1926
Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg 26
Druckerei des Rauhen Hauses, Hamburg 26
Übersetzung aus dem Schwedischen von M. E. Fischer
Sechstes bis achtes Tausend
Vordruck zur Ausfuhr:
Copyright 1922 by Agentur des Rauhen Hauses, Hamburg 26
Printed in Germany
Überwältigend schön war die Lage des Pfarrhofes von Skalunga. Eine lange Bergwand stieg vom Fluß in der Tiefe bis zu den Wolken empor, und hoch oben nahe dem Gipfel, oberhalb des Dorfes und seiner schlichten Kirche lag das Pfarrhaus. Der Weg zu ihm hinauf war steil, vom Dorfe zu seinen Füßen an geradezu abschüssig.
An die Bergwand gelehnt, erhob sich hinter der Kirche und dem Pfarrhofe das Wohnhaus, dessen Grund sich etwa in gleicher Höhe mit dem Kreuz auf der Kirchturmspitze befand.
Es war ein wetterfestes Gebäude, geräumig und wohnlich; als es erbaut wurde, hatte der Boden in jener damals dünn bevölkerten Gegend nichts gekostet, und Bauholz gab es im Überfluß in den Siebenmeilenwäldern rings umher. Ein geräumiges Wohnhaus war in diesen Bergen allerdings notwendig, damit der Pastor Reisende beherbergen konnte; denn es war weit bis zum nächsten Gasthof. Jetzt war die Gegend dichter bevölkert, das Land besser bestellt, und das Dorf um die Kirche hatte sich bedeutend vergrößert. Es gab sogar ein Wirtshaus dort, so daß man die Gastlichkeit des Pfarrhauses weniger in Anspruch zu nehmen brauchte.
Von seinen Fenstern hatte der Pastor die Aussicht auf seine Kirche und die Hälfte seiner weit ausgedehnten Gemeinde. Wenn er deren andere Hälfte überblicken wollte, mußte er den steilen Abhang hinaufsteigen, der oberhalb seines Hauses nach dem Skalungaer Höhenzug führte. Hier oben bot sich eine weite und großartige Aussicht. Nach allen Richtungen Wald, – soweit das Auge reichte, ernster, ewig grüner Nadelwald. Ein reißender Strom schlängelte sich als weißes Band durch all das dunkle Grün hinab. Von der Höhe aus sah man viele Stromschnellen, die aber sehr weit auseinanderlagen. Von hier oben, aus dem Fenster betrachtet, schienen sie still zu liegen, wie wild auch die Wassermassen schäumten. Doch an stillen Tagen konnte man auch hier ihr Getöse ganz schwach vernehmen, wie es sich mit dem Brausen näherer kleinerer Ströme vermischte. Denn hier und da, vom Walde verborgen, eilten sie in zerklüfteten Felsenbetten aus der sprudelnden Quelle und den kleinen Seen hinab, um ihren langen Sehnsuchtsweg dem Meere entgegengeführt zu werden.
Obgleich Skalunga nur eine Filialgemeinde war, hatte es doch eine große Kirche, und deren Schatz war ein alter Altarschrein, der während des Dreißigjährigen Krieges irgendwo in Deutschland »gerettet« worden war. Sonst hatte sie wenig Schmuck.
Gelegentlich kamen Touristen, angelockt durch den großartig schönen Weg, aus bewohnterer Gegend nach Skalunga, dann begehrten sie, die Aussicht von den Höhen und den Altarschrein zu sehen. So kamen auch eines Tages drei Damen herauf. Es waren die Baronin Furuclou mit ihrer Tochter Helwig und ein Fräulein Borg, die Mutter und Tochter in dem Gasthaus kennen gelernt hatten, wo sie zusammen während des Sommers wohnten.
Da sie schon vier Stunden gefahren waren, freuten sie sich, nun das Fuhrwerk verlassen zu können. Sie hatten Mundvorrat mitgebracht und bestellten im Gasthof Kaffee zu ihrem Butterbrot.
Als sie sich gestärkt hatten, gingen sie hinauf, um sich die Kirche anzusehen. Diese war verschlossen, da es Wochentag war; man sagte ihnen aber, daß sich der Schlüssel im Pfarrhaus befände.
»Fräulein Borg und ich werden hier warten, wenn du nach dem Schlüssel hinaufgehen willst,« sagte die Mutter zu ihrer Tochter.
Helwig ging.
Es war niemand in der Nähe des Pastorats zu sehen, darum trat sie in den Hausflur ein, der geräumig und leer war. Helwig klopfte an der ersten Tür zur Rechten. Niemand antwortete. Aber die Tür war nicht verschlossen, als sie den Griff niederdrückte. Sie blickte in ein großes Eckzimmer. An dem einen Fenster stand ein plumper Schreibtisch voller Papiere und Bücher, an den Wänden befanden sich Bücherständer, ein Sofa und einige Stühle. Helwig hielt es für des Pastors Arbeits- und Studierzimmer.
Während sie noch in der Tür stand, unentschlossen, ob sie ihre Entdeckungsreise fortsetzen sollte, kam ein untersetzter, kräftig gebauter Mann aus einem angrenzenden Zimmer. Er hatte grobe Kleider an. Sein ungewöhnliches Gesicht zeigte derbe Züge. Das aufwärtsstrebende, dicke Haar war dunkel rotbraun, das Gesicht sommersprossig, aber frisch und sonnenverbrannt.
Als er die junge Dame in der Tür erblickte, zog er die Hände aus den Joppentaschen, verbeugte sich kurz und lächelte leicht. Vielleicht ahnte er, daß es ihr zweifelhaft war, ob er der Pastor selber oder dessen Knecht sei. Wie dem auch sein mochte, er machte Eindruck auf sie. Es war etwas urwüchsig kraftvolles an ihm, und dies gefiel ihr, da sie für alles Ungewöhnliche empfänglich war.
»Ich möchte um den Kirchenschlüssel bitten. Wir wollen uns gern die Kirche ansehen, und man hat uns hierhergewiesen.«
Der Mann nahm einen gewaltigen Schlüssel von der Wand und reichte ihn ihr.
»Sie können ihn dann stecken lassen. Ich muß doch nachher bald hingehen,« sagte er.
»Ist es Ihnen nicht bedenklich, den Schlüssel Fremden so ganz zu überlassen? Wir könnten doch etwas stehlen,« scherzte sie.
»Der Altarschrein ist zu schwer, und etwas anderes gibt es nicht zu stehlen.«
Da nahm sie den Schlüssel und ging, immer noch in Ungewißheit, ob sie den Pastor oder dessen Knecht getroffen habe. Es kam ihr vor, als deute sein Aussehen auf letzteres, sein sicheres Auftreten aber auf ersteres. –
Die Damen besahen die Kirche, ließen den Schlüssel stecken und stiegen dann auf die Höhe, um die Aussicht zu betrachten.
Als sie an das Pastorat kamen, zögerte die Baronin.
»Hier wird es furchtbar steil. Ob ich nicht lieber hier bleibe und euch allein weitergehen lasse? Wir treffen uns dann wieder, wenn ihr zurückkommt.«
Fräulein Borg meinte auch, daß es wohl so am klügsten wäre, aber Helwig war anderer Ansicht.
»Du wirst es hinterher bereuen, wenn du nicht mitkommst, Mutterchen. Die Leute werden dich fragen, ob du auf der Höhe warst, und dann sagen, daß du nichts von Skalunga gesehen hast. Dann werden wir uns so ärgern, daß es besser ist, wenn du dich jetzt anstrengst.«
Helwig sprach lebhaft und faßte liebevoll der Mutter Arm, um ihr beim Aufstieg behilflich zu sein.
Die Baronin gab lächelnd nach. Ihrem Töchterchen gegenüber war sie sehr schwach. Sie war stolz auf sie und hatte auch Grund dazu, wenigstens was das Äußere betraf. Helwigs Gestalt war schlank und schmal um die Hüften. Sie bewegte sich lebhaft, aber mit einer natürlichen, feinen Würde. Ihr längliches Gesicht mit den mandelförmigen Augen und dem griechischen Profil war schön. Die schmalen, gebogenen, meist leicht getrennten Lippen hatten einen stolzen, etwas spöttischen Ausdruck, und das Kinn deutete auf Willensstärke. Das dunkle Haar war weder üppig, noch lockig, aber wohlgepflegt und hübsch aufgesteckt, so daß die vornehme Form des Kopfes voll zur Geltung kam. Ausdruck und Haltung zeugten von regem geistigen Leben, aber auch Sehnsucht und Unruhe lag in der Tiefe der blauen Augen, die dank den dichten Augenwimpern dunkler aussahen, als sie waren. Die Farbe der warmen, reinen Gesichtshaut wechselte häufig, gewöhnlich aber war sie gerötet, beinahe etwas hektisch, und die roten Lippen konnten bei jeder auch nur geringen Gemütsbewegung erbleichen.
»Ach, ist es nicht Lohn genug für alle Mühe, hier oben zu stehen!« rief Fräulein Borg begeistert aus.
Ausnahmsweise stand Helwig schweigend da. Die Erhabenheit der weiten Aussicht wirkte beklemmend, fast beängstigend auf sie. Dann machte sie eine eigentümliche Beobachtung: es schien ihr dies alles bekannt zu sein, und doch wußte sie, daß sie es zum ersten Male sah. Es war ihr, als hätte sie schon früher hier gestanden und das Kreuz auf dem Kirchturm blinken sehen. Sie blickte darauf hinab und meinte doch, es wäre hoch über ihr. Dies Gefühl war ihr neu, und doch hatte sie die Empfindung, als hätte es lange in ihr gelegen, um ihr erst jetzt zum Bewußtsein zu kommen. Was bedeutete das? War sie früher einmal im Traum hier gewesen?
»Ist es nicht Zeit, hinunter zu gehen? Wir haben einen weiten Heimweg, und die Pferde werden auch lange genug ausgeruht haben,« sagte die Baronin endlich.
Zwar war sie entzückt von ihrem Ausflug, aber sie fing jetzt doch an, sich nach der gemütlichen Pension und nach der Abendmahlzeit zu sehnen. So stiegen sie bergab.
Noch waren sie nicht weit gegangen, als die Baronin stolperte und fiel.
»Mutter!« schrie Helwig auf.
Aber sie erhielt keine Antwort. Die Mutter lag unbeweglich, und als sich das junge Mädchen ängstlich über sie beugte, sah sie, daß sie das Bewußtsein verloren hatte.
»Bleiben Sie hier. Ich laufe nach Hilfe hinunter ins Pastorat,« sagte Fräulein Borg.
Helwig war aufs tiefste erschrocken und stand wie gelähmt neben ihrer Mutter. Sie wagte nicht, sie anzurühren; denn sie wußte ja nicht, wo sie verletzt war, und hätte daher den Schaden leicht verschlimmern können.
»Mutter, Mutter!« jammerte sie und setzte sich auf den Boden dicht neben sie.
Behutsam nahm sie ihr den Hut ab und streichelte zaghaft das blasse Gesicht. War es wohl ein Vorgefühl hiervon gewesen, was sie so ängstlich gemacht hatte, als sie dort auf der Anhöhe stand? Sie dachte daran, daß die Mutter beim Pastorat bleiben wollte und nur auf ihr Zureden mitgegangen war, und diese Erinnerung schnitt ihr ins Herz!
Es schien Helwig eine Ewigkeit zu vergehen, ehe Hilfe kam; aber endlich stellte sie sich doch ein. Es war der Pastor und sein Knecht. Sie trugen eine einfache Bahre. Fräulein Borg ging vor ihnen her.
Der Mann mit den markigen Gesichtszügen beugte sich, als er die Bahre niedergesetzt hatte, über Helwig, die in ihrer Trostlosigkeit auf der Erde saß, und half ihr aufstehen.
»Mut!« sagte er und sah ihr fest in das blasse Gesicht.
Es kam ihr vor, als ginge eine Kraft von ihm aus. Matt stützte sie sich auf ihn, selbst als sie wieder auf den Füßen war. Sie zitterte so, daß sie kaum stehen konnte.
Er überließ sie Fräulein Borg und beugte sich über die Verletzte, deren Bewußtsein allmählich wiederkehrte. Nach einer kurzen, aber augenscheinlich sachkundigen Untersuchung glaubte er feststellen zu können, daß der Hauptschaden in einem Oberschenkelbruch dicht unterhalb der Hüfte bestand. Er verschwieg, daß es ein schwerer Bruch sei, der lange Zeit zur Heilung brauchen würde.
Mit Hilfe des Knechts versuchte er, die Verletzte auf die Bahre zu heben, doch wollte er ihr nicht mehr Schmerzen machen, als durchaus notwendig war. Er blickte Helwig prüfend an:
»Wenn Sie sich an jene Kiefer lehnten, könnten Sie allein stehen,« sagte er in freundlich bestimmtem Ton zu ihr und rief gleichzeitig Fräulein Borg mit einem Blick zur Hilfe herbei.
»Kann ich nicht auch helfen?« fragte Helwig mit einem heldenmütigen Versuch, sich aus ihrer Schwachheit aufzuraffen.
»Seien Sie nur mutig!« antwortete der Pastor.
Daß der untersetzte Mann mit den grobgeschnittenen Gesichtszügen der Pastor war und der andere sein Knecht, begriff Helwig jetzt; sie empfand es unwillkürlich, trotzdem sie so von Angst erfüllt war.
Das Geschick war bisher sanft mit Helwig umgegangen. Derartige Schläge war sie nicht gewohnt, und darum war sie jetzt so fassungslos. Als die Mutter stöhnte, während sie auf die Bahre gehoben wurde, konnte Helwig sich nicht mehr beherrschen, sie fing auch an zu jammern. Trotz ihrer Angst merkte sie aber doch, was für eine klägliche Rolle sie spielte, während die anderen so gefaßt waren, und die Vorstellung quälte sie, welchen Eindruck ihr Benehmen machte.
Als die Verletzte glücklich auf der Bahre lag, trugen die beiden Männer sie so vorsichtig wie möglich den Abhang hinunter.
Helwig folgte ihnen, indem sie sich auf Fräulein Borg stützte.
»Daß ich so eine Memme bin!« murmelte sie.
»Das ist kein Wunder,« meinte Fräulein Borg tröstend.
Die Bahre wurde in das Pastorat in ein großes Eckzimmer getragen, wo ein frisch zurechtgemachtes Bett stand. Dort erwartete sie eine kleine, einfache Bauersfrau. Wer sie war, erfuhr Helwig, als der Pastor sie mit »Mutter« anredete.
Selbst sie unterlag jetzt der ruhigen Bestimmtheit seiner Anweisungen und gehorchte ihm so flink wie die beiden anderen.
Der Pastor tat gerade, als wäre er ein Arzt. Er schien genau zu wissen, was zu tun war. Ohne Zaudern handelte er, aber auch ohne Überstürzung, alles machte er ruhig und gut. Seine Anordnungen waren kurz und bündig, aber deutlich genug. Helwigs Hilfe nahm er nicht in Anspruch, dagegen wandte er seine Aufmerksamkeit auch ihr zu, wenn sie schwankte und Hilfe brauchte. Sie sah auch, daß er alles, was für die Verletzte getan werden konnte, aufs beste machte, und das gab ihr allmählich die Ruhe zurück.
Als die Mutter im Bett lag, das gebrochene Glied in der richtigen Lage, und alles zur Linderung getan war, saß Helwig wie in einem bösen Traum daneben. Dazu hatte nun der Ausflug dieses Tages geführt! Wenn sie nur nicht darauf bestanden hätte, daß die Mutter mit auf die Höhe käme, dann wäre dies nie geschehen!
Jemand berührte ihren Arm. Als sie den Kopf wandte, stand die kleine Bauersfrau, des Pastors Mutter, neben ihr.
»Kommt und eßt was!«
»Ich kann nicht essen!« antwortete Helwig mit bebenden Lippen.
»Ihr müßt!« nötigte die alte Frau freundlich.
Aber Helwig schüttelte nur den Kopf.
Da blickte des Pastors Mutter sie einen Augenblick unschlüssig an und ging dann hinaus.
Helwig glaubte, daß der Versuch, sie zum Essen zu bewegen, aufgegeben wäre, aber darin irrte sie sich. Die Wirtin war keineswegs entmutigt worden, sondern ging nur, ihren Sohn zu holen. Bald darauf erschien seine untersetzte Gestalt in der Tür. Festen Schrittes trat er in der ihm eigenen schroffen und doch Vertrauen einflößenden Art zu Helwig und bot ihr den Arm; sie sah ihn abweisend an. Da faßte er ihren Arm und zog ihn unter den seinen.
»Kommen Sie!« sagte er nur.
Da fühlte sie seine überlegene Kraft und folgte ihm.
Er führte sie in das anstoßende Gemach. Es war ein gewaltig großer Raum mit vier Fenstern. Das eine Ende des großen Tisches in der Mitte war gedeckt. Fräulein Borg hatte eben gegessen und erhob sich jetzt, um in das Krankenzimmer zu gehen und dort Helwigs Platz einzunehmen, während diese aß.
Als der Pastor Helwig an den Tisch gesetzt hatte, blieb er neben ihr stehen. Seine Mutter brachte eben warmes Essen aus der Küche.
»Ich kann nichts essen,« erklärte Helwig.
»Versuchen Sie,« sagte der Pastor kurz.
Es lag eine wunderbare Kraft in seiner Ruhe und in den knappen Worten, eine Kraft, der Helwig nicht widerstehen konnte.
Sie gehorchte ihm und versuchte zu essen. Es ging wirklich. Sie entdeckte sogar, daß sie hungrig gewesen sein mußte.
Während sie nun aß, wurde ihr die ganze Lage klar.
Die Mutter war verletzt, aber, wie es schien, nicht lebensgefährlich. Sie hatte Schmerzen, aber sie war doch wieder bei Bewußtsein und schien nicht so krank, daß man irgendwelche Befürchtungen für ihr Leben haben mußte. Helwig fing an, sich wieder aus der hoffnungslosen Verzweiflung aufzuraffen, die ihr zuerst die Besinnung geraubt hatte. Aber wenn es auch nicht so schlimm war, wie es hätte sein können, so war es doch traurig genug.
Sie blickte zum Pastor auf, der noch neben ihr stand.
»Wie werde ich meine Mutter von hier fortbringen können?«
»Das geht nicht.«
»Aber – – es muß gehen. Wie sollte es sonst werden?«
»Sie müssen hier bleiben.«
»Hier bleiben?« rief Helwig aus, als wäre das unmöglich.
»Warum nicht?«
»Hier in der Einöde, ohne einen Arzt in der Nähe? Und ohne alle Bequemlichkeiten? Mutter, die es ganz anders gewohnt ist!«
»Wir werden es ihr so behaglich wie möglich machen. Der Arzt kann morgen beizeiten hier sein.«
Helwig kam alles unwirklich, wie ein Traum vor. War es möglich, daß sie, die nur einen Tagesausflug in diese weltferne Gegend hatten machen wollen, hier bleiben mußten?
»Ich glaube nimmermehr, daß Mutter das will,« sagte sie.
»Ich fürchte, sie wird müssen,« entgegnete der Pastor.
Helwig blickte den Pastor wieder an. Wie machtvoll war sein Gesicht, und wie bestimmt waren seine ruhigen, kurzen Äußerungen! Er kam ihr vor wie ein unvermeidliches Schicksal. Sie sträubte sich aber doch.
»Wir können nicht bleiben!« erklärte sie aufsässig.
Diesmal antwortete er nicht, aber es trat ein Ausdruck in seine Augen, als wäre sie ein Kind und täte ihm leid. Es lag nichts Vorwurfsvolles oder Geringschätziges darin, aber doch stieg ein Gefühl der Beschämung in ihr auf.
»Wir haben alle unsere Sachen in der Pension, wir haben nichts hierher mitgebracht. Wir wollten doch nicht einmal über Nacht bleiben,« klagte sie, und es war ihr selbst dunkel bewußt, wie kleinlich diese Klage eigentlich war im Vergleich zu dem Schlag, der sie getroffen hatte.
»Die Sachen können geholt werden.«
Das könnten sie wohl. Das war ja so einfach. Er nahm es alles so, wie es war; aber ihr wurde es schwer.
»Wollen Sie Ihr Bett drinnen bei Ihrer Mutter haben, oder soll es in der Stube nebenan stehen?« fragte er.
Sie war unschlüssig.
»Mutter muß natürlich jemand bei sich haben, aber ich bin die Krankenpflege gar nicht gewohnt, – – ich fürchte, ich kann es nicht. Wenn wir hier bleiben, müssen wir eine Pflegerin haben.«
»Hier im Dorf ist eine tüchtige, zuverlässige Frau. Nicht ausgebildet, aber mit einer natürlichen Anlage. Wenn es nötig ist, hilft sie mir bei meinen Kranken. Sie könnte nachts hier sein.«
»Kann sie schon diese Nacht kommen?«
»Ich will mich erkundigen. Ich glaube es wohl.«
Helwig ging nun zu ihrer Mutter, um mit ihr zu beraten. Die Baronin freute sich zwar nicht über die Aussicht, in Skalunga bleiben zu müssen, sah aber ein, daß es unmöglich war, abzureisen; denn sie konnte sich nicht ohne Schmerzen rühren.
»Ich könnte die lange Fahrt nicht ertragen und mag nicht einmal daran denken, aus dem Bett gehoben zu werden,« sagte sie matt.
Fräulein Borg war sehr teilnehmend und wollte helfen, soviel sie konnte; aber sie war doch keine Verwandte und nicht gezwungen, zu bleiben. Der Wagen fuhr heute abend zurück, und sie beschloß, mitzufahren. In der Pension wollte sie die Angelegenheit der Damen Furuclou erzählen und ihnen ihre Sachen schicken.
»Und wenn ich sonst noch etwas tun kann, tu ich es gern.«
Aber es war weiter nichts zu tun.
Als nun gar Fräulein Borg abreisen wollte, fühlte Helwig sich hoffnungslos verlassen, hier oben allein mit ihrer kranken Mutter, mitten unter lauter Fremden, fern von aller Kultur. Die Angst, die sie ausstand, machte sie schwach, sie konnte sich nicht mehr beherrschen und fing an zu weinen. Um es vor der Mutter zu verbergen, ging sie in das große Eßzimmer hinaus, das leer war. Ihr zukünftiges Zimmer wurde aufgeräumt und so gut wie möglich für sie zurechtgemacht. Augenblicklich wurde sie nicht gebraucht, denn Fräulein Borg saß noch bei der Mutter und wartete auf den Wagen, der sie hier oben abholen sollte. Helwig fühlte sich wie eine Gefangene, weil sie nicht mitfahren konnte.
Sie saß an einem der Fenster, die Ellbogen auf das Fensterbrett und das Kinn in die Hände gestützt. Unter reichlichen Tränen starrte sie hinaus auf die Landschaft. Die Natur, die mit ihrer düsteren Schönheit vorher großen Eindruck auf sie gemacht hatte, vermehrte jetzt nur ihre Beklemmung.
Die Kirche war das Nächste, was sie sah. Daneben führte der Weg aus dem Dorf herauf. Sie wartete auf den Wagen, der Fräulein Borg fortbringen sollte.
Da kam er. Der Kutscher stieg den Hügel herauf. Er hatte Gesellschaft, denn neben ihm ging der Pastor, und hinter ihnen kam eine Bauersfrau mit einem Tuch um den Kopf. Vermutlich die Krankenpflegerin! Mitten unter ihren Tränen lächelte Helwig bitter. Wie weit war es mit ihr und ihrer armen Mutter gekommen, daß sie auf so einfache Hilfe angewiesen waren! Ein Pastor als Arzt und eine Bauersfrau als Krankenwärterin!
Sie trocknete die Tränen und versuchte ernstlich, ihre Erregung zu bezwingen, indem sie sich sagte, daß das Weinen doch nichts nützte.
Seitdem Helwig entdeckt hatte, daß ihr Hauswirt eine Singstimme besaß, sehnte sie sich danach, mit ihm zusammen zu musizieren.
Sie hatte das Klavier des Küsters gemietet. Es stand jetzt in dem großen Zimmer, und Helwig spielte oft darauf und sang dazu, seit sie ihre Noten aus Stockholm bekommen hatte. Die Musik, die sie eigentlich schon beiseite gelegt hatte, verkürzte ihrer Mutter die Zeit und füllte auch ihr selbst den Tag angenehm aus. Ja, sie wurde durch die Klänge wieder gefesselt, unwiderstehlicher und inniger als je. Nur in der Musik fand sie Ausdruck für all das Neue und Mächtige, das hier oben in ihre Seele eingezogen war.
Durch die Entdeckung von Pastor Larssons Singstimme erhielt ihr wieder erwachtes musikalisches Interesse neue Anregung. In allem, was die Musik betraf, war Ols Helwig gegenüber sehr bescheiden. Von dem ersten Augenblick an, als er sie singen hörte, hatte er eingesehen, daß sie in dieser Beziehung hoch über ihm stand. Er zeigte sogar etwas Schüchternheit, als sie ihn bei der ersten Gelegenheit nach dem Gottesdienst bat, ihn begleiten zu dürfen. Aber er ließ es bald zu, denn er wollte sich gern im Singen üben. Da er zu wenig Unterweisung gehabt hatte, wußte er, daß er Fehler machte, und nun bat er sie, diese zu verbessern.
Während seiner Studienzeit in Upsala hatte er Unterricht in Orgelspiel und Gesang genommen. Sonst hatte er nie Stunden gehabt, wenn man gerade nicht das mitrechnete, was ihm der Küster seines Heimatsortes während seiner Kindheit zum Vergnügen beigebracht hatte. Hier in Skalunga hatte er für sich allein weiter geübt, wenn er Zeit gehabt hatte.
Helwig fand vieles zu verbessern; aber auch vieles, woraus sich etwas machen ließ. Das machte ihr Freude. Er war ihr sehr dankbar für ihre Mühe, und die erste Frucht der Dankbarkeit war, daß er sich die Zeit nahm, ihr im Krankenzimmer Modell zu sitzen.
Zwar konnte er nicht begreifen, daß sie ihn malen wollte, aber da sie es durchaus wollte, mochte sie es tun. Das Interesse der Baronin und der belebte Ausdruck, den ihr müdes, bleiches Gesicht während der Sitzungen annahm, waren ihm Belohnung genug für die Unannehmlichkeit, auf dem Präsentierteller zu sitzen und seine Häßlichkeit bis in die kleinste Einzelheit von Helwigs schönen, scharfblickenden Augen betrachten zu lassen.
Sie saß so, daß ihre Mutter die Malerei sehen und, wenn sie wollte, jedem Pinselstrich folgen konnte.
»Das ist mir eine große Selbstüberwindung,« vertraute sie Ols an, als sie einmal außer Hörweite der Mutter waren. »Ich hasse es, daß mir jemand zusieht, wenn ich male. Aber es macht ihr Spaß, jetzt, wo sie solche Schmerzen hat und sich so langweilt, und da kann ich es nicht übers Herz bringen, ihr das Vergnügen zu nehmen.«
Bei den Sitzungen im Krankenzimmer plauderten sie oft lebhaft, denn das hinderte Helwigs Arbeit nicht und brachte Leben in sein Gesicht. Solange der Pastor daran dachte, daß er Modell saß, zeigte er einen Ausdruck hölzerner Starrheit. Helwig aber lag daran, diesen durch muntere Unterhaltung zu vertreiben.
»Ich finde, es ist ein solcher Wirrwarr in Ihren Namen,« erklärte Helwig eines Tages. »Die Leute nennen Sie ›unser Ols‹, Ihre Mutter nennt Sie Erik, und solche, wie meine Mutter und ich, nennen Sie Pastor Larsson. Wie heißen Sie denn am meisten?«
»Ols ist mein Familienname, Erik mein Taufname, und Larsson heiße ich nach meinem Vater, der Ols Lars Jonsson hieß.«
»Wie wird Ihre Frau denn heißen?«
»Ols Larsson. Und dazwischen wird ihr Taufname stehen.«
»Wenn sie nun aber nicht Larsson heißen will?«
»Dann ist es ihr wohl auch nicht Ernst damit, meine Frau zu werden.«
»Daß Sie keinen anderen Namen annahmen, als Sie Pastor wurden!«
»Es ist keine Schande, Ols Larsson zu heißen.«
»Nein, eine Schande ist es nicht. Aber Sie hätten wohl einen schöneren und weniger gewöhnlichen Namen haben können, als einen, der auf ›son‹ endigt.«
»Was man schön findet, ist Ansichts- und Geschmackssache. Es hat doch Sinn, mit der Endung ›son‹ (Sohn) nach seinem Vater zu heißen. Aber was für Sinn hat es, Furuclou (Föhrenklau) zu heißen? Weder haben die Föhren Klauen, noch gibt es Klauen aus Föhren.«
Helwig und ihre Mutter lachten beide über seine Entgegnung. Jedesmal, wenn er seine Anlage für Scherz und Humor zeigte, war Helwig entzückt. Wie deutlich man auch in seiner Nähe erkannte, daß der Grundzug seines Wesens der Ernst war, so wurde man doch nicht beständig durch seine Worte oder seine Art daran erinnert. Seine menschliche Natürlichkeit sprach Helwig an, so daß sie ihm gegenüber ungezwungen war, trotz des starken Einflusses, den seine gesetzte Persönlichkeit auf sie ausübte.
»Aber Furuclou ist trotz seiner Sinnlosigkeit ein schöner Name, das müssen Sie doch zugeben,« beharrte Helwig.
»Es kommt ganz darauf an, wer einen Namen trägt und wie er getragen wird, ob ich ihn schön finde oder nicht,« antwortete er und machte sein Gesicht undurchdringlich, damit sie nicht aus seinem Ausdruck schließen könnte, wie er ihren Namen fände.
Er merkte, daß sie es gern wissen wollte, und es belustigte ihn, ihre Neugier nicht zu befriedigen.
So oft Helwig am Klavier sang, kam Ols herein, wenn er zu Hause war und Zeit hatte; verhinderte ihn aber seine Beschäftigung daran, sein Zimmer zu verlassen, so öffnete er wenigstens die Türen, um sie zu hören.
Sie merkte es mit Befriedigung. Es war hier mehr Feuer und Leben in ihr Spiel und in ihren Gesang gekommen, und sie begeisterte sich mehr als je für die Musik, denn diese, und bisher nur diese, verlieh ihr Macht über die selten starke Persönlichkeit, durch die sie je länger, desto mehr gefesselt wurde.
Aber eines Tages bekam sie den Beweis, daß die neuerworbene Macht über ihn sich nicht so weit erstreckte, um auf seine Handlungen einzuwirken.
Der kleine rothaarige Mons, der mit seiner Pflegemutter in der Küche saß, als Helwig das erstemal dort aß, war für immer ins Pastorat aufgenommen.
»Das ginge wohl noch an,« dachte Helwig, konnte sich aber nicht ohne Widerspruch dareinfinden, daß er jedesmal mitkam, wenn der Pastor und sie zusammen sangen.
Wenn der Junge sich wenigstens damit begnügt hätte, in einer Ecke zu sitzen; aber nein, er mußte dicht neben dem Pflegevater stehen. Und sein kleines, unsympathisches Affengesicht mit dem beständigen Blinzeln störte Helwig. Es schien, als könnte er die Augen nicht drei Sekunden offenhalten.
Es war etwas Unangenehmes an dem Jungen. Er machte einen scheuen und tückischen Eindruck. Der einzige, zu dem er Zuneigung hatte, war Erik und allenfalls auch dessen Mutter. Bei ihnen schien er Schutz gegen alle anderen zu suchen. Besonders dem Pastor folgte er überall auf den Fersen wie ein Hund. Helwig begriff nicht, wie der Pastor es ertrug, den Jungen beständig hinter sich zu haben; er schickte ihn nur ausnahmsweise fort und auch dann augenscheinlich nur ungern.
»Schicken Sie den Jungen hinaus!« sagte Helwig eines Tages, als der Pastor bei ihr am Klavier stand, um zu singen, und Mons neben sich hatte.
»Lassen Sie ihn doch bleiben!« antwortete Ols schnell und abwehrend.
»Er stört mich!« beharrte Helwig.
Statt zu antworten, schob Ols Erik den Knaben hinter sich, so daß Helwig ihn nicht mehr sehen konnte.
Sein Widerstand gegen ihren deutlich ausgesprochenen Wunsch empörte sie, und es trieb sie dazu, ihre Macht ernstlich zu erproben.
»Entweder er geht, oder ich verlasse das Zimmer,« sagte sie mit festem Blick.
Ihr war, als verhärte sich sein Gesicht zu Stein. Er begegnete ihrem Blick mit einem nicht weniger festen.
»Gönnen Sie es ihm nicht, hier zu sein?«
»Er hat es gewiß ebensogut in der Küche.«
Ob mit Absicht oder nicht, Ols hatte gleich bei ihren ersten Worten seine Hand auf Mons' Ohr gelegt und den Kopf gegen sein Bein gedrückt, so daß der Knabe nicht gut hören konnte. Auch hatte er mit so leiser Stimme geantwortet, daß Helwig ihn kaum verstehen konnte und unwillkürlich auch ihre Stimme senkte. Der Knabe aber, der auf diese Weise geschont werden sollte, hatte sich losgewunden, um seine Ohren frei zu machen und zu horchen.
Helwig sagte nichts weiter, sondern stand nur auf mit einer herausfordernden Frage in ihren Augen. Sie zögerte einige Augenblicke, um ihm Zeit zu lassen, ihrem Wunsch nachzukommen und den Jungen hinauszuschicken. Da er aber keine Miene machte, das zu tun, ging sie wie eine beleidigte Königin hinaus.
Ols blieb stehen und sah ihr nach, aber dann wandte er seinen Blick auf den Knaben, der noch an sein Bein gelehnt dastand und nun mit seinen scheuen, blinzelnden Augen zu ihm aufsah.
Sah er recht, oder war es Einbildung, daß er in dem nichts weniger als unschuldigen Kinderblick einen Schimmer von Schadenfreude zu sehen glaubte?
Er strich leicht mit der Hand über des Knaben Augen, so daß sie sich schließen mußten. Eine breite, kräftige Hand war es, die das Kind berührte, und obgleich ein fester Wille und eine gewisse Mißbilligung herauszufühlen war, so lag doch in der Berührung mitfühlende Behutsamkeit.
Das Innere dieses Mannes war groß veranlagt. In der Tiefe seiner Brust fanden sich klare Quellen, und er hatte ein liebendes Herz, das den Gefangenen gegenüber weich werden und sie frei machen konnte.
»Soll ich dir etwas vorsingen, Mons?« sagte er mehr zu sich selbst als zum Knaben.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er vom Klavier, neben dem er stand, zur Orgel. Der Kleine folgte ihm.
Ols setzte sich, und, seine kräftige Stimme dämpfend, fing er an zu singen, indem er Mons von Zeit zu Zeit anblickte, als wollte er etwas von der ewigen Wahrheit in das dunkle Bewußtsein des Knaben hineinsingen:
»Aus tiefer Not schrei ich zu dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen!
Dein gnädig Ohr neig her zu mir
Und meiner Bitt es öffne;
Denn so du willst das sehen an,
Was Sünd und Unrecht ist getan,
Wer kann, Herr, vor dir bleiben?«
Während er das sang, wurde seine Stimme immer ausdrucksvoller; denn er sang dem Kind sein eigenes Leid vor.
»Bei dir gilt nichts, denn Gnad und Gunst,
Die Sünde zu vergeben;
Es ist doch unser Tun umsonst,
Auch in dem besten Leben.
Vor dir niemand sich rühmen kann,
Des muß dich fürchten jedermann
Und deiner Gnade leben.«
Aus dem Innern seines Herzens kam der beredte Ausdruck seines Gesanges. Es läßt sich nicht sagen, wieviel Mons von den Worten verstand; aber er hörte aufmerksam zu. Des Pflegevaters Blick hielt ihn gefesselt.
»Darum auf Gott will hoffen ich,
Auf mein Verdienst nicht bauen.
Auf ihn mein Herz soll lassen sich
Und seiner Güte trauen,
Die mir zusagt sein wertes Wort.
Das ist mein Trost und treuer Hort,
Des will ich allzeit harren.«
Nun war Ols die Melodie so geläufig, daß er seine Augen ganz auf Mons richten konnte, und den nächsten Vers sang er ihm mit besonderer Betonung vor.
»Und ob es währt bis in die Nacht
Und wieder an den Morgen,
Doch soll mein Herz an Gottes Macht
Verzweifeln nicht noch sorgen.
So tu Israel rechter Art,
Der aus dem Geist erzeuget ward,
Und seines Gotts erharre.«
Es lag wahres, tiefes Gefühl in der gedämpften Männerstimme, und eine doppelte Liebe darin, sowohl die Liebe zu dem, von dem er sang, als zu dem Kind, dem er vorsang.
»Ob bei uns ist der Sünden viel,
Bei Gott ist viel mehr Gnade;
Sein Hand zu helfen hat kein Ziel,
Wie groß auch sei der Schade.
Er ist allein der gute Hirt,
Der Israel erlösen wird
Aus seinen Sünden allen.«
Wieviel mochte des Kindes Seele, gefangen in einer angeboren schlechten Natur, von den erlösenden Worten der ewigen Liebe wohl fassen? Das konnte niemand wissen; aber der Pflegevater, der sie dem Kinde vorsang, dachte: Kann ich die Lieblosigkeit nicht zum Schweigen bringen, so kann ich ihn doch wenigstens etwas von der Liebe hören lassen.
An dem Tage aß Helwig nicht in der Küche, sondern drin bei ihrer Mutter. Sie wich Ols aus, der sie gewähren ließ; aber in seinem Innern reifte das, was er ihr sagen wollte, wenn sie sich wieder träfen. Und das sollte bald geschehen, das heißt, wie man's nimmt. Denn wie ein Tag für den, der leidet, unendlich lang sein kann, so ist er kurz für den, der eine solche Wartezeit mit Arbeit ausfüllt, selbst wenn sich das Herz nach Aussprache und Aufklärung sehnt.
Der folgende Tag war Helwig unsagbar lang geworden. Sie war den ganzen Tag nicht ausgegangen. Dafür hatte sie sich der Mutter mehr gewidmet als je.
»Bist du des Essens in der Küche schon überdrüssig geworden?« fragte die Mutter verwundert.
»Selbst das kann mit der Zeit langweilig werden.«
»Arme Kleine! Es muß dir hier in der Einöde gewiß alles langweilig werden. Bist du heute nicht ganz wohl? Du hast gar nicht gesungen.«
»Es geht mir ganz gut.«
Die Mutter sah aber doch, daß Helwig etwas fehlte, wie sehr sich diese auch bemühte, es zu verbergen.
»Ich habe Pastor Larsson heute nicht gesehen,« sagte sie. »Ist er fort?«
»Das glaube ich nicht. Ich habe ihn auch nicht gesehen.«
»Habt ihr Meinungsverschiedenheiten gehabt?«
»Warum denkst du das?«
»Was hat er getan?«
»Ach, nichts! Nur, daß er tölpisch ist; das kann bis zu einem gewissen Grade unterhaltend sein, aber man kann dessen auch überdrüssig werden.«
»Hat er dich gekränkt?«
»Liebstes Mütterchen, frage doch nicht so viel! Wir gerieten aneinander über den unangenehmen kleinen Jungen, den er ins Haus genommen hat, und gegen den er ganz unbegreiflich schwach ist. Ich will, daß er ihn ein bißchen erzieht, aber das will er nicht.«