Deine Mudda beendet die Stunde – Unterricht in der 10a
Der Pausengong ruft zur vierten Stunde. Ein Dreiklang in abfallender Tonalität. In Moll. Beethovens Nullte. Hier wird die Ernüchterung musikalisch vorempfunden. Der Stundenplan verheißt mir eine Deutschstunde in meiner 10a.
Wenn ich sage meine 10a, dann schwingt darin eine Mischung aus Stolz und nostalgischer Wehmut mit. Denn in gerade mal zehn Wochen werden etliche der Schüler die HFG mit der Mittleren Reife verlassen. Bevor sich die Wege jedoch trennen, zelebrieren sie, quasi auf der Zielgeraden, ein erstarktes Gemeinschaftsgefühl. Themen wie die anstehende Studienfahrt, das Schulfest, die Abschlussfeier und die alles dominierende Frage »Wer wird Lehrer des Jahres?« werden seit Wochen diskutiert.
Neunundzwanzig pädagogische Mängelexemplare besuchen momentan die 10a – sofern sie es terminlich einrichten können. Dass einem die Truppe nach all den Jahren Klassenlehrerschaft ans Herz gewachsen ist, verwundert nicht, denn sie könnten unterschiedlicher kaum sein.
Unsere Klassensprecherin ist Anastasia. Sie ist die schulinterne Greta Thunberg und wird vom Cholerikum, pardon, vom Kollegium nur »Miss Scharfblick« genannt. Manchmal schaut sie mich so kritisch an, als wäre mir mein Berliner 3,0-Abitur auf die Stirn tätowiert. Jedes meiner Worte, und sei es nur ein freundliches »Guten Morgen«, kommentiert sie mit Augenrollen oder einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln. Meistens ist sie aber höflich genug, ihre weltumspannende intellektuelle Überlegenheit vor ihren Mitmenschen zu verbergen.
Anastasias beste Freundin ist Lisa-Marie, ein spätes Pferdemädchen mit Reflektoren am Fjällräven-Rucksack. Ihr Federmäppchen gleicht in Ordnung und Struktur dem einer Erstklässlerin und orientiert sich grob an Goethes Farbenlehre. Die Buntstifte sind nach Spektralfarben sortiert, und ihr Pelikan-Füller wird artgerecht gehalten. Die zügellose Pubertät hat Lisa-Marie auf die wilde Araberstute ihres Collegeblocks projiziert. Auf sie ist immer Verlass: Sie erinnert mich am Ende der Stunde an das Erteilen der Hausaufgaben.
Das Rückgrat der Klasse ist Murat. Sein moralischer Kompass lässt sich durch nichts entmagnetisieren. Was er sagt, hat Hand und Fuß. Und Schnurrbart. Um seine Zukunft mache ich mir keine Sorgen.
Dann wäre da noch Justin. Bei einer 50 : 50 Chance vertut er sich dreimal, und Frankfurt / Oder hält er für eine rückversichernde Entscheidungsfrage. Bei Klassenarbeiten muss er sich trotzdem keine Sorgen machen, denn er sitzt neben Torben-Manuel, dem Zauberwürfelrekordhalter und Klassenbesten in allen Fächern, vor allem in Nerdkunde.
Meine 10a: Ein bunter Haufen mit der anarchischen Kreativität eines Cirque du Soleil, aber ohne dessen Talent.
Ich schlendere den leeren Korridor entlang und lasse mir noch etwas Zeit. Denn so sehr ich die Meute auch mag, ich halte es wie viele meiner Kollegen und komme gern mal fünf, sechs Minuten zu spät zum Unterricht – einfach nur, um die Enttäuschung in den Gesichtern der Schüler zu sehen, wenn ich dann doch am Ende des Ganges auftauche.
Heute bin ich stolze sieben Minuten über der Zeit. Ich öffne die Tür und unterbreche das kollektive Dösen mit einem erfrischenden »Guten Morgen, liebe 10a!«. Wie in Zeitlupe, zögernd und widerwillig, lösen sich die sedierten Teenager von ihren Smartphones, als würden sie von lebenserhaltenden Geräten der Intensivmedizin getrennt. Zeit für eine altbewährte Motivationsspritze. Ich klatsche in die Hände.
Herr Schröder (schmeißt lässig seinen Schlüsselbund in die letzte Reihe): »Murat und Justin, holt doch bitte mal den Medienwagen.«
Lisa-Marie: »Mega! Gucken wir ’n Film?«
Murat und Justin spurten aus dem Klassenzimmer. Ich biete ihnen im Vorbeigehen ein High-Five an, das nicht erwidert wird. »Klassischer Fall von High-five-rischem Drüsenfieber«, rufe ich ihnen hinterher und lache. Wenig später rollt der wackelige Medienwagen durch den Mittelgang des Klassenzimmers. Siebenundzwanzig euphorisierte Augenpaare beobachten Murat und Justin beim Anschließen des leicht in die Jahre gekommenen VHS-Geräts.
Herr Schröder: »Heute besprechen wir ein klausurrelevantes Thema, das nicht nur für Klempner und Gas-Wasser-Installateure von unschätzbarem Wert ist: Dichtung.«
In großen, verschnörkelten Lettern schreibe ich das Wort an die Tafel.
Keine Reaktion der Klasse.
Justin: »Was gucken wir denn? Germany’s next Topdichter?«
Herr Schröder: »Kommt ja gleich … aber vorher noch ein knalliges Beispiel aus der Rubrik verschnörkelter Wetterbericht:
Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte.
Mal ehrlich: Klingt doch besser als ›Endlich ist dieser verkackte Winter vorbei!‹, oder?«
Lisa-Marie kichert leise. Anastasia rollt mit den Augen.
Herr Schröder: »Apropos Wetter: Das wichtigste Tiefdruckgebiet in der Literaturgeschichte heißt Sturm und Drang. Der Poet hat den ganzen Tag eine graue Regenwolke über dem Kopf und seinen Knirps in der Kutsche liegen lassen. Deshalb gibt er sich seinem Weltschmerz hin:
Über allen Gipfeln ist Ruh,
in allen Wipfeln spürest du
kaum einen Hauch
Die Vögelein schweigen im Walde
… eines Tages, Baby, ruhest du auch.«
Justin: »Langweilig!«
Murat: »Welchen Film gucken wir denn jetzt?«
Torben-Manuel (der sich schon die ganze Zeit schnipsend gemeldet hat): »Herr Schröder, rein meteorologisch betrachtet ist dieses Gedicht ein schlechtes Beispiel für ein Tiefdruckgebiet.«
Herr Schröder: »Ja, ehm, Torben-Manuel, inhaltlich ist das völlig korrekt, was du sagst, jedoch …«
Anastasia: »Streng genommen nicht mal Sturm und Drang. Aber Sie sind der Lehrer.«
Herr Schröder: »Versucht doch mal in eigenen Worten zu schildern, was uns das lyrische Ich hier mitteilen möchte.«
Murat: »Bin im Wald, langweilig hier, nichts zu vögeln, bald sind wir tot.«
Alle lachen. Ich lehne mich ans Pult.
Herr Schröder: »Leute, ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass man mit ›Wandrers Nachtlied‹ außer ein paar Hobby-Germanisten niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockt. Deswegen habe ich euch einen Film mitgebracht.«
Ich öffne meinen Aktenkoffer.
Die Klasse hält den Atem an.
Die Freude ist mit Händen greifbar.
Torben-Manuel: »Herr Schröder, stimmt es, dass Sturm und Drang keine Epoche im eigentlichen Sinne war, sondern eher eine literarische Strömung?«
Ich klappe den Aktenkoffer wieder zu.
Die Klasse schreit auf.
Justin: »Boa, Torben-Manuel, du Opfer!«
Er boxt ihn in die Seite.
Herr Schröder: »Nein, Justin, der Torben-Manuel hat da jetzt wirklich einen wichtigen Punkt angesprochen. Allerdings muss ich dazu etwas weiter ausholen …«
Justin knallt seinen Kopf auf den Tisch.
Herr Schröder: »Wir schreiben das Jahr 1770. Der junge Goethe galoppierte über die zugefrorene Havel: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind …«
Anastasia holt ein Buch aus ihrer Tasche und fängt an zu schreiben.
Herr Schröder: »Na also, schaut mal, Anastasia dichtet! Das ist Sturm und Drang. Eine rebellische Jugendbewegung gegen die Obrigkeit. Das ist wie … wie … Fridays for Future! Das geht uns alle an!«
Die Schüler hauen mit den Handflächen rhythmisch auf die Tische und skandieren: »Film schauen! Film schauen! Film schauen!«
Herr Schröder: »Seid still, Anastasia wurde von der Muse geküsst.«
Justin: »Quatsch, Herr Schröder, die dichtet nicht, die schreibt wieder in ihr behindertes Tagebuch. Wahrscheinlich lästert sie voll ab über uns alle. Richtig NSA-mäßig. Hey Torben, kannst du dich nicht mal reinhacken? Diary-Leaks?«
Torben-Manuel (zögerlich): »Also, wenn man bedenkt, was mit Julian Assange passiert ist …«
Justin: »Wer?«
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