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© dieser Ausgabe: Sina Blackwood 2017
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Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit heute lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783744860345
„Fremder, du solltest die Nacht nicht unter freiem Himmel verbringen.“
Yussuf blieb stehen, sich erstaunt umwendend. Er begegnete dem ehrlichen Blick des schwarzen Augenpaares in einem von tiefen Falten durchzogenen Gesicht. Yussuf glaubte, so etwas wie Sorge zu erkennen und den unausgesprochenen Rat, die Oase lieber vor Anbruch der Dunkelheit zu verlassen. Bevor er eine Frage stellen konnte, war der alte Mann im Getümmel des Basars verschwunden. Er hatte schnell und leise gesprochen. Yussuf wurde aufmerksam. Die ganze Zeit über hatte er schon das seltsame Gefühl gehabt, dass irgendetwas in dieser Stadt nicht stimmte.
Der Marktplatz war voller Händler, die mit ihren Kunden feilschten, die Sonne schien, keine einzige Wolke war zu sehen und trotzdem fror Yussuf. Die Kälte kam von innen. Sie hielt ihn wie eine Stahlklammer umfangen, um ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Schon als er heute Morgen durch das südliche Tor die Stadt betreten hatte, fühlte er eine unbestimmte Beklemmung in sich aufsteigen. Reisenden schien man hier, nicht sonderlich gewogen zu sein. Er vermisste die orientalische Gastfreundschaft, die ihm allerorten auf seinem langen Weg zuteil geworden war. Einzig der seltsame Alte hatte ihm für eine antike Silbermünze Proviant für die Weiterreise verkauft. Yussuf ahnte, dass der gut gemeinte Rat offenbar mehr wert war, als alles Geld dieser Welt.
Er nahm sich vor, auf der Hut zu sein, vor was auch immer. Nur, wo sollte er bleiben, wenn ihm hier jeder buchstäblich die Tür vor der Nase zuschlug? Nachdenklich setzte er sich in den Schatten einer Palme. Alles hier war seltsam. Eigentlich auch, dass es diese Oase überhaupt gab. Das Navigationssystem seines Geländewagens hatte keinen Ort in diesem Teil der Wüste angezeigt. Selbst der Name dieses ungastlichen Fleckens brachte ihn jetzt nicht weiter – Ben Abu. Die Elektrik seines Fahrzeuges war, von einem Augenblick zum anderen, komplett ausgestiegen. Nicht nur die, sein Handy und sogar seine digitale Armbanduhr sagten keinen Mucks mehr.
Yussuf hatte mit den Schultern gezuckt, war zu Fuß in die Oasensiedlung gelaufen, die er am Horizont erkennen konnte, und hatte gehofft Hilfe zu finden. Ihm, dem Fremden, der ohne Pferd oder Kamel daherkam, begegnete man mit Misstrauen. Als er gar nach einer Autowerkstatt oder einem Elektriker fragte, Worte, die hier keiner verstand, hielt man ihn offenbar für völlig verrückt. Yussuf seufzte. Er nahm seine Tasche auf, warf einen letzten Blick über den Basar, dann machte er sich, eingedenk der Worte des gütigen Greises, zu seinem Auto auf, das irgendwo das draußen in der weiten Wüste stand. Er wollte die Nacht lieber gleich außerhalb der Stadtmauern verbringen.
Der knallrote Lack des Geländewagens war, im Gelb des Sandes, kaum zu übersehen. Yussuf beeilte sich, denn die Sonne sank schnell. Eilends riss er die Fahrertür auf, kaum dass er den Nissan erreichte hatte und genau so rasch zog er sie hinter sich zu. Sofort versuchte er noch einmal, den Wagen zu starten. Vergeblich. Vorsichtshalber verriegelte er alle Türen mit der Hand, um möglichst ungestört schlafen zu können. Yussuf grübelte, wovor ihn der alte Mann wohl hatte warnen wollen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die beiden Torwächter mit Lanzen und Säbeln bewaffnet gewesen waren. Lanzen im einundzwanzigsten Jahrhundert! Andererseits – die ganze Oase hatte ganz den Eindruck bei ihm hinterlassen, aus einem völlig anderen Jahrhundert zu stammen.
Er schob seinen Autositz etwas mehr nach hinten, klappte die Lehne zurück, wobei sein Blick zufällig die Silhouette der fernen Palmen streifte. Wie von einer Stahlfeder getrieben beugte er sich nach vorn. „Ich bin doch nicht verrückt! Oder doch?“ Die Palmen verschwanden. Nein, nicht etwa wegen der einsetzenden Dunkelheit, sie verschwanden irgendwo im Boden. Mit offenem Mund starrte Yussuf auf die Stelle, wo Augenblicke zuvor eine blühende Oase gewesen war. Ein paar Mal rieb er sich die Augen, die Bäume waren und blieben verschwunden und mit ihnen die ganze Stadt. Schwer atmend blieb er einfach sitzen.
Nach einer Weile löste sich langsam der Schock, das Gehirn begann wieder zu arbeiten. Nun nahm er auch das leise Kratzen unter seinem Fahrzeug wahr. Yussufs Herz fing an zu rasen. Nicht, dass er jetzt auch irgendwo im Boden verschwand! Ein paar Minuten später beruhigte er sich endlich. Der Nissan stand wie ein Fels in der Brandung. Nur dieses schleifende Geräusch blieb. Yussuf kletterte ins Heck des Autos, drückte vorsichtig die Kofferraumklappe auf, beugte sich noch vorsichtiger hinaus, um einen Blick unter das Auto zu werfen. Er sah gerade noch, wie zwei kleine Füße verschwinden wollten. Ohne weiter nachzudenken, packte er blitzschnell zu. Ein erschrecktes Jammern erklang, ehe er Zentimeter für Zentimeter ein etwa zwölfjähriges Kind hervorzog.
Yussuf hatte mit heftiger Gegenwehr gerechnet und damit, dass der ertappte Störenfried sofort türmen werde. Stattdessen klammerte sich der schwarzhaarige Junge fest an seinen Arm, wobei er kaum hörbar immer wieder flüsterte: „Nimm mich mit. Bitte, bitte, nimm mich mit.“
Yussuf war viel zu überrascht, um zu antworten. Er blieb einfach liegen und taxierte den Knaben, der sich langsam aufrappelte, ohne dabei seinen Arm auch nur eine Sekunde loszulassen. Dann versuchte Yussuf, dessen Klammergriff zu lösen.
„Nein, nein, nein!“, flehte der Kleine.
„Na gut.“ Der Geologe setzte sich auf die Kante und musterte weiter den seltsamen Gast, der wie eine Klette an ihm hing. Gefährlich sah er ja nicht aus, eher völlig verängstigt, verzweifelt und – ja, und ganz anders als die Leute in der Oase. Das heißt, seine Kleidung war irgendwie anders, eher wie das, was er von Kindern dieses Alters in seinem Umfeld gewöhnt war. „Komm rein.“ Yussuf half ihm beim Erklimmen der Ladeklappe, dann schloss er sie schnell.
Erst jetzt ließ der Knabe los, warf sich ihm vor die Füße und rief: „Danke, tausend Mal Danke. Ich werde dir mein ganzes Leben lang dankbar sein!“
„Na, mach halblang. Setz dich. Jetzt erzählst du mir erst einmal, wer du bist, wo du wohnst und weshalb du solche Angst hast. Doch nicht etwa vor deinen Eltern, weil sie dir verboten haben, mit einem Fremden zu sprechen?“
Der Junge verneinte, während er sich auf den Beifahrersitz drückte. Seine Hände streichelten dabei das Armaturenbrett und ein glückliches Leuchten zog in sein Gesicht. Yussuf beschloss, sich vorzusehen. Immerhin wäre es doch denkbar, dass der Kleine da ein Lockvogel für Autodiebe oder Schlimmeres war. Das laute Magenknurren des Jungen riss Yussuf aus seinen Gedanken. Er jetzt fielen ihm die abgemagerten Beine auf, die unter der Dreiviertelhose hervorlugten. Yussuf schüttelte unwillig den Kopf. Dann langte er nach hinten, wo die Tasche mit dem Essen lag. Der Kleine hatte womöglich den ganzen Tag noch nichts bekommen. Augenblicke später ging in einem Kindergesicht die Sonne auf. „Greif zu, sonst verhungerst du mir noch. Erzählen kannst du später“, schmunzelte Yussuf.
„Wurst und richtiges Brot!“, strahlte der Kleine, als er genüsslich kauend wieder auf seinem Platz hockte.
Yussuf beobachtete jede Regung des Knaben, der offensichtlich schon besser Tage gesehen hatte und dessen Gesichtszüge ihm irgendwie bekannt vorkamen. Er konnte sich nur nicht erinnern, wo er dieses Kind schon einmal gesehen haben könnte. Dann fiel ihm die verschwundene Oase wieder ein. Dort hatte er ihn jedenfalls nicht gesehen, so viel war sicher. Seltsam. Alles war hier seltsam.
„Dein Auto ist wohl auch einfach stehengeblieben?“, fragte der Junge plötzlich.
„Ja, einfach so.“
„Unseres auch.“
„Ach wirklich?“, Yussuf beugte sich dem Kind entgegen. „Und wo ist es jetzt?“
„Weiß nicht.“ Der Kleine schaute wehmütig aus dem Fenster und wischte sich heimlich ein paar Tränen ab.
„Und deine Eltern?“
Der Junge zuckte hilflos mit den Schultern.
Yussuf überlegte. „Pass auf, du erzählst mir jetzt ganz der Reihe nach, was passiert ist, als euer Auto stehen blieb. Aber zu allererst sagst du mir, wie du heißt. Okay?“
„Okay. Ich bin Hakim al Kassim und mein Papa ist der Juwelier am großen Basar in Kairo.“
Yussuf machte eine überraschte Bewegung. Er kannte das Geschäft und den Inhaber persönlich. Er wusste auch um die seltsame Geschichte, die man sich hinter vorgehaltener Hand über ihn seit Jahren erzählte. Seine Kinder sollten entführt worden sein, ohne dass jemals eine Lösegeldforderung gestellt worden wäre. Man soll nicht die kleinste Spur von ihnen gefunden haben, hieß es. Eine Zeitlang verdächtigte man den Vater sogar, er habe seine beiden Kinder umgebracht.
„Hakim warte einen Augenblick, ich möchte dir etwas zeigen.“ Er zog einen vergilbten Briefumschlag mit Fotos aus seinem Aktenkoffer. Schnell hatte er gefunden, wonach er suchte. Er hielt ihm drei Bilder hin.
Mit zitternden Fingern strich Hakim über die Gesichter. „Das hier ist mein Papa und der andere Mann ist Yussuf, der studiert Geologie“, sagte er leise.
„Ja du hast Recht, der andere Mann ist Yussuf.“
„Woher hast du die Bilder?“
„Von dem, der sie gemacht hat.“
Der Junge zuckte zusammen. Mit übernatürlich geweiteten Augen schaute er den Mann vor sich an. „Die habe ich gemacht. Aber dann – dann – dann…“ Plötzlich sprang er auf, um mit wenigen Handgriffen den linken Ärmel seines Gegenübers hochzuschieben. Eine lange Narbe, vom Ellebogen bis fast an die Schulter kam zum Vorschein. „Yussuf! Du bist Yussuf! Du musst Yussuf sein!“ Er fiel ihm um den Hals und lachte und weinte gleichzeitig.
„Hakim, mein Kleiner.“ Yussuf nahm den schmächtigen Köper liebevoll in die Arme. „Was ist nur mit dir geschehen? Du bist noch immer der Junge von damals, während sich unsere Uhr ganze zehn Jahre weiter gedreht hat.“
„Zehn Jahre???“ Hakim wand sich aus Yussufs Armen. „Hast du gerade zehn Jahre gesagt?“
Yussuf nickte. „Ja, so lange ist es her, wo du plötzlich verschwunden warst.“
„Verschwunden?“ Hakim schaute Yussuf ungläubig an. „Die anderen sind plötzlich verschwunden, ich war die ganze Zeit in der Oase da drüben und habe gewartet, dass sie mich wieder abholen.“
„Welche Oase?“, fragte Yussuf, um Hakim zu testen.
„Na die da drü…“ Dem Jungen blieb der Satz im Hals stecken. Er rieb sich die Augen, rutschte langsam von seinem Sitz, um förmlich an der Frontscheibe klebend, in die Nacht zu starren. Kreidebleich lehnte er sich schließlich zurück. „Meine Schwester ist noch dort“, flüsterte er kaum hörbar. „Ich habe sie im Stich gelassen.“
„Nein, das hast du nicht. Wir werden sie finden.“
Hakim schüttelte wild den Kopf. „Wie denn? Alles ist verschwunden. Dort draußen ist nur noch Sand. Alle sind weg, einfach weg. Wie meine Eltern…“
„Ich weiß noch nicht wie, aber ich werde eine Lösung finden. Ich verspreche es dir. Deine Eltern sind jedenfalls nicht verschwunden. Ich bringe dich zu ihnen nach Kairo. Vorausgesetzt, das Auto springt an oder das Handy geht wenigstens wieder.“ Yussuf drehte zaghaft den Zündschlüssel. Der Nissan sprang an, als habe es nie Probleme gegeben. Hakims Jauchzen mischte sich in seinen Freudenschrei. „So mein Junge, wir beide verschwinden hier schleunigst, so lange wir noch können. Wenn wir einen guten Schlachtplan haben, kommen wir wieder und holen deine Schwester.“
Schaukelnd fuhr der Geländewagen an, dann gab Yussuf mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern richtig Gas. Hakim kniete auf dem Sitz und schaute noch lange auf jene Stelle, an der die geheimnisvolle Oase gewesen war. Erst als eine Düne die weite Ebene verdeckte, setzte er sich wieder hin, um einen Augenblick später ganz fest einzuschlafen. Yussuf hielt an, kippte die Lehne herunter, zog den Jungen etwas höher, wobei er ihn gleich noch in eine warme Decke einhüllte. „Schlaf schön. Bald bist du zu Hause.“ Dann fuhr er sofort weiter, um im Morgengrauen Kairo zu erreichen.
Immer wieder glitt sein Blick auf den Beifahrersitz. Was mochte der Kleine in den letzten Jahren erlebt haben? Und vor allem, warum war er nicht gealtert? Was hatte es mit der Oase auf sich? Fragen über Fragen, die aber alle wenigstens bis zum nächsten Morgen Zeit hatten. Yussuf fuhr wirklich die ganze Nacht durch. Er fühlte nicht einmal eine Spur von Müdigkeit. Endlich, kurz nach Mitternacht, ließ er die letzten Ausläufer der Wüste hinter sich. Auf den asphaltierten Straßen kam er gut voran. Ein leises Gähnen deutete an, dass Hakim erwacht sein musste. Yussuf wandte sich ihm zu und hätte vor Schreck beinahe das Auto an die nächste Mauer gesetzt.
„Was ist passiert?“, fragte Hakim, der sich nur mit Mühe festhalten konnte.
Yussuf deutete wortlos auf den Innenspiegel. Hakim schob die Decke beiseite, stellte die Rückenlehne wieder gerade, um besser hineinsehen zu können.
„Oh“, mehr konnte er nicht sagen. Ihm schaute ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren entgegen. Langsam, völlig ungläubig und äußerst vorsichtig betastete er sein Gesicht. Er konnte die Berührungen durch seine Finger spüren, also musste es ganz einfach sein Gesicht sein.
„Ich glaube damit hat dich die Magie wieder völlig frei gegeben“, stellte Yussuf zufrieden fest. „Schließlich ist das, was ich und du erlebt haben, gegen jedes Naturgesetz. Na hoffentlich stecken sie uns nicht gleich in die Klapsmühle, denn das glaubt uns niemand.“
„Ich habe Angst.“ Hakim schaute Yussuf Hilfe suchend an.
„Ich auch. Jetzt müssen wir gemeinsam zusehen, wie es weitergeht. Ich schlage vor, wir fahren ohne Umwege zu deinem Vater. Er dürfte der einzige Mensch sein, mit dem wir wirklich reden können.“
Hakim nickte. Er vertraute Yussuf, so wie er ihm schon immer vertraut hatte. Dieser war in den Fond des Wagens abgetaucht und wühlte in einer großen Tasche. „Zieh das an“, rief er nach vorn. „Ich kann dich unmöglich in diesem Aufzug zu deinem Vater bringen.“ Ein Bündel Kleidung landete auf Hakims Schoß. Er schaute an sich hinunter. Sein Hemd war durch das plötzliche Wachstum aufgerissen und auch die Hose hing in Fetzen. Dankbar nahm er die Hilfe an. Yussuf packte die Kinderkleidung sorgsam in einen Beutel. Vielleicht würden sie sie noch als Beweisstücke brauchen. „Bereit?“, fragte er.
„Wie man es nimmt“, murmelte Hakim. „Ich hab verdammt viel Schiss, dass mich mein Vater nicht mehr sehen will. Ich hab doch keine Ahnung, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist.“
„Finden wir es heraus. Nur Mut. Wenn es ganz heftig für dich kommt, dann engagiere ich dich als Helfer für meine Forschungsarbeiten, damit du wenigstens ein Dach über dem Kopf und was zu beißen hast.“
Er klopfte Hakim freundschaftlich auf die Schulter, dann startete er den Nissan. Im Morgengrauen erreichten sie Kairo. Neugierig betrachtete Hakim die Stadt, in der sich so vieles verändert hatte. Als das Fahrzeug in die Straße am Basar einbog, konnte Yussuf Hakims Herz klopfen hören. Es hämmerte als wollte es zerspringen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er mit einem besorgten Seitenblick.
Der Heimkehrer hatte seiner Finger so fest ineinander verkrallt, dass die Gelenke hervorstachen, blass und nervös hockte er auf seinem Sitz. Yussuf sprang aus dem Auto. Er half seinem Begleiter, dem die Hände zitterten und fast die Beine versagten, beim Aussteigen. Trotz der frühen Stunde brannte Licht im Büro des Juweliers. Yussuf klingelte. Er sah aus den Augenwinkeln, wie sich die Lamellen der Jalousien bewegten. Der Summer ertönte, die Tür öffnete sich und die beiden Ankömmlinge traten in den Hausflur.
„Ah, Yussuf, schön dich zu sehen, auch wenn die Stunde ungewöhnlich ist.“ Ali al Kassim reichte ihm beide Hände, bevor er den Fremden in dessen Begleitung begrüßte. Er bat sie in sein Büro, deutete auf die Leder-Sitzgruppe und betrachtete seine Gäste. Lange hing sein Blick am Gesicht des fremden jungen Mannes. Es kam ihm so bekannt, so vertraut vor. „Was kann ich für euch tun?“, fragte er schließlich.
Yussuf schaute ihm bekümmert in die Augen. „Ali, ich habe ein Problem. Ich weiß nur nicht, wie ich es dir schonend beibringen kann.“
Ali schmunzelte. „Sag, wie viel du brauchst.“
„Ach, um Geld geht es nicht.“ Yussuf lächelte flüchtig.
„Was dann?“
„Was würdest du tun, wenn dein Sohn plötzlich wieder auftauchen würde?“, fragte Yussuf plötzlich.
Ali zuckte zusammen. „Mein Sohn? Ich sehne mich nach meinen Kindern… Nacht für Nacht sitze ich hier, weil ich nicht schlafen kann … was mag nur mit ihnen geschehen sein?“ Er wischte eine Träne weg. „Ich habe doch alles versucht, um die beiden zu finden. Mein Vermögen würde ich geben, um noch einmal ihre Hände halten zu dürfen. Hakim wäre jetzt wohl in dem Alter wie dieser junge Mann.“ Er deutete leicht mit dem Kopf in dessen Richtung. „Vielleicht würde er sogar so ähnlich aussehen. Er hatte die gleichen verträumten Augen.“ Ali seufzte schwer.
Yussuf öffnete den Beutel mit den Kleidern. Stück für Stück legte er auf den Tisch. Alis dunkelbraune Gesichtshaut nahm einen kalkigen Ton an, er streckte den Zeigefinger aus. „Woher hast du das??? Das sind die Sachen, die mein Sohn getragen hat, als er verschwand. Hast du sie in der Wüste gefunden? Rede schon! Wo hast du das her!“
„Von ihm.“ Yussuf legte Hakim eine Hand auf den Arm. Er spürte deutlich das heftige Zittern.
Ali wandte sich dem jungen Mann zu, der noch kein Wort gesagt hatte. „Wer hat dir das gegeben?“
„Mein…“ Hakim versagte die Stimme. „Mein Vater“, stieß er kratzig hervor. „Das war zu meinem zwölften Geburtstag. Er hatte in die linke Tasche am Hosenbein eine Uhr mit Kompass gesteckt, wie ich sie mir schon seit langem gewünscht hatte. Dafür versprach ich ihm, mindestens einen ganzen Tag lang, meine Schwester Fatima nicht zu ärgern. Er drohte mir scherzhaft mit dem Finger, weil er genau wusste, dass ich das nicht durchhalten würde …“
Ali war aufgesprungen. Er breitete die Arme aus. „Hakim???“
„Vater!!!“
Auch Yussuf zog sein Taschentuch hervor. Dieses Arbeitszimmer hatte schon unzählige Tränen gesehen, nur noch nicht in solchen Strömen. Vater und Sohn hielten sich umschlungen, als wollten sie einander nie mehr loslassen. Nach einer unendlich scheinenden Weile wandte sich Ali an Yussuf. „Wo hast du ihn gefunden?“
„Das ist eine verworrene Geschichte. Genau genommen hat er mich gefunden.“
Ali legte den beiden die Arme um die Schultern. „Kommt, wir gehen hoch in die Wohnräume. Dort ist gemütlicher. Ich habe unzählige Fragen, ohne deren Beantwortung ich einfach keine Ruhe mehr finden werde.“
„Es hat sich einiges verändert“, murmelte Hakim, als er nach Ali das Zimmer betrat. „Die Sitzgruppe und der Teppich sind neu. Dafür fehlt der kleine runde, unter dem Tischchen, auf dem ich mal ein ganzes Tintenfass verkippt habe.“
Ali strahlte über das ganze Gesicht. „Spätestens jetzt hättest du mich überzeugt, dass du wirklich mein Sohn bist.“
Auf Yussufs fragenden Blick antwortete Hakim. „Nur Vater und ich wussten davon. Er hat, damit Mutter nichts merkt, einen kleinen Fleck, der sich partout nicht mehr entfernen ließ, so gedreht, dass der Fuß des Tisches genau darauf stand.“
Ali hatte inzwischen einen Polsterhocker geöffnet.
„Du hast ihn aufgehoben!“, rief Hakim überrascht, als Vater das Corpus Delicti daraus hervorzog.
Ali winkte, ihm zu folgen. Er öffnete die Tür des Zimmers, welches einmal das Kinderzimmer seines Sohnes gewesen war. Hakim musste sich am Türrahmen festhalten. Mit bebenden Lippen flüsterte er. „Das ist, als hätte ich erst vor ein paar Minuten mein Zuhause verlassen.“
Auf dem Fußboden stand das große Kranauto, mit einem Baustein am Haken, das Aquarium, liebevoll gepflegt, wartete auf seinen richtigen Herrn und auf dem Fensterbrett blühten unzählige Kakteen. Nur waren diese jetzt um einiges größer als vor zehn Jahren.
„Ich habe nie die Hoffnung aufgegeben, dich jemals wiederzusehen.“ Ali drückte Hakims Arm. „Und auch Fatimas Zimmer wartet .“ Bei diesen Worten sah er die beiden Männer fragend an.
Yussuf räusperte sich. „Du wirst alles erfahren, was wir wissen“, versprach er, als sie ins den kleinen Salon zurückgingen. Er begann auch mit seinem Teil der Geschichte, der Ali atemlos lauschte. Ungläubiges Kopfschütteln erntete er, als er schilderte, wie plötzlich die Oase verschwand und später neben ihm, statt des Kindes, ein junger Mann auf dem Beifahrersitz lag. Hakim nickte immer wieder zu den Worten seines Retters. „Was mit ihm in den ganzen Jahren geschehen ist, weiß ich auch nicht. Er war so furchtbar müde, dass ich ihn lieber schlafen ließ, statt ihm Löcher in den Bauch zu fragen“, beendete der Geologe seinen Bericht.
Ali bat das Hausmädchen, Frühstück für drei zu bringen.
„Wie fühlst du dich?“, fragte er Hakim. Es war ihm in der ganzen Aufregung erst jetzt aufgefallen, wie abgezehrt dieser aussah.
„Gut, wäre gelogen. Ich habe gestern seit langer, langer Zeit, das erste Mal richtiges Essen bekommen. Bis dahin habe ich von Almosen gelebt und dem, was ich gerade fand. Niemandem in ganz Ben Abu wäre es eingefallen, ein fremdes Kind mit durchzufüttern.“
„Und Fatima?“
Hakim lächelte wehmütig, als er an sie dachte. „Ihr mangelt es an nichts, außer an Freiheit. Malik hält sie in seinem Palast gefangen. Er will sie zwingen, seine Frau zu werden.“
Yussuf machte eine überraschte Bewegung. Fatima müsste jetzt fünfundzwanzig sein, wenn er sich nicht völlig irrte, in der Oasen-Welt aber wohl nur fünfzehn. Er hatte sie zwei oder drei Mal gesehen, als er geschäftlich bei Ali war. Fatima war eine Schönheit, von der er oft geträumt hatte. Nur hielt ihn damals sein schmales Studenteneinkommen davon ab, Ali um ihre Hand zu bitten. Dann war sie plötzlich spurlos verschwunden, genau wie Hakim.
Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass ihn Vater und Sohn amüsiert anschauten. Sein Gesicht spiegelte wohl zu deutlich wieder, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war.
„Ich hätte nichts dagegen“, schmunzelte Ali.
Nun zuckte Yussuf erschreckt zusammen. „Wa – was?“
„So wie du sie angesehen hast, schaut sonst nur ein Kind einen Baum voller süßer Früchte an“, erklärte Ali mit einem Augenzwinkern.
Der Geologe wurde verlegen, konnte aber nicht anders, als zustimmend zu nicken. „Ich habe Hakim versprochen, alles zu tun, um sie da raus zu holen. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber ich werde einen Weg finden. Vor allem muss diese verdammte Oase erst einmal wieder auftauchen.“
Ali hob den Zeigefinger. „Gestern waren genau zehn Jahre um, nachdem ich meine Kinder verloren habe. Vielleicht taucht dieser seltsame Ort nur alle zehn Jahre in unserer Welt auf? Deine Worte von Magie und bar jedes Naturgesetzes, haben mich überzeugt.“
Hakim schüttelte nachdenklich den Kopf. „Glaube ich nicht. Es sind vor Yussuf andere Menschen aus dieser Welt in Ben Abu gewesen. Ich konnte nur nicht fliehen. Malik hat seine Augen und Ohren fast überall.“
„Wer ist dieser Malik?“, forschte Yussuf.
„Ein Magier. Er hat sich zum Herrn der Stadt aufgeschwungen und niemand traut sich zu murren, weil er seinem Scharfrichter nur zu gern bei der schmutzigen Arbeit zusieht. Man munkelt, er habe den rechtmäßigen Herrscher enthaupten lassen, um an die Macht zu gelangen“, erklärte Hakim.
„Was ist mit den anderen Besuchern der Oase geschehen?“, fragte Ali weiter.
Hakims Blick verdüsterte sich. „Zwei oder drei sind entkommen. Die haben, wie Yussuf, die Stadt zeitig genug verlassen. Die anderen wurden nie wieder gesehen. Sie haben es wohl nicht geschafft, rechtzeitig ein Dach über dem Kopf zu finden.“
„Ein Dach über dem Kopf …“, wiederholte Yussuf leise. „Der alte Mann auf dem Markt hatte mich gewarnt, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen.“
„Das wird wohl der gleiche Alte gewesen sein, der es auch mir gesagt hat“, erzählte Hakim. „Nur bin ich, weil ich Fatima finden wollte, in der Oase geblieben. Ich hatte die Nacht in einem Pferdestall verbracht und konnte am Morgen das Tor nicht mehr verlassen. Es war, als würde ich gegen eine unsichtbare Wand laufen. Irgendwann habe ich mich in mein Schicksal gefügt und Nacht für Nacht eine Bleibe gesucht, um Maliks Häschern zu entgehen.“
Yussuf und Ali hoben erstaunt die Köpfe. „Häscher?“, fragten sie gleichzeitig.
Hakim nickte. „Der Magier lässt auf alles Jagd machen, was nicht in die Stadt gehört.“
„Dann hat er sicher etwas zu vertuschen“, murmelte Ali nachdenklich.
Yussuf starrte in Gedanken versunken den kleinen Teppich an, den Ali zusammengerollt auf den Schrank gelegt hatte. „Dieser Malik … kann der richtig zaubern … oder arbeitet der mit Tricks?“
Während ihn Hakim verständnislos anschaute, begann Ali zu lachen. „Äh, Yussuf, verlangst du nicht ein bisschen viel? Falls das stimmt, was ihr erzählt habt, dann hat Hakim zwar sein wahres Alter wieder eingeholt, nur der Wissensstand ist auf dem alten Niveau. Wie sollte er plötzlich wie ein Erwachsener denken, wenn er zehn lange Jahre mit Kinderaugen eine längst vergangene Welt betrachtet hat?“
„Hast ja Recht. Nur …“
Hakim legte Ali eine Hand auf den Arm. „Vater, ich war damals zwölf Jahre alt. Damit war ich zwar klein, aber nicht dumm. Auf alle Fälle weiß ich, dass es weder Strom, noch irgendwelche Technik dort gibt, wie sie in jener Zeit hier üblich war. Yussufs Auto ist genau so stehen geblieben wie unser Auto und nicht einmal die Uhren oder Taschenlampen funktionierten mehr. Also muss es wohl so sein, dass Malik richtig zaubern kann.“
„Okay.“ Yussuf lächelte nachsichtig. „Kindliche Logik kann manchmal gute Denkansätze liefern. Vielleicht verfügt er über einen Störsender, der alles lahm legt, außer seinen eigenen Maschinen? Egal, Hakim, sag bitte zu allem was wir besprechen deine Meinung, auch wenn du das Gefühl hast, wir wollten dich hinstellen, als ob wir es besser wüssten. Versprichst du es mir?“
„Mach ich. Schon weil ich Fatima wieder finden will, was ich nicht allein schaffen kann.“
„Übersinnliche Dinge sollten wir trotzdem nicht außer Acht lassen“, sprach der Geologe weiter. „Das Philadelphia-Projekt wird es ja nicht gewesen sein, warum die Oase plötzlich verschwunden ist. Außerdem habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass Hakim gestern ein Kind war und heute ein Mann ist. Eine optische Täuschung ist völlig ausgeschlossen, zumal er ja heute früh die aufgerissenen Kleider trug, die das rasante Wachstum nicht verkraftet haben.“ Yussuf gähnte herzhaft. Dann wandte er sich an Ali. „Hast du irgendwo ein Fleckchen zum Ausruhen für mich? Ich bin seit fast drei Tagen ohne Unterbrechung auf den Beinen.“
Der Juwelier beeilte sich, ihn persönlich zu einem der schmucken Gästezimmer zu bringen. „Wenn du etwas brauchst, klingele nach dem Hausmädchen“, riet er noch, bevor er Yussuf verließ. Als er in den Salon zurückkam, stand Hakim am Fenster. Stumm schaute er hinunter auf den großen Platz, wo soeben die ersten Händler ihre Stände öffneten. Ali trat leise neben ihn. „Woran denkst du?“
„An Mutter. Wie geht es ihr? Du hast noch kein Wort über sie gesagt.“
Ali seufzte schwer. „Am besten, du bildest dir selbst ein Urteil. Seit jenem Tag, an dem ihr verschwunden seid, ist ihr Geist verwirrt. Komm, ich bringe dich zu ihr. Vielleicht findest du einen Weg in ihre Gedankenwelt.“
Hakim folgte seinem Vater in die Räume, die früher nur Mutter und Fatima vorbehalten waren.
Ali klopfte. „Jasina?“, fragte er vorsichtig, weil keine Antwort erfolgte. Langsam öffnete er die Tür.
Hakim erschrak über den Anblick, der sich ihm bot. Das Zimmer wirkte völlig unberührt, nur in der hintersten Ecke hockte ein Bündel Elend auf einem Teppich, die Wange an die Wand gedrückt, auf dem Schoß einen kleinen grauen Hund.
„So sitzt sie Tag für Tag und zu keinem Menschen spricht sie ein Wort. Nur Namu flüstert sie manchmal wirre Worte zu. Er verlässt sie auch nur, um seine tägliche Runde im Garten zu laufen, dann kehrt er sofort zu ihr zurück.“
„Unser alter Namu?“, fragte Hakim erstaunt.
„Ja. Er ist jetzt siebzehn Jahre, sieht schlecht, die Beine wollen nicht mehr, das Fell ist grau, aber sonst ist er gesund.“
Hakim ging ein paar Schritte auf die beiden in der Ecke zu. Der Hund hob witternd den Kopf, während Jasina keinerlei Reaktionen zeigte. Ihr Blick ging irgendwo ins Leere.
Hakim kniete sich auf den Boden. „Guter Namu, komm her mein Kleiner. Kennst du mich noch?“, sagte er leise.
Das Tier kroch langsam vom Schoß der Frau. Er wandte sich dem Knienden zu.
„Wer ist das?“, murmelte Jasina, wobei sie weiter vor sich hin starrte.
Namu hatte inzwischen Hakim erreicht und begann, ihn eingehend zu beschnüffeln. Der Hand, die ihn streicheln wollte, begegnete er mit einem misstrauischen Knurren. Jasina schreckte zusammen, drehte langsam ihr Gesicht zu Hakim und Ali hinüber. Hakim beugte sich weiter vor, worauf ihm der Hund die Nase mitten ins Gesicht drückte, erfreut aufwinselte, sich zitternd an seine Beine schmiegte, um plötzlich Schwanz wedelnd einen wahren Freudentanz aufzuführen. „Er hat mich erkannt!“, rief Hakim überglücklich. Mit dem Hündchen auf dem Arm setzte er sich an den Rand des Teppichs, ohne seine Mutter anzusprechen, die forschend sein Gesicht studierte.
Ali stand etwas abseits, um atemlos zu beobachten, wie seine Frau zum ersten Mal diesen irren Blick verlor. Sie streckte zögernd die Hand aus. Aber nicht, um den Hund zu kraulen, sie begann Hakims Stirn zu streicheln, glitt etwas tiefer, berührte die Wangen, die Lippen, dann beugte sie sich zu ihm hinüber, um ihn, fast wie der Hund, zu beriechen. Schließlich ruhte ihr Blick wieder auf seinen Augen. Sie schien zu überlegen. Noch immer war kein Laut gefallen. Plötzlich kam Leben in ihr Gesicht. „Hakim? Mein Sohn?“, hauchte sie kaum hörbar.
„Mutter!“ Mit einem Jubelschrei warf sich der Erkannte ihn ihre Arme.
Ali stand überwältigt daneben. Dass ihm Tränen über die Wangen liefen fühlte er nicht einmal. Namu rannte bellend durch das Zimmer, versuchte an Ali hinaufzuspringen, der ihn endlich hoch nahm und glücklich an sich drückte. Jasina war in den Armen ihres Sohnes zusammengesunken. Hakim trug sie auf den breiten Diwan neben dem Fenster. Der Türgong aus der unteren Etage ertönte.
„Ach, das wird Doktor Feisal sein. Er schaut jede Woche nach ihr“, erklärte Ali seinem Sohn.
Und wirklich, ein paar Augenblicke später trat der Arzt ins Zimmer seiner ungewöhnlichen Patientin. Etwas irritiert musterte er die beiden Männer. Sollte es etwa schwerwiegende Komplikationen gegeben haben?
„Wie geht es ihr?“, fragte er nach der Begrüßung.
Ali lächelte hintergründig. „Ich hoffe gut. Noch mehr hoffe ich, dass sie es Ihnen gleich selber sagen kann.“ Den erstaunten Blick Feisals ignorierte er einfach.
„Sie hat gesprochen?“ Der Mediziner schaute ungläubig zwischen den Männern hin und her. Er hätte zu gern gewusst, wer der Fremde war. Vielleicht ein Kollege, dem das schier Unmögliche gelungen war? Feisal wurde unruhig.
In diesem Moment schlug Jasina die Augen auf, erkannte den Arzt, setzte sich und fragte: „Der Doktor? Ist bei uns jemand krank geworden?“
Jetzt hätte Feisal fast selbst die Hilfe eines Kollegen gebraucht. Er klammerte sich an der Tischkante fest, um nicht zu stürzen.
„Nein, nein“, entgegnete Ali schnell. „ich habe mir nur Sorgen um dich gemacht, weil du so blass aussiehst.“
Jasina nickte. „Ich hatte einen furchtbaren Alptraum und das Gefühl, dass ich nie mehr daraus aufwachen könnte. Ich bin ja so dankbar, dass ihr gekommen seid, um mich aufzuwecken. Noch einmal möchte ich das nicht erleben.“ Sie schüttelte sich angewidert. Dann streifte ihr Blick Namu und Hakim. Namenloses Entsetzen schlich sich in ihren Blick. „Was ist geschehen? Warum sind die beiden über Nacht so furchtbar gealtert??“
Ali nahm sie zärtlich in die Arme. „Jasina – dein Alptraum – hat etwas länger gedauert .“
Der Doktor hob dazu hilflos die Schultern. Die Frau ließ sich zurücksinken. Sie schloss die Augen und alle dachten schon, sie würde wieder in ihre Umnachtung fallen, als sie Hakim bittend anschaute. „Fatima?“, fragte sie leise.
Hakim schüttelte traurig den Kopf. „Aber Yussuf wird sie befreien, so wie mich befreit hat“, erklärte er zuversichtlich mit fester Stimme.
Doktor Feisal hob erstaunt den Kopf. Mit der Rückkehr der Vermissten rechnete niemand mehr. Aber offenbar saß hier vor ihm Alis Sohn, dessen Auftauchen Jasina geheilt haben musste.
„Dann gibt es für mich nichts mehr zu tun, als Ihnen Glück zu wünschen. Passen Sie gut auf sie auf. Ich lasse Ihnen noch eine Mixtur zur Stärkung hier.“ Der Doktor wandte sich zum Gehen.
„Einen Augenblick noch“, bat Ali. „Zu keinem ein Wort, dass Hakim wieder da ist. Es ist besser, wenn es im Verborgenen bleibt. Fatima wird schließlich noch gefangen gehalten. Bis Jasina wieder richtig auf den Beinen ist, möchte ich Sie bitten, weiterhin einmal die Woche zu uns zu kommen.“
Feisal lächelte befreit. „Beide Wünsche erfülle ich mit größter Freude. Auf Wiedersehen.“
Jasina lehnte an der Schulter ihres Mannes, hielt die Hände ihres Sohnes und schüttelte immer wieder den Kopf. „Was hast du?“, wollte Ali wissen.
„So viele Jahre“, flüsterte Jasina. „Du hast die ganze Zeit für mich gesorgt.“
„Ja sicher. Ich hatte innerhalb weniger Tage alles verloren, was mir je etwas bedeutete, meine Kinder, dich und alle meine Freunde. Sie haben mich als Kindermörder abgestempelt und mit Fingern auf mich gezeigt. Ich hatte nur noch Namu und deine seelenlose Hülle, die er in den ganzen Jahren treu bewacht hat.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Vielleicht war es auch das, was die Behörden irgendwann veranlasst hat, mich in Ruhe zu lassen. Du warst der sichtbare Beweis, dass an der Behauptung, ich hätte meine Familie auslöschen wollen, kein Buchstabe wahr ist.“
„Das muss dich doch ein Vermögen gekostet haben.“
Ali winkte ab. „Ich habe zwei Filialen schließen müssen, aber das war es wert. Du bist ins Leben zurückgekehrt, mein Sohn ist wieder da, nun müssen wir nur noch Fatima erlösen.“
Jasina kuschelte sich an. „Ihr habt von Yussuf gesprochen. Kommt er bald einmal wieder zu uns? Ich möchte ihm danken, dass er Hakim zurückgebracht hat.“
„Er ist noch da.“ Hakim deutete mit dem Kopf die Richtung der Gästezimmer an.
Ali erklärte: „Er schläft. Yussuf war völlig übermüdet als er hier ankam, weil er so schnell wie möglich Hakim nach Hause bringen wollte. Heute Abend werde ich für uns alle einen Koch kommen lassen, der zur Feier des Tages ein besonderes Menü bereiten soll. Ich kenne Yussuf, Dank nimmt er nicht entgegen.“
„Stimmt“, bestätigte Hakim. „Als ich mich vor seine Füße geworfen habe, hat er auch gesagt, ich soll halblang machen. Dabei werde ich ihm doch wirklich dankbar sein, so lange ich lebe.“
„Na seht ihr. Ein gutes Essen wird er hingegen ganz bestimmt nicht ablehnen.“
Es klopfte. Celine, das Hausmädchen, trat ein, um ihren täglichen Dienst zu verrichten. „Oh verzeihen Sie“, murmelte sie, schnell die Tür wieder schließend.
„Celine!“, rief ihr Ali hinterher. „Komm ruhig herein.“
„Ein neues Mädchen?“, wunderte sich Jasina.
„Nun nicht ganz.“ Ali stellte ihr das Dienstmädchen vor, welches seine Herrin noch nie bei Sinnen erlebt hatte. „Sie ist jetzt seit fünf Jahren bei uns und hat sich um alle Frauendinge gekümmert, wo ich sicher fehl am Platz gewesen wäre. Die anderen haben alle nach ein paar Monaten den Dienst quittiert. Sie hat nie gemurrt, dass es ihr zu schwer gewesen wäre, dich zu pflegen.“
Jasina musterte Celine interessiert. „Dann möchte ich, dass sie heute Abend mit uns am Tisch sitzt. Sie hat es sicher nicht leicht gehabt, hier den Haushalt zu versorgen und zusätzlich Krankenpflege zu betreiben.“
„Sie hat übrigens auch dein Aquarium in ihre Obhut genommen“, berichtete Ali seinem Sohn.
„Tatsächlich?“ Hakim nickte Celine anerkennend zu. Sie lächelte scheu. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. „Ich muss noch einkaufen gehen.“
Hakim sprang auf. „Ich komme mit und helfe dir tragen.“ Ehe jemand etwas einwenden konnte, waren die beiden verschwunden.
„Er mag sie?“, fragte Jasina.
Ali zuckte mit den Schultern. „Er hat sie doch heute zum ersten Mal gesehen.“ Dann setzte er sich zu Jasina, um ihr zu erzählen, was er in den letzten Stunden erlebt und erfahren hatte. Fröhliches Lachen riss die beiden aus ihrer Unterhaltung. Celine und Hakim waren vom Basar zurückgekehrt.
„Endlich ist wieder Leben und Frohsinn im Haus“, schmunzelte Ali. „Ich habe schon lange kein so sorgloses Lachen mehr gehört. Außerdem hat sie ein wenig Abwechslung verdient.“
„Wo wohnt sie?“, fragte Jasina.
„Hier bei uns. Ich habe ihr das kleine Zimmer am Ende des Ganges gegeben. Sie stand eines Morgens vor unserem Haus wie ein geprügelter Hund und wusste nicht wohin. Das letzte Mädchen hatte gerade die Flucht ergriffen, so bot ich ihr die Stelle als Hausfee und Krankenpflegerin an. Sie bekommt den gleichen Lohn, wie die anderen auch hatten, nur ist sie ihn wirklich wert. Sie hat mich nie enttäuscht. Sie kocht ausgezeichnet, ist sehr ordentlich, bescheiden und ich hätte nichts dagegen, sie in die Familie aufzunehmen.“
Yussuf hatte das Lachen ebenfalls vernommen. Neugierig steckte er den Kopf zur Tür heraus. „Da erübrigt sich die Frage, wie es dir geht“, stellte er zufrieden fest, als er Hakim erkannte.
Der strahlte über das ganze Gesicht. „Ich war gerade mit Celine auf dem Basar. Ich wusste gar nicht mehr, wie schön es sein kann, unter so vielen Menschen zu sein. Ganz anders, als in Ben Abu, wo dich jeder scheel ansieht, nur weil du nicht da geboren bist.“
„Celine?“, fragte Yussuf.
„Ja, unser Hausmädchen.“ Hakim hatte diesen Glanz in den Augen, den der Geologe ziemlich gut kannte. Da hatte wohl der Blitz aus heiterem Himmel eingeschlagen.
„Na du legst ja ein Tempo vor“, wunderte er sich. „Wobei – Geschmack hast du.“
Ali, der soeben den Flur betreten hatte, hatte die kurze Unterhaltung gehört. Er klopfte Yussuf auf die Schulter. „Ich bin froh, dass er sich ohne Scheu hier gleich ins Leben stürzt.“ Er deutete zur Tür des Verwaltungstraktes. „Sie ist keine schlechte Wahl. Und wenn ihr beide ihn etwas unter eure Fittiche nehmt, holt er sicher ganz schnell auf, was ein junger Mann in seinem Alter wissen sollte.“
„Das heißt, du engagierst mich als Lehrer?“ Yussuf zog eine Augenbraue hoch.
„So ähnlich“ erwiderte Ali lachend. „Du warst ja schon immer sein Idol, vielleicht ist die Erde ja groß genug, um zwei Geologen zu beherbergen?“
„Keine Sorge, ich hatte es ihm schon angeboten, falls er hier nicht mehr willkommen gewesen wäre. Unter den jetzigen Voraussetzungen macht die Sache erst richtig Spaß, zumal wir ja möglichst schnell einen brauchbaren Plan zu Fatimas Rettung benötigen.“
„Deshalb schlage ich vor, dass du hier bleibst, bis wir handlungsfähig sind. Oder stehen dem private Interessen entgegen?“
Yussuf zwinkerte Ali fröhlich zu. „Nein, ich habe eher ein deutlich gesteigertes privates Interesse. Na du weißt schon. Es wäre ziemlich ärgerlich, wenn mir dieser Malik zuvor käme.“
„Oh, da sind wir mindestens schon zwei, die so denken. Aber ehe ich es vergesse: Heute Abend gibt es eine kleine Willkommensfeier für Hakim, bei der du keinesfalls fehlen darfst.“
„Ich werde pünktlich sein“, versprach der Geologe. Etwas später lud er seine Messgeräte, die Laptops und was sein Geländewagen noch beherbergte aus. Hakim gesellte sich zu ihm, half und erfuhr nebenbei eine Menge nützlicher Dinge.
Jasina saß mit Namu im Garten unter Palmen. Hin und wieder zog sie einen blühenden Zweig zu sich heran, sog den süßen Duft der Blüten ein und flüsterte ein um das andere Mal: „Ja, ich bin wieder da, ich bin zu Hause.“
Gegen Mittag trieb es sie in die Küche. Celine staunte, als ihre Herrin plötzlich in der Tür stand und noch mehr, als diese, wie ganz selbstverständlich, das Geschirr bereitstellte. Die gemeinsame Arbeit lief nach wenigen Minuten reibungslos, trotz angeregter Unterhaltung. Ali konnte die Stimmen, weil alle Fenster geöffnet waren, bis zu seinem Büro hören. Er konnte zwar nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber der Tonfall und das herzliche Lachen machten ihn glücklich.
„Na, wenn das kein guter Tag ist, dann weiß ich gar nicht, was gute Tage sind“, murmelte er zufrieden, wählte sich im Internet in die neuesten Schmuckkollektionen ein, was er schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Endlich hatte das Leben wieder Sinn. Ali hielt inne. Ach du lieber Himmel! Vor lauter Freude hätte er beinahe vergessen, dass es ja noch andere wichtige Dinge gab. Er eilte die Treppe zu Yussuf hinauf. „Ich habe eine Bitte: Würdest du mit Hakim die Bekleidungsgeschäfte durchstreifen? Du weißt besser als ich, was jetzt in seinem Alter angesagt ist. Leider muss ich euch ein Limit setzen, du weißt ja, wie meine Situation momentan ist. Sein Zimmer muss ja auch schnellstens angepasst werden.“
„Mach dir deshalb keine Sorgen“, tröstete Hakim. „Ich kann damit leben. Wenn du erfährst, wie ich in Ben Abu auskommen musste, dann siehst du die Welt mit ganz anderen Augen. Das Stroh in einem Pferdestall war purer Luxus. Wie sich eine Decke anfühlt hatte ich schon fast vergessen.“
Yussuf überlegte kurz. „Ich weiß, wo ein guter Factory Outlet ist. Sind nur ein paar Kilometer mit dem Auto, da dürften wir so beinahe alles bekommen.“ Er klappte seinen Laptop zu.
„Nicht so eilig“, bremste Ali seinen Tatendrang. „Das Essen ist gleich fertig. Celine ist eine hervorragende Köchin. Euch würde wirklich etwas entgehen.“
Dass dem so gewesen wäre, davon konnten sich die beiden Männer ein paar Minuten später überzeugen. Über Hakims Gesicht zog ein Strahlen. Er, der mitunter tagelang hungern musste, wusste die Kochkunst Celines besonders zu würdigen.
Jasina winkte das Mädchen heran, das sich gerade in die Küche zum essen zurückziehen wollte. „Hier ist dein Platz.“ Sie deutete auf den freien Stuhl neben sich.
Ali und Hakim nickten erfreut. Sie hatten wirklich keine Einwände, dass die Hausherrin Celine wie eine Tochter behandelte. Nun saß sie Hakim direkt gegenüber und sein Blick huschte immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde zu ihr hinüber. Yussufs Augen hingegen blieben öfter an dem leeren Platz hängen. Er hoffte inständig, bald Fatima an jener Stelle sitzen zu sehen.
„Wir holen sie zurück“, sagte Hakim, der das sehr wohl bemerkt hatte.
Der Geologe hob den Kopf. „Ich habe schon überlegt, ob ich nicht einen Sender in der Nähe der Oase platzieren sollte. Hört er auf zu arbeiten, ist die Oase in unserer Welt, arbeitet er weiter, dann ist sie wieder weg. Vielleicht können wir so etwas über das mögliche Zeitfenster erfahren.“
„Das leuchtet sogar mir ein“, sinnierte Ali. „Kannst du auch eine Kamera anbringen?“
„Sicher. Nur was soll die uns zeigen? Es muss nur irgendein technisches Gerät sein, das ich von jedem Punkt aus überwachen kann. Ich will nur wissen, wann und wie lange es nicht funktioniert.“
„War ja nur so ein Gedanke. Schließlich bist du der Experte“, seufzte Ali.
Yussuf lehnte sich zurück. „Auf alle Fälle fahre ich morgen in die Wüste, um die Technik zu installieren. Je eher ich alle Daten habe, umso besser ist es für uns alle. Eines will ich auf gar keinen Fall – ins offene Messer laufen.“
„Ich komme mit“, erklärte Hakim sehr bestimmt.
Niemand widersprach ihm.
„Hast du noch deine Sammlung alter Münzen?“, wandte sich Yussuf an Ali.
Und auf dessen Nicken: „Könntest du von den weniger wertvollen Stücken einige entbehren?“
Der Juwelier erinnerte sich an Yussufs Bericht. „Aber natürlich, irgendwie müsst ihr ja die Ware bezahlen, die ihr dort kauft.“
„Ich brauche auch drei oder vier Kamele“, fuhr Yussuf fort. „Vielleicht haben wir etwas mehr Glück, wenn wir uns der Situation optisch anpassen. Man könnte die Tiere mit einem Lastwagen bis zur Oase bringen, um keine Zeit zu verlieren. Die Fahrzeuge sind unsere Festung für die Nacht, falls wir es beim ersten Versuch schaffen, Fatima zu befreien.“
„Wir haben nur einen Versuch“, flüsterte Hakim kaum hörbar.
Yussuf hatte ihn trotzdem verstanden. „Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest. Also noch mehr Gründe, alle erreichbaren Daten zu sammeln. Wenn wir in drei Tagen wieder hier sind, hole ich Björn her, mit dem ich zusammen studiert habe. Der kann aus Hakims Angaben die Stadt in 3-D erstehen lassen. Dann spielen wir am Computer einige Varianten durch, wie wir am schnellsten zum Zuge kommen.“
Ali schaute Celine an.
„Wird umgehend erledigt“, sagte sie daraufhin.
„Was?“, fragte Jasina neugierig, die Alis Blick nicht deuten konnte.
„Das Zimmer für den neuen Gast“, erwiderte Celine.
„Sie ist ein intelligentes Mädchen, das auch ohne ellenlange Erklärungen gute Arbeit leistet“, erklärte er Jasina, als sie nach dem Essen allein waren.
„Dabei dürfte sie kaum älter sein, als Hakim“, warf Jasina ein.
„Stimmt genau. Sie war sechzehn, als sie hier anfing.“
„Ich mag sie.“ Jasina betrachtete das kleine Blumengesteck auf dem Tisch, welches das Hausmädchen liebevoll arrangiert hatte.
Ali lächelte schelmisch. „Hakim wohl auch. Hast du bemerkt, wie er sie anschaut?“
„Ja sicher. Nur kann sich das durchaus noch ändern, wo er doch sein Leben heute erst neu entdeckt.“
„Und was, falls nicht?“
Jasina lachte herzlich. „Du hast doch selbst gesagt, dass du nichts dagegen hättest.“
„Auch war.“ Ali stimmte in das Gelächter ein. Im Alltag würde sich früh genug zeigen, ob die beiden zueinander passten.
Die beiden jungen Männer waren bereits im Auto unterwegs. Hakim hatte unzählige Fragen, die Yussuf gern und besonders ausführlich beantwortete. Vor allem die Technik des Fahrzeugs hatte es Alis Sohn angetan. Navi, GPS und vor allem die supermoderne Unterhaltungstechnik waren Dinge, von denen Hakim noch nie gehört hatte. Selbst das Handy mit Kamera war für ihn ein Novum, welches sich genau zu studieren lohnte. „Ich glaube fast, ich habe wirklich etwas verpasst“, seufzte er schließlich.
„Versuche aber bitte nicht, alles auf einmal nachzuholen“, warnte Yussuf. „Dieser ganze Krempel kann ganz schnell süchtig machen.“
Hakim lachte. „Bevor ich für so etwas Geld ausgeben kann, muss ich erst mal welches verdienen. Steht das Angebot als dein Helfer noch?“
„Natürlich.“
Hakim nickte erfreut. „Weißt du, ich kann nicht plötzlich auftauchen und zu meinen Eltern sagen: Da bin ich wieder, so nun füttert mich mal durch.“
„Das sind brauchbare Ansichten.“ Yussuf konnte Hakim verstehen. In dessen Alter war für ihn auch wichtig, von anderen unabhängig zu sein. „Betrachte dich also als mein Mitarbeiter. Allerdings wirst du wohl noch nebenbei die Schulbank drücken müssen, schließlich willst du eines Tages wirklich auf eigenen Füßen stehen.“
„Gibt es die guten alten Abendschulen noch?“, fragte Hakim.
„Die gibt es noch. Fernstudium gibt es übrigens auch, das setzt aber voraus, dass du einen ordentlichen Schulabschluss hast“, erklärte Yussuf.
„Ich werde es schon packen. Ich muss es packen“, präzisierte Hakim einen Moment später. „Schon um vor mir selber nicht wie der letzte Idiot dazustehen.“
„Aber auch weil, …?“, fragte Yussuf lächelnd.
„… mir Celine nicht aus dem Kopf geht“, ergänzte Hakim den Satz. „In Ben Abu gab es eine Menge Mädchen, aber nicht eine war wie sie. Mal abgesehen davon, dass sie mit so einem Dreikäsehoch wie mir nichts anfangen konnten. Ich denke, das dürfte sich seit gestern Nacht grundlegend geändert haben.“ Er setzte ein breites Grinsen auf, was Yussuf jeden Zweifel nahm, dass er ziemlich genau wusste, wovon er sprach.
„Ernsthafte Absichten?“
„Vielleicht. Erst mal jemand werden, dann sehen wir weiter.“
Yussuf steuerte seinen Geländewagen auf den Parkplatz der Fabrik.
„Wir beginnen bei der Alltagskleidung und arbeiten uns zur Abendrobe durch“, empfahl er, bevor sie den Wagen verließen.
„Abendrobe?“, fragte Hakim irritiert.
„Ja sicher. Du möchtest ja standesgemäß auftreten, wenn es ganz offiziell wird.“
„Auch das noch“, schnaufte Hakim. „Ich habe das als Kind schon immer gehasst.“
Yussuf zog eine lustige Grimasse. „Ja so ist das Erwachsenwerden.“