Roman von der abenteuerlichen Reise eines Vaganten, den Liebe, Wein und Lebenskunst in ihren Netzen gefangen halten.

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Die sieben Glückseligkeiten

Roland Betsch

Neufassung und Digitalisierung von Peter M. Frey nach dem Original von 1936

Roland Betsch wurde 1888 in Pirmasens geboren und starb 1945 in Ettlingen. Er war Ingenieur und Schriftsteller.

Copyright © 2017 Peter M. Frey

Herstellung und Verlag

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783744824217

Dies also ist mein Bordbuch, mein Logbuch, wie der Seefahrer sich ausdrückt. Auch ich bin ein Fahrender, ein Segler mit allen Winden und Wettern. Niemand soll mich verlachen, weil ich mit meinem neuen Motorrad am Straßenrand sitze und kein Benzin mehr habe.

Der Tank ist leer, bei des Teufels Pferdefuß, wie ist das zugegangen? Wieder einmal bin ich das Opfer einer fremden Macht geworden.

Ein großes Glück, dass ich Zeit habe. Ich kann es mir leisten, hier am wunderlich blühenden Straßenrand zu sitzen und über die sausenden Wiesen hinweg nach dem Neckarfluss zu schauen, der sich seinem plätschernden Schlendrian hingibt. Viel Glück auf deiner Reise, wenn es zu sagen erlaubt ist.

Wohin ich will, weiß der Himmel. An den Rhein und durch den Schwarzwald; und an den Bodensee. Vielleicht durch die Schweiz nach Italien und Sizilien, nach Afrika hinüber und durch Wüste und Busch. Das steht in den Sternen, wohin Hans Hiedewohl will, der Buchhändlersohn und Fahrer mit allen Winden und Wettern.

Dies ist mein Logbuch, mein Buch der Abenteuer, mein Buch der sieben Glückseligkeiten.

Da kommt ein Mann, ein Radfahrer, Mensch auf gewöhnlichem Strampelpeter ohne Benzinbetrieb.

»Lieber Freund«, rufe ich und blase ihm Zigarettendampf entgegen. Er steigt vom Fahrrad. Ein Mann aus dem Volke, das sehe ich; nicht gerade begütert, sein Filzhut ist speckig; die Hosen, vom vielen Radfahren, haben an den Knien kugelartige Auswüchse.

Ich gebe ihm eine Zigarette und sage: »Das Dorf auf dem Berge dort, ist es nicht Erbach?«

Ho, wie er jetzt lacht! Ganz breit und fröhlich, donnernd geradezu lacht er.

»Mensch, Erbach!«, antwortet er, »das ist Dilsberg«.

»So, das ist also Dilsberg?«

Ich weiß natürlich, dass es Dilsberg ist, nur, ich will den Mann freundlich stimmen, ich will ihn mir näherbringen, ihn zutraulich machen. Er soll mir nämlich Benzin holen.

»Mir ist das Benzin ausgegangen, es ist rein des Teufels!«

»Daran sind Sie selbst schuld.«

»Wer redet von Schuld? Man kann sein Leben lang das Opfer fremder Mächte sein.«

»Was hat Ihr leergestänkerter Tank mit den dunklen Mächten zu tun?«

»Viel, sage ich Ihnen, lieber Freund. Ich bin vom Pech verfolgt, vom kleinen Pech, begreifen Sie nur! Pech ohne eigentliches Format. Lächerliches Pech. Ein Pech gewissermaßen, das auf anderer Menschen Zwerchfell wirkt. Zum Beispiel fehlt es mir jetzt an einem armseligen Liter Benzingemisch. Glauben Sie vielleicht, es käme jemand des Weges, der mir dort im nächsten Dorf, welches, soweit mir bekannt, Hirschhorn heißt ...«

»Hirschhorn, hahaha! Da sind Sie längst hindurch. Hirschhorn liegt hinter Ihnen. Ihre Ortskenntnis stinkt zum Himmel. Das ist Neckarsteinach.«

Er freut sich gewaltig, weil ich Hirschhorn mit Neckarsteinach verwechselt habe. So leicht ist es, den Mitmenschen eine Freude zu machen. Man hat nur nötig, etwas ausgefallen Dummes, etwas Törichtes zu sagen; sich ein wenig bloßzustellen und darzutun, dass der Mitmensch klüger sei.

»Gut also, sei es Neckarsteinach. Wer aber holt mir in Neckarsteinach einen Liter Benzin?«

»Ich ganz bestimmt nicht«, sagt er und hat eine sonntägliche Freude.

»Wollten Sie mir nicht etwas von Ihrem Pech ...«

»Richtig, das wollte ich. Hören Sie weiter, nun kommt das Kuriose. Mein Pech wird immer zum Glück. Es schlägt einen Purzelbaum, stülpt sich um wie ein Handschuh.«

»Verrückter Kerl.«

»Nicht im mindesten verrückt. Um etwas herauszugreifen, schauen Sie sich dort mein funkelnagelneues Motorrad an. Sie geben zu, das Ding kann sich sehen lassen?«

»Eine moderne Knallschote, zugestanden.«

»Das Gefährt hat mir ein wildfremder Mensch geschenkt.«

»Machen Sie keine faulen Witze.«

»Bei meiner Buchhändlerehre! Wissen Sie, warum er es mir geschenkt hat? Weil er mich vorher damit überfahren hat.«

»Nun aber genug. Ich gehe.«

»Wie heißen Sie denn?«

»Was hat das mit meinem Namen zu tun?«

»Nichts, aber ich rede immer an einen Unbekannten hin. Ihr Name wird kein Geheimnis sein.«

»Keineswegs, ich heiße Häutle, David Häutle.«

»Häutle, richtig, gewissermaßen eine kleine Haut. Häutchen, Häutle.«

»Sie wollten mir vom Motorrad ...«

»Wie gesagt, weil er mich damit überfahren hat. Ich komme unmittelbar aus dem Krankenhaus, ich lag dort drei Wochen in Gipsbinden. Lassen Sie sich kurz erzählen. Eines Tages gehe ich zu Hause über die Straße und schaue ein wenig in die Luft. Auf unserem Kirchendach nämlich stand ein Schornsteinfeger. Sieh da, ein Schornsteinfeger, dachte ich, der wird dir gewiss Glück bringen. Da fuhr mir ein Motorrad mit Beiwagen über den Leib. Ich brach zwei Rippen und die Elle des linken Armes. Keine schweren Verletzungen, wie ich Ihnen sagen darf. Schwere Verletzungen liegen mir nicht, sie stehen mir schlecht zu Gesicht. Mein Pech ist bagatellenhaft, weit entfernt von Großzügigkeit. Ich kam ins Krankenhaus, der Motorradbesitzer, ein durchaus gutartiger Mensch mit schwachen Nerven, besuchte mich im Krankenhaus, schwor bei seiner Familienehre, er würde fortan seinen Lebenswandel keinem Kolbenmotor mehr anvertrauen, und schenkte mir das Gefährt.«

»Das ist eine fette Räubergeschichte.«

David Häutle macht ein ungläubiges Gesicht und schielt nach seinem uralten Fahrrad. Dort lehnt es am Baum, trübselig und verkommen, hinten ist ein verbeultes Köfferchen aus Vulkanfiber aufgeschnallt.

»Ist es neugierig, Herr Häutle, wenn ich Sie frage, welchem Berufe Sie nachgehen?«

»Ich bin Apotheker.«

»Nun bin ich aber überrascht. Nie hätte ich Sie für einen studierten Mann gehalten. Es ist wohl schlecht um die Apotheker bestellt in unserer Zeit?«

»Studiert nun gerade nicht«, meint Häutle kleinlaut, geht zum Fahrrad, schnallt den kotbespritzten Koffer ab und öffnet das Wunderbehältnis.

Im Koffer erblicke ich kleine Fläschlein und Büchsen, Tüten und Packungen. Einige Fläschlein nehme ich in die Hand und lese die Aufschriften. Da steht: Franzosenöl, Warzentod, Kinderwein, Rosenessenz. Da steht Gehöröl, Kropfspiritus und Abführsaft. Flüssiger Blumendünger ist auch dabei.

»Donnerwetter«, entfährt es mir, »gewiss alles uralte Hexen- und Schwefeldampfmittel?«

»Es ist jetzt ein schlechtes Geschäft. Ich bin fleißig wie eine katholische Kirchenglocke, wenn der Abend kommt, habe ich kaum meine Schlafstelle verdient.«

»Helfen denn diese Mixturen wirklich?«

»Kein Schwindel, mein Herr. Ich bin von der Knodener Höhe, dort sind alle Zaubermittel zu Hause. Welchen Beruf üben Sie aus, um eine Frage zu tun?«

»Ich bin Buchhändler, ich verkaufe unterwegs Bücher. Mit dem Erlös schlage ich mich durch die Ferientage. Mein Vater hat mir unbeschränkten Urlaub eingeräumt.«

David Häutle schmunzelt geringschätzig.

»Sie sollten die Knodener Kunst verkaufen, das wäre ein Geschäft.«

»Was hat es denn auf sich mit der Knodener Kunst?«

»Sie kann bannen und hexen und ist uralt wie die Welt.«

»Muss eine verteufelte Sache sein.«

»Vielleicht sind Sie in diesem Augenblick schon im Bann der Knodener Kunst.«

»Wer? Ich?«

»Kein anderer. In der nächsten Minute können Ereignisse eintreten, die Ihre Ferientage sozusagen verhexen.«

In diesem Augenblick fährt ein wundervolles taubenblaues Auto vorbei. Das Auto hält an der Biegung der Landstraße. Ein Herr und eine Dame mit Brille und Staubschleier sitzen in dem herrlichen Wagen.

Mein Herz klopft hörbar, ich weiß nicht warum. Was will er mit seiner Knodener Kunst?

»Kaufen Sie mir ein Fläschlein Gehöröl ab«, sagt David Häutle, »Sie können es immer gebrauchen. Gott gebe, dass Sie einmal ordentlich Ohrenschmerzen bekommen, dann werden Sie das Öl über alles loben. Bitte um neunzig Pfennige.«

Dieser Landstraßenapotheker mit den blasigen Hosen und dem schlecht sitzenden Hemd tut mir plötzlich leid, mir wird schwer ums Herz wenn ich ihn anschaue. Ich muss auch noch feststellen, dass er zusammengeknotete Schnürsenkel hat. Gott liebt auch die Außenseiter, ja, er umkleidet sie mit einem wehmütig farbigen Schimmer, mit einem verbettelten Glorienschein, der ihr unruhiges Leben verborgen trostreich überglänzt.

Gott ist ja selbst auf den Landstraßen, in den Herbergen und Scheunen, bei den Armen und Ärmsten und bei allen, die neben der ruhigen Ordnung einherwandern.

»Hier haben Sie eine Mark«, sage ich und drücke David Häutle ein Nickelstück in die Hand. »Ihre Knodener Kunst interessiert mich.«

»Glaube ich gerne. Sie sollten erst mal einem Hexenstrumpf begegnen. In Knoden lebte im Dreißigjährigen Krieg eine Frau, sie besaß einen Ring, der war aus einem Krötenauge gemacht. Sie war ein Hexenstrumpf.«

»Hexenstrumpf?!«

Etwas zwingt mich, nach dem taubenblauen Wagen zu schauen. Die Dame hat sich im Sitz umgewendet. Im gleichen Augenblick schaut sie zu mir herüber, ich fühle ein feines Sausen in den Ohren.

»Vorsicht, mein Herr, und Finger davon! Es gibt junge Mädchen, die haben einen Hexenstrumpf. Sie tun erst unschuldsvoll wie Gartenlilien und dann locken sie die verhexten Männer ins Verderben. Gott gebe, dass Sie auf Ihrer Fahrt keinem solchen Hexenstrumpf begegnen.«

»Es wäre seltsam. Nie habe ich von Hexenstrümpfen gehört.«

»Hier in diesem Fläschlein ist Rosenöl. Ich schenke es Ihnen, es ist manchmal gut, wenn man nach arabischen Essenzen duftet. Für ein einziges Fläschlein braucht man zehntausend Rosen von Schiras.«

David Häutle gibt mir das Fläschlein und macht sich auf die Socken, vielmehr aufs Rad.

So fährt er jetzt dahin, ein restlos unmoderner Mensch. Ich muss ihm nachschauen, bis er verschwindet.

Das alles hat sich nur ereignet, auf dass etwas Größeres sich erfülle.

* * *

Mit einem mal steht der Herr aus dem taubenblauen Wagen vor mir. Möglich, dass er Ohrenweh hat und mein Gehöröl wünscht. Nein, er wünscht nur, dass ich den Wagen mit Insassen fotografieren möchte, Neckar und Dilsberg malerisch im Hintergrund. Ich schiebe mein Motorrad neben das vornehme Kabriolett und knipse auch schon drauflos.

Ein hübscher Mann, strenges und geistreiches Gesicht, ein Mann, der mir nicht eben schlecht gefällt. Er hat Mütze und Brille abgenommen und ich sehe, dass eine senkrechte Falte über die Stirn zur Nasenwurzel läuft. Sein Mienenspiel hat etwas Einstudiertes, versteckt Artistisches, vielleicht ist er ein Schauspieler, ein Mann vom Zelluloidberuf. Und noch etwas Merkwürdiges stelle ich fest. Durch das dunkle, dichte Haar des Mannes zieht eine silbergraue Strähne.

»Sie halten hier eine Siesta?«, sagt er.

»Das nicht, mir ist das Benzin abhandengekommen. Kleines Pech, niederträchtig lendenlahmes Pech.«

»Ich werde Ihnen Benzin geben«, sagt der Fremde.

»Oh, vielen Dank, mein Herr. So was nennt man Benzinkameradschaft, Landstraßenkollegialität.«

Der Herr muss lachen, auch die junge Dame lacht. Ihr Lachen, ein wenig komödiantisch, durchrieselt mich mit einer unnennbaren Wärme.

»Donnerwetter, was sehe ich?«, ruft der Herr. »Sie haben eine ganze Bibliothek im Beiwagen. Wollen Sie eine Weltreise machen?«

Der Herr mit der grauen Strähne hat meinen fliegenden Bücherladen entdeckt und fängt an, zu schmökern.

»Wohl möglich, dass ich um die Welt reise, das steht durchaus nicht fest. Nichts hält mich ab, über Länder und Meere zu segeln.«

»Wozu aber die vielen Bücher?«

»Ich bin Buchhändler. Wir haben zu Hause vier Schaufenster.«

Ich muss immerfort nach der jungen Dame schauen. Lessings gesammelte Werke würde ich darum geben, wenn ich nur ein einziges Mal ihr Gesicht sehen könnte.

Etwas anderes aber sehe ich, nämlich ihre herrliche, schlanke Hand, die jetzt auf der Seitenwand der taubenblauen Karosserie liegt. An dieser Hand schimmert der matte Glanz eines übertrieben großen Ringes. Lieber Gott, gibt es wirklich so große Ringe, nie sah ich solch ungeheuerlichen Indianerschmuck.

»Verflucht!«, höre ich den schmökernden Herrn ausrufen. Er hält ein Buch in der Hand, einen modernen Roman aus dem amerikanischen Schauspielerleben. Die sieben Glückseligkeiten. Ich stelle eine leichte Röte auf seinen Wangen fest, der Roman hat ihn aus dunkler Ursache aus dem Gleichgewicht gebracht. Fest hält er das Buch in der Hand und lächelt; er schlägt das Buch auf und blättert die Seiten um, fast ist ihm das Buch wie ein lieber Bekannter, wie ein Freund, den man überraschend trifft, ein wunderlicher Onkel aus Amerika, der plötzlich zur Tür hereintritt und tut, als wäre sein Kommen selbstverständlich.

»Sieh mal«, ruft er der jungen Dame zu, und hält das Buch hoch.

»Eine großartige Überraschung, mitten auf der Landstraße. Die sieben Glückseligkeiten!«

»Interessiert Sie der Roman, oder wünscht vielleicht die junge verschleierte Dame, den Roman zu lesen? Ich will Ihnen das Buch schenken, Sie haben mir aus der Benzinverlegenheit geholfen ...«

»Dieses Buch«, sagt der Fremde, »möchte ich nicht aus Ihrem Bestand herausnehmen, aus bestimmten Gründen nicht. Es ist mir lieber, wenn diesen Roman irgendein anderer Mensch kauft.«

»Warum denn?«

»Das kann ich Ihnen nicht näher auseinandersetzen. Ich möchte aber zwei oder drei andere Bücher von Ihnen erwerben.«

Tod und Druckerschwärze, der Mensch kauft mir für zwanzig Mark Bücher ab. Ich werde fast verlegen von so viel fremder Güte. Habe ich nicht schon einmal behauptet, mein Pech würde sich umwenden wie ein nasser Handschuh? Nun habe ich den schönsten Beweis dafür. Wäre mir das Benzin nicht ausgegangen, dann hätte ich dieses Erlebnis nicht gehabt, dann hätte ich die sechs alten Ladenhüter nicht verkauft, ganz zu schweigen von der geheimnisvollen Dame, die etwas dämonisch Schicksalhaftes hat, ohne dass ich imstande wäre, dieses Schicksalhafte zu erklären. Am Ende ein Hexenstrumpf!

Dort sitzt sie immer noch, eine Sphinx am Steuerrad des Kompressors, fantastisch schimmert der Zauberring an ihrer Hand.

Der Herr steigt ein, und die schöne Fremde lässt den Anlasser schnurren. Sie wollen also weiterfahren.

Die Dame, den linken Fuß schon auf der Kupplung, greift nach dem Steuerrad, ich sehe genau die schlanke Hand und den Indianerring. Der Ring stellt eine Schildkröte dar, wie sonderbar, eine große plumpe Schildkröte.

Der Wagen verschwindet. Taubenblau verschwindet er. Ich stehe versunken und starre die Landstraße entlang.

* * *

Die Fähre hat mich auf das linke Neckarufer gebracht. In einer kleinen Mulde unter einem Apfelbaum habe ich mein Zelt aufgeschlagen. Der Abend ist gekommen, es ist sonderbar still geworden um mich. Dort treibt der Fluss vorüber, leise schwatzend wie in einem beschaulichen Traum.

Lieber Gott, wie mag man nur einen Schildkrötenring tragen. Richtig, ich will das Buch lesen, ein wunderliches Buch vielleicht, die sieben Glückseligkeiten.

Wie schlank war diese Hand, ach, wenn man sie einmal berühren, wenn man sie einmal streicheln könnte.

Da drüben liegt nun also das Städtchen Neckarsteinach, schon fallen Schatten über Häuser und Gassen her, bald wird es dunkel sein, dann wird man viele helle Lichter sehen, Fenster werden gelbe Augen öffnen, es ist eine friedliche Welt, Gott sei mit uns!

Ich lese den Roman von den sieben Glückseligkeiten. Ein Kahn treibt vorüber, er gleitet in die offene Nacht hinein.

Auf dem dunklen Gewässer gleitet er dahin.

Nun ist der Tag verweht. Man hört das Gras singen. Das Gras singt, ich weiß nicht, ob das allgemein bekannt ist.

In dem Roman kommt ein Mädchen vor, eine gefährliche Komödiantin, ich will es offen sagen. Ursula. Man muss nicht gleich an einen Hexenstrumpf denken.

Nein, ich lese nicht weiter, ich bin müde, die Sterne ziehen herauf, man muss einschlafen in seinem Zelt, den Himmel über sich und alle wandernden Welten.

Ursula heißt das Mädchen. Ich habe zehntausend Rosen von Schiras, Ursula. Häutle hat sie mir verkauft, er weiß um die Knodener Kunst.

Überhaupt soll hier viel Hexerei und Zauberdunst sein. Nun, ich fürchte mich nicht, wenn einer aus des Teufels Verwandtschaft auftaucht und nach Pech und Schwefel stinkt. Singt nicht jemand?

Doch, ich höre Gesang. In meinem Zelt ist es dunkel, aber von draußen glänzt die Nacht herein. Die Töne rieseln in meine geborgene Stille.

Ich schaue hinaus und sehe auf dem Damm oben eine Gestalt sitzen. Ein Mädchen.

Eine Hexe auf Urlaub vielleicht; am Ende hat der Doktor Faust seine lose Hand im Spiel. Der Doktor Faust hat sich in dieser Gegend viel umhergetrieben.

Ja, es ist ein Mädchen. Eine musikalische Hexe, dort sitzt sie und schaut auf den Fluss, sie ist nichts als ein schwarzes Gebilde. Sie singt und spielt dazu auf einer Gitarre. Aber die Gitarre ist jämmerlich verstimmt, auch der Gesang ist nicht bedeutend, ich würde mich von ihm nicht in die Hölle locken lassen. Ich bin nicht verwöhnt, aber dies ist ein rechter Gassenhauergesang, ein Schirmflickerlied.

Ein Mädchen jung von siebzehn Jahren,

Verführt von einer Männerhand,

Sie musste ach zu früh erfahren,

Was falsche Lieb' für Folgen fand.

Setzt man sich in einer Mainacht auf den Neckardamm und dudelt eine solche blutige Weise? Die Nacht ist blühend und sanft, die Gräser singen, des Herrgotts beste Gedanken säuseln durch die Welt. Und dort sitzt eine sogenannte Hexe, zupft miserabel auf ihrem höllischen Saiteninstrument und singt eine Leierkastenarie.

»Du weißt wohl nichts anderes zu singen in der Nacht, als diese Schmachtfetzen?«

Sie schaut mich an, im Dunkel glänzen ihre Augen, sie hat sich halb aufgerichtet, auf den Knien kauert sie und starrt zu mir herauf. Ihr Atem geht rasch, der Mund ist halb geöffnet.

»Was willst du von mir? Geh fort, ich habe dich nicht gerufen. Ich kann singen, was mir in den Sinn kommt.«

»Aber deine Drehorgelgeschichte stört die romantische Neckarstimmung. Wer bist du denn?«

»Das geht dich nichts an. Wenn Max kommt, haut er dich in die Seile.«

»Wer ist Max?«

»Das wirst du vielleicht noch merken.«

Sie wendet sich wieder um und schaut ins Wasser. Dann lacht sie mich plötzlich lautlos an. Nun ich mich an die Dunkelheit gewöhnt habe, kann ich sie genau erkennen. Ein Mädchen von zwanzig Jahren, schlampig gekleidet; wirres, blondes Haar, ein schlankes Gesicht, nicht schön und nicht hässlich. Sonderbares Menschenkind mit etwas zu großen Zähnen.

»Warum lachst du?«

»Weil du daherkommst und wie ein Schulmeister redest. Jetzt hast du wohl Angst vor Max?«

»Ich habe keine Angst vor deinem Max. Pass auf, ich setze mich zu dir ins Gras.«

Das tue ich auch, da sitzen wir jetzt beide und schauen uns an. Eine schwarze Fremdheit ist zwischen uns.

»Bringe wenigstens deine Haare in Ordnung.«

Sie fährt mir grob und unverschämt durch die Haare.

»Zum Donnerwetter, nimm die Hände weg.«

»Grobian, du!«

»Schlampe! Betrachte bitte deine zerlatschten Schuhe. Du hast hier elende Korkenzieherstrümpfe ...«

»Fort, rühre mich nicht an.«

Sie schlägt mit der Hand nach mir, die Gitarre wirft sie ins Gras. Eine Weile senkt sie den Kopf, dann schaut sie mich wieder an, ihre Augen sind ganz rund und groß geworden.

So blickt ein Tier, so maßlos fremd und scheu.

»Ich bin arm«, sagt sie.

Nun tut sie mir plötzlich leid. Ich habe einmal einen Hund gehabt, der trug solche Abgründe in seinen Augen; sein Blick drang mir bis ans Herz.

Sie ist schön jetzt; in dieser Sekunde ist sie schön. Ihre verbettelte Armut adelt sie.

»Ich wollte dir nicht weh tun, es kam nur so heraus, du darfst es nicht ernst nehmen.«

»Nein, das werde ich nicht. Ich will jetzt gehen.«

»So bleibe doch. Ich muss dich manches fragen.«

»Ich weiß nichts, gar nichts. Ich bin dumm; und verkommen.«

»Aber warum hockst du hier in der Nacht und singst?«

»Weil ich gerne singe und weil ich Lieder lernen will. Ich gehe bald fort vom Schiff. Zu den Goldwäschern gehe ich an den Rhein.«

»Zu den Goldwäschern?!«

»Ja, am Rhein wird wieder Gold gewaschen. Viel Gold, Hände voll. Max geht auch zu den Goldwäschern.«

»Wer ist Max?«

»Der Steuermann.«

»Steuermann? Was für ein Steuermann zum Teufel?«

»Na vom Schiff. Siehst du nicht unser Schiff dort liegen?«

Wahrhaftig, am Ufer ist ein Schiff vertäut, ein uraltes Schiff, ein Frachtkahn. In der Kabine brennt Licht, ein dünner Schimmer schwelt durch die dunklen Stunden.

»Du wohnst im Schiff?«

»Ja, wir sind sechs Leute. Der Alte und seine Frau und zwei Kinder, Steuermann Max und ich.«

»Du?! Gehörst du nicht ...?«

»Ich bin zugelaufen; wie ein Hund. Ich muss helfen bei der Arbeit.

Wir haben jetzt Bausteine geladen. Blendsteine und Zellensteine und gewöhnliche Backsteine.«

»Du hast hier eine Narbe an der Stirn.«

»Ja, ja, das ist lange her.«

»Verunglückt?«

»Das nicht. Jemand hat mit einer Kohlenschaufel nach mir geschlagen. Lange her, über zehn Jahre; warum fragst du?«

»Ist Max dein Bräutigam?«

»Pah, rede nicht dumm. Ich habe nichts zum Anziehen, nur so was ich brauche. Und das Essen. Ich bin arm zum Verdorren. Lass mich in Frieden.«

»Und Max ...?«

»Max kann zaubern, sage ich dir. Er zaubert fein. Zum Beispiel nimmt er ein rohes Ei, macht eine Faust, wartet eine Weile, zack ist das Ei hart gekocht, hahaha, du machst nur so Glotzaugen. In der Faust gekocht.«

»Überall Hexerei hier am Neckar.«

»Er sagt, er hat's aus dem Buch vom Doktor Faustus.«

»Ja, der war ein großer Hexenmeister. Er ist einmal mit vier Rappen in einer Viertelstunde vom Schloss Boxberg bis nach Heilbronn gefahren, das ist sonst fast eine Tagereise. Große Geister mit Hörnern haben vor dem stürmenden Wagen den Weg gepflastert und andere haben hinter dem Geistergefährt das Pflaster wieder aufgerissen und die Steine entfernt. Einige sind liegengeblieben, man kann sie heute noch sehen.«

»Hoho, das ist ein verdammter Schwindel.«

»Wie heißt du denn?«

»Marlena. Und du?«

»Hans Hiedewohl. Ich bin Buchhändler.«

»Gott steh mir bei. Kannst du Stein, Papier und Schere?«

»Was ist das?«

»Max kann das großartig, er gewinnt immer. Du musst wissen, er hypnotisiert die Menschen. Er hat den verzauberten Blick, sie müssen alle machen, was er will.«

»Das hängt mit dem Doktor Faustus zusammen.«

»Oder mit dem Zauberer Aphrasterus, der seine Schätze und übersinnlichen Zauberinstrumente in den Rhein geworfen hat. Dort liegen sie noch, und wer sie findet, der hat große Macht über alle Menschen. Max will sie herausfischen. Wir gehen zu den Goldwäschern. Du, ich habe solche Angst vorm Wasser. Oh, was ich für Angst habe.«

»Was ist das mit Stein, Papier und Schere?«

»Pass mal auf: Eine Faust bedeutet Stein, die flache Hand bedeutet Papier und zwei gespreizte Finger bedeuten Schere. Ich zähle eins, zwei, drei, auf drei musst du blitzschnell entweder eine Faust, eine flache Hand oder gespreizte Finger machen; ich muss es auch so machen. Der Stein macht die Schere stumpf, wird aber vom Papier eingewickelt; die Schere zerschneidet das Papier, wird aber am Stein stumpf; das Papier wickelt den Stein ein, wird aber von der Schere zerschnitten. Verstehst du das?«

»Halb und halb.«

»Hör zu: Hast du zum Beispiel eine Faust gemacht und ich eine flache Hand, dann habe ich gewonnen, weil das Papier den Stein einwickelt. Hast du gespreizte Finger und ich habe eine flache Hand gemacht, hast du gewonnen, weil die Schere das Papier zerschneidet.«

»Großartig, jetzt habe ich's begriffen.«

»Wollen wir mal? Hast du Geld? Jedes Mal zehn Pfennig.«

Sie kauert wieder auf den Knien, ihre Augen flackern, sie bläst sich die Haare aus dem Gesicht. Schon hat sie den Arm erhoben, als wolle sie zuschlagen. Ihre Lippen glänzen von Feuchte und Erregung.

»Los«, sage ich, »es gilt zehn Pfennig.«

Sie gewinnt, zweimal, dreimal gewinnt sie. Zuletzt hat sie fünfzig Pfennig gewonnen.

»Mit mir kannst du getrost spielen, Marlena, ich bin ein Pechvogel. Ich habe schon einmal einen Knopf verschluckt und wäre fast daran gestorben.«

Sie lacht und hat eine unbändige Freude.

Dann kommt sie näher heran, rückt mir zärtlich auf den Leib. Sie ist wie eine Katze, weich und schmeichlerisch, ihr Körper wird seltsam geschmeidig.

»Wenn du willst, darfst du mich küssen für die fünfzig Pfennig.«

»Du hast das Geld ehrlich gewonnen.«

»Ja, so ist es. Tut es dir nun leid? Warte, ich will dir noch ein Lied singen. Schläfst du im Zelt?«

»Ja.«

»Wenn du mir ein Paar Strümpfe kaufst, dann komme ich ...«

»Marlena, du sollst nicht ...«

»Dummian, du glaubst doch nicht, dass ich mich verkaufe? Nein, nein, aber ich weiß oft nicht, wo hinaus. Ich ... ich zottle so in der Welt herum, wenn ich ... nach Hause könnte, wenn ich ... ja, ich will dir noch ein Lied singen.«

Sie greift nach der Gitarre und fängt zu zupfen an.

»So schlecht, wie du dir einbildest, bin ich nicht«, sagt sie und kriecht wieder auf mich zu. »Denkst du vielleicht, man braucht bei mir nur einen krummen Finger zu machen und ich bin schon da? Ja, denkst du das, sag mir, ob du das denkst?«

»Nein, das denke ich nicht, Marlena.«

»Du musst wissen, dass ich nächstens hier in den Sack haue.«

»Was machst du?«

»In den Sack hauen. Auf und davon gehe ich, weil ich's satt habe. Vom Schiff aus springe ich ins Wasser und schwimme an Land. Wenn ich nur nicht solche Angst vorm Wasser hätte ...«

Sie erhebt sich, nimmt die Gitarre und schickt sich an zu gehen. Plötzlich, wie von innen her getrieben, wendet sie sich um, wir stehen uns gegenüber. Wir sind zwei verschrobene Menschen mitten im nächtlichen Eulenflug.

»Du bist sonderbar, du ... du bist ja wie ein Pfarrer, du ... hörst du - ich habe etwas Grässliches auf dem Gewissen, du kannst nicht begreifen, wie schlecht ich bin und was ich getan habe! Ich bin schuld, dass ein Mensch getötet wurde - ich - schau mich nur genau an ... ich habe ihn verraten - hörst du, ich habe ihn verraten ... dann haben sie mich davongejagt - und die Kohlenschaufel, erzählte ich dir nicht von der Kohlenschaufel? Hier an der Stirn ...«

Mit einem mal wird sie starr, ihre Augen weiten sich, das unselige Instrument entfällt ihren Händen, die Finger spreizen sich, ich sehe es glitzernd aus den Augen strömen.

Sie schreit auf, ein unbändiger wilder Ruf ist es, sie klammert sich an mich, ihr Mund ist geöffnet, ich sehe deutlich die großen Zähne. Sie riecht nach alten Kleidern, ach, diese Zigeunerin, dieses tobende Herz unter den Sternen.

»Ich war noch ein Kind«, schreit sie, »zehn Jahre war ich alt ... ich kann ja nichts dafür, du musst mir glauben, dass ich nichts dafür kann, ich will doch wieder nach Hause ...« Ihre Stimme sinkt zu einem weinerlichen Klagen, sie summt und schluchzt und stößt es mehr in sich selbst hinein, ihr Körper bebt, ich sehe die Angst aus den Augen kriechen.

»Wenn Max richtig zaubern könnte«, sagt sie ganz leise, »nicht nur das rohe Ei in der Faust hart kochen ... er müsste machen, dass alles nicht gewesen ist.«

Ich gehe mit ihr bis zum Schiff, sie wankt mit hängendem Kopf dahin, ihre Arme baumeln, ich trage das verstimmte Saiteninstrument.

»Du musst mir das erzählen, Marlena.«

»Nichts mehr, nein ... nichts, was willst du denn von mir?«

»Vielleicht kann ich dir helfen, ich weiß um die Knodener Kunst, ich bin selbst von Geheimnissen umgeben, ich traf eine verschleierte Dame mit einem Schildkrötenring, du musst nicht glauben, dass ich nur so in der Nacht daher getrieben bin.«

»Ich muss aufs Schiff. Du kannst nicht begreifen, was für ein Gruseln ich vorm Wasser habe. Unten im Wasser, ganz unten, da muss es toll hergehen. Gute Nacht.«

Über ein Brett geht sie an Bord. Noch brennt in der Kabine das armselige Licht. Schwarzes Wasser schlägt gegen die Schiffsplanken, mir ist, als schaukelte der Himmel über mir. Ich schleudere langsam über die Wiese, es ist eine berauschende Nacht, ein Duft von Gräsern liegt in der Luft, dort ist mein Zelt. Gott, wohin treiben wir! Marlena singt, ich kann es deutlich verstehen. Warum schläft sie nicht, es ist schon spät, die Sterne sind lautlos gewandert, es liegt viel Schlafsucht über der Erde. Warum schläft sie nicht, welch ein verrücktes Lied. Möglich, dass ich ein Bruder aller Abenteuer bin, nein, welch ein verrücktes Lied.

Kommt ein hübscher Herr gegangen

Flüstert Rosa leis ins Ohr,

Streichelt zärtlich ihre Wangen,

Spricht ihr dann von Liebe vor.

Wen mag sie verraten haben? Ich weiß es nicht. Wenn Max ein Zauberer wäre. Die Sache mit dem harten Ei kann ich nicht glauben. Heute glänzen alle Sterne heller, die Nacht ist wunderlich gelaunt.

Sieh, mein Kind, ich will dir geben

Diesen Beutel voller Gold,

Kannst damit in Frieden leben,

Sei mir nur ein wenig hold.

An allem ist mein Benzinpech schuld, ich wäre sonst schon in Heidelberg. Dunkle Zusammenhänge. Schildkröten, sagt man, werden tausend Jahre alt. Ein Gassenhauer, Marlena.

Bester Herr, ich müsst mich schämen,

Gar nicht schön wär es von mir,

So viel Geld von Euch zu nehmen

Bester Herr, ich dank' dafür.

Immer schon waren meine Nächte bevölkert. Meiner Lebtag summte und sauste und musizierte es durch meine Nächte. Ich schwimme in meinen Nächten wie in einem dunklen Strom. Man gleitet so dahin, ein sonderbares Schiff.

Arm bin ich und lieb nur einen,

Diesem bleib ich ewig treu,

Auf der Welt sonst lieb ich keinen,

Bester Herr, es bleibt dabei!

Sagte ich nicht ein Schiff? Und manchmal setzt man alle Segel. Viele Schiffe begegnen sich, sie treiben aneinander vorüber. Seht her, man wirft Anker, Teufel, da liegt schon ein Schiff. Ein fremdes Schiff, wer weiß, woher.

Wer weiß, wohin!

Gemeinsame Fahrt, meine dunklen Freunde.

* * *

Ich muss schon sagen, es gefällt mir in Schwetzingen. Ein hübsches altes Gasthaus, gleich in der Nähe des berühmten Schwetzinger Schlosses. Solche Gasthäuser liebe ich, kleine Räume mit niederen Decken, Stahlstiche, ein alter Hof, wo Frauen Spargel schälen.

Man kriegt hier berühmte Spargel, dazu Schinken und Eierkuchen. Verteufelte Schlemmerei. Die Spargel sind alle gut, es gibt keine bitteren und auch keine solchen, die unten hart und faserig sind wie gekochte Bambusstangen. Wen mag Marlena verraten haben, ich muss oft darüber nachdenken. Sie hatte große Zähne und Löcher in den Strümpfen, sie war verkommen, Gott sei ihr gnädig. Eine Narbe an der Stirn, von einer Kohlenschaufel herrührend. Angst vorm Wasser, nein, was für einsame Menschen durch die Tage und Nächte irren.

Ich erinnere mich einer jungen Dame, die einen Schildkrötenring am Finger trug. Nachts habe ich von ihr geträumt, da wurde die Schildkröte lebendig, und kroch auf mich zu. Dann fuhr ich eine endlose Landstraße entlang, und kam in eine kleine, einsame Wälderhütte. Wieder war die Schildkröte da, sie schlurfte und krakelte auf mich zu, ich wollte nach ihr greifen, da waren es zwei Schildkröten.

Es sind noch mehr Menschen hier im Gasthof, alle essen sie Spargel, Schinken und Eierkuchen, es ist ein stilles, behagliches Übereinkommen.

Auch ist es hier geradezu feierlich still, wie in einer Kirche, es herrscht eine gewisse Spargelandacht.

Daher ein Mann im Gummimantel und mit einer Aktentasche, der jetzt etwas geräuschvoll und beinahe spargelfeindlich hereinkommt, von allen Spargelessern unmutig beobachtet wird.

»Ist es erlaubt?« Schon sitzt er bei mir am Tisch.

Er fällt sofort unangenehm auf, denn er bestellt keinen Spargel, er zerstört die Stimmung des Raumes, zerschneidet die Spargelatmosphäre, benimmt sich in keiner Weise bodenständig.

»Spiegeleier, bitte; ich esse keinen Spargel, man wird nierenkrank.«

Dieses Gelächter, das jetzt spontan aus den Kehlen aller Spargelfreunde kommt. Hat man so was je gehört? Hohngelächter fällt über den Spargelgegner her.

»Ich komme weit in der Welt herum«, spricht der Mann mit prahlerischer Stimme zu mir. »Nur Zufall, dass ich in Schwetzingen bin. Mich interessiert hier der Knoblauch.«

»Was interessiert Sie hier?«

»Der wilde Knoblauch, Sie werden wissen, was Knoblauch ist.«

»Gibt es hier einen besonderen Knoblauch?«

»Das nicht, aber der Knoblauch wächst hier in beträchtlichen Mengen, nämlich in dem berühmten Schlosspark, den Sie gewiss besichtigt haben.«

»Noch nicht, ich wollte zuerst mich der Spargeln vergewissern.«

»Einerlei, die meisten Menschen wissen gar nicht, wie gesund allein schon die Knoblauchluft ist. Dieses Knollengewächs steht zur Zeit in Blüte und strömt einen betörenden Duft aus. Solche Knoblauchluft wirkt ungemein günstig auf den Organismus ein. Mit einem Wort, die Menschen sollten Knoblauchluftkuren machen. Mir schwebt ein Knoblauchsanatorium ...«

»Sie sind verdreht, mit Verlaub zu sagen.«

»Keineswegs. Ich hätte nicht nötig, mich mit solchen Problemen zu beschäftigen, durchaus nicht, mein Beruf tangiert den Knoblauch nur flüchtig. Aber das Knoblauchproblem liegt augenblicklich in der Luft, es ist hochmodern. Wer eine Nase für solche Dinge hat, riecht sie; eine gewisse Knoblauchwitterung ist fraglos vorhanden.«

Der Mann tut furchtbar geschwollen, er scheint mir ein Schwätzer zu sein, was will er mit seinem Knoblauch?

Außerdem ist er recht merkwürdig gekleidet. Wer, so frage ich, trägt heute noch einen Lavaliereschlips, eine solche Schmetterlingsbinde, die den Schmierenkomödianten früher äußerlich kennzeichnete? Dazu eine verschabte Samtjacke, die unter dem Gummimantel antiquiert hervorglänzt. Kein Zweifel, der Mann spielt sich auf, er will ein Besonderer sein unter vielen, ein fauler Zauberer, der mit Tiraden um sich wirft und ohne ernsthaften Hintergrund ist.

Er verzehrt seine Spiegeleier mit einer großen Hast, gefräßig fast und keinesfalls in dem hier üblichen geruhsamen Spargeltempo.

»Man wälzt fortgesetzt Probleme«, fährt er kauend fort, »mein Unglück ist, dass mir zu viel einfällt. Ich bin dauernd auf der Suche nach unternehmungslustigen Menschen. Ich bitte Sie, was geht mich im Grunde der Knoblauch an? Auf Ihr Wohl, mein Herr. Einen Augenblick bitte.«

Ganz plötzlich erhebt er sich vom Stuhl und geht auf einen Herrn zu, der beim Büfett erscheint. Aha, das ist der Wirt, der freundliche Besitzer dieses lukullischen Spargelinstitutes, der Herrscher über viele Zentner Stangengewächse. Die beiden sprechen zusammen, mein Tischnachbar redet auf den Wirt ein, fuchtelt mit den Händen und macht Bewegungen wie ein miserabler Komödiant. Dem Wirt scheint die Unterhaltung peinlich, er wehrt sich gegen das Geschwätz wie gegen eine Brummerfliege, und zuletzt gehen sie durch die Tür hinaus ins Freie.

Der Schwätzer fängt an, mich zu interessieren, seine aufdringliche Geschäftigkeit erweckt Neugierde, man möchte ihn näher kennenlernen.

Es ist seltsam, dass mir immer wieder diese junge Dame im taubenblauen Wagen einfällt, ich kann mich nicht frei machen von ihr. Den Roman habe ich bis zur Hälfte gelesen und muss sagen, dass er mich auf unerklärliche Art fesselt. Amerikanische Verhältnisse, eine junge Künstlerin.

Der Mann im Gummimantel kommt an meinen Tisch zurück, sein Mienenspiel zeigt Zufriedenheit. Er presst das Kinn nach unten und hüstelt.

»Sie interessieren mich, mein Herr«, sagt er, »doch, keine Phrasen und kein Gerede, Sie sind mein Mann, Ehrenwort. Vielleicht fassen Sie es nicht falsch auf, wenn ich Sie zu einer Tasse Mokka einlade.«

Ich verlasse mit dem Schwadroneur das Lokal, mir ist aufgefallen, dass er nicht bezahlt hat. Nein, er geht wie ein Fürst, hoch erhobenen Hauptes, den breitrandigen Hut schwenkt er mit weit ausholenden Armbewegungen.

Vor der Tür halte ich ihn am Gummimantel fest, nun muss ich endlich wissen, unter welcher Flagge der sonderbare Kerl segelt.

»Auf ein Wort, wer sind Sie eigentlich, nehmen Sie die Frage nicht aufdringlich, man interessiert sich, mit wem man zum Mokka geht.«

»Ich bin Dichter«, sagt der Mann.