Karly ist groß. Viel größer als alle in ihrer Klasse. Vor allem Draufgänger Rocky reißt gerne vor den anderen Witze über sie. Da steht Karly im wahrsten Sinne des Wortes drüber – denn von oben hat man eindeutig den besseren Überblick! So entdeckt sie auch schnell, dass Rocky gar nicht der ist, der er vorzugeben scheint. Heimlich beobachtet sie ihn beim Tanzen. Aber Jungs und Tanzen? Das geht in den Augen der Leute gar nicht. Karly beschließt, ihm zu helfen und schmiedet im Schmutzky-Park um die Ecke einen grandiosen Plan. Denn sie weiß nur zu gut, wie das mit den Vorurteilen so ist …
Eine Geschichte über Mut und Anderssein
Uticha Marmon, geboren 1979, studierte Dramaturgie, Literaturwissenschaft und Pädagogik in Mainz, Wien und München. Sie arbeitete als Theater-Dramaturgin und war einige Jahre als Lektorin und Regisseurin bei einem großen Hörbuchverlag tätig, ehe sie sich selbstständig machte. Seitdem schreibt sie Kinderbücher, produziert als Dramaturgin und Regisseurin Hörbücher und Hörspiele und engagiert sich in der Lese- und Zuhörförderung.
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Viel Spaß beim Lesen!
Vielen Dank an König Boris, Dokter Renz, Björn Beton,
Campino und allen voran BelaFarinRod für die Inspiration.
Tarzan und Jane lieben euch.
Karly eher nicht so!
»Ihr Liebäään! Auch wenn es Montagmorgen und der erste Tag nach den Sommerferien ist, würdet ihr euch bitte setzen?«
Die Stimme von Frau Kurzhals schallte durch die Klasse. Nein, eigentlich schallte sie nicht, sie piepste. Sie piepste und dabei zog sie die Worte in die Länge, vor allem die Vokale. E’s klangen bei ihr immer wie Ä’s, und die O’s und U’s hatten einen Anklang von verstopfter Nase. Frau Kurzhals hörte sich an wie ein quengelnder Piepmatz. Und das genau war ihr Problem. Denn das Piepen wurde übertönt von dreißig Stimmen, die sich aufgeregt über die vergangenen Ferien austauschten, über Serien, Freibadbesuche, Kinofilme, Hannahs Party am Freitag, Lenes neue Frisur, das beim Fußball eingeschossene Küchenfenster bei Ferdi, die bald anstehende Schulaufführung, und, und, und …
Karly sah, wie Frau Kurzhals’ Hals rote Flecken bekam. Die Arme, das machte ihr Hals immer, wenn sie sich aufregte. Aber Karly sah auch noch etwas anderes. Nämlich, dass Frau Kurzhals nicht alleine war. Und hätte Karly es nicht gesehen, hätte sie es im nächsten Augenblick gehört. Denn ehe sie einmal geblinzelt hatte, schallte plötzlich eine zweite Stimme durch den Raum. Und diese schallte wirklich!
»Ey!«, brüllte der Junge, der neben Frau Kurzhals stand. Augenblicklich war es mucksmäuschenstill. Alle verharrten mitten in der Bewegung und drehten ihre Gesichter nach vorne. Es war, als hätte der Ruf die ganze Klasse eingefroren.
»Geht doch«, sagte der Junge. »Was Frau Kurzhals euch sagen will: Ich bin Rocky und ab heute in eurer Klasse. Und damit ihr mir keine Löcher in den Bauch fragt: Ich muss eine Ehrenrunde drehen und hatte keinen Nerv, das auf meiner eigenen Schule zu machen. Frischer Wind und so, ihr versteht, was ich meine.«
Er zwinkerte der Klasse 6a zu und fuhr sich durch die mit irgendeiner Pampe vollgematschten Haare, was ihm ein leises Seufzen aus verschiedenen Richtungen einbrachte.
Karly verdrehte die Augen. Ach, die Hühner mal wieder … Sicher dachte jede Einzelne von ihnen, er hätte nur sie alleine gemeint.
»Ja, äh, Rocky.« Frau Kurzhals’ Hals war mittlerweile dunkelrot. »Du kannst dich an den Rand neben Karlotta setzen. Oder hinten neben Luis.«
Selbstverständlich entschied Rocky sich für hinten. Mit wippendem Gang und so, als ob er alle Zeit der Welt hätte. Die Blicke des Hühnerhaufens folgten ihm bewundernd, gleichermaßen wie die der Jungs in der Klasse, und Karly hätte am liebsten den Kopf auf den Tisch gehauen. Das konnte ja heiter werden.
»Also, ihr Liebäään! Ich denke, ihr könnt die Pausen dazu nutzen, euch kennenzulernen. Jetzt wollen wir uns doch lieber euren neuen Geschichtsbüchern widmen. Kommt bitte nach vorne und nehmt euch jeder eines vom Stapel.«
Während einer nach dem anderen sein Buch am Lehrerpult abholte, drückte Berit, die vor Karly saß, ihr ein Briefchen in die Hand.
»Von Hannah«, flüsterte sie. »Nach hinten durchgeben. Zu … Rocky.« Sie säuselte seinen Namen, als wäre er ein Cupcake mit Zuckerkringeln und Esspapierherzchen obendrauf.
Karly seufzte und reichte die Nachricht an Lene weiter, die sich heute Morgen, an diesem ersten Schultag nach den Sommerferien zum ersten Mal seit der ersten Klasse nicht neben Karly gesetzt hatte. Die blinzelte jetzt irritiert.
»Nicht von mir«, flüsterte Karly. »Von Hannah, für unseren neuen Superhelden.«
Lene nickte und guckte Karly entschuldigend an.
»Hör auf, mich anzugucken wie ein Dackel«, wisperte die über die Schulter. »Oder willst du Cinderella Konkurrenz machen?«
Lene gab ein Geräusch von sich, das nach einem Lama mit Asthma klang.
»Jetzt sei nicht eingeschnappt«, flüsterte Karly. Ohne den Kopf zu drehen, kippte sie mit dem Stuhl zurück, um näher bei Lene zu sein – denn das hier hatte Potenzial, eine längere Geschichte zu werden, und Frau Kurzhals’ Hals hatte bereits das Maximum seiner Strapazierfähigkeit erreicht. Also war es besser, nicht aufzufallen und wirklich sehr aufmerksam nach vorne zu gucken. »Du hast dich von mir weggesetzt, falls du es in den letzten zehn Minuten schon vergessen haben solltest.«
»Ich …« Lene stockte. »Aber trotzdem sind wir doch noch Freundinnen«, flüsterte sie dann vorwurfsvoll, auf ihrem Tisch weit nach vorne gebeugt.
Karly grinste, was Lene selbstverständlich nicht sehen konnte. Das war typisch Lene. Immer, wenn sie sich für etwas entschuldigen wollte, trat sie die Flucht nach vorne an. Was in diesem Fall bedeutete, dass sie ihre Frage wie eine Feststellung verpackte und sie mit einem Tonfall versah, der ganz klar sagte, dass Karly auf dem falschen Dampfer war, wenn sie dachte, ihre Freundschaft wäre beendet.
»Wohl schon«, sagte Karly, bemüht, ernst zu klingen. Lene war offensichtlich erleichtert, denn sie lehnte sich mit Schwung zurück. Das hatte jedoch fatale Folgen. Die ruckartige Bewegung veränderte das empfindliche Gleichgewicht, in dem sich Karly, ihr Stuhl und Lenes Pult befanden und das Nächste, was Karly sah, war der ziemlich schmutzige Klassenzimmerboden.
»Autsch, verdammt!«, murmelte sie, doch ihr Fluchen blieb ungehört, weil der gesamte Hühnerhaufen in lautes Quietschen und die Jungs in johlendes Gelächter ausgebrochen waren.
»Der Turm ist umgestürzt!«, rief Luis von hinten.
»Wie ein Strohhalm im Wind!«, fügte Hannah von vorne hinzu.
»Karlotta?«, piepste Frau Kurzhals und zog die A’s auseinander wie Gummibänder. »Karlotta, möchtest du bitte wieder aufstehen?«
»An mir soll’s nicht liegen«, entgegnete Karly und fragte sich zum bestimmt hundertsten Mal, warum Frau Kurzhals so merkwürdig sprach.
»Aber vorsichtig! Sonst stößt du dir den Kopf an der Decke!«, johlte Karsten.
Karly rappelte sich hoch. Sie drehte sich in Richtung Klasse und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Dann verbeugte sie sich. Dafür erntete sie tobenden Applaus.
Es ist so einfach, dachte Karly. Und das war es wirklich. Egal, wie viele Witze die anderen über sie machten, Karly fiel immer etwas ein, um sie wieder auf Spur zu bringen. Weil sie es eigentlich gar nicht böse meinten, wenn sie sie aufzogen.
Sie mit einem Turm zu vergleichen, war seit Kurzem die Lieblingsbeschäftigung der anderen. Seit Karly vor einem halben Jahr begonnen hatte zu wachsen und einfach kein Ende in Sicht war. Ihre Klassenkameraden wuchsen auch, aber niemand beeilte sich damit so sehr wie Karly.
Sie war groß. Ziemlich groß. Riesig, um genau zu sein. Sie konnte sogar Tomte auf den Kopf spucken, dabei war ihr Bruder schon 14, also ganze drei Jahre älter als sie. Natürlich hatte sie das noch nie getan. Aber sie könnte es. Und das war vorerst genug des Triumphs. Groß sein war sowieso ziemlich okay, fand Karly. Denn wenn man über die anderen hinwegguckte, stellte man schnell fest, dass es viele Gründe in der Welt gab, sich wirklich aufzuregen. Doch aufgezogen zu werden gehörte sicherlich nicht dazu.
»Karlotta Turm«, unterbrach Frau Kurzhals empört Karlys Verbeugungen. »Würde es dir etwas ausmachen, dich einfach wieder zu setzen?« Ihr Hals leuchtete in einem wunderschönen Violett-Ton, der gerade dabei war, sich auf ihr Gesicht auszuweiten. Karly verbeugte sich ein letztes Mal, stellte den Stuhl auf seinen Platz und tat Frau Kurzhals den Gefallen. Denn die konnte nun mal nichts dafür, dass es ihre Aufgabe war, der Klasse etwas beizubringen. Es war quasi ihre Pflicht, in Momenten wie diesen streng zu sein.
»Gut, dann …« Frau Kurzhals räusperte sich. Ihre Stimme war vom vielen Gepiepse etwas mitgenommen. »Karlotta, lies uns doch bitte mal den Text in dem Kasten unten auf der Seite vor.«
»Im Mittelalter –«, begann Karly.
»Im Mittelalter sorgten Riesen für Angst und Schrecken!«, rief jemand dazwischen. Karly stockte und der Hühnerhaufen seufzte kollektiv.
»Jetzt ist aber mal Ruhe hier!«, kiekste Frau Kurzhals. »Mobbing dulde ich nicht in meiner Klasse!«
»Das ist kein Mobbing«, sagte Rocky gelassen. »Das ist die Wahrheit. Im Mittelalter glaubten die Menschen an Riesen und machten sie für einiges verantwortlich, was in ihrem Leben schieflief.«
Das stimmte so nicht, aber Karly verkniff es sich, den frisch gelandeten Superhelden zu korrigieren.
Frau Kurzhals dagegen war offensichtlich um eine Antwort verlegen. Darum begann sie, hektisch in ihrer Tasche zu kramen, und förderte schließlich ein angeschrabbeltes Hustenbonbon zutage. Sie wickelte es aus und steckte es in den Mund. Das Papier zerknüllte sie in der Hand, wo es blieb, und nun Frau Kurzhals’ ganzen Stress abbekam.
»Also, Rocky. Wenn du dich im Mittelalter so gut auskennst …«, sagte sie nach einigen Sekunden beruhigenden Bonbonlutschens. »Wenn du dich da so gut auskennst, dann lass uns an deinem Wissen teilhaben. Bis zur nächsten Stunde erarbeitest du ein Referat über die Funktion von Märchen und Legenden im Mittelalter.«
»Jo, geht klar.«
Karly drehte sich um. Rocky lümmelte entspannt auf seinem Stuhl und lächelte. Nicht gemein und auch nicht ironisch oder so. Er lächelte einfach.
Karly holte ihr Notizbuch aus der Schultasche. Ihre Rettungsliste. Sie blätterte auf eine freie Seite und schrieb:
Frau Kurzhals:
Muss dringend was für ihren Hals tun. Punkt eins: An ihrem Stress arbeiten.
Karly blätterte zwei Seiten zurück. Lene benötigte einen Nachtrag.
Lene: Ist unsicher, wie Freundschaft funktioniert. Braucht Hilfe beim Nachdenken. Pudding könnte ein Anfang sein.
Karly schlug die Rettungsliste zu. Das war ihr Ding, nicht erst, seit sie gewachsen war und den Überblick hatte. Ihre erste Liste hatte sie angelegt, als sie die arme Cinderella kennengelernt hatte. Da war Karly gerade mal acht gewesen. Eine Prinzessin mit Stummelbeinchen – wie tragisch, hatte sie gedacht.
Die kurzbeinige Cinderella war der garstige Dackel der Zickendrahts im Erdgeschoss. Cinderella knurrte, sobald man ihr näher kam als einen Meter. Und sie scheute auch nicht davor zurück, zuzubeißen, wenn man ihre Warnung ignorierte. Tomte hatte das zu spüren bekommen. Und gleich darauf hatte Karly ihre Liste eröffnet – in einem der vielen leeren Notizbücher ihres Vaters. Auf die erste Seite hatte sie Karlys Rettungsliste geschrieben. Und darunter: Cinderella Stummelbein.
Dann hatte sie überlegt. Musste Cinderella gerettet werden, weil sie Tomte gebissen hatte und man nicht wissen konnte, was das für einen Hund an gesundheitlichen Folgen nach sich zog? Oder musste sie gerettet werden, weil Tomte sie von nun an verachten würde? Oder … oder waren es die Zickendrahts, die das eigentliche Problem darstellten? Karly hatte damals alles notiert und beschlossen, sich der Sache anzunehmen.
Doch ehe sie damit richtig hatte loslegen können, waren schon die nächsten Kandidaten aufgetaucht, die ein bisschen Rettung gebrauchen konnten. Ihre Eltern. Oh ja. Aber das war eine langwierige Geschichte, noch immer.
In diesem Moment klingelte es, und der Geschichtsunterricht war für heute beendet.
»Vorsicht!«
Karly stellte sich taub.
»Pass auf!«
Sie starrte auf ihre Füße. Nicht ablenken lassen, sagte sie sich. Doch das war gar nicht so leicht, wie überhaupt diese ganze Spitzensache ziemlich kompliziert war. Sie hielt die Luft an, versuchte, das Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig noch ein bisschen weiter auf die Zehenspitzen zu gehen.
Nicht atmen, konzentriere dich.
»Hey, Leuchtturm, pass auf, du stößt dir gleich den Kopf!«
Karly guckte nicht hoch. Auch nicht zur Seite, von wo der wahnsinnig gute Tipp gekommen war. »Halt die Klappe, Hannah«, quetschte sie hervor, wobei sie versuchte, nicht zu atmen. Aber das Gleichgewicht war futsch. Sie wackelte. Erst ein bisschen, dann immer doller.
»Hilfe! Hilfe, der Leuchtturm kippt! Schon wieder!«
Von allen Seiten kicherte es. Na klar.
Karly schwankte und machte einen Hopser, der dem Osterhasen Konkurrenz gemacht hätte. Weil Karly aber nicht der Osterhase war, stolperte sie dabei natürlich und plumpste zu Boden.
»Och, jetzt hast du dir wirklich den Kopf gestoßen«, sagte Hannah gespielt mitleidig. »Und ich hatte dich noch gewarnt.«
Karly rappelte sich auf. Na, warte!
»Ach, Hannah«, gab sie zurück. »Ich habe wenigstens einen Kopf, den ich mir stoßen kann. Deinen hast du heute Morgen offensichtlich abgeschraubt, als ein gewisser Rocky durch die Tür gekommen ist.«
Diesmal waren die Lacher auf Karlys Seite. Und Hannah guckte knallrot aus der Wäsche.
Da tat es Karly schon wieder leid. Weil Hannah wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte war. Und jemandem beim Streiten die ungeschönte Wahrheit an den Kopf zu knallen, war gemein.
»’tschuldigung«, sagte Karly darum, obwohl es ja immer noch Hannah war, die sich entschuldigen sollte, aber das war für Hannah wahrscheinlich zu schwer zu verstehen.
Karly stellte sich wieder in Position und ging auf die Zehenspitzen, so weit sie konnte. Ja, gut, das war nicht sehr weit. Wie machte die Señora das nur? Bei ihr sah das aus, als wäre es die einfachste Sache der Welt.
Übrigens, die Señora … Karly guckte auf die Uhr über der Tür.
»Wo bleibt eigentlich die Señora?«, fragte sie laut, denn es war schon viel zu spät. Ganze zehn Minuten! Señora Rosa kam nie unpünktlich.
Jetzt guckten auch die anderen auf die Uhr.
»Komisch«, bemerkte Lene.
»Hat sie uns vergessen?«, überlegte Berit.
»Ich schaue mal nach«, sagte Karly und marschierte los.
Die anderen kicherten, als sie durch die Tür ging.
»Die ist hoch genug, das ist eine Turnhallentür!«, rief Karly, bevor irgendjemand ihr einen guten Rat geben konnte. Wie zum Beispiel: Pass auf, stoß dir nicht den Kopf. »Aber nett, dass ihr euch Sorgen macht.«
Wäre ja auch wirklich blöd für diesen Hühnerhaufen, wenn ich mir den Kopf stoßen würde, überlegte sie. Dann gäbe es niemanden mehr, der hier das Denken übernimmt.
Kapiert hatten sie das erstaunlicherweise recht schnell. Und auch die Jungs wussten Bescheid. Denn schon eine Woche, nachdem sie sich überhaupt alle kennengelernt hatten, hatte die Klasse Karly einstimmig zur Klassensprecherin gewählt. Okay, da war sie noch nicht turmhoch gewesen, aber das waren Spitzfindigkeiten. Leute merken, wenn jemand schlau ist. Wenn jemand denkt. Die Dinge in die Hand nimmt. Und Karly war so jemand, das hatten sie begriffen.
Ein richtig heller Moment von ihnen, dachte Karly vergnügt.
Kichernd ging sie den Gang zu den Umkleiden hinunter. Es müffelte. Nach verschwitzten Klamotten, nach Stinkefüßen, nach Gummisohlen. Am Ende, hinter den Duschen, war die Lehrerumkleide. Karly klopfte.
»Hallo? Señora Rosa?«
Von drinnen kam keine Antwort. Karly klopfte noch einmal.
»Ey, Karly«, sagte da auf einmal jemand hinter ihr.
Karly brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer das war.
»Hau ab, Rocky«, sagte sie und klopfte noch ein bisschen lauter.
»Oder sollte ich lieber Karl sagen?«
Rocky kam lässig näher, bis er dicht hinter Karly stand.
»Karl. Ja, ich glaube, das passt zu dir. Karl … Karl. Findest du nicht auch, dass das zauberhaft klingt, Riiiiesen-Karl?« Jetzt drehte sie sich doch um.
»Was willst du?« Sie starrte Rocky in die Augen, ohne den Kopf senken zu müssen. Das war seltsam. Einfach, weil es sonst kaum noch vorkam, jedenfalls nicht in der Schule. Aber auf Rocky blickte sie kein bisschen von oben herab, obwohl sie hätte schwören können, dass er kleiner war als sie. Trotzdem: Das mit Rocky war Auge in Auge.
Oder vielleicht Auge um Auge?, überlegte Karly kurz. Das hing ganz von Rockys Antwort ab.
»Ich? Nichts will ich.« Rocky grinste cool. »Aber du? Willst du vielleicht weiter so hübsch in deinen Glitzerleggings auf und ab hüpfen? Oder warte …« Er tat so, als müsse er angestrengt nachdenken. »Ich glaube«, sagte er dann, »ich glaube, poltern trifft es vielleicht besser. Gehst du nicht mit Hannah und Lene zum Ballett?«
Woher wusste er das denn nach so kurzer Zeit? Karly zog es vor, nicht zu antworten.
»Scheint ja nicht besonders viel zu bringen, der Unterricht«, schob Rocky noch hinterher. Damit drehte er sich um und schlenderte davon. Karly sah ihm nach. Sie glaubte ihm kein Wort. Der hatte was gewollt. Etwas, wobei Karly ihn gestört hatte? Weswegen er sie anpöbeln musste.
»Armer Tropf«, sagte Karly leise, aber laut genug, dass Rocky es noch hören konnte. Arm, das war Rocky wirklich. Wer andere ärgerte, ärgerte sich doch eigentlich selbst. Sagte Mama, wenn sie ihre friedlichen zehn Minuten am Tag hatte. Karly behauptete immer, dass das schrecklich altklug wäre, einfach, weil Mama es sagte. Aber sie hatte mal darüber nachgedacht, als Hannah sie beim Ballett aufgezogen hatte, weil die Señora Karly aus der ersten Reihe ganz nach hinten verbannt hatte. Da hatte Karly Hannah auf den Kopf geguckt und festgestellt, dass Hannahs Haare eher aussahen wie ein Vogelnest, statt wie eine Frisur. Und dass sie ein sehr großes Muttermal mitten auf dem Hinterkopf hatte. Und während sie überlegt hatte, dass das Muttermal aussah wie Afrika, war ihr aufgefallen, dass Mama recht hatte. Seitdem war sie Hannah wirklich nicht mehr böse. Und vielleicht auch ein bisschen, weil sie Afrika und ein Vogelnest auf dem Kopf trug und davon gar nichts wusste. In Rockys Fall aber war die Sache klar. Hier hatte ihre Einstellung nichts mit dem Zustand seines Schädels zu tun. In seinem Fall konnte man im Großen und Ganzen von einem armen vollidiotischen Tropf reden. Karly seufzte und wandte sich wieder der Lehrerumkleidentür zu.
»Señora?« Es blieb still. Ganz klar, die Señora war nicht da.
Also gut, dachte Karly. Das ist ein eindeutiger Fall.
Und damit stand die Señora – ohne dass sie von ihrem Glück wusste – auf Karlys Liste.
Die Señora: Unbedingt herausfinden, was los ist, dann entsprechende Rettungsmaßnahme beschließen und unverzüglich einleiten.
Denn die Señora war immer pünktlich.
»Werrr nicht punktlich issst, issst eine Diebbb«, sagte sie gerne und dann wurde ihr spanischer Akzent noch stärker als sonst. »Eine Ssseitdiebbb«, fügte sie zur Erklärung freundlicherweise hinzu. Die Señora war davon überzeugt, dass Zuspätkommen das schlimmste Vergehen der Welt war. Obwohl Karly sich eigentlich nicht bestohlen fühlte, wenn jemand zu spät kam. Dann machte sie eben solange was anderes. Zum Beispiel Spitzentanz üben. Da die Señora dies aber nun mal anders sah, musste sie logischerweise ein Problem haben. Und Karly würde helfen. Später. Zuerst musste sie zum Hühnerhaufen in die Turnhalle zurück.
Als sie bei der Hallentür ankam, ging drinnen ein wildes Gekicher los.
»Was haben sie denn nun schon wieder?«, murmelte Karly. Sie zog die schwere Tür auf und hätte sie um ein Haar gleich wieder losgelassen. Der Hühnerhaufen stand im Kreis und kriegte sich gar nicht mehr ein. Alle guckten auf – Rocky! Statt im Hallenbereich nebenan mit den Jungs Basketball zu spielen, hatte er sich in der Mitte aufgebaut und machte Faxen. Immer wieder versuchte er, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und jammerte dabei mit übertrieben dunkler Stimme: »Oh nein, oh nein! Ich armer Riese habe mir den Kopf gestoßen. Oh nein, oh nein!«
»Ja, das glaube ich allerdings auch«, murmelte Karly. Dann schloss sie leise die Tür und ging.
Es war definitiv ein Auge-UM-Auge-Ding mit Rocky. Ganz sicher. Und so was hatte Karly noch nie gehabt. Dass jemand ganz einfach und innerhalb eines halben Schulmorgens dermaßen fies werden konnte, jemand, von dem sie bis gestern gar nicht gewusst hatte, dass er existierte …
Sport waren sowieso die letzten beiden Stunden gewesen, und wie es aussah, hatte die Señora nicht vor, noch aufzutauchen. Also konnte Karly auch getrost nach Hause gehen.
Irgendwo weit hinten in ihrem Hinterkopf sagte die Stimme von Frau Kurzhals: »Das Verlassen des Schulhofs vor Unterrichtsschluss ist nicht erlaubt. Aufsichtspflicht und so, meine Liebäään!«
»Ich gehe trotzdem«, murmelte Karly. »Rocky und so, meine Liebäään!«
Sie holte ihre Sachen aus der Umkleide und machte sich aus dem Staub. Rockys Show war noch nicht beendet. Als Karly bei den Fahrradständern neben der Halle ihr Rad aufschloss, hörte sie den Hühnerhaufen durch die offenen Fenster kieksen und Rocky rief: »Nehmt euch in Acht, hier kommt Karl. Der Riese, der sterbende Schwan!«
Ach, was wusste der schon von Schwänen, überhaupt und im Ballett sowieso. Garantiert dachte er, Schwanensee wäre ein Tümpel um die Ecke.
Er hat sich allerdings ziemlich gut angestellt bei seinem Versuch, auf Zehenspitzen zu tanzen, schoss es Karly durch den Kopf. Besonders gut sogar. Besser als sie selbst, und das, obwohl er sie nachgemacht hatte. Bei ihm hatte das ganz einfach ausgesehen, trotz der Tatsache, dass er so ein Hänfling war. Schlaksig und dürr. Vielleicht war es aber gerade das. Alle Tänzer waren dünn.
Sicher bloß ein Zufall, dachte Karly, während sie wütend nach Hause strampelte.
Auch das war neu. Denn wütend war Karly sehr selten.
Ich bin wütend wegen diesem Hänfling, sagte sie sich. Karly ließ den Lenker los und klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn, so dumm und unnötig kam ihr das vor. Plötzlich hupte es neben ihr. Vor Schreck wäre Karly beinahe vom Rad gefallen. Freihändigfahren und Straßenverkehr, das war immer etwas tricky.
»Mama mia, echt mal!«, beschwerte sie sich. Und das mit Recht. Denn es war Donald, der gehupt hatte und nun neben ihr herklapperte. Eigentlich hörte man Mamas Oldtimer immer schon zwei Ewigkeiten, bevor er um die Ecke kam. Aber Rocky war ein schwerer Fall, da konnte man wohl mal unaufmerksam sein.
»Hallo, Karlotta!« Mama winkte fröhlich aus Donalds heruntergelassenem Fenster.
Eigentlich hieß Donald mit vollem Namen Donald Duck und war tatsächlich eine Ente. Diese Autos gab es überhaupt nicht mehr. Mit Ausnahme von Donald, wie unschwer zu überhören war. Der hielt sich prächtig, und was war schon ein bisschen Geklapper? Donald war ein Familienmitglied geworden und schließlich war in Karlys Familie niemand perfekt.
»Was gibt’s, Mama?«, erkundigte Karly sich schnaufend. Radfahren und nachdenken konnte sie gut. Radfahren und reden nicht so. Kein Wunder, das Rad war viel zu klein. Wenn sie in die Pedale trat, berührten ihre Knie beinahe die Ohrläppchen.
»Was es gibt?«, flötete ihre Mutter. »Hmmm, zum Beispiel die Frage, warum du schon auf dem Heimweg bist?«
Dieser Tonfall … Immer klang Mama, als wäre sie mindestens so gut gelaunt wie eine Amsel im Frühling. Dabei war an der Frage, warum Karly schon vor Schulschluss hier herumstrampelte, gar nichts Frühlingshaftes. In dieser Frage versteckte sich ein ganzer Herbststurm. Der reichte von ersten Ist-irgendwas-passiert-Wolken über Hättet-ihr-nicht-eigentlich-Sport-Regen bis hin zu einem DU-SCHWÄNZT-DOCH-NICHT-ETWA-Gewitter.
Karly notierte in Gedanken:
Mama: Flötentöne abgewöhnen, wenn sie nicht sinnvoll sind.
Flötentöne sind sinnvoll, wenn:
–es um Pudding geht oder um Familienurlaub (ohne Tomte!)
–Mama Geburtstag hat
–Papa Geburtstag hat
–ich Geburtstag habe
–(Tomte Geburtstag hat)
–ich die Küche aufgeräumt habe
–Tomte seine Stinkesocken nicht mehr im Flur liegen lässt
SONST NICHT!
»Karlotta?«, flötete Mama.
Hilfe für Mama: Oberste Priorität!!
»Die Señora war unpünktlich«, erklärte Karly schnaufend und bog in die Turmstraße ein. Kein Witz. Sie, Karlotta Turm, Eltern Daniela und Karl Turm, Bruder Tomte Turm (noch weniger ein Witz!), wohnte in der Turmstraße. In einem Turm. Es war ein alter Wasserturm, in den eines Tages Wohnungen eingebaut worden waren. Das hätte man sich nicht ausdenken können, aber Mama und Papa fanden, das wäre ein herausragend lustiger Zufall – über den sie auch wirklich jeden Tag mindestens einmal lachten. Und das seit drei Jahren. Anfangs hatte Karly mitgelacht. Seit sie nicht mehr aufhörte zu wachsen, schmunzelte sie nur noch, um Mama und Papa nicht den Spaß zu verderben.
Am Eingang zur Turmstraße ging der Asphalt in Kopfsteinpflaster über und Donald erweiterte seine Klapperpartitur durch ein blechernes Scheppern.
»Bitte?«, rief Mama aus dem Fenster. »Ich habe dich nicht verstanden, du musst lauter reden, Donald scheppert so.«
Ach was, dachte Karly. Wäre mir jetzt gar nicht aufgefallen.
»Die Señora!«, brüllte sie.
»Was ist mit der Señora?«, flötete Mama fast genauso laut.
Dass man selbst brüllend noch flöten konnte, würde Karly ziemlich sicher nie verstehen.
Sie blieb stehen. Donald fuhr noch ein Stück weiter, ehe ihrer Mutter auffiel, dass ihre Tochter nicht nur nicht in der Schule, sondern nun auch nicht mehr neben ihr war.
Quietschend bremste sie und stellte den Motor ab.
»Wie ruhig es auf einmal ist«, hörte man sie zwitschern.
Karly trat in die Pedale, schloss zu Donald auf und hielt sich am Wagenfenster fest. Dann legte sie die Füße bequem auf dem Fahrrad-Vorderreifen ab.
»Die Señora war unpünktlich«, sagte sie in die Ruhe hinein. Mama saß mit geschlossenen Augen im Wagen und reagierte nicht.
»Mama?«, fragte Karly. »Bist du eingeschlafen?« Zuzutrauen war es ihrer Mutter.
»Ich genieße die Stille«, kam es aus Donald zurück. Dann fing Mama leise an zu summen. Ein Auto bog in die Straße ein. Es fuhr langsam an sie heran.
»Ehm«, machte Karly. »Mama … du stehst mitten auf der Straße.«
Ihre Mutter reagierte auch jetzt nicht. Sie lächelte bloß ziemlich glücklich.
Lächeln wie flöten – dringender Erklärungsbedarf.
Karly guckte sich um. Das Auto hatte hinter Donald angehalten. An ihm vorbei konnte es nicht, die Straße war schmal und Donald stand genau in der Mitte.
»Mama, Donald müsste wirklich ein bisschen rutschen«, erklärte Karly dem Grinsegesicht im Auto. Da öffnete ihre Mutter die Augen.
»Karlotta, lenk nicht ab«, sagte sie. Noch immer irgendwie sehr glücklich. »Du hältst es also für richtig, zu gehen, bloß weil deine Sportlehrerin unpünktlich war?«