Ich, Herr Schrödi
Guten Morgen. Ich stell mich erst mal vor. Ich bin Herr Schröder. Ich schreib’s besser an die Tafel:
S wie Samariter,
C wie charmant,
H wie Herzenswärme,
R wie Reclamheft,
Ö wie Öffentlicher Dienst,
D wie Dienstaufsichtsbeschwerde,
E wie endoplasmatisches Retikulum,
R wie Reha.
Ich bin Lehrer. Nein, es ist noch schlimmer: Ich bin Deutschlehrer. Ich führe ein Leben am Korrekturrand der Gesellschaft. Durch meine Adern fließt rote Tinte. Ich wurde mit Buchstabensuppe gestillt. Manche sagen, ich sei das Ergebnis einer beruflichen Fehlentscheidung. Da muss ich gleich mal korrigierend eingreifen. Aus meiner Sicht handelt es sich eher um eine ganze Verkettung von Fehlentscheidungen. Aber jetzt ist es, wie es ist. Ich bin Beamter mit Frustrationshintergrund. Rente sicher, aber als Junglehrer schon senil.
Ich möchte wirklich nicht larmoyant erscheinen, aber womit man als Lehrer am meisten zu kämpfen hat, sind Vorurteile und Klischees. »Ach, du bist Lehrer? Na ja, ich arbeite ja Vollzeit.« Ich weiß, was Sie alle denken. Ab 13:30 Uhr auf den Südbalkon, Füße hoch, Hose auf und bei ein, zwei Aperol Spritz den Tag ausklingen lassen. Und das stimmt ja auch – jedenfalls für die Sport- und Erdkundelehrer. Deren Unterrichtsvorbereitung darf man sich so vorstellen: Ball aufpumpen und Weltkarte ausrollen. Fertig.
Für den Rest von uns sieht die Realität anders aus. Heute braucht man als Lehrer vor allem Empathie: Spüren, in welche Schublade das Kind passt. Auch mal ein gewisses Interesse für den sozialen und familiären Hintergrund heucheln. Zum Beispiel beim Elternsprechtag. Da macht der Ton die Musik. Du kannst als Lehrer nicht sagen: Der Maddox ist faul. Das muss positiv formuliert werden. Der Maddox war mit großem Erfolg und kontinuierlich im Unterricht anwesend. Er kam auch nicht jeden Morgen zu spät, nein, er befreite sich selbstbewusst vom Zwang zeitlicher Absprachen. Die Hausaufgaben hat er nicht vergessen, sondern sekundär priorisiert. Unangenehmerweise wollen die Eltern mittlerweile überall mitreden. Sie haben den Schulleiter auf der Kurzwahltaste und eine Standleitung zum Kultusministerium. Die laktosefreie Butter lässt sich keiner mehr so einfach vom Dinkelbrot nehmen.
Ich unterrichte an der HFG, der Helene-Fischer-Gesamtschule. Eigentlich wurde unsere Schule nach dem berühmten deutschen Schriftsteller Hans Fallada (1893–1947), Autor von »Wolf unter Wölfen« und »Kleiner Mann – was nun?«, benannt. (Ich kann das übrigens sehen, wenn Sie gähnen.) Die Schüler können sich diese Eckdaten auch nicht merken und haben die HFG deshalb intern auf eine lebende Schlagerlegende umgetauft. Sie begründen ihre Entscheidung damit, dass das deutsche Schulsystem wahnsinnig stresst und sie von der Politik »atemlos durch G8« getrieben werden. Außerdem sei die Zeit der alten, weißen Männer vorbei.
Apropos, Sie können mich ruhig »Schrödi« nennen. Das machen alle hier. Vor allem die Schüler. »Herr Schröder« sagen sie nur, wenn es irgendwie offiziell ist oder sie etwas von mir wollen. Meine Schüler mögen mich. Glaube ich. Außerdem sehen sie in mir eine Stilikone. Als sie neulich in Geschichte eine Collage zur Adenauerzeit machen sollten, hat eine Arbeitsgruppe einfach mein aktuelles Jahrbuch-Foto aufgeklebt.
Übrigens: Sie müssen sich nicht stressen beim Lesen. Schweifen Sie ruhig ab. Wenn Ihnen der Sinn danach steht, überblättern Sie gerne ein paar Seiten. Suchen Sie nach den bebilderten Passagen. Überstrapazieren Sie Ihre Aufmerksamkeitsspanne nicht. Googeln Sie die Zusammenfassung. Fragen Sie Ihren Sitznachbarn. Bin ich alles gewohnt. Aber denken Sie bitte nicht, dass ich es nicht merke. Das ist die einzige Art, wie man uns Lehrer noch beleidigen kann: Wenn Menschen annehmen, wir würden das alles nicht mitkriegen. Natürlich weiß ich, dass Sie gerade essen und das Buch vollkrümeln. Das macht aber überhaupt nichts! Entspannen Sie sich. Was wir auf den folgenden Seiten behandeln, ist nicht klausurrelevant. Versprechen Sie mir nur, dass Ihre Eltern mich nicht anrufen. Deal?
Ich bin es längst gewohnt, dass meine Schüler während des Unterrichts mit Sachen werfen, bei Lieferando Pizza bestellen, Sprachnachrichten abhören oder das Klassenzimmer verlassen, um für den Klimaschutz zu demonstrieren. Da sollte es mir nichts ausmachen, wenn Sie beim Lesen mal in der Nase bohren. Sie müssen sich bei mir nicht dafür entschuldigen. Macht niemand.
Eigentlich bin ich es ja, der um Verzeihung bitten muss. Also bringen wir es hinter uns.
Im Namen aller Deutschlehrer: Es tut mir leid. Sorry für das Reclamheft in seiner uninspirierten Gelbhaftigkeit. Sorry für das »lyrische Ich«, wer auch immer das sein soll. Sorry für »zwischen den Zeilen lesen«. Sorry für die adverbiale Bestimmung und die »Glied«-Sätze. Sorry für »Wer kann das noch mal in eigenen Worten wiedergeben?«. Sorry für »Du hast dich heute noch gar nicht gemeldet«. Sorry für leere Versprechungen wie »Wir machen fünf Minuten früher Schluss« oder »Ihr kriegt dafür keine Hausaufgaben auf«.
Ich kann leider nicht ungeschehen machen, welche Traumata Wörter wie Inhaltsangabe, Erörterung und Gedichtinterpretation bei Ihnen ausgelöst haben mögen. Auch dafür: Entschuldigung! Ich sehe förmlich vor mir, wie Sie sich krümmen. Beinahe hätten wir Deutschlehrer der gesamten Bevölkerung die Freude an Sprache und Literatur ausgetrieben. Aber die Tatsache, dass Sie gerade dieses Buch in Händen halten, zeigt mir, dass wir auch dabei versagt haben. Trotz unseres pädagogischen Wirkens gibt es weiterhin Menschen, die gerne lesen.
Und das freut mich.