EIN GANZ PERSÖNLICHES VORWORT

Als am 9. November des Jahres 1989 die Berliner Mauer und damit die Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik fiel, begann für mich als ostdeutscher Astronom und Buchautor ein neues Zeitalter. Seit 1975 hatte ich zahlreiche Bücher über die Astronomie und ihre Geschichte geschrieben, in denen auch von den Kultstätten der Sternforschung in aller Welt berichtet wurde; mit eigenen Augen hatte ich sie aber nicht gesehen. Doch nun stand die Welt auch den Bürgern der DDR offen und wir konnten erstmals uneingeschränkt Weltanschauung nicht nur aus Büchern, sondern durch Welt-Anschauen erwerben – ein Bild der Welt durch eigenes Sehen und Erleben. Meine ganz persönlichen Traumorte der Himmelskunde wurden zu realen Reisezielen, es begann eine intensive Zeit der lang ersehnten Welterkundung. Die Reiseziele sind natürlich subjektiv und damit in gewisser Weise auch willkürlich gewählt und alles andere als ein systematisches „Abarbeiten“ der historisch wichtigsten Orte.

Die Astronomie hat sich über einen sehr langen Zeitraum entwickelt, in vielen geografischen Regionen und unterschiedlichen Kulturen. Heute wissen wir diese frühen Anfänge der Auseinandersetzung des Menschen mit dem gestirnten Himmel zunehmend zu schätzen, nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen. Der Respekt vor den Kulturen anderer Völker und die Bewahrung ihrer Vielfalt ist gerade in unserer Zeit rasanter Globalisierung mit ihren Gefahren der Nivellierung von Unterschieden gleichsam ein Gebot der Stunde. Unlängst hat die Internationale Astronomische Union dieser Wertschätzung für indigene Kulturen auf eindrucksvolle Weise Ausdruck verliehen, indem sie 86 Sternen des Firmaments neue Namen gab, die aus den Kulturen der Hindu, der australischen Aboriginals, der ägyptischen Kopten, des alten China, der mittelamerikanischen Maya, der pazifischen Polynesier und den Traditionen Südafrikas stammen. Der Katalog umfasst jetzt die Namen von 313 Sternen, die bisher vor allem vom babylonischen, griechischen und arabischen Kulturraum dominiert wurden – ein versöhnender Akt der Gerechtigkeit und des Respekts. Diese symbolische Handlung unterstreicht zugleich das Motto, mit dem die 1919 gegründete Internationale Astronomische Union im Jahr 2019 ihr 100-jähriges Jubiläum begeht: „Uniting our World to Explore the Universe“ („Vereinen wir unsere Welt, um das Universum zu erforschen“).

Reisen ist „schrecklich schön und weit und wild“ meint der Schriftsteller Matthias Politycki und versucht, in seinem geistreichen Buch mit diesem Titel auch gleich die Frage zu klären, „warum wir reisen und was wir dabei denken“. Doch ich fürchte, dass sich diese Frage so allgemein gar nicht beantworten lässt, denn jeder reist aus einem anderen Grund. Bei mir waren es die Sehnsuchtsorte der Himmelskunde überall auf der Welt. Mich faszinierten besonders jene Regionen, denen die Aura des Geheimnisvollen anhaftet. Entweder, weil sie noch zahlreiche Rätsel bergen, oder weil sie von der abendländischen Geschichtsschreibung fast vergessen wurden. Doch gerade diese ersten Anfänge führen uns nahe an den „Urknall“ der Wissenschaft heran, verraten uns, wie aus dem neugierigen Betrachten von Naturphänomenen deren systematische Erforschung entstand. Ebenso fesselnd kann es sein, sich auf die Spuren berühmter Gelehrter zu begeben und dort zu weilen, wo sie einst gewirkt haben, ihrem Nimbus auf den Grund zu gehen und dabei mit wachen Augen so manches zu entdecken, was in keinem Reiseführer steht.

Auch Sternwarten faszinieren viele Besucher, sei es durch ihre interessante Architektur, ihre instrumentelle Ausstattung oder ihre Geschichte sowie durch das Wissen um die besonderen Erkenntnisse, die dort gewonnen wurden und bedeutende Persönlichkeiten, die dort tätig gewesen sind. Deshalb werden in diesem Atlas auch zahlreiche Sternwarten in Kurzform vorgestellt. Obwohl es sich meist um Forschungsinstitute handelt, kann man die meisten von ihnen – zumindest nach vorheriger Anmeldung – auch als interessierter Laie besuchen. Längst hat sich bei den professionellen Forschern die Einsicht durchgesetzt, dass die Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft eine „Bringschuld“ hat. Das war früher ganz anders: Als zum Beispiel Alexander von Humboldt (1769 – 1859) im 19. Jahrhundert den Vorschlag unterbreitete, die Berliner Sternwarte auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, beklagte sich deren Direktor Johann Franz Encke (1791 – 1865) bald über die dadurch hervorgerufenen Störungen der wissenschaftlichen Arbeit. Die Reaktion bestand 1888 in der Errichtung der URANIA-Sternwarte, der ersten Volkssternwarte der Welt, der bald in vielen Ländern weitere Gründungen folgten. Zahlreiche Forschungssternwarten mit wertvollen historischen Instrumenten, die längst nicht mehr für die Wissenschaft genutzt werden, sind deshalb aber keineswegs nur von musealem Wert. Vielmehr werden auch dort oft aktuelle Fragen der Astrophysik bearbeitet, allerdings mit Hilfe modernster internationaler Forschungsinstrumente in aller Welt und durch die Mitwirkung an international agierenden Forschungskooperationen.

Mit diesem Atlas lade ich Sie ein, mir in zahlreiche interessante Observatorien oder an besondere Orte der Forschung zu folgen und mich auf meinen kulturhistorisch-astronomischen Erkundungsfahrten rund um den Globus auf fünf Kontinenten zu begleiten. Ein Reiseführer oder Nachschlagewerk will und kann das Buch allerdings nicht sein. Die mehr oder weniger subjektive Auswahl der Orte ist alles andere als vollständig. Wer das ganze Füllhorn allein an Observatorien hautnah erleben wollte, müsste ein weltweites Netz von rund 2000 Sternwarten durch Reisen aufsuchen – vermutlich eine Unmöglichkeit. Auch der eingefleischte Liebhaberastronom wird nicht immer zielgerichtet unterwegs sein, sondern zum Beispiel bei einer Familienreise feststellen, dass ganz in der Nähe seines Urlaubsdomizils ihn besonders interessierende Orte oder Einrichtungen liegen, die für alle einen interessanten Ausflug versprechen. In 13 größeren Reportagen werden einige geheimnisvolle Traumorte der Himmelskunde genauer vorgestellt. Vielleicht kann ich damit auch bei Ihnen die Sehnsucht nach diesen Orten wecken und den wunderbaren geistigen Anregungen, die sie uns vermitteln.

Auf detaillierte Hinweise zur Erreichbarkeit oder Öffnungszeiten der Einrichtungen wurde absichtlich verzichtet. Solche Angaben veralten schnell und sind dann für die Planung unbrauchbar. Der Zugang zu solchen Daten kann aber meist mühelos über die Webseiten der Institute erlangt werden, so dass einer Visite dann nichts mehr im Wege steht. Gelegentlich verwendete Fachbegriffe, die dem reisefreudigen astronomischen Laien vielleicht nicht immer geläufig sind, finden sich am Ende dieses Buches in einem Glossar. Alle beschriebenen Orte sind auf den Karten dieses Atlas‘ markiert. Sollten Sie Orte finden, zu denen es keine Kurzbeschreibungen gibt, so spielen diese in den Reportagen eine entscheidende Rolle.

Nun wünsche ich mir, dass Sie mit diesem besonderen Atlas Freude haben beim Schmökern, Studieren, Erinnern und vielleicht auch beim Planen von eigenen Reisen, die Wissenschaft für Sie zu einem unmittelbaren Erlebnis werden lassen.

Dieter B. Herrmann

Berlin, im Sommer 2019

KEPLER AM KAISERHOF ZU PRAG

Auf den Spuren des heliozentrischen Weltbildes

Wir stehen auf der weltberühmten Karlsbrücke mit ihren zahlreichen barocken Heiligen- und Patronenskulpturen in der „Goldenen Stadt“ Prag; unter uns rauscht die Moldau. Dichter haben dieses über 500 Meter lange steinerne Bauwerk emphatisch besungen und Einstein mit seinem trockenen Humor vermutete gar, dass selbst der Weg zum Mond über die Karlsbrücke führen würde. Man müsse nur, meinte er scherzhaft, beim Kleinseitener Brückenturm links abbiegen. In Richtung Prager Kleinseite dominiert die Silhouette der Prager Burg auf dem Hradschin das Stadtbild. Prag ist immer eine Reise wert, nicht nur für Freunde eines gut gebrauten Gerstensafts.

Keplers Wohnhaus in Prag.© Peter Habison

Von den Großen der Wissenschaft und Kunst, die hier durch die Jahrhunderte gewirkt haben, fasziniert uns besonders die einzigartige Forscherpersönlichkeit Johannes Kepler (1571 – 1630). Er hatte seine wissenschaftliche Laufbahn als 26-Jähriger mit einem Paukenschlag begonnen, seinem 1597 erschienenen Erstlingswerk „Mysterium Cosmographicum“ („Das Weltgeheimnis“). Unter der Grundannahme der Mittelpunktstellung der Sonne im Planetensystem hatte er als überzeugter Kopernikaner die kühne Hypothese entwickelt, dass die Abstände der Planeten etwas mit den fünf regulären platonischen Körpern zu tun hätten. Nachdem ihm sein Tübinger Lehrer Michael Mästlin (1550 – 1631) begeisterte Worte der Anerkennung übermittelt hatte, unternimmt er das Wagnis, das Buch einem der berühmtesten Astronomen seiner Zeit zu senden und um dessen Meinung zu bitten. Wir reden von Tycho Brahe (1546 – 1601), der vor allem seiner präzisen Planetenbeobachtungen wegen berühmt war, die er auf der Sundinsel Ven (siehe hier) angehäuft hatte. Inzwischen war Tycho ab 1599 in Prag als Kaiserlicher Mathematiker am Hofe des kunst- und wissenschaftsfreundlichen Herrschers Rudolph II. von Habsburg (1552 – 1612) tätig. Auch Brahe erkannte sofort die große wissenschaftliche Begabung Keplers, stimmte aber seinen geometrischen Ideen nicht zu. Das sagte er allerdings nicht Kepler direkt, wohl aber dessen Lehrer Mästlin: man müsse die Hypothesen stets auf Beobachtungen gründen und nicht auf vorweg angenommenen Verhältniszahlen, wie es Kepler getan hatte. Dennoch lädt er den jungen Mann zu sich ein in der Hoffnung, in ihm jemanden zu finden, der den Schatz der vielen Beobachtungsdaten zu einem System zusammenzufügen vermochte. Dabei dachte Tycho natürlich an sein eigenes System, eine seltsame Mischung aus Geozentrik und Heliozentrik. Im Zentrum der Welt sollte die Erde stehen, um die sich die Sonne bewegt, die ihrerseits das Zentrum für die Bahnen der anderen Planeten darstellt.

Der barocke Bibliothekssaal im Prager Clementinum.© imago images/CTK Photo

Kepler trifft im Februar 1600 bei Tycho ein, der sich zu dieser Zeit außerhalb von Prag auf Schloss Benatek (Benátky nad Jizerou) aufhält und dort im Obergeschoss seine Beobachtungen durchführt. Die gemeinsame Arbeit endet aber bald in einem Zerwürfnis, denn Brahe hütet eifersüchtig seine Beobachtungsdaten und lässt Kepler kaum Einblicke nehmen. Während Tycho vom Kaiser nach Prag zurückbeordert wird, um dessen Horoskope zu erstellen, reist Kepler enttäuscht wieder ab. Doch schon im Oktober kehrt er zurück, auch weil er als Protestant in Graz wegen der Gegenreformation keine Zukunft mehr sieht. Tycho wohnt und arbeitet inzwischen im Schloss Belvedere unweit des Hradschin und nimmt auch Kepler dort bei sich auf. Lange währt die Zusammenarbeit aber auch diesmal nicht, denn Tycho stirbt überraschend im Oktober 1601. Legenden rankten sich fortan um die Ursache seines Todes, bis hin zu der abstrusen Behauptung, Kepler könne sein Mörder gewesen sein, um an die Beobachtungsdaten zu kommen. Exhumierungen seines Leichnams im Jahre 1901 und im Jahre 2010 haben aber zu dem Ergebnis geführt, dass die geringen Mengen Quecksilber in seinem Haar als Todesursache nicht infrage kommen. Wie auch immer, in seinen letzten Lebenstagen hatte Brahe noch dafür gesorgt, dass Kepler sein Lebenswerk fortführen konnte. Und so wendet sich das Blatt für Kepler. Rudolph II. übergibt ihm die Instrumente des Tycho und macht ihn zu dessen Nachfolger als Kaiserlichen Mathematiker. 1607 bezieht Kepler mit seiner Familie ein kleines Haus in unmittelbarer Nähe der Altstadtseite der Karlsbrücke, wo er von 1607 bis 1612 wohnt. Hier wollen wir zuerst seine Spuren aufnehmen. Das Haus Karlova Nr. 4 steht zwar noch, doch das dort 2009 eingerichtete winzige Museum gibt es nicht mehr. Immerhin, wir stehen an jenem Ort, an dem sich Kepler in Prag wohl am häufigsten aufgehalten hat. Nur wenige Schritte von Keplers Haus entfernt erhebt sich gegenüber der gewaltige Gebäudekomplex des Clementinum, dem ehemaligen Clemenskloster, das zu Keplers Zeiten und noch lange danach ein Jesuitenkolleg beherbergte. War Kepler aus Graz nach Prag gekommen, um der Gegenreformation zu entgehen, so sah er sich nun auch hier den Rekatholisierungs-Bestrebungen der Jesuiten ausgesetzt. Doch der tolerante Kaiser Rudolph hält die Jesuiten in Schach und verwehrt ihnen die Übernahme der Karls-Universität. So blieb auch Kepler von persönlicher Bedrängnis verschont. Heute beherbergt das Gebäude des Clementinum die tschechische Nationalbibliothek mit unermesslichen Schätzen an alter Literatur und wertvollen Globen. Der barocke Bibliothekssaal zählt zu den schönsten Sehenswürdigkeiten der Moldau-Metropole. Die Jesuiten betrieben auch eine Sternwarte, an die noch heute der 68 Meter hohe astronomische Turm des Clementinum erinnert. Ein Fahrstuhl bringt uns bis in den oberen Bereich. Der Rest muss per pedes bewältigt werden, doch der großartige Rundblick über die Stadt entschädigt für alle Mühen. Auch die Ausstellung historischer Instrumente und der Meridiansaal im zweiten Stock des Turmes erinnern an die alten Zeiten der jesuitischen Beobachtungen.

Das Schloss Benatek bei Prag.© Peter Habison

Wir verlassen den Trubel der von Touristen überfüllten Prager Altstadt und fahren mit der Bahn in das rund 40 km entfernte Benatek, den Ort, an dem Kepler 1600 seine erste schicksalhafte Begegnung mit Tycho Brahe gehabt hatte. Das schon aus dem 16. Jahrhundert stammende Schloss des malerischen Städtchens liegt in felsiger Höhe über der Iser. Von der luftigen Erhebung reicht der Blick bei klarem Wetter bis zu den Türmen von Prag. Das reizvolle Renaissanceschloss, in dem übrigens auch der Komponist Bedřich Smetana (1824 – 1884) mehrere Jahre gewirkt hat, sah zu Keplers Zeiten noch anders aus, denn erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts erhielt es nach umfangreichen Umbaumaßnahmen seine heutige Gestalt. Doch die Räume im Obergeschoss, in denen Tycho arbeitete und Kepler zum ersten Mal traf, sind erhalten geblieben und liebevoll als ein informatives Museum gestaltet. Sogar die von Tycho in den Fußboden eingelassene Mittagslinie wurde bei Renovierungsarbeiten wiederentdeckt und ist durch eine Messingschiene markiert.

Nach Prag zurückgekehrt, suchen wir das prunkvolle Schloss Belvedere auf, die zweite Beobachtungsstätte von Tycho. Der Renaissance-Bau, einst Lustschloss der Königin Anna, liegt in einem gut gepflegten großen Garten gleich neben dem ausgedehnten Gelände der Prager Burg und verzückt uns sofort durch seinen anmutigen Arkadenumgang im Erdgeschoss. Auf der Terrasse soll Tycho hier seine Beobachtungen durchgeführt haben, diesmal nicht nur mit eigenen Instrumenten, sondern auch mit solchen des Schweizer Meisters Jost Bürgi (1552 – 1630) und des lange in Prag tätigen Erasmus Habermel (1538 – 1606).

Die astronomische Uhr am Prager Rathaus.© Dieter B. Herrmann

Wir geben uns nicht damit zufrieden, dass all diese Instrumente an keinem der Orte mehr zu sehen sind, wo sie einst benutzt wurden. Glücklicherweise sind sie nicht verloren, sie befinden sich in der Obhut des Technischen Nationalmuseums in Prag unweit des Letná-Parks. Die Astronomie-Ausstellung, die wir dort vorfinden, umfasst weit mehr als nur die historischen Instrumente, mit denen Brahe und Kepler gearbeitet haben. Sie gibt einen instruktiven Überblick über die gesamte Geschichte der Astronomie und den Aufbau des Universums.

Tycho Brahes Grabplatte in der Prager Teyn-Kirche.© Dieter B. Herrmann

Auch jenseits von Brahe und Kepler bergen die Mauern der reizvollen Moldau-Metropole viel Astronomisches, allen voran die aus dem Jahre 1410 stammende berühmte und stets von Touristen umringte Uhr an der Südmauer des Prager Rathauses. Wie so manches Prunkstück des alten Prag ist auch die Uhr in ihrer heutigen Gestalt das Ergebnis zahlreicher Umbauten und Veränderungen und weist somit eine wechselvolle Geschichte auf. Obwohl die Uhr im Laufe der Jahrhunderte des Öfteren auch mal stehengeblieben ist, wurde sie immer wieder repariert und läuft somit mehr oder weniger ununterbrochen seit über 600 Jahren. Eine letzte umfassende Sanierung wurde im Jahre 2018 abgeschlossen. Ursprünglich sollte die Uhr ausschließlich astronomische und astrologische Daten auf dem Zifferblatt anzeigen: Uhrzeit, Kalendarien, Mondphasen, und nichts, was lediglich der „Belustigung des Fußvolks“ dienen könnte, wie Jan Táborský (1500 – 1572) es formulierte, der die Uhr im 16. Jahrhundert reparierte. Doch gerade diese Art von Belustigung wurde im 19. Jahrhundert in Gestalt von zwölf Aposteln, der Figur des Todes und schließlich noch eines goldenen Hahnes hinzugefügt. Jede Stunde treten die zwölf Apostel nacheinander aus zwei kleinen Fenstern heraus, bis nach dem Ende der etwa einminütigen Show der oberhalb angebrachte goldene Hahn ein lautes Krähen vernehmen lässt. Ausgerechnet diese „Belustigung“ gilt derzeit als die Hauptattraktion für die Schaulustigen aus aller Welt.

Zum Schluss meiner Visite auf Keplers Spuren in Prag würde ich meinem Helden gern noch eine besondere Ehrerbietung erweisen und sein Grab besuchen. Doch das ist nicht möglich, weil Kepler in Regensburg gestorben ist. Aber auch sein Regensburger Grab existiert nicht mehr, es ist den Wirren des 30-jährigen Krieges zum Opfer gefallen. Dafür finden wir aber das Grab von Tycho Brahe in der römisch-katholischen Teyn-Kirche unmittelbar am Prager Altstädter Ring. Bei meinem Versuch, Tychos Grabplatte im abgesperrten Altarraum zu fotografieren, stört mich eine Kübelpflanze, die das Relief teilweise abdeckt. Vorsichtig versuche ich, sie ein wenig beiseite zu schieben. Doch die wachsamen Augen eines Priesters haben meinen Übergriff bemerkt und der Mann stürmt sofort herbei. Meine Hoffnung, dass er mich nun durch die Absperrung treten lässt, um ein gutes Foto zu ermöglichen, erfüllt sich leider nicht. Stattdessen fordert er mich auf, die Kirche sofort zu verlassen. Zerknirscht folge ich unter hämischen Blicken der umstehenden Touristen seiner Anweisung. So enden meine bislang so eindrucksreichen und heiteren Prager Spaziergänge zu Kepler und Tycho misstönend mit einem unerwarteten priesterlichen Platzverweis. Da war es mir, wenn auch Jahrhunderte nach Tychos Tod, ähnlich ergangen, wie Kepler zu seinen Lebzeiten. Auch er hatte mit Tycho manches Unerfreuliche erlebt und sogar noch später mit dessen Erben, die ebenfalls eifersüchtig über Tychos Beobachtungen wachten. Vielleicht war jener Priester in der Teyn-Kirche gar ein Nachfahre von Tycho? ◆

SCHATTENSPIELE IN RAJASTHAN

Die indischen Sternwarten des Maharadscha Jai Singh II.

Die Kuh liegt tatsächlich mitten auf der Straße. Wie ein Ruhepol im brausenden Verkehr. Niemand unternimmt etwas gegen das ausgemergelte, apathische Tier, obgleich dicht daneben ein Polizist steht, befasst mit dem vergeblichen Versuch, Ordnung in das Chaos der von allen Seiten herandringenden Fuhrwerke zu bringen.

So hatten wir es schon zu Hause in den Reiseführern gelesen: Kühe seien in Indien heilig und deshalb im Besitz aller Rechte. Ein krasses Beispiel für die Widersinnigkeit mancher religiösen Traditionen, befinden wir mit der ahnungslosen Arroganz des Europäers, zumal in einem Land von so großer Armut und des Hungers. Ein voreiliger Schluss, meint Yogesh, der uns seit Tagen auf unserer Rundreise begleitet und jetzt nach Jaipur, der Hauptstadt Rajasthans gebracht hat. Er kennt sich aus mit der Geschichte der indischen Religionen und vermutlich auch mit jener der heiligen Kühe.

Das Rind (und nicht etwa nur die Kuh) hatte in Indien schon immer symbolische Bedeutung, erläutert er, lange bevor es den Hinduismus in seiner heutigen Form gegeben hat. Allerdings galt sie anfangs als ein Zeichen für Wohlstand und Reichtum. Wer Rinder besaß, litt keinen Mangel an Milch und verfügte über wichtige Nutztiere zur Bestellung seiner Felder, hatte Dung und Heizung und schließlich – wenn das Tier verendet war – auch Leder oder Horn für Werkzeuge und Schmuck. Diesen Gedanken können wir nachvollziehen. „Aber ihre symbolische Bedeutung entsprach doch damals eher der eines für jedermann sichtbaren Bankkontos“, werfe ich ein. Yogesh stimmt mir zu und vergleicht diese Art von indischem Reichtum mit jenem der Italiker, die den Begriff pecunia für Geld von pecus, dem lateinischen Wort für Tier ableiteten. „Selbst wenn heute in der westlichen Welt das Geld wie eine indische Kuh geheiligt wird, erklärt doch dieses Symbol die Verehrung der Kuh in Indien nicht“, gebe ich zu bedenken. „Das stimmt“, meint Yogesh, „denn als die Kuh für Reichtum stand, wurde sie trotzdem gegessen.“ Warum dies heute anders ist? Dazu müssen wir tief abtauchen in die Religionsgeschichte Indiens.

Yogesh erzählt uns, dass der heutige Hinduismus viele Wandlungen hinter sich hat. Als im 2. vorchristlichen Jahrtausend die vedischen Arier aus Kleinasien nach Indien vorgedrungen sind, brachten sie eine Naturreligion in das Land, wie wir sie bei vielen indigenen Kulturen finden: In ihren schriftlichen Aufzeichnungen darüber, den Veda (heiliges Wissen), haben sie ihren Glauben an vielerlei Gottheiten bezeugt. Die Morgenröte wurde ebenso verehrt wie Feuer, Himmel, Sonne und Mond. Zwei der Götter dieser vedischen Religion hatten etwas mit Ethos zu tun, mit moralischen und sittlichen Gesetzen. Mitra und Varuna waren die Hüter der ewigen Weltordnung. Ausdruck dieses höchsten Gesetzes war das sittliche und rituelle Handeln der Menschen. Diese Arier waren Fleischesser und schlachteten ihre Rinder. „Dann müssen sie also irgendwann zu Vegetariern geworden sein, was ja heute in Indien weit verbreitet ist“, vermute ich. So einfach würden die Dinge nicht liegen, meint Yogesh. Es gibt zwar viele Hindus, die sich rein vegetarisch ernähren, aber Millionen von ihnen essen auch Fische, Hühner oder Ziegen, nur eben kein Rindfleisch. Vegetarismus und Rinderverehrung seien also zwei verschiedene Dinge. „Könnte vielleicht die Heiligsprechung des Rindes durch die beiden großen Reformreligionen nach Indien gekommen sein, den im 6. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Buddhismus und den Jainismus?“ Der Buddhismus hatte um diese Zeit immerhin ganz Indien erfasst, während er heute keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Dem Jainismus sind noch rund drei Millionen Anhänger in Indien geblieben. In Bombay (Mumbai) hatten wir einen exotisch duftenden Tempel der Jains besichtigt, in dem die Gläubigen ihre Gebete mit Tüchern vor dem Mund verrichteten, um selbst das Einatmen kleinster Insekten zu vermeiden. Den Jains gilt nämlich die gesamte Natur als beseelt und sie sind deshalb die strengsten Vegetarier. Ein Mönch der Jains darf nicht einmal Wasser erhitzen, um es keimfrei zu trinken. Lediglich, wenn ein anderer für ihn gegen das Gesetz verstoßen hat, ein Laie, darf er es zu sich nehmen. Es wäre also denkbar, dass damals ein strenger Vegetarismus nach Indien gekommen ist. „Durch Buddha jedenfalls nicht“, erwidert Yogesh, „denn der war kein Vegetarier.“ Aber ein Schlitzohr. Man solle nämlich nur dann kein Fleisch essen, hatte er gelehrt, wenn es eigens für einen getötet würde. Man durfte also weder ein Tier selbst schlachten, um es zu essen, noch es durch jemanden schlachten lassen. Hingegen fand man nichts dabei, einen Diener auszuschicken mit dem Auftrag: „Geh, mein Lieber, sieh nach, ob Fleisch da ist.“ Dass man Leben nicht zerstören darf, hat hier also ersichtlich weniger eine ethische Bedeutung, sondern ist ein magisches Tabu, vermischt mit einer kräftigen Portion Egoismus. Letztlich geht es dem buddhistischen Mönch nur um seine eigene Erlösung. Um die zu erreichen, profitiert er bedenkenlos von dem Verstoß anderer gegen dieselben Regeln. So kommt es auch heute vor, dass fromme Hindus ihre Kuh zwar als heilig behandeln, sie aber dennoch ohne Skrupel um des Geldes Willen an einen mohammedanischen Metzger verkaufen.

Das Taj Mahal am Stadtrand von Agra.
© Dieter B. Herrmann

Unser Gespräch zieht sich in die Länge und füllt sich mit Paradoxa. Warum die Kuh als heilig gilt, wissen wir aber immer noch nicht. Doch Yogesh kommt zum Kern: die magische Scheu vor Lebensvernichtung kommt nicht von den Ariern, nicht von den Buddhisten und Jainisten, sondern ist ein ur-indisches Element. Die Arier hätten es lediglich lange Zeit überdeckt. Aber indem sie sich zum „Hindu“ wandelten, kamen sie auf die Heiligkeit der Kuh zurück. Das Argument kommt mir allerdings vor, als behaupte man, um die Schwierigkeiten der Entstehung des Lebens auf der Erde zu umgehen, es sei aus dem Kosmos hereingetragen worden. Wie es dort entstanden ist, bleibt offen, und damit letztlich das ganze Problem. Wir wollten eigentlich ohnehin nicht über Kühe sprechen, sondern über Sterne. Deshalb entlassen wir Yogesh jetzt aus dem strapaziösen Exkurs und steuern den Maharadscha-Palast an, in dem wir wohnen werden. Rajasthan, der zweitgrößte Bundesstaat Indiens und flächenmäßig so groß wie Deutschland, ist bekannt für seine Paläste.

Die Rajputen, Angehörige der ranghohen Kriegerkaste, regierten das Land immerhin bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, besaßen fast den gesamten Grund und Boden und bezogen all ihren Reichtum aus den Privilegien, die ihnen die feudalistische Machtstruktur verliehen hatte. Mit ihrer Prunksucht richteten sie das Land zu Grunde und sind verantwortlich dafür, dass Rajasthan noch heute zu den ärmsten Ländern Indiens gehört. Doch die Verschwendung hatte Tradition, denn schon die Moguln, ein muslimisches Adelsgeschlecht aus Zentralasien, die im 16. Jahrhundert das nördliche Indien eroberten, ließen es an Prunk und Pracht nicht gebrechen. Davon zeugt die gigantische Festung des Roten Forts in Agra, aber mehr noch das weltberühmte Taj Mahal am Ufer der Yamuna. Dabei verdankte dieses Bauwerk seine Entstehung einem ganz privaten Anlass: Es ist ein Denkmal der Liebe, aber auch ein Symbol von Macht. Als die Lieblingsfrau des Mogulkaisers Sha Jahan (1592 – 1666) bei der Geburt ihres 14. Kindes starb, beschloss der Kaiser, ihr ein unübertreffliches Denkmal zu setzen. Tatsächlich entstand eines der schönsten Bauwerke der Welt, dessen architektonische Harmonie jeden Besucher überwältigt und das als höchste Vollendung des indoarischen Stils gilt, einer Mischung aus persischen und altindischen architektonischen Elementen. Doch nicht der Kaiser hatte den Marmor herbeigeschleppt, und bezahlt hatte er ihn auch nicht. Aus der Arbeit eines geknechteten Volkes gepresst, hat auch er mit seiner Verschwendungssucht dazu beigetragen, das Land zu ruinieren. Schon sein Sohn lehnte sich dagegen auf, ließ seinen Vater unter Hausarrest stellen und bestieg selbst den Thron. Aber auch seine sparsamere Haushaltsführung konnte den Untergang der Dynastie nicht mehr verhindern.

Wir verdanken unsere hochherrschaftliche Unterkunft allerdings nicht etwa der persönlichen Bekanntschaft mit einem Maharadscha, sondern dem tiefgreifenden Wandel, der sich in Rajasthan vollzogen hat, seit es der Indischen Union angegliedert wurde. Nicht nur die Willkürherrschaft der Maharadschas ist geschwunden, sondern auch ihr Reichtum. Deshalb haben sie viele ihrer Paläste, von denen sie nur noch Teile selbst bewohnen, in Hotels umgewandelt. Als Hotelbesitzer gehören sie natürlich wirtschaftlich weiterhin zu den Privilegierten.

Wir durchschreiten das Tor und betreten einen geschmackvoll angelegten Garten, der direkt zu einer breiten Freitreppe und dem goldgelb angestrahlten, reich verzierten Palastportal führt. Zehn Kamele links und rechts des Weges sind zum Spalier angetreten – wir fühlen uns in eine Märchenwelt versetzt. Es fehlt nur noch, dass der Maharadscha persönlich in vollem Ornat erscheint und uns die Hand schüttelt. Doch dies geschieht nicht, ein Manager vertritt seine Stelle. Die Hotels werden meist von professionellen Unternehmen geführt, weil die Maharadschas sich im Allgemeinen zwar auf das Polospiel und das Eintreiben von Unrechtsgut verstehen, nicht aber auf ernsthafte Arbeit. Immerhin, uns ist der Palast mit seinen zahlreichen ausgemalten prunkvollen Hallen willkommen, hebt er sich doch wohltuend von den modernen Luxushotels ab, die auch in Indien immer einförmiger werden.

Am nächsten Morgen geht es zum 40 Kilometer entfernten Jaipur zurück. Der Blick aus dem Auto bedient alle Klischees über Rajasthan. Immer wieder tauchen Kamele auf, die in diesem von Sandwüsten geprägten Land eine größere Rolle spielen als die „typisch indischen“ Elefanten. Gruppen von Frauen in prachtvollen farbigen Saris scheinen der hier herrschenden Armut Hohn zu sprechen. Jaipur selbst prangt in rosarot – das hatten die Briten 1876 veranlasst, seitdem ist die Farbe für alle Gebäude vorgeschrieben. Unsere Augen weiden sich am „Palast der Winde“, der nur aus einer Art Fassade besteht. Hinter den fast eintausend Fenstern dieses kulissenartigen Baus durften die Frauen des Palastes dem Treiben auf der Straße zusehen. Auf den Straßen selbst hatten sie nichts zu suchen.

Maharadscha Jai Singh II. (Miniaturmalerei von Ashok Jegwad)
© Ashok Jegwad/Archiv Dieter B. Herrmann

Jaipur spiegelt in seiner Anlage das hinduistische Kastensystem wie keine andere Stadt. Der Grundriss ist quadratisch angelegt, alle Hauptstraßen stoßen in rechten Winkeln aufeinander wie im New Yorker Manhattan. Dadurch wird die Stadt in vier Bezirke untergliedert, die den Hauptkasten zugeordnet waren, in die man hineingeboren wird: den Priestern, den Kriegern, den Händlern und den Handwerkern. Die Unberührbaren, unterste Kaste im hierarchischen System, hatten vor der Stadtmauer zu bleiben. Das Kastensystem spiegelt sich selbst in den Dimensionen der Straßen und den sich daraus ergebenden immer winzigeren Bezirken: die Hauptstraßen sind 36 Meter breit, die Nebenstraßen 18 Meter. Diese wurden von 9 Meter breiten Straßen gekreuzt und sie wiederum von 4,5 Meter breiten Gassen. Im Zentrum dieses urbanen Kosmos – man ahnt es schon – befindet sich der Stadtpalast des Maharadschas mit seinen Bauwerken aus Sandstein, prachtvollen Innenhöfen und einer Gartenanlage. Jetzt sind wir unserem Ziel schon ganz nahe, denn gleich neben dem Palast befindet sich Jantar Mantar, das „Magische Gerät“. Dieses in der Welt einzigartige Observatorium für astronomische Beobachtungen verdanken wir demselben Herrscher, der die Stadt Jaipur gegründet hat: Jai Singh II. (1688 – 1743); nicht jedoch seiner Prunksucht, sondern inniger Liebe zur Wissenschaft. 

Als Jai Singh II. geboren wurde, begann das Imperium der Mogulkaiser in Indien bereits allmählich zu zerbrechen. Ohnehin war es den islamischen Truppen der Moguln schwergefallen, sich gegen die in Rajasthan herrschenden Clans der Rajputen, der „Söhne von Sonne, Mond und Feuer“, zu behaupten. Lediglich den Rivalitäten und Fehden dieser untereinander verfeindeten Fürstentümer war es zuzuschreiben gewesen, dass die Moguln nach insgesamt 17 Feldzügen schließlich in Nordindien die Oberhand erlangt und den Untergang des Hindu-Reiches herbeigeführt hatten. Dabei waren sie nicht ungeschickt vorgegangen. Statt einer barbarischen Aggression hatten sie auf den Erhalt der herrschenden Reiche gesetzt und nach Bündnissen mit den alteingesessenen Dynastien gesucht. Das bot auch für die Maharadschas viele Vorteile, sicherte ihnen Gewinne, Herrscherwürde und den Schutz der militärisch mächtigen Moguln. Dass sie letztlich deren Vasallen waren, damit fanden sich viele von ihnen ab. Jai allerdings verstand es in besonderem Maße, von den komplizierten Machtkämpfen damals zu profitieren. So verlangte die Zentralmacht in Delhi von ihm als Gouverneur von Malwa und Agra, den von Süden vordringenden Marathen Einhalt zu gebieten. Dabei muss er aber mit diesen Feinden der Moguln hinter deren Rücken Absprachen getroffen haben; denn Malwa ging zwar verloren, gleichzeitig erweiterte Jai Singh aber sein Reichsgebiet durch neue Besitzungen. Schließlich gründete er 1728 Jaipur als neue Hauptstadt von Rajasthan und wurde selbst deren Maharadscha. Rücksichtsloses und wagemutiges, aber offenbar erfolgreiches Taktieren ließen ihn so zum indischen „Machiavelli“ seiner Zeit werden, wie ein Historiker über ihn schrieb. Die Moguln mussten übrigens auch erkennen, dass es schwierig war, die nach ihrer Meinung „Ungläubigen“ zum Islam zu bekehren. Anders als in Nordafrika und im Vorderen Orient wurde die importierte Religion hier nur teilweise aufgenommen, teils führte die Intoleranz der Invasoren hingegen auch zu heftigem Widerstand, einem Gemisch aus politischem und religiösem Aufbegehren. Dadurch vertiefte sich die Kluft zwischen Hindus und Moslems, was zum allmählichen Verfall der Mogulherrschaft beitrug. Besonders die Künstler, Maler, Architekten, Sänger und Tänzer entzogen sich dem kaiserlichen Einfluss in Delhi und gingen an die Höfe der Hindu-Maharadschas. Und wieder war es Jai Singh II., der viele dieser Menschen um sich scharen konnte. Er selbst galt als kunstverständig, hatte eine hervorragende Ausbildung genossen und beschäftigte sich neben den Künsten auch mit Philosophie, Religion und Architektur.

Blick auf die Gesamtanlage von Jantar Mantar in Jaipur.
© imago images/Chromorange

Seine besondere Liebe aber galt der Astronomie. Dass Jai ausgerechnet die Sternkunde in das Zentrum seines Denkens und Wirkens rückte, verdankt er angeblich einer schönen muslimischen Prinzessin. Mit ihr verbrachte er eine Nacht auf der Terrasse seines Schlosses und sie schauten gemeinsam zu den Sternen empor. Doch dann stellte ihm die Prinzessin eine Frage, die nicht einmal die Drehbuchschreiber Hollywoods jemals einer schönen Frau in den Mund gelegt haben. Sie fragte ihren Prinzen: „Wie weit sind all diese Sterne entfernt?“ Darauf wusste Jai Singh keine Antwort und niemand auf der Welt hätte sie damals geben können. Doch die Neugierde seiner schönen Gefährtin soll ihn dazu bewegt haben, große Sternwarten zu erbauen, mit deren Hilfe er die Distanzen der Sterne zu bestimmen gedachte. Sollte diese Erzählung auch nur ein Körnchen Wahrheit enthalten, so ist ihr Schluss jedenfalls typisch: die Geschichte hat den Namen der Prinzessin vergessen! Musen vollbringen ihr zauberisches Werk meist im Geheimen. Wahrscheinlicher ist allerdings ein ganz anderes Motiv für den Aufstieg des Jai Singh zum Sternforscher. Kaiser Muhammad Shah (1702 – 1748) nämlich, dem Jai seine lokale Herrschaft verdankte, plante eine wichtige Reise und suchte dafür nach einem geeigneten Termin. Der sollte aus dem Lauf der Sterne bestimmt werden. Astronomische Daten waren auch wichtig zur Festlegung der hinduistischen und islamischen Feste. Es herrschte also eine ganz ähnliche Situation wie damals in Europa, wo aus diesem Grund der Gregorianische Kalender eingeführt wurde. Die Astronomie geriet damit auch in Indien ins Blickfeld der Mächtigen, und dies dürfte den eigentlichen Anstoß für Jai Singh gegeben haben, seine großen Sternwarten zu errichten.

Jai war belesen und wusste die Werke der großen Astronomen zu schätzen, die damals in der wissenschaftlichen Welt von sich reden machten. Er sandte seine Beauftragten nach Europa und ließ sich über den dortigen Stand der Wissenschaft berichten. Auch holte er wissenschaftliche Gäste des Abendlandes zu sich nach Jaipur. Jai ließ bedeutende Werke der astronomischen Forschung aus Europa in das altindische Sanskrit übersetzen und machte sie damit auf dem Subkontinent zugänglich. Darunter auch das Meisterwerk der antiken griechischen Astronomie, den „Almagest“ des Klaudios Ptolemaios (um 100 bis nach 160), der selbst in Europa erst durch die Renaissance wieder bekannt geworden war. Während das Werk des Ptolemaios gleichsam ein wissenschaftliches Erbstück aus alter Zeit darstellte, beschaffte Jai Singh aber auch die großen wissenschaftlichen Werke der damals aktuellen westlichen Literatur. Allen voran die dreibändige „Historia Coelestis Britannica“, ein bedeutendes Tafelwerk, das der erste „Astronomer Royal“ der 1675 gegründeten englischen Sternwarte in Greenwich, John Flamsteed (1646 – 1719), geschaffen hatte – ein Zeitgenosse von Jai Singh. Dieses Konvolut gelangte druckfrisch nach Jaipur, denn es war erst 1725 erschienen und stellte den ersten umfassenden Katalog von Sternpositionen der neueren Astronomie dar. Zu den weiteren Werken des Abendlandes, die Jai Singh seiner Bibliothek einverleibte, gehörte auch das klassische Werk von Isaac Newton, die „Principia“, in dem dieser die Mechanik und Himmelsmechanik begründet hat. Es ist höchst eigenartig, dass Jai Singh offensichtlich die inhaltliche Substanz dieses Werkes ignorierte. Er erkannte nicht – oder wollte nicht erkennen –, dass mit Newtons Werk der endgültige Beweis für die Richtigkeit der Lehre des Kopernikus erbracht war, nach der sich die Erde mit den anderen Planeten um die Sonne bewegt. Stattdessen blieb er davon überzeugt, dass die Erde das Zentrum der Welt sei, wie es Ptolemaios gelehrt hatte, obschon in Europa daran inzwischen niemand mehr glauben mochte.

Die Riesensonnenuhr Samrat Yantra.
© Günter Nerlich

Auch beim Bau seiner Sternwarten zeigte sich Jai Singh konservativ. Statt an Linsen, Messing und Kupfer dachte er an Marmor und Stein. Er orientierte sich nicht an Flamsteed, der die große Genauigkeit seiner Sternpositionen durch die Kombination klassischer Peilinstrumente mit dem Teleskop erreicht hatte. Jai Singh, obschon er das Fernrohr kannte, betrachtete die Sternwarte des Mongolisch-Türkischen Herrschers und Astronomen Ulugh Beg (1394 – 1449) als sein Vorbild. Dieser hatte in Samarkand, der alten Hauptstadt Usbekistans, im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts ein bedeutendes Zentrum astronomischer Forschung geschaffen. Sein größtes und eindrucksvollstes Instrument war ein Fakhri genannter, gewaltiger steinerner Sextant mit einem Radius von 40 Metern. Während der obere Teil sich in einem eigens errichteten Rundbau befand, lag der größere Teil des nach Süden ausgerichteten Sechstelkreises unter der Erdoberfläche, in einen Felsen eingehauen. Links und rechts zweier Marmorschienen, auf denen die Ablesungen erfolgten, befanden sich Stufen für den Beobachter, der auf diese Weise jeden Teil des Instruments erreichen konnte. Ulugh Beg hatte sogar einen Sternkatalog herausgebracht, der ebenfalls in Jai Singhs Bibliothek stand. Die Genauigkeit von Ulughs Messungen beruhte auf der gewaltigen Dimension seines Fakhri. Die Überreste der nach dem Tod von Ulugh Beg von religiösen Fanatikern zerstörten und geplünderten Anlage wurden erst 1908 wiederentdeckt. Diesem usbekischen Astronomen wollte Jai Singh nacheifern. Und auch das wissenschaftliche Ziel entsprach dem seines Vorbilds: Es ging um Zeitmessungen und die Bestimmung von Positionen der Himmelskörper, vor allem der Sonne, aber auch der Sterne.

Schematische Darstellung des Schattenverlaufs auf der Skala des Samrat Yantra.
© Gerhard Weiland nach Vorlage von Guido Wortmann

Das erste seiner Observatorien errichtete Jai Singh in Delhi, wahrscheinlich schon im Jahre 1719. Die großräumige Anlage zählt zu den geschützten nationalen Denkmälern und kann besichtigt werden. Insgesamt kamen im Laufe der Zeit noch vier weitere Sternwarten hinzu: in Jaipur, Mathura, Ujjain und Varanasi. Von diesen Einrichtungen ist außer dem Observatorium in Delhi lediglich die Sternwarte von Varanasi, dem einstigen Benares, heute noch zugänglich. Die größte, beeindruckendste und bekannteste Anlage aber, das Jantar Mantar, entstand 1734 in Jaipur, und dort sind wir jetzt angekommen. Nachdem wir das von einer Mauer umgrenzte Areal durch ein kleines Tor betreten haben, bietet sich uns ein beeindruckender Anblick. Ein Gewirr seltsam anmutender, steinerner Monumente scheint planlos über eine riesige, fast 200 Meter lange Fläche verstreut. Der merkwürdige Skulpturengarten erinnert an das rätselhaft-futuristische Werk eines Künstlers. Von all diesen kleineren und größeren Bauwerken zieht uns sofort eine, am hinteren Ende des Feldes stehende, monumentale steil aufragende dreieckige Mauer in ihren Bann, die bis zu knapp 28 Meter in die Landschaft emporsteigt und als Samrat Yantra (König der Instrumente) bekannt ist.  Es handelt sich dabei um eine überdimensionale Sonnenuhr. Von diesem Monstrum magisch angezogen, begeben wir uns gleich an die Basis dieses in der Welt einmaligen Messwerkzeugs, mit dem man über verschiedene Treppensysteme auf Tuchfühlung kommt. Die große Mauer, präzise ausgerichtet von Süd nach Nord, stellt den Schattenwerfer eines gigantischen Zeitmessers dar. Links und rechts davon erblicken wir zwei große Viertelkreise, die von entsprechenden Anbauten gestützt werden und genau in der Ebene des Himmelsäquators liegen. Auf diese ausschwingenden Flächen, die gleichsam als Ziffernblatt dienen, fällt der Schatten der großen Mauer, vormittags auf den westlichen und nachmittags auf den östlichen Quadranten.  Wegen der gewaltigen Dimension dieser größten Sonnenuhr der Welt kann die Zeit auf etwa zwei Sekunden genau bestimmt werden. Der Schatten bewegt sich binnen einer Minute um sechs Zentimeter weiter, d.h. um jeweils einen Zentimeter in zehn Sekunden! Wir sehen also den Schatten förmlich vor unseren Augen weiterlaufen und werden somit Zeuge der Bewegung der Erde um ihre eigene Achse. Der theoretisch zu erwartenden Genauigkeit der Zeitablesung im Sekundenbereich steht allerdings die Tatsache entgegen, dass wegen der Winkelausdehnung der Sonne von 30 Bogenminuten auf dem Ziffernblatt kein scharfer Schatten entsteht.  Die Struktur des Schattens zeigt einen deutlich wahrnehmbaren Helligkeitsverlauf. Wir sehen einen Kern- und einen Halbschatten und beobachten somit keine scharf definierte Schattengrenze. Die Gesamtbreite des Schattens beträgt auf dem Ziffernblatt zehn Zentimeter (ein Fehler von 1,5 Minuten). Diese Schattendiffraktion lässt sich aber austricksen. Man nimmt einen kleinen Stab, hält ihn einige Zentimeter über die Skala, wo er einen scharfen Schatten wirft. Jetzt führt man den Stab über den unscharfen Schatten, bis er die gleiche Dunkelheit aufweist wie der unscharfe Schatten. Dann hat man die Grenze zwischen Kern- und Halbschatten gefunden und kommt wieder zu einer Zeitmessung im Sekundenbereich. In Europa gebräuchliche Pendeluhren erreichten allerdings im 18. Jahrhundert schon eine Genauigkeit im Bereich von Zehntelsekunden.

Helligkeitsverlauf im Schatten auf der Skala mit Kern- und Halbschatten (Mitte bzw. links und rechts).
© Gerhard Weiland

Mit dem Samrat Yantra konnte nicht nur die Zeit bestimmt werden. Auch die Stellung der Sonne am Himmel und damit die Sonnenbahn war durch Beobachtung des Schattenspiels recht genau zu erfassen. Somit konnten also die Länge des Jahres sowie die jährlichen Tiefst- und Höchststände der Sonne ermittelt werden, ebenso wie die Daten der Tag- und Nachtgleichen.