Kleid angezogen, das, wie ich glaube, sogar schon einige Löcher hat. Diesen Schal da habe ich von der Mutter; ich binde ihn immer zu Hause um ... Und erst mein Hut! Ein alter Hut, den ich nur aufsetze, wenn ich ins Waschhaus gehe ... Alles das ist noch zu gut für den Staub, nicht wahr, Madame?
Gewiß, gewiß, wiederholte Martha, die zu lächeln versuchte.
In diesem Augenblicke ließ sich oben eine gereizte Stimme vernehmen:
Nun, Mutter?
Mouret sah hinauf und bemerkte den Abbé an dem Geländer des zweiten Stockes, mit fürchterlichem Gesichte und sich so weit herabbeugend, daß er herunterzufallen drohte, um nur besser sehen zu können, was in dem Vorhause geschah. Er hatte Stimmen gehört und mußte schon seit einer Weile ungeduldig geworden sein.
Nun, Mutter? rief er von neuem.
Ja, ja, wir kommen hinauf, erwiderte Madame Faujas, die bei der wütenden Stimme ihres Sohnes zu erzittern schien.
Sie wandte sich zu dem Ehepaar Trouche:
Kinder, wir müssen hinauf ... Halten wir die gnädige Frau nicht auf!
Aber die Trouches schienen nicht zu hören. Es gefiel ihnen in dem Vorhause, denn sie sahen sich entzückt um, als habe man ihnen das Haus geschenkt.
Das ist sehr schön, sehr schön, sagte Olympia leise, nicht wahr, Honoré? Nach den Briefen Ovids dachten wir nicht, daß es so schön sei. Ich sagte es dir ja: Wir müssen hin, wir befinden uns dort besser und ich werde gesünder. Hatte ich recht?
Ja, ja, da muß es einem sehr gefallen, sagte Trouche zwischen den Zähnen ... Und der Garten ist ziemlich groß, glaube ich.
Dann wandte er sich an Mouret:
Mein Herr, erlauben Sie Ihren Mietern, im Garten spazieren zu gehen?
Mouret hatte keine Zeit zu antworten. Der Abbé Faujas war heruntergekommen und rief mit donnernder Stimme:
Nun, Trouche? Nun, Olympia?
Sie drehten sich um. Als sie ihn auf der Treppe in schrecklichem Zorne stehen sahen, da gaben sie klein bei und folgten ihm unterwürfig. Er ging ihnen voran hinauf, ohne noch ein Wort zu sagen, ohne nur bemerken zu wollen, daß die Mourets da waren, die diese eigentümliche Szene beobachteten. Madame Faujas wollte alles gutmachen und lächelte Martha zu, während sie den Zug beschloß. Als alle fort waren und Mouret sich allein befand, blieb er noch einen Augenblick in dem Vorraum. Oben im zweiten Stock wurden die Türen heftig zugeschlagen; dann hörte man laute Stimmen, hierauf wurde es totenstill.
Hat er sie eingesperrt? sagte er lachend. Es ist eine schmutzige Familie.
Am folgenden Tage wurde Trouche, der, wie sich's gehört, schwarz gekleidet war und seine wenigen Haare sorgfältig über die Schläfen hinausgekämmt hatte, von dem Abbé Martha und den anderen Damen vorgestellt. Er war fünfundvierzig Jahre alt, besaß eine sehr schöne Schrift und sagte, daß er lange Zeit hindurch die Bücher in einem Handlungshause geführt habe. Die Damen stellten ihn sofort an. Er mußte den Ausschuß vertreten und sich mit den Verwaltungsangelegenheiten von zehn bis vier Uhr in einer Kanzlei beschäftigen, die sich im ersten Stocke der Anstalt der heiligen Jungfrau befand. Sein Gehalt betrug fünfzehnhundert Franken.
Du siehst, diese Leute sind sehr ruhig, meinte Martha nach einigen Tagen zu ihrem Gatten.
Wirklich machten die Trouches nicht mehr Lärm als die Faujas. Zwei- oder dreimal wollte wohl Rosa einen Streit zwischen der Mutter und der Tochter gehört haben; aber sofort erhob sich die ernste Stimme des Abbé und stiftete Frieden. Trouche ging regelmäßig um dreiviertel zehn Uhr fort und kehrte um einviertel fünf Uhr zurück; abends ging er nicht aus. Olympia ging manchmal mit Madame Faujas einkaufen; niemand hatte sie noch allein herunterkommen sehen.
Das Fenster des Zimmers, in dem die Trouche schliefen, ging auf den Garten; es war rechts das letzte gegenüber den Bäumen der Präfektur. Grobe Vorhänge von rotem Kattun, mit einem gelben Streifen besetzt, hingen hinter den Scheiben. Übrigens blieb das Fenster beständig geschlossen. Als eines Abends der Abbé Faujas mit seiner Mutter sich in Gesellschaft der Mouret auf der Terrasse befand, ließ sich ein leises, unfreiwilliges Husten vernehmen. Der Abbé hob erzürnt den Kopf und bemerkte die Schatten der Olympia und ihres Mannes, die unbeweglich zum Fenster herausgebeugt standen. Er sah einen Augenblick empor und unterbrach sein Gespräch mit Martha. Die Trouche verschwanden. Man hörte das heisere Knarren des Riegels.
Mutter, sagte der Priester, du solltest hinaufgehen; ich fürchte, du erkältest dich.
Madame Faujas wünschte der Gesellschaft einen guten Abend. Als sie fort war, begann Martha wieder das Gespräch und fragte in verbindlichem Tone:
Befindet sich Ihre Schwester schlimmer? Ich habe sie seit acht Tagen nicht gesehen.
Sie bedarf sehr der Ruhe, erwiderte der Priester trocken.
Aber sie beharrte aus Gutherzigkeit bei der Sache:
Sie schließt sich zu viel ein, die Luft würde ihr gut tun ... Die Oktoberabende sind noch warm ... Warum kommt sie niemals in den Garten? Sie hat ihn noch gar nicht betreten. Sie wissen doch, daß der Garten ganz zu Ihrer Verfügung steht.
Er entschuldigte sich, indem er nach nichtssagenden Worten suchte; aber Mouret, der ihn noch mehr in Verlegenheit bringen wollte, wurde noch liebenswürdiger als seine Frau:
Ja, das sagte ich heute früh auch. Die Schwester des Herrn Abbé sollte lieber nachmittags in der Sonne draußen nähen, anstatt sich oben einzusperren. Es sieht so aus, als wage sie nicht einmal, an dem Fenster zu erscheinen. Fürchtet sie sich vielleicht vor uns? Wir sehen doch gar nicht so schrecklich aus ... Ebenso ist es mit Herrn Trouche; er stürmt wie gejagt die Treppe hinauf. Sagen Sie ihnen doch, daß sie von Zeit zu Zeit herabkommen und einen Abend mit uns zubringen. Sie müssen sich ja zu Tode langweilen da oben ganz allein in ihrem Zimmer.
Der Abbé war an diesem Abend nicht gelaunt, die Spöttereien seines Hausherrn zu ertragen. Er sah ihm ins Gesicht und sagte mit fester Betonung:
Ich danke Ihnen, aber es ist wenig wahrscheinlich, daß sie es annehmen. Sie sind am Abend müde und legen sich nieder, übrigens ist es das Beste, was sie tun können.
Wie Sie wollen, mein lieber Herr, erwiderte Mouret, den der rauhe Ton des Abbé reizte.
Als er mit Martha allein war, sagte er:
So, so! Glaubt der, er wird mir ein X für ein U vormachen? Es ist klar: er fürchtet, dieses Pack, das er in unser Haus genommen hat, könne ihm einen schlimmen Streich spielen ... Du hast es heute abend gesehen, wie er in Zorn geriet, als er sie am Fenster bemerkte. Sie waren dort, um uns zu belauern. Es nimmt ein schlechtes Ende.
Martha lebte in großer Ruhe dahin. Sie hörte nicht mehr das Geschimpfe Mourets. Daß sie für den Glauben gewonnen ward, erfüllte sie mit einer köstlichen Freude; sie versenkte sich langsam ohne Aufregung in Andacht; sie wiegte sich darin ein und fiel dabei gleichsam in Schlummer. Der Abbé Faujas vermied es immer noch, mit ihr von Gott zu sprechen; er blieb ihr Freund und bezauberte sie nur durch seinen Ernst und jenen unbestimmten Weihrauchgeruch, der von seinem Talar ausströmte. Zwei oder drei Male war sie mit ihm allein wieder in ein nervöses Schluchzen ausgebrochen, ohne zu wissen warum, nur weil sie sich glücklich fühlte, so zu weinen. Jedesmal hatte er sich begnügt, sie schweigend bei den Händen zu nehmen, und sie mit seinem ruhigen und mächtigen Blicke besänftigt. Wenn sie mit ihm von ihrer grundlosen Traurigkeit, ihren geheimen Freuden und ihrem Bedürfnisse geleitet zu werden sprechen wollte, lächelte er nur und hieß sie schweigen. Er sagte, daß es ihn nichts angehe und daß sie darüber mit dem Abbé Bourrette sprechen müsse. Dann behielt sie zusammenschauernd alles für sich. Er aber nahm eine hoheitsvolle Miene an und hielt sich in ferner Höhe von ihr wie ein Gott, zu dessen Füßen sich schließlich ihre Seele niederwarf.
Die Hauptbeschäftigung Marthas war jetzt, daß sie Messen und anderen religiösen Übungen beiwohnte. Sie befand sich in dem Hauptschiffe der Kirche Saint-Saturnin so wohl und genoß dort vollkommener jene leibliche Ruhe, die sie suchte. Wenn sie dort war, vergaß sie alles; es war wie ein ungeheueres Fenster, das sich auf ein anderes Leben öffnete, auf ein langes, endloses Leben, voll einer Erregung, die sie ganz erfüllte und ihr genügte. Aber sie hatte noch immer Furcht vor der Kirche; sie trat mit einem unruhigen Scheugefühl daselbst ein, das sie unwillkürlich nötigte, sich umzublicken, wenn sie die Türe öffnete, um zu sehen, ob niemand da sei und sie eintreten sehe. Dann gab sie sich ganz hin; alles rührte sie, selbst die breite Stimme des Abbé Bourrette, der sie manchmal nach der Beichte noch einige Minuten lang auf den Knien ließ und mit ihr von den Essen der Madame Rastoil oder von der letzten Gesellschaft bei den Rougons sprach.
Martha kam oft niedergeschlagen nach Hause. Die Religion drückte sie nieder. Rosa war in der Wirtschaft allmächtig geworden. Sie sprang jetzt sehr barsch mit Mouret um, zankte mit ihm, weil er zu viel Wäsche schmutzig mache, und hieß ihn speisen, wenn das Essen fertig war. Sie unternahm es sogar, an seinem Seelenheil zu arbeiten.
Die gnädige Frau hat recht, ein christliches Leben zu führen, sagte sie zu ihm. Sie werden in Verdammnis geraten, gnädiger Herr, und das ist ganz recht, denn Sie sind im Grunde genommen nicht gut; nein, Sie sind nicht gut ... Sie sollten sie am nächsten Sonntag zur Messe führen.
Mouret zuckte mit den Achseln. Er ließ die Sache gehen und half selbst in der Wirtschaft mit, indem er das Speisezimmer auskehrte, wenn es ihm zu schmutzig war. Die Kinder machten ihm mehr Sorge. Desirée und Octave, der bei der Maturitätsprüfung durchgefallen war, stürzten in den Ferien das Haus um, weil die Mutter nie da war. Serge war leidend, hütete das Bett und las tagelang in seinem Zimmer.
Der Abbé Faujas hatte ihn sehr liebgewonnen und lieh ihm Bücher. Mouret verbrachte zwei schreckliche Monate, da er sich keinen Rat wußte, wie er die Kinder leiten sollte. Octave besonders machte ihn schier toll. Er wollte das neue Schuljahr nicht mehr abwarten und beschloß, den Jungen nicht mehr studieren zu lassen, sondern ihn in ein Handlungshaus nach Marseille zu geben.
Du willst nicht mehr über sie wachen, sagte er zu Martha, so muß ich sie irgendwo unterbringen ... Ich habe es satt und will sie lieber aus dem Hause haben. Um so schlimmer, wenn du darunter leidest! ... Octave ist unerträglich; die Prüfung besteht er nie. Es ist besser, ich lasse ihn sofort etwas lernen, wodurch er seinen Lebensunterhalt verdient, als ihn mit einem Haufen Nichtsnutziger herumlaufen. Man begegnet ihm überall in der Stadt.
Martha ging es sehr zu Herzen; sie erwachte wie aus einem Traume, als sie erfuhr, daß eines ihrer Kinder sich von ihr trennen solle. Durch acht Tage erlangte sie einen Aufschub der Abreise. Sie blieb sogar zu Hause und nahm wieder ihr tätiges Leben von früher auf. Dann erschlaffte sie von neuem; und als ihr Octave unter Küssen mitteilte, daß er an diesem Abend nach Marseille abreise, war sie kraftlos und begnügte sich, ihm gute Ratschläge zu geben.
Als Mouret von der Eisenbahn zurückkam, war ihm das Herz zu schwer. Er suchte seine Frau und fand sie in dem Garten in einer Laube, wo sie weinte. Er machte sich Luft.
Nun ist einer hinaus! rief er. Das muß dir doch Freude machen. Jetzt kannst du ganz nach Herzenslust in den Kirchen herumstreichen ... Sei ruhig, die beiden anderen werden nicht lange hier bleiben. Serge behalte ich noch zu Hause, weil er sehr schwach ist und noch zu jung, um die Rechte zu studieren; aber wenn er dir im Wege ist, brauchst du es nur zu sagen, ich befreie dich auch von ihm ... Desirée geht zu ihrer Amme.
Martha fuhr fort, still zu weinen.
Was willst du? Man kann nicht draußen und zugleich zu Hause sein. Du hast dir die Außenwelt erwählt, deine Kinder sind dir nichts mehr, das ist doch logisch ... Übrigens muß jetzt für die Leute Platz gemacht werden, die in unserem Hause wohnen, nicht wahr? Unser Haus ist nicht mehr groß genug. Es ist noch ein Glück, wenn man uns nicht hinausjagt.
Er hatte den Kopf gehoben und sah prüfend zu den Fenstern des zweiten Stockwerkes empor. Dann fuhr er leise fort:
Weine doch nicht so dumm! Man beobachtet dich. Siehst du nicht das Augenpaar zwischen den roten Vorhängen? Das sind die Augen der Schwester des Abbé, ich erkenne sie wohl. Man kann sie den ganzen Tag dort finden ... Der Abbé ist vielleicht ein braver Mensch, aber diese Trouche kommen mir hinter ihren Vorhängen wie lauernde Wölfe vor. Ich wette, wenn der Abbé sie nicht hinderte, sie würden des Nachts zum Fenster heraussteigen und mir die Birnen stehlen ... Trockne deine Augen; sei versichert, sie haben an unserem Streite ihre Freude. Weil sie die Ursache der Abreise unseres Kindes sind, braucht man ihnen nicht zu zeigen, welchen Schmerz uns diese Trennung bereitet.
Seine Stimme wurde weich, er war selbst nahe daran zu weinen. Gerührt durch seine letzten Worte, wollte Martha sich in seine Arme werfen. Aber sie fürchtete, gesehen zu werden, sie fühlten etwas wie ein Hindernis zwischen sich. Dann trennten sie sich, während die Augen Olympias noch immer zwischen den beiden roten Vorhängen funkelten.
Eines Morgens kam der Abbé Bourrette mit bestürzter Miene ins Haus. Als er Martha auf der Freitreppe bemerkte, ging er auf sie zu, schüttelte ihr die Hände und stammelte:
Der arme Compan, es geht zu Ende mit ihm, er liegt im Sterben ... Ich will zum Abbé Faujas hinauf, ich muß ihn sogleich sehen.
Als Martha ihm den Priester zeigte, der seiner Gewohnheit gemäß im Garten spazieren ging und in seinem Brevier las, eilte er mit seinen kurzen Beinen auf ihn zu. Er wollte sprechen, ihm die traurige Nachricht mitteilen, aber der Schmerz erstickte ihn, er konnte sich nur schluchzend an seinen Hals werfen.
Was haben denn die beiden Abbé? fragte Mouret, der schnell aus dem Speisezimmer herauskam.
Der Pfarrer von Saint-Saturnin scheint dem Tode nahe, erwiderte Martha tief bewegt.
Mouret machte eine überraschte Miene. Er ging wieder hinein und sagte leise:
Bah, der gute Bourrette tröstet sich morgen, wenn man ihn zum Nachfolger des anderen ernennt ... Er rechnet auf die Stelle; er hat es mir gesagt.
Unterdessen hatte sich der Abbé Faujas aus der Umarmung des alten Priesters losgemacht. Er nahm die traurige Nachricht ernst entgegen und schloß bedächtig sein Brevier.
Compan will Sie sehen, stotterte der Abbé Bourrette; er erlebt den Mittag nicht mehr ... Es war ein lieber Freund. Wir haben zusammen studiert ... Er will Ihnen Lebewohl sagen; die ganze Nacht hat er mir wiederholt gesagt, daß Sie allein in dem Kirchspiel Mut haben. Seit mehr als einem Jahre, wo er hinsiechte, wagte nicht ein Priester von Plassans, ihm die Hand zu schütteln. Sie kannten ihn kaum und haben ihm jede Woche einen Nachmittag gewidmet. Er weinte vorhin, als er von Ihnen sprach ... Sie müssen sich beeilen, lieber Freund.
Der Abbé Faujas ging einen Augenblick in seine Wohnung hinauf, während der Abbé Bourrette unterdessen ungeduldig und trostlos im Vorraum auf und ab ging; nach einer Viertelstunde gingen beide fort. Der alte Priester wischte sich den Schweiß von der Stirne und eilte auf dem Pflaster dahin, während er in abgebrochenen Sätzen sprach:
Er wäre wie ein Hund ohne ein Gebet gestorben, wenn nicht seine Schwester mich gestern abend gegen elf Uhr in Kenntnis gesetzt hätte. Es war schön von dem lieben alten Fräulein. Er wollte keinen von uns kompromittieren und hätte nicht einmal die letzte Ölung empfangen ... Ja, mein Freund, er war auf dem Punkte, in einem Winkel allein und verlassen zu sterben, er, der so viel Einsicht gehabt und nur für das Gute gelebt hat.
Er schwieg; nach einer Pause fuhr er mit veränderter Stimme fort:
Glauben Sie, daß Fenil mir das verzeiht? Nein, niemals, nicht wahr? ... Als Compan mich mit dem heiligen Öl kommen sah, wollte er nicht und rief mir zu, ich solle fortgehen. Nun, es ist geschehen! Ich werde nie Pfarrer. Es ist mir lieber. Ich habe wenigstens Compan nicht wie einen Hund sterben lassen ... Dreißig Jahre lag er mit Fenil im Hader. Als er sich hinlegte, sagte er mir: Jetzt siegt Fenil, jetzt, da ich zu Boden liege, macht er mir den Garaus. Ach, dieser arme Compan, er, den ich so stolz, so energisch in Saint-Saturnin sah ... Der kleine Chorknabe Eusèbe, den ich mitnahm, um das Viatikum zu läuten, blieb ganz verlegen stehen, als er sah, wohin wir gingen; er sah sich bei jedem Läuten um, als wenn er fürchte, Fenil könne ihn hören.
Der Abbé Faujas ging mit gesenktem Kopfe, nachdenklich rasch dahin und schwieg; er schien seinen Gefährten nicht zu hören.
Ist Se. bischöfliche Gnaden in Kenntnis gesetzt? fragte er plötzlich.
Jetzt schien der Abbé Bourrette nachdenklich zu sein. Er antwortete nicht. Als sie zu der Türe des Abbé Compan kamen, sagte er leise:
Sagen Sie ihm, daß wir soeben Fenil begegnet seien und daß er uns gegrüßt habe. Es wird ihn freuen ... Er wird glauben, ich sei Pfarrer.
Sie gingen still hinauf. Die Schwester des Abbé öffnete ihnen. Als sie die beiden Priester sah, brach sie in ein Schluchzen aus und stammelte unter Tränen:
Es ist aus! Er ist soeben in meinen Armen gestorben ... Ich war allein. Er sah, als er in den letzten Zügen war, sich um und sagte leise: »Habe ich denn die Pest, daß man mich so verlassen hat? ...« Ach, meine Herren, er starb mit Tränen in den Augen.
Sie traten in das kleine Zimmer, wo der Pfarrer Compan, den Kopf auf einem Kissen, zu schlafen schien. Seine Augen waren offen geblieben, und dieses bleiche, tieftraurige Gesicht weinte noch; die Tränen rannen über die Wangen herab. Der Abbé Bourrette fiel auf die Knie, schluchzte und betete, die Stirn an die Bettdecke gedrückt. Der Abbé Faujas blieb aufrecht stehen und sah den armen Toten an; nachdem er einen Augenblick niedergekniet war, ging er leise hinaus. Der Abbé Bourrette, ganz in seinem Schmerze verloren, hörte nicht einmal die Türe schließen.
Der Abbé Faujas ging in die bischöfliche Residenz. In dem Vorzimmer des Bischofs begegnete er dem Abbé Surin, der mit Papieren beladen war.
Wünschen Sie Se. bischöflichen Gnaden zu sprechen? fragte ihn der Sekretär mit seinem ewigen Lächeln. Sie kommen sehr ungelegen. Se. bischöfliche Gnaden ist so sehr beschäftigt, daß er jedem den Zutritt hat verbieten lassen.
Ich komme in einer sehr dringenden Angelegenheit, erwiderte ruhig der Abbé. Man kann ihn immerhin benachrichtigen und wissen lassen, daß ich da bin. Ich warte, wenn es notwendig ist.
Ich fürchte, daß es unnütz ist. Se. bischöfliche Gnaden hat mehrere Personen bei sich. Kommen Sie morgen wieder, es ist besser.
Aber der Abbé nahm einen Stuhl, als der Bischof eben die Türe seines Kabinetts öffnete. Er war sehr verlegen, als er den Besucher bemerkte und tat, als ob er ihn nicht kenne.
Liebes Kind, sagte er zu Surin, wenn Sie diese Papiere eingeordnet haben, kommen Sie sofort wieder zurück; ich habe Ihnen einen Brief zu diktieren.
Dann wandte er sich an den Priester, der achtungsvoll stehen geblieben war:
Ei, Sie sind es, Herr Faujas? Es freut mich Sie zu sehen ... Sie haben mir wahrscheinlich etwas mitzuteilen? Kommen Sie, kommen Sie in mein Arbeitszimmer; Sie stören mich nie.
Das Kabinett des Bischofs war ein geräumiges Zimmer, doch ein wenig düster; ein großes Feuer brannte Sommer und Winter. Der Teppich und die dichten Vorhänge machten die Luft erstickend. Es war, als steige man in ein heißes Bad. Der Bischof saß da fröstelnd in einem Sessel, von der Welt zurückgezogen, den Lärm hassend und die Sorgen um seinen Amtsbezirk dem Abbé Fenil überlassend. Er war ein leidenschaftlicher Freund der altklassischen Literatur. Man erzählte sich, daß er im geheimen Horaz übersetze; die kleinen Verse der griechischen Anthologie begeisterten ihn gleicherweise, und er zitierte schlüpfrige Verse, die er mit der Naivität eines Gelehrten genoß, dem das Schamgefühl für das Gemeine fremd ist.