Korrekturensohn
Frage: Was wäre unsere Schule ohne Schüler?
Richtig: Ein karger, unbelebter Plattenbau, in dem orientierungslose Lehrkörper uninspiriert Kaffee trinken und rauchen.
Erst die Schüler bringen Leben in die Bude. Sobald der Gong morgens den Unterrichtsbeginn einläutet, schwillt der Lautstärkepegel an – und bis zum Nachmittag nicht mehr ab. Hunderte Kinderfüße rennen über den grauen PVC-Boden und beleben, einem Wüstenregen gleich, die toten Korridore. Am stärksten erblüht die ungetrübte Lebensfreude in den unteren Jahrgangsstufen.
Der quirligste Haufen an der HFG ist zweifelsohne die 6b. Schulintern nennen wir diese Klasse die Flummi-Truppe. Die erste Frage der Schüler, als ich bei ihnen nach den Sommerferien als neuer stellvertretender Klassenlehrer den Deutschunterricht übernommen habe:
Klasse: »Herr Schröder, wie alt sind Sie eigentlich?«
Herr Schröder: »Äh, 46.«
Klasse (kreischend im Chor): »Waaaas, ü30??? Soooo aaaaalt?!?!?!«
Da muss man als Pädagoge natürlich schnell reagieren. Sonst hat man autoritätstechnisch sofort verloren. Zum Glück bin ich mit subtiler Schlagfertigkeit gesegnet. Meine Antwort, dass Lehrerjahre wie Hundejahre seien und man daher das Alter eines Lehrers immer umrechnen müsse, ging leider im Geschrei unter.
Dann rief jemand aus der letzten Reihe: »Sie wollen doch bestimmt Ihren Namen an die Tafel schreiben! Wir haben das schon für Sie erledigt, Sie müssen nur noch die fehlenden Buchstaben einsetzen.«
Ich drehte mich um. An der Tafel stand:
Herr öde
Daneben war ein stranguliertes Galgenmännchen gemalt. Es hatte eine Brille auf und einen Aktenkoffer in der Hand. Eine leichte Ähnlichkeit mit mir war nicht von der Hand zu weisen. Ich nahm die kreative Herausforderung an und vervollständigte das Lückenwort:
Herr A a l k öde r
Spontan witzig sein kann ich nämlich auch. Hätte ich allerdings geahnt, dass das von nun an mein Spitzname in der Flummi-Truppe sein würde, hätte ich mich vielleicht doch für eine andere Lösungsvariante entschieden.
Bereits eine Etage höher, in der Mittelstufe, ist die Atmosphäre hormonell bedingt etwas gedämpfter. In den Fluren herrscht kein ausgelassenes Getobe. Bevorzugt wird stattdessen eine subtropische, sauerstoffarme Klimatisierung sowie künstliche Verdunklung. Anders gesagt: Es riecht wie in einem Pumakäfig. Selbst im Winter möchte man in einer Tour lüften. Gefühlt läuft dazu im Hintergrund die ganze Zeit leise Smooth Jazz. Die Teenager lehnen an allem, was zur Verfügung steht, kauen Kaugummi und sind hauptsächlich damit beschäftigt so rüberzukommen, als wäre es ihnen egal, wie sie rüberkommen.
Wird man in der Flummi-Truppe täglich mit einem aufgeweckten »Gu-ten-Mor-gen-Herr-Aal-köd-er!« begrüßt, haben diese zenit-pubertären, storchenbeinigen Schwachstrom-Androiden an guten Tagen gerade mal ein müdes Kopfnicken fürs pädagogische Personal übrig. Sie signalisieren damit, dass sie einen zur Kenntnis genommen haben. Und dass die Vitalfunktionen noch vorhanden sind, aber bald auf Stand-by schalten werden.
Der interpassive Unterricht wird beherrscht von Einsilbigkeit und ausgesprochener Schweigsamkeit. Tafelbilder werden nicht mehr abgeschrieben, sondern abfotografiert, digital archiviert und dann nie wieder angesehen. Der Flur der Mittelstufe wird unter uns Kollegen nur der »Valiumtrakt« genannt. Gerne würde ich mal ein Kilo Kokain in die Belüftungsanlage mischen; allein meine Scheu vor Beschaffungskriminalität hält mich zurück.
Intellektuell unterschätzen sollte man die Mittelstufe trotzdem nicht. Als ich kürzlich in die 10a kam, stand an der Tafel: »Herr Schröder, Sie Korrekturensohn«. Leider war ich so überrascht, dass ich in meiner Verblüffung die Frage stellte, auf die kein Lehrer jemals eine ehrliche Antwort bekommen hat:
»Wer war das?«
Darauf haben meine hochbegabten Klassenzimmeramöben natürlich eisern geschwiegen. Blöd für den Urheber – ich hätte ihn nämlich direkt zur Deutsch-Olympiade angemeldet. Korrekturensohn, das ist doch genial! Ein Neologismus, eine verbale Klangfusion! Einfach geiler Scheiß, auf den man erst mal kommen muss. Mein Unterricht war also doch nicht umsonst.
Noch ein Stockwerk höher befindet sich die Oberstufe. Die meisten Schüler dort sind volljährig und dürften uns Lehrer eigentlich duzen. Sie verzichten aber weitestgehend darauf, um sich nicht mit dem Lehrervolk gemeinzumachen. Alle haben ihre Menschwerdung erfolgreich abgeschlossen und führen ihre destillierte, politisch korrekte Identität spazieren. Dass wir das dritte OG »die PC-Etage« nennen, hat nur am Rande damit zu tun, dass sich hier oben auch der Computerraum befindet.
Während der Pausen genießen die Oberstufenschüler diplomatische Immunität und dürfen als einzige im Gebäude bleiben. Was dann hinter verschlossenen Türen vor sich geht, bleibt Spekulation. Es kursieren unzählige, wahnwitzige Theorien unter uns Lehrern, was dieser konspirative Zirkel der PC-Etage in den Pausen und Freistunden alles bespricht, raucht und einwirft. Wo man in den unteren Klassen noch bettelnd auf die Knie fallen möchte, damit von den Schülern mal ein bisschen Eigeninitiative und Selbstständigkeit kommt, fühlt man sich hier fast schon überflüssig. Ich vermeide es, wenn möglich, die vorbereitungsintensiven Kurse in der Oberstufe zu unterrichten, aber manchmal reiße ich aus Spaß trotzdem eine der Türen im Oberstufentrakt auf.
Oberstufenschüler: »Herr Schröder, nicht stören, bitte. Wir wählen grad die Oberstufensprecher*innen.«
Sie werden ja so schnell erwachsen.