Er ist achtzehn und sie fünfunddreißig. Es ist ein großer Sommer, ein Jahrhundertsommer, in dem die Glühwürmchen tanzen und eine Liebe heranwächst, die sich bald bewähren muss. Benedikt macht gerade sein Abitur, was Linda arbeitet, weiß er nicht, ihr Leben zwischen der Landeshauptstadt und dem Haus auf der Hochfläche birgt ein Geheimnis. Der erste Sex liegt in der Luft, und dann ist da noch der Ich-Erzähler, der mit dem ewigen Versprechen des Sommers ringt, jenem Anspruch von Fülle und Glück, der kaum zu erfüllen ist. Am Ende finden die Geschichten zueinander und vereinigen sich zur Eloge eines endlosen Sommers.
Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie.
Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).
Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017).
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© 2017 Rainer Gross
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Layout und Umschlaggestaltung: Rainer Gross
Umschlagfoto: © depositphoto.com/Grigorenko
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ISBN: 9783744850230
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
RAINER MARIA RILKE
Und es ist Sommer ...
Ich heiße Benedikt. Alle nennen mich Benni, aber das gefällt mir nicht. Ich finde, dass Benedikt ein schöner Name ist.
Ich mache gerade mein Abitur und habe einen Motorroller, wenn ich den nicht hätte, würde ich es nicht aushalten. Oft fahre ich auf die Hochfläche hinauf, weg von der Stadt und dem ganzen Getriebe. Allein fahre ich in der Gegend herum, suche mir manchmal eine Stelle am Waldrand und setze mich dort hin. Was ich die ganze Zeit dort mache, weiß ich selber nicht. Vielleicht denke ich nach, aber eigentlich kommt nichts Besonderes dabei heraus.
Ich mag auch die Natur. Besonders im Sommer. Der Sommer ist für mich die schönste Jahreszeit. Da kann man viel mehr machen als sonst, ich habe das Gefühl, als würde die ganze Welt offen stehen und alles wäre möglich. Was ich mir unter alles vorstelle, weiß ich selber nicht. Ich denke mir dann solche Geschichten aus. Gern würde ich zum Beispiel mal auf einer karibischen Insel Ferien machen. Oder am Strand von Tahiti eine Frau kennen lernen. Solche Sachen halt.
Diesen Sommer aber ist etwas passiert. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Auch nicht dort am Waldrand. Ich habe tatsächlich eine Frau kennen gelernt. Eine erwachsene Frau, kein Mädchen in meinem Alter. Eine reife Frau, so, wie es meine Freunde sich immer ausdenken. Aber das Merkwürdige ist, dass es mir gar nicht um Sex geht. Sie ist ein sehr interessanter Mensch. Vielleicht hat sie ein Geheimnis. Sie hat mich zu sich eingeladen, in ihr Haus in einem Dorf auf der Hochfläche. Nach der Schule fahre ich oft hin.
Sie ist doppelt so alt wie ich. Glaube ich. Sie lebt allein, warum, weiß ich nicht. Ich habe sie nicht gefragt. Solche Dinge spielen zwischen uns keine Rolle. Sie hat auch nichts darüber gesagt, dass ich noch Schüler bin. Sie nimmt mich ernst, tut mich nicht ab wie einen frühreifen Bengel oder so.
Wie sie heißt, weiß ich auch nicht. Ich kenne nur den Nachnamen auf der Klingel. Ich soll sie Linda nennen, warum, weiß ich nicht. Nach der Schule fahre ich hin.
Die Jahreszeiten entstehen, weil die Erdrotation nicht in der Ebene der Umlaufbahn um die Sonne erfolgt, sondern um 23,4° geneigt. Dadurch wechselt der Zenitstand der Sonne im Jahreszyklus zwischen nördlichem und südlichem Wendekreis.
Astronomisch beginnt der Sommer mit der Sommersonnenwende – dem Zeitpunkt, zu dem die Sonne senkrecht über dem Wendekreis der eigenen Erdhälfte steht und die Tage am längsten sind. Danach werden die Tage wieder kürzer und die Nächte länger. Der Nordsommer beginnt mit der Frühlings-Tagundnachtgleiche am 21. März und endet mit der herbstlichen Tagundnachtgleiche am 22. oder 23. September.
Die langen, matten Abende vor Mittsommer. Der Himmel ist voller Gewitterwolken, schwül drückt die Luft, erst um zehn wird es dunkel. Lange, vergeudete Zeit. Das Zetern der Amsel im Garten. Das Zerdrücken der Zigarettenstummel im Aschenbecher. Der schweißfeuchte Stoff des T-Shirts. Ein kleiner Appetit ohne Hunger. Im Kühlschrank kalter Saft. Ich liege und warte: auf das Leben, das irgendwann kommt.
Eine Liebesgeschichte.
Auf meiner Wanderschaft lernte ich ein Mädchen namens Wacholder kennen. Sie wohnte auf einem Hügel in einem kleinen Haus aus Holz. Sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda und schlief. Schlief sie? Ich glaube, nicht. Atmete sie? Ich glaube, sacht. Ich besuchte sie jeden Tag. Ich nannte sie June, aber das litt sie nicht. Sie ritt auf einer klapperdürren Mähre durch den Wald, pflückte Flieder und steckte ihn sich ins flachsblonde Haar. Sie hatte keine Zügel und träumte mit geschlossenen Augen, während der Gaul seinen Weg fand. Wenn sie zurück kam, lächelte sie versonnen und sprach den ganzen Abend kein Wort. Oft saß ich am Fluss, der unter dem Hügel vorbei strömte, und angelte. Tatsächlich aber stellte ich mir vor, wie Wacholder mich lieben würde. Würde ich sie lieben? Aber hallo! Magst du sie sehr? Aber ja, Sir! Wacholder wünschte sich, was ihr fehlte: eine neue Küchenuhr; einen Toilettentisch mit Spiegel; Regen für den Salat im Garten; einen getigerten Kater; einen Mann im Haus. Was willst du dafür tun, Wacholder, mein Schatz?, fragte ich sie. Aber sie saß still, regte sich nicht, mit ihrem Haar wie Flachs in ihrem kleinen Haus auf dem Hügel.
Ich brauche eine halbe Stunde, einschließlich der Steige auf die Hochfläche hinauf. Das Dorf ist klein und liegt an einem Fluss. Vom Dorfplatz aus steigt eine Straße den Hang hinauf, dort stehen lauter Einzelhäuser. Ihres ist das letzte in der Reihe. Der Garten liegt hinter dem Haus und geht auf den Wald hinaus, der den Hügel bedeckt.
Anfangs wollte sie, dass ich nicht vor dem Haus parke. Ich schob den Roller durch das Gartentor und stellte ihn in der Garage ab. Aber mittlerweile ist es ihr egal. Dass ich so oft komme, fällt im Dorf sowieso auf. Und ich bin ja achtzehn, also was soll’s?
Ich stelle an der Straße ab. Der Vorgarten liegt leer, sie ist wohl im Haus. Manchmal ist sie auch gar nicht da, obwohl wir verabredet sind. Dann ist etwas dazwischen gekommen, das gibt es immer wieder.
Es macht mir schon etwas aus. Ich freue mich die ganze Zeit auf sie, und während der Fahrt male ich mir aus, was wir gemeinsam tun werden. Wenn sie dann nicht da ist, bin ich sehr enttäuscht. Ich bin auch manchmal wütend auf sie. Es tut mir weh, dass ich ihr nicht wichtig genug bin. Aber davon erzähle ich nichts. Solche Dinge will sie nicht hören.
Ich habe sie natürlich gefragt, wieso sie nicht da ist. Wieso das so kurzfristig kommt. Sie hat nicht wirklich etwas heraus gelassen. Sie hat mich nur um Verständnis und Vertrauen gebeten, dass sie wirklich nicht anders könne und dass das nichts darüber sage, wie wichtig ich ihr bin. Das habe ich nicht ganz geglaubt. Aber ich will die Dinge nicht komplizieren, sie scheinen verwickelt genug zu sein.
Ich schließe den Roller ab, nehme den Helm und gehe zur Haustür. Manchmal öffnet sie nicht auf das Klingeln, dann ist sie hinten auf der Terrasse und sonnt sich oder arbeitet im Garten. Sie hat zwei Bäume, eine Johannisbeer- und eine Stachelbeerhecke, Blütenbüsche und einen verwilderten Rasen. Sie lässt das Laub liegen für die Glühwürmchenlarven, seit ich ihr erzählt habe, dass die Larven Schnecken fressen. Sie hasst Schnecken. Ein Salatbeet hat sie nicht.
Diesmal ist sie im Haus. Sie öffnet und lässt mich herein. Sie zeigt anfangs keinerlei Gefühl, keine Wiedersehensfreude oder so. Daran habe ich mich gewöhnt. Sie scheint eine Weile zu brauchen, bis sie sich darauf eingestellt hat, nicht mehr allein zu sein. Sie gibt mir auch kein Küsschen oder so.
Ich tue anfangs so, als wäre ich bei einer Bekannten zu Besuch, bei einer Lehrerin oder einer Freundin meiner Mutter. Das hilft mir, nicht enttäuscht zu sein.
Erst wenn sie zum ersten Mal lacht und mich am Arm berührt, ist sie aufgetaut, und dann sagt sie auch, dass sie froh ist, dass ich da bin.
Manchmal ist sie sehr offiziell und führt mich an die Teetafel, die sie gedeckt hat. Dann gibt es parfümierten Tee mit Kandis und einen selbst gebackenen Kuchen. Ich sitze am Esszimmertisch mit Silberlöffel und Serviette und habe das Gefühl, dass noch jemand eingeladen ist, der aber nicht kommt. Ich fühle mich wie ein Lückenbüßer. Aber im Lauf des Nachmittags vergesse ich das.
Linda ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.
Linda: weiblicher Vorname. Im englischen Sprachraum häufig Kurzform von Namen wie Melinda oder Belinda. Im germanischen Sprachraum hingegen die Kurzform von Namen mit dem Bestandteil lind, so etwa Gerlinde, Sieglinde oder Lindgard.
Als erster Bestandteil geht lind zurück auf den Baumnamen Linde, ahd. linta, die wegen ihres weichen Bastes so benannt wurde. Aus dem Holz des Baumes stellte man Schilde her, was für den Personennamen wohl bestimmend gewesen ist.
Als zweiter Bestandteil leitet sich –lind ab von ahd. lind(i) sanft, weich, mild, daher auch das Wort →Linderung; vgl. hierzu lat. lentus biegsam.
Die langen Tage vor Mittsommer bereiten mir vergeblich ihre Junifreude, die Käfer halten Hochzeit, die Eremiten, schwarz schimmernd mit Zangen, die im Lindenholz hausen und unterm Schutzbrief der Ökologen stehen, die Eremiten, die den Schlag der Alleebäume verhindern, und am Ende hat vor lauter Schutz niemand etwas davon. Siehe, der Einsiedler ist wie ein tiefer Brunnen: Wirfst du einen Stein hinein, sag, wie willst du ihn wieder herauf bekommen? Also sprach Zarathustra. Ich weiß nicht, wo das Licht hin will, das gleißende Licht aus dem Wolkenhimmel, das die Erde in den Scheinwerfer Gottes rückt. Aufmerksam sollten wir sein auf die unscheinbaren Dinge, die Vermählung des Unscheinbar-Wunderbaren mit sich selbst, und hell leuchten die Herzblätter im Mittag.
Am Anfang der Hitzewelle steht eine klassische Omega-Wetterlage. Dabei lässt das Hochdruckgebiet über Mitteleuropa, flankiert von Tiefdruckgebieten auf dem Atlantik und über Osteuropa, in Europa subtropische Heißluftmassen aus Nordwestafrika bis nach Skandinavien einströmen. Es folgt eine Hitzewelle mit Temperaturen bis 35°.
Noch eine Liebesgeschichte? Gern.
Ich ging im Walde für mich hin, nichts zu suchen war mein Sinn, tatsächlich. Ich wanderte in Stiefeln und mit Jagdmesser, grüngolden flimmerte das Licht im Waldgang, als ich plötzlich eine Entdeckung machte. Ich hörte einen leisen Laut vor mir auf dem Weg. Das Auftreten leichter Schühchen, das sorglose Promenieren einer zarten Person. Rasch verbarg ich mich im Dickicht und spähte. Ein Mädchen kam gegangen, in luftigem Rock und Bluse ohne Ärmel und an den zierlichen Füßen flache Schuhe zum Schlüpfen. Sie wandelte vorüber, merkte mich nicht. Ich folgte ihr. Sie hatte einen Tasche umhängen, aus Leinen geknüpft, in Rosa, Wasserblau, Minzgrün und Sonnengelb. So müssen ihre Gedanken sein, dachte ich, Schmetterlingsgedanken, sie besuchten mich gaukelnd und schmelzten mir den Sinn, dass ich sie hören, schmecken, riechen konnte. Unerhört.
Ich ging mit ihr den Hang hinab ins Freie. Ich spürte welke Nadeln und Steinchen im Schuh, sie blieb stehen und schüttelte ihn aus, schlüpfte wieder hinein und barg den Fuß im ledernen Futteral. Ich roch ihre Haut in der Sonne und den feinen Waldmeisterduft an ihr, und wenn ich sie küssen würde, schmeckte sie nach wilden Erdbeeren. Sie querte das Trockental und ließ sich gegenüber am Hang nieder, unter einer Buche. Ich hörte unter den dünnen Sohlen die Eckernschalen knistern. Sie legte sich ins Gras, stellte ein Bein auf, schloss die Augen.
Jetzt war ich ihr ganz nah.
In ihrem Kopf war es fremd. Ich schaute die weiten Waldwege, die sie gegangen war, das Alleinsein, die Zufriedenheit, die Heiterkeit in allem und eine Spur von Scheu. Ich spürte den Rock um ihre Waden fächeln, das unbekümmerte Gehen in den leichten Schuhen, die nackten Beine, wie sie durchs Gestrüpp staksten. Ich hörte das Lied, das sie sang, unablässig, und erfuhr ihren Namen. Sie hieß Summer. Das war aus ihrer engelischen Sprache, und ich musste an ihre weizenblonden Haare denken, feenhaarig, das frohe Treiben eines Jahrmarkts mitten im Wald, flötende Spielmänner, tanzende Gaukler, Ballen mit seidenem Tuch und Körbe duftender Gewürze, eine Helle und Leichtigkeit darin gerade so, wie sie versonnen mit ihren Wimpern das Licht fächelte. Gerade so, wie ich in ihrem Schoß lag und Ländliches meinte.
Ihr gegenüber war ich ein Anderer. Ich trug einen herben, schwermütigen Namen, Fall hätte ich heißen und im Taumel der sinkenden Blätter das Dunkel der Heimkehr beschwören können. Spräche sie mit mir? In Engelszungen? Wer wäre ich? Was wäre die Welt, wenn sie wäre?
Es ist schon hell um fünf. Die Vögel sind zu hören, die Straße liegt menschenleer. Sie fährt den Sportwagen aus der Garage und lässt das Verdeck zu. Sie trägt Pumps und ein graues Kostüm, das passt am besten zu ihren aschblonden Haaren und dem hellen Teint. Sie hat sich einmal beraten lassen, seither achtet sie auf die Farben, die sie trägt.
Auf der Landstraße ist kein Verkehr. In der Kreisstadt nimmt sie den Zubringer zur Autobahn. Etwas über eine Stunde benötigt sie morgens, um in die Landeshauptstadt zu kommen. Mittags, wenn sie zurück fährt, länger.
Die Arbeit fordert sie heraus. Sie möchte nicht ohne ihre Arbeit sein. Sie ist Unternehmensberaterin in einem größeren Büro im Westen der Stadt. Die Pendelei macht ihr nichts aus. Sie wollte so weit weg von der Hauptstadt wohnen, damit sie zuhause alles hinter sich lassen kann.
Jeden Morgen, wenn sie auf der Autobahn ist, denkt sie, dass es so nicht weiter gehen kann. Dass sie etwas ändern muss. Und an jedem Wochenende ist sie froh, dass die Arbeit vorbei ist, und genießt das Leben.
Nach außen tritt sie willensstark und selbstsicher auf. Sie wirkt auf die Geschäftkunden kühl und souverän. Für sie ist das eine Rolle, eine Haut, in die sie schlüpft. Es fällt ihr nicht schwer, aber sie hat das Gefühl, nicht bei sich selbst zu sein. Sie ist nicht wirklich sie selbst, es bleibt eine Fremde übrig, eine Unbekannte, die ihr verborgenes Wesen treibt.
Was suchst du? Wonach sehnst du dich? Wovor hast du Angst, und wofür würdest du alles riskieren? Du weißt wenig von dir, obwohl du dich in jedem Augenblick beobachtest. Du kontrollierst deine Wirkung auf andere, besonders auf die Männer in deiner Umgebung.
Manchmal liegt sie in ihrem Garten im Gras und hört den Grillen zu. Es ist Nacht, und die Sterne stehen am Himmel. Gern hätte sie jemanden, der ihr die Sterne erklärte, die Sternbilder zeigte, jemand, dem sie vertrauen könnte, ein Freund für die Nacht, nur für die Nächte, aber so liegst du allein, fröstelst in den Frühlingsnächten, drückst dich in deine Strickjacke, schließt die Augen gegen die Sterne, spürst ihre Anwesenheit hoch oben, weit gespannt über die ganze Welt, bist froh, dass du so klein bist, dass du nicht auch so riesig sein und die ganze Welt umspannen musst.
Sie weiß wenig davon, was sie im Leben will. Nur eines weiß sie: Männer können ihr gefährlich werden. Männer können ruinieren.
Aber nun, nun ist ja Sommer ...
Auf dem Rückweg komme ich auf die Flur hinaus, Nachtgeruch nach Gras und Feuchte, oben Sternenhimmel. Es ist warm, denke ich: Leg dich in die Wiese. Besuch Antares und Beteigeuze. Lieg und warte. Irgendwas wird schon passieren.
Sommerdreieck: eine markante Konstellation heller Sterne am nördlichen Sternenhimmel, die vor allem in den Sommernächten gut beobachtet werden kann. Mitte Juli steht sie um Mitternacht im Süden. Sie wird gebildet aus drei Fixsternen, die unterschiedlichen Sternbildern zugeordnet sind: Deneb im Schwan, Wega in der Leier und Atair im Adler.
So lebe ich meine langen halkyonischen Tage, die Tage vor Mittsommer, aber auch die Tages- und Nachtgrenze, den einen dauernden Tag zwischen Mücken und Aquavit, auf dem Grat der Ekliptik und starrend mit staunenden Augen ins zehrende Feuer, das das Alte frisst und das Neue entzündet – so lebe ich. Am Grund des Brunnens. Einen Stern möchte ich steigen sehen, der mir am Himmel die Richtung weist. Der Stern ist da. Im dunklen Brunnengrund, in der Schattenarena meiner Seele begegne ich ihm, und es stimmt, was die Elben sagen: Elen sila lúmenn’ omentielvo – ein Stern leuchtet über der Stunde unserer Begegnung. Wo aber und wann, wie geschehen und woher entstanden, das weiß nachher niemand mehr. Das Wichtigste: Freundlichkeit. Wohlwollen. Milde und Weisheit. Weggeleit. Stilles Gesinde, gemeinsames Ziel. Voraus auf dem Weg, den jeder irgendwann geht. Unter den Arkaden der Bäume, in Blaumoos und Silberlaub, wandernde Lichter und wunderlicher Gesang, Lieder der Wahrheit, und an den brennenden Feuern teilt sich Liebe aus. Zauberzunft, Wunderwerk. Wohltaten aus Hilfe und Willkomm.
Meine Eltern sehen es nicht gern, wenn ich auf die Hochfläche fahre. Sie haben Angst, dass ich das Lernen aufs Abi vernachlässige. Das ist Quatsch! Ich habe alles im Griff. Nur Mathe kann mir gefährlich werden, da stehe ich auf einer Drei, und ich habe Mathe als mündliches Prüfungsfach.
Ich habe meinen Eltern erzählt, dass ich bei einem Freund bin, den ich außerhalb des Gymnasiums kennen gelernt habe. Ich habe ihn regelrecht erfinden müssen. Ob sie mir glauben, weiß ich nicht. Von Linda würde ich kein Wort sagen. Weil sie so viel älter ist als ich, hätten sie sicher was dagegen. Sie würden es nicht verstehen.
Ich halte es geheim. Niemand weiß, dass es Linda gibt. Sie selber will auch nicht mit irgendjemandem aus meinem Schülerleben in Kontakt kommen. Wir leben jeder unser Leben. Was zählt, ist nur unser Zusammensein.
Was sie beruflich macht, weiß ich nicht. Ich frage sie auch nicht danach. Es geht mich nichts an, und ich will es nicht wissen. Wenn ich mit Linda zusammen bin, vergesse ich alles um mich her. Ich vergesse auch, dass ich erst achtzehn bin. Ich vergesse, dass ich nicht weiß, was ich nach dem Abi machen soll, was ich überhaupt vom Leben will.
Im Gegensatz zu den Anderen mache ich mir darum keine Sorgen. Irgendwas wird sich finden. Ich habe das Gefühl, dass ich noch zu wenig vom Leben erfahren habe, ich meine: vom richtigen Leben, als dass ich schon wissen kann, was ich will. Linda ist das richtige Leben. Wenn ich mit ihr zusammen bin, sieht das Leben ganz anders aus als in der Schule oder zuhause in meinem Zimmer, und meine Kumpels kommen mir kindisch und albern vor.
Linda kann mir viel zeigen. Linda kennt das Leben. Sie kennt die Liebe. Darum geht es mir vor allem. Ich habe das Gefühl, dass ich noch viel zu wenig erfahren habe, was Liebe ist. Ich habe vor zwei Jahren, mit sechzehn, eine Freundin gehabt, Anna. Das war, denke ich jetzt, Kinderkram. Selbst das bisschen an Sex, das wir hatten, ist nichts gegen das Gefühl, wenn ich mit Linda zusammen bin. Die Luft knistert. Ich spüre einen Sog, der von ihrem Körper ausgeht, ich will sie riechen und spüren und schmecken, ich will ihr ganz nah sein, und in ihrer Nähe ist ein Geheimnis verborgen, das nichts mit Anna oder sonstwem zu tun hat.
Ja, ich will wissen, was das für ein Geheimnis ist. Die Anderen brüsten sich manchmal damit, dass sie schon mit einem Mädchen geschlafen haben. Dann gibt es eklige Geschichten von Entjungferung und Kondomen, ich weiß nicht, ob ich das alles glauben soll. Ich habe damals nicht mit Anna geschlafen. Aber ich bezweifle auch, dass diese ersten Sexabenteuer etwas mit Lindas Geheimnis zu tun haben.
Ich will noch so viel erleben.
Und jetzt, jetzt ist Sommer.
Das Sommer-Adonisröschen wächst als einjährige krautige Pflanze und erreicht Wuchshöhen bis einen Meter. Die Blütezeit reicht von Mai bis Juni. Die Blüten stehen endständig und einzeln. Die Farbe der Kronblätter reicht von leuchtend purpurrot bis zinnoberrot, an ihrer Basis oft mit schwarzem Fleck. Es ist in Mitteleuropa sehr selten geworden und tritt kaum noch in größeren Beständen auf, sondern meist einzeln und zerstreut. Es siedelt an Ackerrändern, in Getreidefeldern, seltener Hackfruchtkulturen und auf Ödland. Es enthält Strophanthin und Cymarin-Strophanthidin, weshalb schon viele Pferde verendet sind, die die Pflanze gefressen haben.