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©Susanne Hottendorff 2013 – erste Auflage

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Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-744875-72-1

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Donnerstag, 8. April

Der Platz selbst und auch die Straßen rund um den Platz vor der Kirche „Jesus Nazareno“ sind schwarz von Menschen. Dichtgedrängt stehen sie seit Stunden um den besten Platz mit der besten Sicht zu bekommen. Menschen jeden Alters, junge Leute, die noch einen Walkman am Ohr haben, sind genauso zu finden, wie ältere. Eltern mit ihren Kindern, teilweise auf den Schultern, teilweise in Kinderwagen und Karren. Pünktlich zur festgelegten Stunde, um zehn Uhr am Abend, öffnen sich die Kirchentore. Zuerst die Büßer, die kapuzenbedeckten Gestalten mit großen, brennenden Kerzen in den Händen, einige von ihnen sind barfuß. Sie sammeln sich rechts und links der Straße, immer zwei Kapuzengestalten gegen-überstehend, auf dem Platz vor der Kirche. Der anscheinend Älteste von ihnen trägt das große Holzkreuz, er geht der Prozession voraus. Gleich dahinter trägt einer dieser Gestalten das Kirchenbuch, alt und wertvoll mit schweren Beschlägen aus Metall. Dann werden nacheinander zwei Altäre, jeweils zwei bis drei Tonnen schwer, aus der Kirche getragen. Auf dem Ersten sehen wir Jesus, er trägt das Kreuz auf den Schultern, in Ketten gelegt und barfuß. Auf dem zweiten mit frischen Blumen geschmückten Altar erkennt man Maria, die mit Tränen in den Augen, ihren Sohn begleitet. Weihrauch durchzieht die Luft, die Menschen klatschen und rufen begeistert den jungen Männern zu, die sich unter den Altären befinden. Aus einem Lautsprecher von einem über dem Platz liegenden Balkon ertönen Klagegesänge. Eine Frau, feierlich gekleidet, drückt den ganzen Schmerz Jesu Christi und Marias aus, der Gesang geht unter die Haut. Die Prozession wird nun stundenlang durch die engen Straßen der Stadt fortgesetzt, erst gegen Morgen werden die jungen Träger erlöst sein, wenn die Altäre mit den Figuren wieder in der kleinen Kirche stehen. Semana Santa in Andalusien, die Heilige Woche. Höhepunkte dieser Zeit sind die Umzüge am Karfreitag und dem darauf folgenden Sonntag.

In der ersten Reihe vor der Kirche stehen auch Manolo und Lisa Levante mit ihren Kindern. Paulo, er ist acht Jahre alt, geht schon aufs Colegio in Chiclana, steht ganz stolz neben seiner Mutter. Rico, er ist vier Jahre und geht in den Kindergarten, sitzt in einer Karre. Und die Kleinste, die zweijährige Mili, darf heute auf den Schultern ihres Vaters sitzen. Alle schauen wie gebannt auf die Prozession und staunen über die brennenden Kerzen und die Kapuzenmänner, die sich durch die Straßen schlängeln. Es hat noch eine Kleinigkeit in einer der zahlreichen Tapa-Bars in der Stadt zu essen gegeben. Kurz nach ein Uhr ist die junge Familie endlich wieder zu Hause. Glücklich, fast berauscht vom Duft des Weihrauchs und vom Klagegesang der Menschen. Die Kinder sind müde aber sie sind brav und haben den ganzen Abend nicht geweint.

Manolo schließt die Tür zum kleinen Einfamilienhaus auf, alle gehen hinein und Lisa bringt die Kinder schnell in ihre Betten.

„Ich schenke uns noch ein Glas Rotwein ein, möchtest du noch eine Kleinigkeit essen?“, fragt Manolo seine Frau, die bereits auf dem Weg in den ersten Stock des Hauses, zu den Kinderzimmern, ist.

„Gerne, ich überlasse es dir. Ich bin gleich wieder unten.“

Den Rest des Satzes kann Manolo nicht mehr hören, denn der kleine Rico hat angefangen zu weinen. Manolo, der im letzten Herbst gerade Vierzig geworden ist, hat dunkle, volle und krause Haare, er sieht, man würde wohl sagen, typisch südländisch aus. Sein schlanker und muskulöser Körper spricht immer noch viele Frauen und Mädchen an, er hat aber nur Augen für seine eigene Frau, mit der er nun seit über zehn Jahren verheiratet ist. Bei einer großen Bank in Cádiz hat er gelernt und übt seit-dem leidenschaftlich seinen Beruf als Bankkaufmann aus. Allerdings hat Manolo zwischenzeitlich zu einer Bank an seinem Wohnort Chiclana gewechselt. Lisa, seine Frau, ist sechsunddreißig Jahre alt. Sie sieht so aus, wie man sich eine typische Spanierin vorstellt: Eine kleine zierliche Figur, lange, fast schwarze Haare mit natürlichen Locken. Die Haare fallen in weichen Wellen über ihre Schultern. Manchmal steckt Lisa die Haare locker zusammen auf dem Hinterkopf fest. Ursprünglich wollte auch sie ihren Lebensunterhalt in einer Bank verdienen. Während der Lehre haben sich Manolo und Lisa kennengelernt, daraus wurde dann die große Liebe. Lisa gab ihren Beruf auf, heute kümmert sie sich rührend um die Kinder und um den Haushalt. Die drei Kleinen der Familie Levante, nebenbei bemerkt, alles Wunschkinder, sind prächtig geraten. Alle Drei haben die dunklen Haare ihrer Eltern geerbt, strahlen über das ganze Gesicht, wann immer man sie sieht. Eine glückliche Familie. Dazu hat auch das kleine Haus am Rande Chiclanas beigetragen. Sie sind stolz und sehr dankbar seit sechs Jahren in ihren eigenen Wänden leben zu dürfen. Ein sehr hübsches Haus umgeben von einem gepflegten Garten, was für Spanier nicht gerade typisch ist. Die Eheleute verdanken es Lisas Eltern, dass das Haus hier entstehen konnte, denn die haben mit einer nicht unerheblichen Summe dazu beigetragen. Lisas Eltern leben schon immer im Herzen Andalusiens, in Sevilla. Lisas Vater, Francesco, er ist mit seinen 57 Jahren ein ganz toller Opa, arbeitet als Notar in einer seiner Kanzlei in Sevilla. Seine Frau, also Lisas Mutter, heißt Luisa. Sie hat nie gearbeitet, außer natürlich zu Hause. Nur ein Jahr älter, aber genauso vor Gesundheit strotzend, wie ihr Mann. Manolo kommt nicht aus so einer wohlhabenden Familie wie seine Frau. Sein Vater, Juan ist 62 Jahre alt und schon seit längerem Frührentner. Seine Mutter, Carmen, erscheint mit ihren 64 Jahren eher älter, als sie wirklich ist. Die Enkelkinder fühlen sich trotzdem wohl bei ihren Großeltern in Cádiz. Zu Beginn der Ehe war manchmal die unterschiedliche Herkunft der Eheleute schon noch zu spüren. Lisa konnte sich immer kaufen, was ihr gefiel. Modisch gekleidet, nicht nur in der Bank bei der Arbeit, fiel sie auf. Mit dem nötigen Geschmack, der ihr in die Wiege gegeben wurde, drehten sich die Männer nach ihr um. Manolo konnte nicht mit-halten. Gerade im Anfang der Ehe, fehlte das Geld, das Lisa aus ihrer Jungmädchenzeit gewohnt war auszugeben. Doch die Liebe hat gesiegt. Heute ist es kein Thema mehr.

„Es war eine schöne Prozession, findest du nicht auch?“, will Lisa von ihrem Mann wissen.

Sie hat die Kinder versorgt, es ist Ruhe eingekehrt, sie waren doch sehr müde. Nun sitzen die Eheleute in dem kleinen Salon und trinken ihren Wein und dazu gibt es einige Kleinigkeiten, wie Aceitunas, Manchego und Jamón.

„Ich denke, wir sollten am Sonntag noch die Abschlussprozession besuchen. Im letzten Jahr hat sie uns auch besonders gut gefallen“, schlägt Manolo seiner Frau vor.

Sie stimmt begeistert zu, man merkt ihr jetzt aber auch die vielen Stunden des Tages an, Müdigkeit macht sich breit in ihrem Gesicht. Sie räumen noch den Tisch leer, die Reste des Essens in den Kühlschrank, dann begeben auch sie sich im Obergeschoß ins elterliche Schlafzimmer.

Kapitel 2

Karfreitag, 9.April

Die Geschäfte sind geschlossen, Feiertag in ganz Spanien. In Andalusien erreichen die Umzüge ihren Höhepunkt. Manolo und Lisa haben einen Ausflug mit ihren Kindern zu den Großeltern nach Cádiz geplant. Kurz nach zwölf Uhr fahren sie mit dem kleinen Wagen los. Gemeinsam mit Manolos Eltern wollen sie am Mittag in einem Lokal essen. Sie haben sich lange nicht mehr gesehen, gab es doch in den letzten Wochen immer etwas zu erledigen. Leider, denn sie würden die Zeit natürlich lieber in der und mit der Familie verbringen. Juan und Carmen, Manolos Eltern, freuen sich schon die Enkelkinder endlich wieder in ihre Arme nehmen zu können. Juans Kreuz hat es ihm nicht möglich gemacht, seinen Job als Tischler bis zur Pensionierung auszuüben und seine Frau Carmen ist darüber nicht froh. Wenn der Mann immer im Haus ist, hört man sie oft sagen, bleiben die eigenen Ansprüche auf der Strecke.

Paulo springt als Erster aus dem geparkten Wagen und rennt zum Haus seiner Großeltern. Über-glücklich schließt Carmen ihr Enkelkind in die Arme.

„Ich habe eine Überraschung für dich, geh mal in den Garten!“, flüstert die Oma leise in Paulos Ohr.

Kaum, dass er es verstanden hat, läuft Paulo auch schon quer durch das Haus in den kleinen Garten, der sich an das Haus anschließt. Zwischen dem Oleander entdeckt der kleine Junge eine große blaue Plastikwanne, einen Kinderpool. Er freut sich riesig, springt gleich hinein, obwohl natürlich um diese Jahreszeit noch kein Wasser zum Baden einlädt.

Der Besuch endet erst, als es schon dunkel ist. Paulo, schon etwas müde, die beiden Kleinen schlafen auf dem Boden des Salons, möchte nun auch nach Hause. Es folgt eine Verabschiedung, die Familie ist sich einig, es soll nicht wieder so lange dauern, bis zum nächsten Besuch. Alle steigen in den Wagen und treten die Rückfahrt nach Chiclana an. Zum Glück wohnen sie außerhalb, denn die Festumzüge, in Cádiz genauso wie in Chiclana, sind im vollen Gange. Tausende von Menschen drängen sich durch die engen Straßen des Zentrums. Schon von weit her kann man die laute Musik hören, zaghafter Gesang einer dunklen Männerstimme dringt aus einer der Gassen.

Manolo und Lisa sind froh, der Wagen steht in der Garage, nur noch die Kinder ins Bett. Als Lisa die Haustür öffnet, stolpert sie über einen Gegenstand, der im Hauseingang liegt. Vorsichtig, da ihn aufgrund der Dunkelheit nichts erkennen kann, öffnet die junge Frau die Haustür einen Spalt und greift hindurch, um Licht zu machen. Dann wendet sie den Blick hinunter auf den Steinboden. Manolo kommt dazu, er sieht gerade noch, wie seine Frau sich bückt.

„Was hast du denn da?“, fragt er Lisa, während er schon fast hinter ihr steht.

Als sie sich umdreht, sehen sich die Eheleute fragend an und schauen auf den Blumenstrauß, den Lisa nun in ihrer Hand hält.

„Ich weiß es auch nicht und kann keine Karte entdecken, die es uns verraten würde“, erklärt sie ihrem Mann. Der erwidert nur:

„Nimm ihn mit rein, stell ihn ins Wasser. Der Blumenüberbringer wird sich schon melden. Wenn nicht, ist es auch egal.“

Lisa schüttelt den Kopf, kann sie doch die Reaktion ihres Mannes nicht so ganz nachvollziehen. Sie denkt dann aber auch, es ist schließlich egal, der Tag war lang und anstrengend. Außerdem wird sich der edle Spender sicherlich morgen bei ihnen melden. Es sind dunkelrote Rosen, zwölf Stück, wunderschön und mit einem unvergleichlichen Duft. Sie dekoriert den Strauß in ihre schönste Vase und stellt ihn danach in den Salon. Manolo würdigt ihn mit keinem Blick und keiner Silbe. Der heutige Abend klingt, wie so oft, vor dem Fernseher aus. Gegen zehn Uhr schauen die beiden im ersten Fernsehprogramm den Wetterbericht mit einem Überblick der nächsten drei Tage. Danach gibt es eine Unterhaltungssendung mit Musik und Tanzdarbietungen. Lisa kann es sich nicht erklären, aber seit ihrer Rückkehr ist die Stimmung im Haus gespannt. Manolo reagiert gereizt, auf jede Frage, die Lisa an ihn richtet. Kurz vor Mitternacht verabschiedet sie sich daher und geht alleine ins Bett. Manolo quittiert ihren Gruß lediglich mit einem Kopfnicken, nachdem Lisa bereits auf der Treppe ist, hört sie ihren Mann noch sagen:

„Ich komme gleich nach.“

Obwohl ihr die Reaktion Manolos auf den gefundenen Blumenstrauß Gedanken macht, schläft sie an diesem Abend sehr schnell ein. Als er eine Stunde später ins Bett folgt, schläft seine Frau schon tief und fest.

Kapitel 3

Sonnabend, 10.04.

Die Geschäfte haben heute, am Tag vor den großen Abschlussprozessionen, geöffnet. Die Menschen sind unterwegs und füllen ihre Vorräte wieder auf. Lange Schlangen bilden sich vor den Kassen der Supermärkte. Selbst im großen Selbstbedienungsladen in San Fernando, in dem Lisa und Manolo einkaufen, stehen die Kunden in langen Reihen an den sechsunddreißig Kassen an. Geduldig warten sie, bis sie endlich an der Reihe sind und ihren Einkauf bezahlen können. Der Einkaufswagen ist voll bis oben hin, zahlreiche Plastiktüten voller Lebensmittel stellt Manolo in seinen Kofferraum. Die Kinder haben die beiden heute ausnahmsweise zu Hause gelassen. Paulo musste versprechen auf seine beiden kleineren Geschwister aufzupassen. Er hat es schon öfter zur vollen Zufriedenheit seiner Eltern getan, aber es soll die Ausnahme bleiben. Heute, bei dem Andrang in den Geschäften, ist ein Tag für so eine Ausnahme gewesen. Unruhig schaut Lisa auf ihre Uhr, über drei Stunden sind sie fort geblieben während das Auto langsam auf das Grundstück der Familie fährt. Es ist alles ruhig, kein Kindergeschrei, kein Menschenauflauf vor dem Haus, aufgrund irgendeines Unglücks! Erleichtert steigt Lisa aus und geht zur Haustür. Die Kinder hatten den Auftrag bekommen, egal wer auch klingelt, die Haustür auf keinen Fall zu öffnen. Zuerst fällt Lisas Blick auf den Eingang und die Haustür. Wieder findet sie einen Strauß roter Rosen im Eingang. Wieder keine Nachricht, keine Karte und kein Hinweis auf den unbekannten Überbringer. Bepackt mit zahlreichen Einkaufstüten folgt nur einen kurzen Moment später Manolo.

„Was, schon wieder ein Strauß? Du hast wohl einen heimlichen Verehrer?“, hört Lisa ihren Mann rufen!

Sie dreht sich um, schaut ihn an und antwortet:

„Ich dachte schon, die Blumen sind von dir? Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Schade. Es wäre eine tolle Idee gewesen.“

Wieder kommt keine Antwort ihres Mannes, wieder nur ein Achselzucken. Dieser Strauß wird im Esszimmer seinen Platz finden, der Duft durchzieht die untere Etage des Hauses, wie in einem Blumengeschäft. Während Lisa den Einkauf in ihrer Küche verstaut und danach das Essen für den Abend vorbereitet, denkt sie an die Blumengrüße. Sie hat keine Idee und kann sich gar nicht vorstellen, vorher die Blumen kommen. Sie hat keinen heimlichen und auch keinen unheimlichen Verehrer. Der kleine Rico kommt in die Küche gelaufen und überreicht seiner Mutter einen selbst gepflückten Strauß mit Blumen aus dem Garten. Er möchte es dem Unbekannten gleich tun. Lisa ist ganz gerührt. Manolo hingegen nicht sonderlich erfreut, die Blumen sollen im Garten blühen und nicht in der Vase im Haus. Aber, so sind Kinder eben.

Der Tag vergeht ohne neue Überraschungen, es meldet sich auch keine Person, die sich als Überbringer der Blumen zu erkennen gibt. Beim Abendessen bespricht die Familie den folgenden Sonntag. Der Besuch der Prozession ist dabei das Hauptthema. Lisa sucht aus ihrem Schrank sogar noch die Bilder des letzten Jahres heraus, um sich auf den folgenden Tag einzustimmen.

Kapitel 4

Sonntag, 11. April

Kurz nach dem morgendlichen Kaffee geht es zu Fuß in die Stadt. Die Kinder sind fein angezogen, Lisa trägt ein Sonntagskleid und auch Manolo, der sonst in seiner Freizeit eher Jeans trägt, hat einen guten Anzug aus dem Schrank geholt. Aus allen Teilen der Stadt strömen die Menschen in Richtung des Zentrums. Als sie sich dem „Plaza Santo Cristo“ nähern, sehen sie schon eine riesige Menschen-Traube vor der Kirche stehen. Der Parkplatz ist heute, wie auch die angrenzenden Straßen, für den Autoverkehr gesperrt. Einige Ältere haben Klappstühle mitgebracht, sie sitzen schon länger und haben sich so den besten Platz in der ersten Reihe gesichert. Um ein Uhr werden die Kirchentüren geöffnet und die beiden Altäre werden zum letzten Mal in diesem Jahr die Kirche verlassen. Begleitet von zahlreichen Mitgliedern der einzelnen Bruderschaften, gekennzeichnet durch große Fahnen und Orden, die ein jeder an einer dicken Kette am Hals trägt, wird der Altar mit dem auferstandenen Jesus getragen werden. Der Weg geht quer durch die Stadt und vor jeder Kirche stoppt der Zug. Alle Kirchentore sind weit geöffnet. Begleitet von fröhlicher Musik spendet Jesus, der auf dem mit frischen Blumen geschmückten Altar steht, seinen Segen. Dazu läuten die Kirchenglocken. Vergessen darf man dabei nicht, dass der tonnenschwere Altar von jungen Männern getragen wird, die Schwerstarbeit leisten. Nach einer kurzen Pause, der Altar wurde auf der Straße gesetzt, applaudieren die Menschen. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung, weiter durch die engen Straßen der Stadt, bis zur nächsten Kirche, wo sich die Prozedur wiederholt. Zahlreiche Menschen begleiten den Weg durch die Stadt und geraten in ihren Bann, wie bei jeder Prozession im Süden des Landes. Obwohl die Spanier die Semana Santa, die „heilige Woche“ immer mehr als Kurzurlaub nutzen, ist sie dennoch das größte und wichtigste katholische Fest in Spanien.

Die Familie Levante folgt dem Zug eine ganze Weile durch die Stadt, bevor sie dann alle glücklich in einer kleinen Tapa-Bar einkehren, die in einer Seitenstraße liegt. Sie trinken einen Sherry, einen Manzanilla, er gehört zur Familie des Fino, gereift auf den kalkigen Böden rund um Jerez. Die Kinder, Paulo und Rico, spielen vor der Bar auf der Straße, Mili schläft schon in der Karre. Anstrengend für die Kleinen, so ein Tag, zu viele Leute, zu viele Eindrücke und nun sind sie müde geworden. Endlich brechen die Levantes nach Hause auf. Manolo schiebt die Karre und Rico hat sich auf deren hintere Stange gestellt. Die letzten Meter vor dem Haus läuft Paulo schon vor, er kann es nicht erwarten, endlich wieder in sein Zimmer zu gelangen. Lisa sieht ihn auf dem Grundstück verschwinden, um nur einen kurzen Augenblick später mit einem Blumenstrauß in der Hand wieder an der Pforte zu erscheinen!

„Langsam wird mir die Geschichte aber suspekt!“, ist Lisas erste Reaktion auf den erneuten Strauß dunkelroter Rosen.

Manolos Blick ist schon wieder etwas bissig als er antwortet:

„Du musst doch wissen, wer dir immer diese Blumen schickt?“

„Nun glaub mir doch, Manolo, ich weiß es wirklich nicht. Ich habe keinen Verehrer, keinen Liebhaber. Glaube mir bitte, ich habe wirklich keine Ahnung. Es ist auch sonderbar, immer wenn wir nicht im Hause sind liegt ein neuer Strauß vor der Tür. Wir sind die meiste Zeit zu Hause, aber nein, nur wenn wir fort sind! Ist es dir auch schon aufgefallen?“

„Klar, der Kerl will nicht, dass ich ihn sehe!“

Manolo öffnet die Haustür, vor der die Familie inzwischen steht und alle gehen hinein. Das Thema Blumen ist damit beendet. Lisa platziert den Strauß diesmal in der Küche. Sie lächelt während sie die Vase mit Wasser füllt und freut sich über die wunderschönen Rosen. Aber auch in ihr steigt der Funke von Unsicherheit und Unwohlsein auf. Der Tag geht mit seinen freien Stunden dem Ende zu, die Semana Santa hat ihren Höhepunkt gehabt, die Normalität kehrt wieder ein. Das alltägliche Leben mit Arbeit und Schule, mit Kindergarten und Haushalt wird die Gedanken an den unbekannten Blumenspender vertreiben.

Kapitel 5

Montag, 12. April

Kurz vor halb sieben klingelt der Wecker, wie an jedem normalen Arbeitstag, bei der Familie Levante. Manolo geht unter die Dusche, Lisa kocht Kaffee und bereitet einige Kleinigkeiten für die Kinder vor. Paulo muss in die Schule und bekommt heute Obst mit. Der kleine Rico - Lisa wird ihn wie jeden Morgen in den Kindergarten „Niño“ bringen - wird dort verpflegt. Kurz vor acht Uhr verlässt Manolo das Haus und fährt mit seinem Wagen in die Stadt zur Arbeit. Gegen halb neun verlässt auch Lisa mit Mili, sie liegt in der Karre, und Rico das Haus, um ihn zum Kindergarten zu bringen. Mittags, gegen zwei Uhr, darf sie ihn wieder abholen. Manolo und Lisa sind der Meinung, es ist für ein Kind besser, außerhalb des Elternhauses Kontakte mit anderen Kindern zu finden. Rico liebt den Kindergarten, er hat viele gleichaltrige Freunde und die Kindergärtnerin Julia mag er besonders gern. So hat es auch noch nie Tränen der Trennung gegeben, im Gegenteil, Rico kann es morgens kaum abwarten und drängelt schon kurz nach dem Wachwerden, damit es endlich los geht in seinen Kindergarten. Lisa kann es gut verstehen, die Kindergärtnerin hat ein besonderes Händchen für ihre Schützlinge. Julia Baja ist einundzwanzig Jahre alt und verheiratet, hat jedoch noch keine eigenen Kinder. Sie wohnt mit ihrem Mann Jaime, er ist dreiundzwanzig und Lehrer, in einer eigenen Wohnung in Chiclana. Voller Hingabe und unendlicher Geduld kümmert sich Julia um die ihr anvertrauten Kinder. Sie spielen, je nach Witterung im Garten oder im Haus, es wird gesungen und gemalt, gebastelt und besonders lieben es die Kleinen, wenn Julia aus ihrem reichen Schatz an Büchern vorliest.

Lisa, die Rico noch nachschaut, bis er den Kindergarten betreten hat und von Julia in Empfang genommen wird, macht sich wieder auf den Heimweg. Der Kindergarten liegt nur wenige Minuten entfernt von ihrem Haus. Kurz nach neun Uhr ist sie schon wieder in der Küche und räumt das am Morgen benutzte Geschirr in die Spülmaschine. Mili ist im Esszimmer und spielt mit einem Auto aus Holz.

Manolo hat während seiner Mittagspause gegen vierzehn Uhr eine Idee, die er gerne mit seiner Frau besprechen möchte. Er greift zum Telefon um sie anzurufen. Mehrmals klingelt es, jedoch Lisa nimmt nicht ab. Um drei Uhr, kurz bevor Manolo einen Kundentermin hat, versucht er es erneut, aber wieder ohne eine Verbindung zu bekommen. Klar, Lisa wird mit den Kindern spazieren sein. Er holt sein Handy und versucht nun seine Frau auf ihrem zu erreichen, aber das ist ausgeschaltet. Eigentlich ein Zeichen dafür, dass Lisa zu Hause ist. Erst wenn sie das Haus verlässt, so haben es die beiden abgesprochen, schaltet sie das Telefon ein. Manolo kommt eine böse Vorahnung, die vermutlich mit den Blumensträußen der letzten Tage in Zusammenhang steht. Erneut wählt er den Festanschluss. Es klingelt und klingelt, aber Lisa nimmt nicht ab. Sie kann sich darauf verlassen, dass er heute Abend von ihr eine Erklärung verlangen wird. In Gedanken malt er sich schon ein Bild: Seine Frau eng umschlungen mit einem anderen Mann! Die Bank öffnet wieder und mit den eintreffenden Kunden vergehen auch die trüben Gedanken. Manolo ist beschäftigt und vergisst erneut bei seiner Frau anzurufen, ging es doch nur um einen besonderen Essenswunsch für den Abend. Als endlich Feierabend ist hat Manolo längst vergessen, was in seiner Vorstellungskraft schon wie ein Ehebruch aussah. Er verlässt die Bank, besteigt sein Auto und fährt nach Hause. Kurz vor sieben Uhr parkt er den Wagen in der Garage und hupt, wie jeden Abend, als Zeichen zu Hause zu sein. Meist kommt ihm dann schon Paulo entgegen, aber nicht heute! Während Manolo das Auto verschließt erinnert er sich daran, dass die Schulklasse heute einen Ausflug in den Zoo nach Jerez unternehmen wollte. Anschließend sollte es ein Überraschungspicknick für die Kinder geben. Darum, der Ausflug ist noch nicht zu Ende, Paulo noch nicht wieder zu Hause. Manolo geht um die Ecke zur Haustür, sie ist verschlossen. Kurz drückt er auf die Klingel. Als aber nach einem Moment niemand öffnet greift er selbst zum Haustürschlüssel. Die Haustür ist nur zugezogen worden, nicht verschlossen.

„Hallo, Lisa! Ich bin wieder da!“, ruft er laut, als er die Tür hinter sich geschlossen hat.

Keine Antwort. Dann etwas lauter:

„Hallo, wo steckst du denn? Lisa!“

Es klingt als würde Manolo laut singen, so zieht er Lisas Name in die Länge. Aber es bleibt still. Auch Rico ist nicht da. Ein eher ungewohntes Gefühl macht sich im Magen breit, das Herz beginnt schneller zu schlagen. Vor seinem inneren Auge sieht Manolo die Blumensträuße, die ihn dann veranlassen in die Zimmer zu schauen. Ja, die Sträuße stehen noch alle an ihrem Platz. Weitere scheinen nicht dazu gekommen zu sein. Erneut ruft Manolo nach seiner Frau und nun auch nach Rico. Es bleibt still. Er schaut sich um, an der Garderobe hängt Lisas Jacke, ihre Handtasche steht am Boden. Wie immer. Während er Richtung Treppe geht, denkt er noch, vielleicht sind sie bei der Nachbarin und geht nach oben. Alles sieht aus wie immer. Die Türen sind alle geschlossen.

„Hallo, Lisa, ich bin es. Hallo.“

Er ruft immer wieder, obwohl er keine Antwort bekommt. Er öffnet die Tür zum Badezimmer und schaut in ein leeres und sauberes Bad. Danach das Kinderzimmer, das Paulo gehört, nichts. Ricos Zimmer, es liegt direkt daneben, ebenfalls leer und aufgeräumt. Nun öffnet er die Tür zum dritten Kinderzimmer, es gehört der kleinen Mili. Manolo schaut in die Augen der Kleinen. Sie sitzt aufrecht in ihrem Bett. Es ist ein Kinderbett, aus dem die Kleine nicht alleine klettern kann, noch nicht. Sie schaut teilnahmslos zu ihrem Vater. Manolo geht an das Bettchen und sieht den nassen Fleck auf der Matratze. Die Kleine hat keine Windel um und hat ihr Geschäft in das Bett gemacht. Seltsam, denkt Manolo, das ist eigentlich nicht Lisas Art. Sie kümmert sich immer ganz besonders um die kleine Mili. Sie ist der Sonnenschein der Familie. Manolo ist böse über das hier Vorgefundene. Jetzt rücken auch die Gedanken des Mittags wieder in sein Gedächtnis zurück. Hoffentlich, findet er seine Frau nicht mit einem anderen Mann im Haus vor. Es bleibt eigentlich nur noch eine Möglichkeit, nur noch ein Ort, an dem sich seine Frau aufhalten kann. Er dreht sich um, geht aus dem Kinderzimmer und öffnet forsch die Tür zum gemeinsamen Schlafzimmer. Sein Blick fällt, es geht gar nicht anders, auf das Ehebett. Es steht mitten im Raum, an der rechten Wand der große Einbauschrank, wie üblich in Spanien. Links an der Wand stehen eine Kommode und davor ein Stuhl, auf dem einige schmutzige Wäsche liegt. Aber, Manolos Blick ist wie fest verankert auf das Bett gerichtet. In der Mitte liegt seine Frau! Sie ist bekleidet, wie am Morgen, als er das Haus verließ. Sie liegt auf dem Bauch. Die Arme sind nach oben gestreckt, zusammengebunden und am Bett befestigt. Manolo ist erstarrt. Es dauert eine ganze Weile bis er begriffen hat, das hier ist ein Unglück geschehen ist. Langsam geht er an das Bett und legt seine Hand auf Lisas Kopf. Zaghaft ruft er ihren Namen. Aber es kommt keine Antwort. Er bückt sich, um besser in Lisas Gesicht sehen zu können. Es ist fahl, ganz weiß und die Augen sind weit geöffnet. Sie starren ins Leere. Das Gesicht ist, soweit Manolo es erkennen kann, verzerrt. Er legt seine Finger an ihre Halsschlagader, nur einen Moment. Seine Finger suchen einen neuen Platz an Lisas Hals, aber auch hier ertastet er keinen Pulsschlag! Manolo bemerkt, dass Lisas Körper nicht so warm ist wie sonst! Lisa ist tot! Fassungslos bleibt Manolo am Bett seiner toten Frau stehen. Unfähig eine Entscheidung zu treffen, vergehen Minuten. Sein Blick ist starr auf Lisas Gesicht gerichtet. Erst nachdem Mili im Kinderzimmer anfängt zu weinen, erwacht Manolo aus der Trance. Er verlässt sehr schnell das Schlafzimmer und rennt die Treppe nach unten, immer zwei, manchmal drei Stufen gleichzeitig nehmend, bis er vor der Garderobe steht. Er greift zum Telefon und wählt 112.

Es ist 20:16 Uhr als der Notruf in der Polizeizentrale Chiclanas eingeht. Die Polizisten der Policia Local fahren mit Einsatz der Sirenen zum Haus der Levantes. Die beiden diensthabenden Kollegen gehen zur Haustür, in der schon Manolo steht.

„Sie haben uns angerufen?“, fragt Luis, der ältere der beiden Polizisten.

Manolo kann nicht antworten. Er zeigt mit der rechten Hand und deutet ihnen an, sie sollen nach oben gehen. Zuerst betritt Luis die Treppe, dann folgt Manolo, auf Aufforderung des zweiten Polizisten Felipe, der als Letzter die Treppe hinaufsteigt. Die Tür im Obergeschoss zum Schlafzimmer steht weit offen. Luis betritt den Raum und erkennt sofort, dass hier ein Gewaltverbrechen stattgefunden hat. Er streift sich sterile Handschuhe über seine Hände. Während er mit links den Puls der Frau auf dem Bett kontrolliert, greift er mit der rechten Hand in seine Jackentasche um sein Telefon herauszuholen. Luis informiert die Kollegen der Policia National, die für solche Verbrechen zuständig sind. Der Notruf geht bei Juana um 20:55 Uhr ein.

Juana Gadi, die Chefin der Policia National in Chiclana, hat bereits Feierabend. Sie nimmt den Anruf zu Hause entgegen und begibt sich sofort auf den Weg zum Tatort. Bevor sie ihr Auto erreicht informiert sie auch noch ihren Kollegen Pedro Clares, mit dem sie seit einigen Jahren erfolgreich zusammen arbeitet. Pedro lag auf dem Sofa vor dem Fernseher und war ein wenig eingeschlafen, als sein Telefon klingelt.

Es ist 21:35 Uhr als Juana am Haus der Levantes eintrifft, Pedro war schon kurz vor ihr dort und hat auf seine Chefin gewartet. Gemeinsam gehen sie in das Haus. Luis, der vor der Tür steht, um eventuelle Neugierige oder Fremde abzuhalten in das Haus zu gehen, hat den beiden Kommissaren einen kurzen Überblick vermittelt. Juana und Pedro gehen in das Obergeschoß. Vor der Schlafzimmertür steht der zweite Beamte, Felipe, und begrüßt die beiden.

„Habt Ihr schon die Spurensicherung angefordert?“, will Juana zuerst wissen, noch bevor sie das Zimmer betritt.

Der Kollege der Policia Local bestätigt und schaut dabei auf seine Uhr.

„Sie müssen gleich hier sein, ist schon eine halbe Stunde her.“

Es passiert nicht oft, dass die Policia National vor der Spurensicherung am Tatort erscheint. Daher sind sie nun besonders vorsichtig, betreten nur kurz den Raum um einen Blick auf die Tote zu werfen. Es wird nichts berührt und nichts verändert.

„Die Frau wurde erwürgt, Pedro. Der Täter hat ihr einen Damenstrumpf um den Hals gelegt. Findest du, dass es hier nach einem Kampf aussieht?“

Pedro schaut sich im Zimmer um, er speichert alle Eindrücke und antwortet dann:

„Nein, eigentlich nicht. Vermutlich ist es nicht der Tatort, sondern der Täter hat die Leiche lediglich hier abgelegt. Das Bett ist sehr unordentlich, aber es kann auch noch von der vergangen Nacht so sein. Man hört Schritte und Stimmen auf der Treppe, die Kollegen der Kriminaltechnik und der dazu gehörende Arzt betreten das Schlafzimmer. Sie kennen sich alle untereinander, daher fällt die Begrüßung locker und kurz aus. Bevor die Leiche bewegt wird, werden Fotos gemacht. Aus allen Richtungen, mit und ohne Blitzlicht. Da die Frau an den Handgelenken am Bett gefesselt wurde, untersucht der Ermittler nun zuerst die Fesseln.

„Es ist eine Damenstrumpfhose. Genau wie am Hals, sie wurde damit, so mein erster Eindruck, erwürgt. Spuren am Hals und auch gerissene Äderchen in den Augäpfeln, weisen eindeutig darauf hin. Ich löse jetzt die Fesseln, dann können wir die Tote umdrehen", erklärt der untersuchende Arzt.

Die Fesseln legt er in eine sterile Tüte, die er den Kollegen reicht. Sie geht zur Untersuchung in das kriminaltechnische Labor. Vorsichtig dreht er die Frau um. Nun können die Anwesenden in das verzerrte Gesicht schauen.

„Schaut euch den Blick an! Voller Angst, voller Panik. Ob sie wohl ihren Mörder gekannt hat? Weitere äußere Verletzungen kann ich nicht erkennen. Sie ist total bekleidet, aber barfuß. Unter der Jeans hat sie vielleicht nie Strümpfe getragen.“

Juana geht einen Schritt näher an das Bett heran, dann fragt:

„Seit wann ist sie tot? Was meinst du?“

„Einige Stunden, vielleicht am späten Vormittag, sagen wir zwölf Uhr, mit den üblichen Abweichungen.“

„Danke. Wir sind unten beim Ehemann, falls du noch etwas findest.“

Dann verlassen Juana und Pedro das Schlafzimmer und gehen über die Treppe nach unten. Manolo sitzt im Esszimmer, sein Blick ist starr auf die Rosen gerichtet.

„Guten Tag, mein Name ist Juana Gadi, mein Kollege, Pedro Clares. Wir sind von der Policia National. Sie sind Manolo Levante?“

Manolo schaut hoch, sein Blick ist leer und ausdruckslos. Er steht unter Schock und antwortet nicht. Er nickt nur den Polizisten zu. Juana spricht weiter:

„Wir möchten Ihnen unser Beileid ausdrücken. Wir bedauern sehr, was mit Ihrer Frau passiert ist. Können Sie uns dennoch einige Fragen beantworten? Geht das, Señor Levante?“

Wieder nickt Manolo nur, aber er blickt jetzt schon direkt zu Juana und hat Augenkontakt zu ihr.

Die Kommissarin beginnt mit ihren Fragen:

„Was ist passiert? Was können Sie uns erzählen, damit wir den oder die Täter schnell ergreifen können?“

Manolo schaut wieder auf den Strauß Rosen, er schluckt und schaut sich im Zimmer um. Er scheint etwas zu suchen. Dann beginnt er langsam zu sprechen.

„Ich weiß es nicht. Es war wie immer. Ich kann es mir nicht erklären.“

Manolo steht auf und geht einige Schritte durch den Raum. Den Kopf leicht gebeugt, die Arme seitlich am Körper, man würde wohl sagen, zusammengesunken, ermüdet und ohne eigenen Antrieb.

„Señor Levante, erzählen Sie mir bitte, wie war es, als Sie nach Hause kamen?“, fragt Juana den gebrochenen Mann.

„Ich bin von der Arbeit gekommen, wie immer. Als ich mit dem Auto aufs Grundstück fuhr, kam keiner zu mir. Ich habe mich gewundert.“

„Wie, es kam keiner zu Ihnen? Was soll das heißen?“ Manolo versucht es Juana zu erklären.

„Immer wenn ich nach Hause komme, kurz bevor ich in die Garage fahre, hupe ich. Dann weiß Lisa, dass ich da bin. Meist kommt mein Sohn Paulo mir dann schon entgegen gelaufen.“

Plötzlich stoppt Manolo in seiner Erzählung. Sein Blick ist erschrocken und ängstlich.

„Señor Levante, was ist denn?", will Juana sofort wissen.

Manolo erwidert:

„Meine Kinder? Wo sind denn meine Kinder?“

Manolo will aus dem Zimmer laufen, Juana kann ihn mit Hilfe ihres Kollegen Pedro jedoch gerade noch davon abhalten.

„Warten Sie, Señor Levante, es geht Ihren Kindern gut. Ihr Sohn ist zwischenzeitlich von seinem Ausflug nach Hause gekommen. Er hat uns erzählt, er war im Zoo. Meine Kollegin kümmert sich um ihn und auch um seine Schwester, die Kleine lag ja noch in ihrem Bettchen. Es geht Ihnen gut, machen Sie sich bitte keine Sorgen.“

Manolo schaut zu Juana, fragend, er sucht nach Worten, dann fragt er, fast hysterisch:

„Und wo ist Rico? Ist Rico auch bei Ihnen?“

Juana schaut irritiert, sie fragt ganz vorsichtig:

„Wer ist Rico?“

„Rico ist mein anderer Sohn. Er ist doch erst vier Jahre alt. Er geht in den Kindergarten. Meine Frau bringt ihn morgens hin und holt ihn am Mittag wieder ab. Wo ist Rico?“

„Señor Levante, in welchen Kindergarten geht Ihr Sohn? Haben Sie eine Telefonnummer oder eine Adresse?“

Manolo verlässt den Raum und geht an die Garderobe. Aus der Schublade des kleinen Tisches holt er ein Adressenregister. Während er zurück zu Juana kommt, blättert er aufgeregt in dem Heft.

„Hier ist die Adresse, es ist nicht weit von hier. Aber um diese Zeit ist der Kindergarten doch längst geschlossen. Rico kann nicht mehr im Kindergarten sein. Sie müssen ihn suchen, bitte, er ist doch noch so klein.“

„Bleiben Sie ganz ruhig, Señor Levante, wir suchen Ihren Sohn.“

Juana, sie hat jetzt ihr Handy in der Hand, wählt die Nummer des Kindergartens. Nach einem Moment unterbricht sie die Verbindung mit den Worten:

„Es nimmt keiner ab. Kennen Sie die zuständige Kindergärtnerin? Oder die Leiterin des Hortes?“

Manolo überlegt, er hat sich ins Esszimmer gesetzt.

„Ich glaube, sie heißt Julia. Aber ihren Nachnamen kenne ich nicht. Meine Frau kümmert sich um alle diese Dinge.“

Juana ergreift das Adressenverzeichnis und blättert darin, dann fragt dann Manolo:

„Kann es sein, dass sie Julia Baja heißt? Es steht hier nur eine Julia im Heft, gleich unter der Nummer des Kindergartens? Señor Levante, bitte konzentrieren Sie sich!“

Manolo nickt, Tränen laufen ihm über die Wangen und tropfen auf das Hemd. Er trägt noch immer seinen Anzug, die Krawatte und das Hemd, mit denen er von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Juana wählt die zweite Nummer und scheint am anderen Ende einen Teilnehmer erreicht zu haben.

„Guten Tag, spreche ich mit Julia Baja?“

Es entsteht eine kurze Pause, in der Juana Antwort auf ihre Frage erhält.

„Mein Name ist Juana Gadi, ich bin von der Policia National. Bitte können Sie mir sagen, wann Rico, der Sohn der Levantes heute den Kindergarten verlassen hat?“

Wieder entsteht ein Schweigen, man könnte ein Sandkorn auf den Boden fallen hören. Manolo klebt mit seinen Augen an Juanas Lippen.

„Danke, vielen Dank. Einen schönen Abend noch.“

„Julia hat eben erzählt, Rico wurde, wie immer von seiner Mutter abgeholt. Etwas früher als sonst. Julia meinte, es war kurz nach zwölf Uhr. Ihre Frau hat den Kleinen mitgenommen. Mehr weiß Julia nicht.“

Manolo, er schaut immer noch auf Juanas Lippen, steht langsam auf. Er geht langsam aus dem Zimmer, steht auf dem Flur.

„Wo ist Rico? Wir müssen ihn suchen!“

Juana sagt leise etwas zu Pedro, der darauf ebenfalls das Esszimmer verlässt und nach draußen geht. Gemeinsam kommen sie zurück. Es ist zwischenzeitlich ein weiterer Einsatzwagen der Policia Local eingetroffen, sie sind nun zu viert. Pedro und ein Ziviler gehen nach oben in den ersten Stock. Die anderen zwei Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen gehen durch die Räume im Erdgeschoß.

Juana fragt darauf Manolo:

„Gibt es hier einen Keller? Oder haben Sie einen Schuppen?“

Manolo schüttelt den Kopf und antwortet:

„Nein, es gibt hier keinen Keller. Einen Schuppen, nein nur die Garage, es gibt dort einen kleinen Extraraum, wo die Fahrräder der Kinder stehen.“

Der Kollege Luis, er steht noch vorm Haus, bekommt nun von Juana den Auftrag, die Garage zu durchsuchen. Der kleine Rico muss hier irgendwo sein. Zwei Beamte stehen wieder im Zimmer, kopfschüttelnd. Ihre Suche im Erdgeschoß blieb ergebnislos. Von Pedro ist noch keine Meldung aus dem Obergeschoss gekommen. Luis jedoch ist auch ohne den kleinen Rico wieder in das Haus zurückgekehrt. Das Telefon klingelt, Manolo schaut sich ängstlich um. Juana zeigt ihm, er solle sitzen bleiben. Sie selbst nimmt den Anruf entgegen. Es dauert nicht lange, dann kommt sie zurück. Sie legt ihre Hand auf Manolos Schultern und sagt:

„Es war die Kindergärtnerin, sie wollte wissen, ob wir Rico schon gefunden haben.“

Juana gibt ihrem Kollegen ein Zeichen, dann verlässt auch sie den Raum, um nach oben zu ihrem Kollegen Pedro zu gehen. Sie kann Stimmen hören, denen sie folgt.

„Na, habt Ihr etwas gefunden?“, fragt sie Pedro. Er schüttelt den Kopf.

„Wie haben in allen Zimmer gesucht, unter den Betten, hinter den Gardinen, in den Betten. Nichts.“

Juana geht zum Schlafzimmer, in dem noch immer die Leiche der ermordeten Lisa auf dem Ehebett liegt. Sie steht in der Tür und schaut sich um. Die Truhe an der linken Wand, besteht nur aus Schubladen. Aber der Schrank! Langsam nähert sie sich dem Einbauschrank an der rechten Wand. Vorsichtig öffnet sie die ersten beiden Türen, an der linken Seite. Blusen und Herrenhemden. Sie greift in den Schrank und rafft die Kleidungsstücke zusammen um einen Blick in den Schrank zu werfen. Leer! Rechts befinden sich zwei weitere Türen, Juana öffnet auch diese Seite. Hier hängen Hosen und Kleider, der Schrank ist nicht unterteilt, innen also höher als der Teil, auf der linken Seite. Wieder schiebt sie die Bügel zusammen und kann nun in den Innenraum schauen. Sie bückt sich, Pedro steht am Bett, er wundert sich über Juana.

„Na, du bist doch bestimmt Rico! Komm, ich helfe dir. Komm raus aus dem Schrank. Es ist alles gut. Dein Vater sucht dich schon!“

Der kleine Rico aber bleibt zusammengekauert am Boden des Schrankes sitzen. Pedro ist näher gekommen. Leise gibt Juana einige Befehle an ihn weiter.

„Nehmt ein Laken und deckt die Leiche ab, ich will den Kleinen aus dem Schrank holen.“

Es geht ganz schnell, aus der Truhe wird Bettwäsche entnommen und damit decken die Kollegen der Kriminaltechnik den Leichnam ab. Jetzt kann Juana den kleinen Jungen aus dem Schrank holen, ohne dass er seine tote Mutter erneut sehen muss, denn darüber ist sich Juana klar, er wird vielleicht sogar den Mord mit seinen unschuldigen Augen gesehen haben.

„So, Rico, ich trage dich jetzt zu deinem Papa. Mein Kleiner, komm.“

Juana hebt Rico aus dem Schrank und trägt ihn, das Gesicht abgewendet vom Ehebett, aus dem Schlafzimmer. Langsam geht sie die Treppe hinunter und in das Esszimmer.

„So Rico, schau hier ist dein Papa.“

Manolo ist erleichtert, er weint, umschließt seinen Sohn mit beiden Armen und drückt ihn ganz fest an sich.

„Señor Levante, er saß im Schrank, im Schlafzimmer. Vermutlich ist er Zeuge des Verbrechens geworden. Ich werde einen Arzt veranlassen, sich Rico anzusehen. Bitte kommen Sie mit, wir gehen in den Salon. Rico kann sich auf das Sofa legen, Sie können sich dazu setzen. Bitte, es ist für Sie beide besser.“

Manolo erhebt sich und geht, wie ihm geraten, mit dem Kind auf den Armen in den Salon. Juana folgt den beiden. Bewundernd schaut sie auf den Strauß dunkelroter Rosen, die im Zimmer stehen. Ihre Gedanken gleiten zu ihrem Freund, zu Ramon Rodrigues, den sie vor einigen Wochen kennengelernt hat und der nun im Norden des Landes mit einer geheimen Aufgabe betraut wurde. Auch Ramon hat ihr schon solche Rosen geschenkt, daran erinnert sie sich bei dem Anblick. Schnell jedoch ist sie wieder bei dem Fall, bei dem Mord an Lisa, der sie in den kommenden Wochen beschäftigen wird.

Die Kollegen der Spurensicherung haben ihre Arbeit beendet. Auf dem Weg nach draußen winken sie Juana zu, die sich sofort bei Manolo entschuldigt.

„Habt Ihr noch etwas gefunden?“, fragt sie den Leiter der Kriminaltechnik, der heute die Untersuchungen selber vorgenommen hat.

„Nun, jede Menge Spuren. Am Bett, im Bett, unter dem Bett, an der Strumpfhose. Aber wie immer, wir müssen sie erst auswerten. Außerdem benötigen wir Fingerabdrücke des Ehemannes zum Abgleich. Aber natürlich nicht mehr heute. Ich melde mich bei dir. So schnell wie möglich, wie immer! Gute Nacht, Juana.“

Die Kollegen der Spurensicherung verlassen das Haus. Zurück bleiben Pedro, die Truppe des ersten Einsatzwagens der Policia Local und Juana.

„Señor Levante, wir sind für heute hier fertig. Was können wir nun für Sie tun? Möchten Sie zu Freunden? Oder haben Sie Verwandte hier in der Nähe?“

„Freunde? Meine Eltern wohnen in Cádiz. Aber mein Bruder Albert wohnt in Conil.“

„Soll ich ihn anrufen? Soll er zu Ihnen kommen? Geben Sie mir bitte seine Nummer. Ich erledige es gerne für Sie.“

Juana hat sich das Telefonregister aus dem Esszimmer geholt und beginnt darin zu blättern.

Sie schaut hoch, fragt dann Manolo:

„Er heißt Albert, richtig? Albert Levante?“