Zu diesem Buch

Die Soziokratie ist ein Organisationsmodell, das die Weisheit der Mitarbeitenden nutzt, um die Organisation sinnvoll vorwärts zu bringen. Alle wesentlichen Entscheidungen im Unternehmen werden gemeinsam von den Betroffenen gefunden, im Konsent und effektiv. Die Soziokratie ist KEINE Basisdemokratie, sondern ein Rahmen für Partizipation und Selbstorganisation.

Aus meiner Sicht gibt es derzeit kein „besseres“ Organisationsmodell für mehr Engagement der Mitarbeitenden, bessere und kreativere Lösungen, agiles Überleben am Markt und gemeinwohl-orientiertes Wirtschaften.

Christian Rüther:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbebiliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

„Attribution share alike“ – kommerzielle Nutzung erlaubt, solange auf das Ursprungswerk verwiesen wird, die Änderungen nachvollziehbar sind und es zumindest auch eine kostenlose Variante des Werkes gibt.

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Herzstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783744808507

Vorbemerkung:

Dieses Buch ist meine Masterthesis für den Abschluss des MBA-Studiums an einer drittrangigen Internet-Universität.

Das Skript ist 2010 entstanden und wurde für diese Buchform NICHT überarbeitet oder aktualisiert. Man kann also sagen, es ist „alt“ oder „kalter Kaffee“.

Die Fallbeispiele und Links sind daher teilweise überholt.

Und dennoch ist das Wissen relativ zeitlos, weil die Soziokratie als Gesamtsystem nicht altert. Die Grundlagen sind in Normen eingemeißelt, die nur schwer zu ändern sind.

Das Skript kann als DIN-A4-Fassung KOSTENLOS auf meiner Homepage www.soziokratie.org heruntergeladen werden.

Dieses Buch und die kostenpflichtige PDF-Version über BoD dienen der Finanzierung meiner Arbeit sowie dem Wunsch, auch mal ein Buch zu veröffentlichen. Leider wirkt so ein kostenloses Skript nach außen teilweise unprofessionell und ein „echtes“ Buch schon professioneller. Ja, nicht unbedingt ein BoD, aber immerhin ist es im Verzeichnis lieferbarer Bücher aufgeführt.

Desweiteren habe ich 2017 jetzt eine überarbeitete Version eines Skriptes verfasst, in dem ich die Soziokratie, die Holakratie und Lalouxs „Reinventing organization“ zusammengefasst habe.

Diese Fassung ist gratis als PDF hier herunterladbar:

http://selbstorganisation-und-partizipation.com/skript/

Und wird wahrscheinlich auch als zweites Projekt bei BoD veröffentlicht für alle Buchfreunde.

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Was ist „Soziokratie“?
  3. Die Soziokratischen Grundprinzipien und -werte
  4. Instrumente und Methoden der Sozio-kratie
  5. Die Praxis der Soziokratie
  6. Schlussbemerkungen
  7. Anhang: Soziokratische Organisationen
  8. Anhang: Stimmen von Anwendern und Experten
  9. Checklisten + Arbeitsblätter
  10. Soziokratische Statuten
  11. Glossar
  12. Literaturverzeichnis und Ressourcen

1.0. Einleitung

Diese Arbeit war ursprünglich die Masterthesis für meinen MBA-Abschluss bei der WWEDU. Jetzt habe ich sie etwas ergänzt und überarbeitet. Diese Arbeit hat zwei Funktionen. Zum einen ist sie das Skript für meine Einführungs- und Vertiefungsseminare und zum anderen ein Einführungswerk über die Soziokratie. Derzeit gibt es leider noch keine deutschsprachigen Bücher zur Soziokratie und diese Lücke soll hiermit geschlossen werden.

1.1. THEMENBEGRÜNDUNG UND PERSÖNLICHE MOTIVATION

Die Soziokratie ist ein Organisationsmodell, bei dem alle Mitarbeiter auf ihrer Ebene mitentscheiden können. Dafür wird der „normalen“ linearen Struktur eine Kreisstruktur hinzugefügt, in der alle Mitarbeiter zusammen mit der Führungskraft auf der Basis der Gleichwertigkeit entscheiden. Alle Grundsatz- und Rahmenentscheidungen werden gemeinsam im Konsent getroffen, das heißt, keiner der Beteiligten hat einen schwerwiegenden, argumentierten Einwand gegen einen Beschluss. Neben der Kreisstruktur existiert weiterhin die lineare Struktur, in der die Führungskraft wie bisher innerhalb der gemeinsam vereinbarten Rahmenbedingungen entscheidet.

Vor drei Jahren bin ich zum ersten Mal in Kontakt mit der Soziokratie gekommen. Eine Trainerkollegin hatte ein Seminar besucht und wollte diesen Ansatz in unseren Verein „Netzwerk Gewaltfreie Kommunikation Österreich“ bringen, um damit zu experimentieren. Zu Beginn haben mich die Runden im Kreis genervt: „Nur im Kreis reden, das ist doch ziemlich unnatürlich!“ Mit der Zeit und der Übung und der Begeisterung dieser Kollegin wurde ich mehr und mehr fasziniert und habe dann im November 2007 ein fünftägiges Seminar besucht.

Kurz vorher hat Isabell Dierkes, eine andere Trainerkollegin, den Plan ins Leben gerufen, die Soziokratie im deutschsprachigen Raum zu verbreiten und ein Zentrum zu gründen. Mich hat das Seminar so begeistert, dass ich mich dieser Idee angeschlossen habe, und seither bilden Isabell Dierkes und ich das Soziokratische Zentrum im deutschsprachigen Raum. Wir sind eng mit dem Soziokratischen Zentrum in den Niederlanden verbunden, das von dem Begründer der Soziokratie Gerard Endenburg eingerichtet wurde, um die Soziokratie weiter zu erforschen und zu verbreiten.

Seit 2009 bin ich Lebens- und Sozialberater und seit vier Jahren gebe ich Trainings in Gewaltfreier Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg. Bei diesem Ansatz geht es um partnerschaftliche Kommunikation und um Lösungen, die für alle Beteiligten passen. In der Soziokratie habe ich die passende Ergänzung der GFK auf der Organisationsebene gefunden und Antworten auf meine Fragen:

Das Modell der Soziokratie werde ich aus zwei Blickwinkeln betrachten:

  1. Der Brille des Lernenden, des soziokratischen Beraters in Ausbildung, den dieser Ansatz fasziniert und der gleichzeitig auch eine gesunde Skepsis hat, ob und wie die Soziokratie funktioniert.
  2. Der Brille des „Wissenschaftlers“, der eine kritische Distanz einnimmt und die Soziokratie mit anderen Konzepten vergleicht.

Ich bin dankbar für die Möglichkeit im Rahmen meiner Masterthesis eine Literaturarbeit über die Soziokratie schreiben zu dürfen. Es hat meinen Blick geweitet, meine Kenntnisse vertieft und mir geholfen, mir das Thema tiefer zu erarbeiten. Dafür möchte ich der WWEDU und meiner Betreuerin Claudia Ulamec herzlich danken.

Daneben gehört der Dank meiner Kollegin Isabell Dierkes, die mit mir den Weg der Soziokratie seit knapp zwei Jahren geht und die ich als Mensch und Kollegin sehr schätze.

Gleiche Wertschätzung gebührt meinem Mentor Pieter van de Meché vom Soziokratischen Zentrum in den Niederlanden. Ich danke ihm für den partnerschaftlichen Umgang, die Offenheit für meine Messungen und die unermessliche Geduld bei unseren Kreissitzungen.

Ganz besonders möchte ich meiner Partnerin danken, die mit mir die Zeiten des Schreibens geteilt und mich mit ihren Rückmeldungen enorm unterstützt hat.

1.2. INHALT UND AUFBAU DER ARBEIT

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile.

Zuerst beschreibe ich die Grundlagen der Soziokratie, die Werte und Prinzipien, die dieses Modell kennzeichnen, sowie die Geschichte des Begriffs und der Person, die dieses Modell entwickelt hat: Gerard Endenburg.

Daraufhin folgen die konkreten Instrumente und Praxistools, wie diese Werte und Prinzipien in einer Organisation umgesetzt werden können: Von der Moderationsmethode über den 9-Schritte-Prozess des Geschäftsprozessmanagements bis zum Modell der Entlohnung.

Von der Theorie zur Praxis gehe ich im dritten Teil, in dem ich die konkrete Umsetzung des Modells in verschiedenen Organisationen beschreibe. Ich werde mich vornehmlich auf den Laborbetrieb „Endenburg Elektrotechniek“ (EE) beschränken, weil es das am besten dokumentierte Beispiel ist und Praxisberichte von anderen Organisationen kaum vorliegen.

Im Anhang finden gibt es eine Übersicht über alle mir derzeit bekannten Organisationen, die die Soziokratie übernommen haben oder hatten, eine Vielzahl von Stimmen von Anwendern oder Experten, Checklisten für den Einsatz der Soziokratie, eine Mustersatzung für eine soziokratische GmbH, ein Glossar soziokratischer Begriffe sowie ein Literatur- und Ressourcenverzeichnis.

1.3. METHODE

Diese Arbeit ist eine Literaturarbeit. Ich habe alle wesentlichen Quellen zur Soziokratie aufgespürt und zusammen in ein übersichtliches System gefasst.

Dabei bilden die zwei Bücher von dem Begründer der Soziokratie Gerard Endenburg sowie das Buch von John Buck/ Sharon Villines die Grundlage.1 Ergänzt werden die Informationen von kleineren Artikeln, Newsletterbeiträgen, Internetartikeln und Seminarunterlagen.

Ein Großteil der Quellen und Informationen zur Soziokratie ist auf Niederländisch geschrieben und ich beherrsche diese Sprache leider nicht. So gibt es seit Mitte der 80er Jahre eine Zeitschrift „Argumenten“, die vom Soziokratischen Zentrum in den Niederlanden herausgegeben wird und aktuelle Entwicklungen nachzeichnet. Diese Quelle bleibt mir deshalb leider verschlossen.

Ted Millich, ein Dokumentarfilmer aus den USA, hat eine Vielzahl von Interviews mit soziokratischen Beratern und Geschäftsführern soziokratischer Organisationen geführt. Er hat mir die Transkripte dieser Videos zur Verfügung gestellt, die ich teilweise als Praxisbeispiele übernommen habe. Allerdings sind seine Transkripte keine wörtlichen Mitschriften, sondern nur inhaltliche Zusammenfassungen. Dadurch geht die Originalität verloren, aber da ich keine weiteren Praxiseinblicke habe, möchte ich sie dennoch anführen.2

Neben der Darstellung der Soziokratie nimmt auch der Vergleich mit ähnlichen Ansätzen einen großen Platz in meiner Arbeit ein. In den verschiedenen Kapiteln werde ich die Soziokratie mit anderen Konzepten vergleichen, wie z.B. die Erkenntnisse des Prozessmanagements mit dem 9-Schritte-Plan oder die verschiedenen Konsensformen mit dem Konsent in der Soziokratie. Desweiteren werde ich ausführlicher auf die jeweiligen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Soziokratie eingehen, wie z.B. die Entscheidungsfindung bei den Quäkern oder die Grundlagen der Kybernetik. Mir ist es ein Anliegen, diese Vergleiche so umfassend wie nötig und so kurz wie möglich anzuführen. Dazu habe ich häufig auf direkte Zitate zurückgegriffen, um die Prägnanz und den Ton dieser Quelle besser zu transportieren.


1 Vgl. Endenburg, Gerard: Design, 1998; Endenburg, Gerard: organization, 1998 und Buck, John/ Villines, Sharon: people, 2007.

2 Vgl. Ted Millichs Homepage über das Projekt:

http://www.beyonddemocracythefilm.com/, zwei kurze Trailer aus seinem Material sind schon auf youtube zu sehen:

http://www.youtube.com/watch?v=lPuwL4uV1DY&feature=related und

http://www.youtube.com/watch?v=EhuvjukCr6o (alle 24.07.09)

2.0. Was ist „Soziokratie“?

2.1. ERSTE DEFINITION DES WORTES UND SEINE ETYMOLOGIE

„Mal ehrlich, wer versucht, die Soziokratie zu verstehen, kann sich die Gehirnwindungen brechen." (Piet Slieker, ehemaliger CEO von Endenburg Elektrotechniek)3

Die Soziokratie ist ein Organisationsmodell, das Prof. Dr. Ing. Gerard Endenburg in den 60iger Jahren in Holland entwickelte und in seinem eigenen Unternehmen anwandte. Sein Anliegen bestand darin, eine Organisation zu schaffen, in der Führungskräfte und Mitarbeiter partnerschaftlich und effektiv zusammenarbeiten. Seit Mitte der 70er Jahre wird Endenburgs Ansatz vom Soziokratischen Zentrum in Holland verbreitet und in vielen Unternehmen angewandt.

In der Soziokratie wird der bestehenden linearen Struktur eine Kreis-Struktur hinzugefügt. Auf jeder Ebene des Unternehmens treffen sich regelmäßig alle 4-6 Wochen Führungskräfte, Delegierte der nächstunteren Kreise sowie die Mitarbeiter und legen die Rahmenbedingungen für die gemeinsame Arbeit fest.

Diese Entscheidungen werden im Konsent getroffen, das heißt, keines der Mitglieder des Kreises hat ein „Nein“ gegen diese Entscheidung, es gibt keinen schwerwiegenden und argumentierten Einwand. Der Beschluss liegt im persönlichen Toleranzbereich im Hinblick auf das gemeinsame Ziel und kann von jedem mitgetragen werden.

Zusätzliche Abläufe innerhalb der Kreisstruktur Abläufe innerhalb der gewohnten linearen Struktur
Gemeinsame Formulierung von Rahmenentscheidungen im Konsent (d.h. ohne schwerwiegenden Einwand) Ausführung innerhalb dieser Rahmen-entscheidungen autokratisch/ kooperativ durch die Führungskraft

Es gibt in der Soziokratie folgende Grundprinzipien:

  1. Der Konsent regiert die Beschlussfassung.
  2. Die Organisation wird in Kreisen aufgebaut, die innerhalb ihrer Grenzen autonom ihre Grundsatzentscheidungen treffen.
  3. Zwischen den Kreisen gibt es eine doppelte Verknüpfung, d.h. jeweils zwei Personen nehmen an beiden Kreissitzungen teil.
  4. In den Kreisen werden die Personen für die Funktionen und Aufgaben im Konsent nach offener Diskussion gewählt.

Endenburgs Modell hat zwei wesentliche Wurzeln, die Beschlussfassung bei den Quäkern und die Erkenntnisse der Kybernetik. Endenburg ist auf die Schule von Kees Boeke (Quäker) gegangen, in der die Schüler wie gleichwertige Mitglieder gesehen und alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam im Konsens getroffen wurden. Boeke hat die Entscheidungsfindung der Quäker auf seine Schule übertragen, Endenburg hat sie auf Organisationen und Unternehmen übertragen. Dazu hat er den Konsens mit Konsent ersetzt, nicht mehr eine Übereinstimmung der Meinungen ist wichtig, sondern kein schwerwiegender argumentierter Einwand. Aus der Kybernetik hat Endenburg den Ablaufprozess zwischen Leiten, Ausführen und Messen übernommen. Diese Prozess- und Verbesserungsschleife existiert auf der Kreisebene sowie in der konkreten Ausführung im Tagesgeschäft und soll ermöglichen, dass aufgrund von Rückmeldungen gelernt wird und die Lösungen an die veränderten Umweltbedingungen effektiv angepasst werden können.

Von der Herkunft her ist der Begriff „Soziokratie“ eine lateinischgriechische Mixtur, aus dem Lateinischen „Socius“ sowie dem Griechischen „Krateia“:

Damit kann die Soziokratie von ihren Wurzeln her mit Macht, Kraft, Stärke oder Herrschaft der Gefährten, der Kameraden oder Bundesgenossen umschrieben werden. Und darin findet sich auch viel von dem Geist der Soziokratie nach Gerard Endenburg wieder.

Endenburgs Modell der Soziokratie beschäftigt sich mit der Frage, wie Macht oder Herrschaft gesteuert werden kann auf der Basis von Gleichwertigkeit und gemeinsamen Zielen. Er sieht eine Organisation als eine Gemeinschaft von Menschen, die versuchen, eine gemeinsame Vision der Gesellschaft/Umgebung zu verwirklichen und gemeinsam bestimmte Ziele zu erreichen. Dazu wird die Organisation in Kreisen aufgebaut, in denen die Mitglieder gemeinsam entscheiden, was die Rahmenbedingungen für ihre Arbeit sind. Nicht die Führungskraft alleine entscheidet über die Richtung und den Rahmen des Teams/Unternehmens, sondern der Kreis auf Basis von Gleichwertigkeit. Gefährten, Bundesgenossen, Kameraden sind Menschen, die miteinander verbunden sind und gemeinsame Interessen oder Ziele haben. Diese Gefährten teilen sich die Macht, die Herrschaft, sie sind gleichwertig, auf einer Ebene, herrschen nicht übereinander, sondern miteinander. Wahrscheinlich gewinnen sie zumindest einen Teil ihrer „Kraft“ gerade aus der Gemeinschaft und der gemeinsamen Ausrichtung auf ein höheres Ziel.

Auf den folgenden Seiten möchte ich einen Einblick in die Begriffsgeschichte geben, sowie die Einflüsse auf Endenburg bei der Entwicklung der Soziokratie näher beleuchten Danach werde ich im Kapitel 3 ausführlicher die Grundprinzipien und -werte darstellen.

Ich hoffe, dass nach paar Seiten, die Gehirnwindungen noch intakt sind und der geneigte Leser sich besser auskennt als vorher.

2.2. GESCHICHTE DER SOZIOKRATIE

2.2.1. Dasselbe Wort, aber… : Comte und Ward

Gerard Endenburg übernahm den Begriff von seinem Lehrer Kees Boeke, der 1948 ein kleines Büchlein mit dem Namen „Soziokratie - Demokratie, wie sie sein sollte“ veröffentlicht hatte. Er beschäftigte sich erst später mit der Begriffsgeschichte und fand heraus, dass Comte ihn schon im 18. Jahrhundert benutzte. Er las Comte und konnte dort allerdings keine genaue Definition finden.4

Neben Auguste Comte benutzte auch Frank Lester Ward den Begriff Soziokratie. Dabei unterscheiden sich diese Ansätze deutlich von dem Modell Endenburgs, der seine Anleihen nicht aus der Soziologie nahm, sondern von seinem Lehrer Kees Boeke, der Beschlussfassung der Quäker sowie den Erkenntnissen der Kybernetik.5

Auguste Comte6

Auguste Comte (1798-1857) gilt als Begründer des Positivismus und Namensgeber der Soziologie. Positivismus basiert auf beobachtbaren Phänomenen, die empirisch nachgewiesen werden können. Es geht um das, was positiv sichtbar oder beschreibbar ist, und nicht um das, was mit den Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Comte glaubte, dass soziale Probleme durch Vernunft und wissenschaftliche Analyse gelöst werden können. Diese Erkenntnisse sollten dann für den Aufbau einer besseren Gesellschaft verwendet werden. Er nannte diese praktische Wissenschaft „Soziologie“ und das System, in dem alle Mitglieder der Gesellschaft an der eigenen Regierung teilhaben würden, „Soziokratie“. Dabei basierte seine Form der Soziokratie neben dem wissenschaftlichen Zugang auch auf sozialen Idealen. Comte sah die menschliche Natur einerseits charakterisiert durch Vernunft, Wissen, soziale Kooperation und Altruismus, andererseits sah er, dass die Individuen Produkte ihrer Umgebung waren. Und wenn eine Umgebung diese Qualitäten nicht fördert, verkümmern sie oder können nicht entfaltet werden. Auch wenn für Comte der soziale Wandel von den Arbeitern initiiert werden müsste, nicht von den Eigentümern, ist seine eigene Idee der vollkommenen Gesellschaft stark hierarchisch geprägt. „An die Stelle des traditionellen christlichen Klerus treten in seiner Fortschrittsversion wissenschaftlich ausgebildete Soziologen, die als `Priester der Humanität` im Bund mit den aufsteigenden Kräften von Wirtschaft und Industrie das öffentliche Leben formieren und die Staatsgewalt auf ihr um `Liebe, Ordnung und Fortschritt` zentriertes Bekenntnis verpflichten sollen.“7 „Es ging ihm um eine vernünftige Staatslenkung, für die Ampère 1843 den Begriff `cybernétique´ einführte. Gegenüber der sozialistischen, genossenschaftlichen und anderen reformerischen Bewegungen war das freilich eine Lenkung `von oben´, von einer `Elite´ her.“8 Die Soziologen herrschten auf Basis der Erkenntnisse ihrer Wissenschaft und den grundlegenden sozialen Werten. So wurde die „soziale“ Komponente berücksichtigt, die Herrschaft an sich war allerdings immer noch hierarchisch, nicht inklusiv, nicht einmal demokratisch.

Lester Frank Ward9

Frank Ward (1843-1913), der Vater der Soziologie in Amerika, setzte Comtes Vorstellung einer idealen Gesellschaft fort. Während Comte für eine soziologische Priesterschaft als herrschende Elite eintrat, sah Ward eine Akademie von Sozialwissenschaftlern nur in der Beratungsrolle. „Auf der Grundlage von Planung und staatlichem Eingriff sollte in einer demokratischen Herrschaftsform, die er Soziokratie [.] nannte, der Staat [.] auf der Grundlage soziologischen Wissens die Verteilung sozialer Chancen regulieren. Dabei kam der Erziehung und Bildung eine Schlüsselstellung zu. Ward erachtete es als die vornehmste Pflicht der Gesellschaft, jedem ihrer Mitglieder eine gründliche Bildung zu ermöglichen.“10 Während Comte sich vor allem für förderliche Strukturen einsetzte, sah Ward das Individuum in der Pflicht, das die Möglichkeiten in der Gesellschaft ergreifen solle. Im Unterschied zu Comte richtete Ward seinen Schwerpunkt weniger auf die sozialen Strukturen, sondern auf das Studium bedeutender Persönlichkeiten. Er glaubte, dass die Kraft der Gemeinschaft aus der des Individuums kommt. Ward meinte daher auch, dass die Erziehung eine wesentliche Kraft im Fortschritt zu einer besseren Gesellschaft ist. Die ungleichen Zugänge zu Wissen sind für ihn hauptverantwortlich für die vielen sozialen Probleme.

Beide Konzepte von Comte und Ward unterscheiden sich deutlich von dem Endenburgs, auch wenn einige Aspekte übereinstimmen. Deutliche Unterschiede finden sich in der Herrschaftsform. Bei Endenburg herrscht der Kreis auf Basis des Konsents, gemeinsam und gleichwertig. Die lineare Struktur besteht zwar weiterhin, ist aber von der Kreisstruktur überlagert. Für Endenburg braucht es dann weder die Autokratie einer soziologischen Priesterschaft (Comte), noch eine Demokratie mit Beratung soziologischer Experten (Ward), der jeweilige Kreis und seine Mitglieder können selbstständig entscheiden und sind die Experten für ihre Domäne. Damit hat Endenburg anscheinend eine Entscheidungsstruktur gefunden, die die Werte von Comte wie Vernunft, Wissen, kooperative Zusammenarbeit und Altruismus zumindest zum Teil verbindet. Dabei ist Endenburgs Modell zuerst auf der Ebene von einzelnen Organisationen entstanden und dann auch auf das Staatswesen übertragen worden, während Comte allein das Staatswesen betrachtet.

Es gibt auch einige Ähnlichkeiten oder Überschneidungen. Für Comte haben Ratio, Vernunft, umfassendes Wissen (Enzyklopädien) und Wissenschaftlichkeit eine hohe Bedeutung. Vieles davon finde ich bei Endenburg wieder. Die Entscheidungen auf der Kreisebene verlaufen sehr rationell und fast schon positivistisch. Es werden alle wesentlichen Informationen gesammelt, Kriterien für eine Lösung erarbeitet und auf Basis von Argumenten entschieden. Dabei haben auch Emotionen ihren Platz, allerdings als Hinweis auf noch nicht gesehene Argumente/Informationen. Daneben ist das Modell der Soziokratie in Normen festgelegt, es gibt festgeschriebene Definitionen und Vorgaben über Inhalte und Abläufe in der Soziokratie.11 Endenburg hat Elektrotechnik studiert, sich eingehend mit der Kybernetik beschäftigt und überträgt seine Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften auf die soziale Welt. Seiner Sprache und dem Modell ist das noch anzumerken. Ward setzt sich stark für die Entwicklung des Individuums ein sowie die Gestaltung der Umgebung, die eine solche Entwicklung fördert. Endenburg schafft ein Modell, das an sich sehr zur Persönlichkeitsentwicklung und Mündigkeit beiträgt. In den Kreisversammlungen kommt jeder zu Wort und kann seine Sichtweise mitteilen, er wird gehört und ernst genommen. Alle Kreismitglieder bekommen Zugang zu allen Informationen, die für eine Meinungsbildung notwendig ist. Die Mitarbeiter treffen gemeinsam mit der Führungskraft alle wesentlichen Entscheidungen, sie können nicht mehr nur in Opposition gehen oder still bleiben, sie werden im gewissen Sinn vom System gezwungen, die Verantwortung mit zu tragen. Daneben spielt bei Endenburg die integrale Schulung und Weiterentwicklung eine große Rolle.

Interessant fand ich auch, dass der Begriff „cybernétique“ bereits im Zusammenhang mit Comte schon auftaucht. Endenburg hat die Erkenntnisse der modernen Kybernetik in sein System integriert und wieder auf den Kontext Herrschaft übertragen.

2.2.2. Kees Boeke und die Quäker

Theoretischer und persönlicher Vorläufer der Soziokratie nach Endenburg war Kees Boeke, ein niederländischer Sozialreformer, der 1948 eine Schrift veröffentlichte mit dem Namen: „Soziokratie – Demokratie, wie sie sein könnte.“ Darin beschrieb er, wie unvollkommen Entscheidungen nach dem Mehrheitsvotum und welche Alternativen möglich sind. Kees Boeke war Quäker und kannte somit konsensorientierte Entscheidungsformen für eine Gruppe, die wirken und funktionieren.

Schon 1926 gründete Boeke eine Schule, die „Werkplaats Kindergemeenschap“, in der er eine soziokratische Umgebung schuf und so die Basiswerte vermittelte, die nach seiner Meinung für eine friedliche Gesellschaft wichtig sind. Gerard Endenburg sowie drei Kinder der Königin Juliana (regierte von 1948-80) sind dort zur Schule gegangen. Es gibt also eine persönliche und direkte Verbindung zwischen Endenburg und Boeke. Genauer werde ich auf die Zusammenhänge in Kapitel 2.3.2. eingehen.

2.2.3. Gerard Endenburg

Gerard Endenburg ist der eigentliche Begründer der Soziokratie in der heutigen Form. Seine Eltern waren Idealisten, sahen aber auch die positiven Seiten am Kapitalismus. Sie wollten sehen, inwieweit sie im eigenen Betrieb ihren Idealismus leben konnten, und gründeten 1950 Endenburg Elektrotechniek (EE). Gerard studierte Elektrotechnik und arbeitete danach ein paar Jahre für Philips. Sein Vater übergab ihm zuerst eine kleine Firma, damit Gerard seine Managementkenntnisse erweitern konnte. Sie verschmolz nachher mit EE, die Gerard Endenburg dann seit 1968 zuerst zusammen mit seinem Vater, dann nach dessen Tod allein als CEO führte. Er versuchte dort die Prinzipien von Boeke mit denen der Kybernetik zu verbinden. So formte sich im Laufe der Zeit die Soziokratie nach Endenburg. Von Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre verkaufte Endenburg seine Anteile an das Unternehmen. Mittels einer komplizierten rechtlichen Konstruktion gehört seit 1995 das Unternehmen sich selbst. Eine Stiftung besitzt alle Anteilsscheine an Endenburg Elektrotechnik (EE), und der Spitzenkreis (Aufsichtsrate) der Stiftung ist identisch mit dem Spitzenkreis von EE. Zwei Jahre nach dem Abschluss dieser Transaktion ist Endenburg als CEO 1997 zurückgetreten.

Er arbeitet bis heute im Soziokratischen Zentrum, entwickelt seinen Ansatz weiter, gibt Vorlesungen an der Universität Maastricht und berät Unternehmen, die die Soziokratie implementieren möchten.

2.2.4. Der Weg nach Deutschland

Es gab mehrere Anläufe, die Soziokratie nach Deutschland zu bringen. Es erwähnen sowohl 1990 das Manager Magazin12 als auch 1995 Jack Quarter13, dass die Soziokratie nach Deutschland gebracht wird bzw. ein deutschsprachiges Zentrum im Aufbau ist. Es wurden in den 1990er Jahren einige Schulungen durchgeführt, es gab auch vereinzelte deutschsprachige Veröffentlichungen, aber die Soziokratie konnte damals nicht Fuß fassen. Ab 2005 organisierte Isabell Dierkes einige Seminare mit Pieter van der Méche, Organisationsberater im Soziokratischen Zentrum der Niederlande, und gründete mit ihm 2007 das Soziokratische Zentrum, dem ich (Christian Rüther) Ende 2007 beigetreten bin. In der Jännerausgabe 2009 von Brandeins erschien ein Artikel über die Soziokratie, der den Ansatz im deutschsprachigen Raum etwas verbreitete.

2.2.5. Der aktuelle Stand in den Niederlanden und weltweit

In den Niederlanden gibt es derzeit ca. 50-100 Organisationen, die Teile ihrer Arbeit auf der Basis der Soziokratie organisieren.14 Fünf Organisationen haben die Soziokratie 100% übernommen. Kennzeichen dafür sind die Übernahme der Grundprinzipien in die Satzung und gleichwertige Machtverhältnisse zwischen Kapitalgeber und Mitarbeiter. Die Kapitalgeber können nicht mehr alleine entscheiden, das Unternehmen zu veräußern oder den Geschäftsführer zu entlassen, sondern sind über einen Vertreter im Spitzenkreis vertreten und können dort gleichwertig in der Beschlussfassung mitwirken. Der Spitzenkreis ist das oberste Gremium einer Organisation und übernimmt die Aufgaben des Aufsichtsrates und des Vorstandes.

Im US-amerikanischen Raum gibt es ebenfalls vier Organisationen, die die Soziokratie vollständig in ihre Statuten übernommen haben, sowie eine Vielzahl von Organisationen, die zumindest eine Kreisstruktur eingeführt haben, ihre Meetings auf der Basis von Konsent führen oder vor dem Schritt stehen, die Soziokratie in den Statuten zu verankern. Auch im frankophonen Raum gibt es einige soziokratische Organisationen, wobei mir leider wenig darüber bekannt ist, da die Quellen im Internet recht dürftig sind. Im Anhang habe ich eine Liste aufgrund meiner Recherchen zusammengestellt, in der alle von mir eruierten Organisationen stehen, die derzeit mit der Soziokratie arbeiten oder zumindest in einer unabhängigen Quelle genannt wurden.

2.3. EINFLÜSSE AUF ENDENBURG BEI DER ENTWICKLUNG DER SOZIOKRATIE

Dieses Kapitel behandelt folgende Fragen:

Auf Basis meiner Quellen sehe ich diese vier Elemente bei Gerard Endenburg als wesentlich für die Entwicklung der Soziokratie:15

  1. die Lust am sozialen Experiment, das Denken in Analogien und etwas Idealismus
  2. die Kybernetik
  3. Kees Boeke und seine Schule „Werkplaats Kindergemeenschap“
  4. die Quäker und deren Beschlussfassung

2.3.1. Die Lust am sozialen Experiment, das Denken in Analogien und etwas Idealismus

In dem Interview mit Ted Millich erzählt Endenburg, wie er bei Philips gearbeitet und dort den flachen Lautsprecher erfunden hat, der lange Zeit in Fernsehgeräten oder später auch Walkmans eingesetzt wurde. „Ich fand heraus, dass ich die Fähigkeit habe, neue Dinge zu erfinden. Mein Vater sagte mir, dass Erfinder immer Bankrott gehen. Ich sehe ein Problem und finde die Lösung. Dann beweise ich meine Lösungen. Die Qualität der Lösungen war gut, der flache Lautsprecher hat funktioniert. Damit ging es mir gut und ich habe mir dann die wichtigste Frage gestellt: Wie können wir zusammen leben? Wie können wir unsere Form des Zusammenlebens verbessern? Ich dachte, dass ich eine Organisation mit mehr als 100 Mitarbeitern bräuchte. Ich sah die Idealisten, die mit kleinen Gruppen arbeiteten, und am Ende ihres Lebens verschwinden diese Gruppen dann. Die Idealisten sagen, dass du ihnen glauben musst. Ich dachte, das ist nicht Wissenschaft. Ich dachte an 100 Leute und dass wir etwas in kurzer Zeit erschaffen müssten und dass ich viel Geld bräuchte. Nach fünf Jahren hatte ich genügend Geld und Mitarbeiter und ich dachte, dass ich mit meinen Ideen beginnen sollte. Wir haben expandiert und sind 1968 in ein neues Gebäude umgezogen.“16

Endenburg zog sich zu einem persönlichen Retreat zurück: „Jeden Tag fragte ich mich selbst: Was steckt hinter der Macht? Nach zwei Wochen verließ ich den Ort und hatte noch immer keine Antwort. Ich musste es beenden. Und in diesem Moment, als ich zu suchen aufhörte, habe ich die Antwort gefunden. […] Ich realisierte, dass es mit Führung zu tun hat. Wir wissen nicht viel über Führung in sozialen Strukturen. […] Ich hatte als Gedankentechnik immer wieder in Analogien gedacht. Ich nahm ein Problem und betrachtete eine andere Disziplin, in der das Problem schon gelöst war, und übertrug es wieder zurück. […] Ich arbeitete in diesem Unternehmen und dachte über das Steuern nach. Ich hatte eine Menge von Büchern über das Steuern im technischen Sinne. Die Amerikaner waren auf dem Mond aufgrund der Kybernetik, aber wir hatten das bisher nicht in sozialer Richtung übersetzt. Das war der Start der Soziokratie. Ich begann in meinem Unternehmen mit Kreisen und Konsent.“17

Endenburg war Ingenieur der Elektrotechnik und hat die Prinzipien des Kreisprozesses und des Konsents aus der Kybernetik übernommen, auf die ich im nächsten Kapitel näher eingehen werde. Er beschreibt seine Eltern als idealistisch und gleichzeitig konstruktiv-realistisch. „Kees Boeke und meine Eltern sagten, wenn man eine gute Idee und Ideale zu einer Situation hat, dann muss man es selbst machen und belegen, dass es funktioniert. Meine Eltern sagten, sie seien sehr gegen den Kapitalismus und haben sich entschlossen eine Firma zu gründen, um dort ihre Ideen zu verwirklichen. […] Sie fanden dabei heraus, dass der Kapitalismus auch positive Seiten hatte. […] Mir ging es ähnlich. 1959 wollte ich bei meinen Eltern einsteigen. Mein Vater sagte: `Wir machen das nicht für dich. Wenn du interessiert bist, dann kaufe ich dir eine Firma.´ Er kaufte mir ein Unternehmen, das kräftige Verluste machte. Nach einem Jahr machte ich Profit, nach zwei Jahren schlug er vor, beide Firmen zusammenzuschließen. Ich stimmte zu. Dieses Unternehmen wurde mein Labor, meine Werkstatt.“18

2.3.2. Kybernetik

Der Ausdruck Kybernetik stammt von dem griechischen Wort κυβερνήτης (kybernétes), das mit „Steuermann“ übersetzt werden kann, sowie κυβέρνησις (kybérnesis), das „Leitung“ oder „Herrschaft“ bedeutet.19 „Im Lateinischen wurde daraus gubernare, im Englischen governor. Die Lenkung eines Schiffes, eines Staates, einer Armee oder eines Organismus lässt sich zumindest dann unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammenfassen, wenn die Orientierung an einem Ziel oder einem Zweck vorhanden ist.“20

In der heutigen Bedeutung wurde der Begriff von Norbert Wiener geprägt, der darunter die Wissenschaft der Kommunikation und Kontrolle (Regelung) von Maschinen und lebenden Organismen verstand. Dabei werden unterschiedliche Konzepte zur Steuerung und Regulation von Systemen erforscht, mit dem Schwerpunkt auf Regelkreisläufen und Rückkopplungssystemen.

„Ein typisches Rückkopplungssystem ist eine durch einen Thermostat geregelte Heizung. Der Thermostat vergleicht den Ist-Wert eines Thermometers mit einem Soll-Wert, der als gewünschte Temperatur eingestellt wird. Eine Diskrepanz zwischen diesen beiden Werten veranlasst den Thermostat dazu, die Heizung so zu regulieren, dass der Ist-Wert den Soll-Wert anstrebt.“21

Ich möchte den Ablauf solcher Rückkopplungsprozesse näher beschreiben und beginne mit dem Beispiel der menschlichen Atmung. Der Wechsel von Ein- und Ausatmen ist verantwortlich für die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und die Entfernung des entstehenden Kohlendioxyds (CO2). Wenn wir den Atem anhalten und dann nach einem heftigen Drang wieder zu atmen beginnen, „liegt folgendes körperliche Geschehen zugrunde: Das nicht ausgeatmete Kohlendioxyd kreist weiter im Blut, und seine Konzentration nimmt zu. Bestimmte für CO2-Konzentration empfindliche Sinnesendigungen in den Wänden von Arterien und im Stammhirn registrieren diese Anhäufung. Sie beeinflussen das Atemzentrum, was zu immer stärkerer Atemanregung führt. Dies empfinden wir als Drang zum Atmen. Wenn wir schließlich atmen, so geschieht im Einzelnen Folgendes: Das Atemzentrum veranlasst durch efferente nervöse Signale bestimme Muskeln, die Zwischenrippen und Zwerchfellmuskeln, zu geordneter rhythmischer Tätigkeit. Dank der Anordnung dieser Muskeln erweitert und verengt sich durch ihre Aktion der Brustkorb, so dass Luft eingesaugt und wieder ausgestoßen wird. Diese liefert frischen Sauerstoff und nimmt CO2 aus dem Blut auf und entführt es ins Freie. Damit normalisiert sich der CO2-Gehalt des Blutes wieder.“22

Einen ähnlichen Prozess beschreibt Hasselberger bei der Regelung der Körpertemperatur bei Warmblütern, wie der Körper von Mensch auf Hitze reagiert, indem er schwitzt, und auf Kälte, indem er seine Haare aufstellt, die Poren schließt sowie zu zittern beginnt. Das sind alles Reaktionen des Körpers, wenn der Sollwert nicht mehr stimmt. Das Beispiel Heizung ist rein mechanischer Natur, das der Atmung und Regelung der Körpertemperatur biologischer Natur. Hasselberger führt auch ein soziales Beispiel an zur „Temperaturregulierung im Bienenstaat. Die Bienen halten im Inneren ihres Stockes im Sommer und Winter eine Temperatur von 35 bis 36° C aufrecht. Bei zu großer Wärme tragen die Arbeiterinnen reines Wasser rein, fächeln Luft durch den Stock und erzeugen so Verdunstungskälte. Wärme erzeugen sie durch Flügelschwirren, wobei wiederum nicht die Bewegung (das Flügelzittern), sondern die Anspannung der Flugmuskeln ohne entsprechende mechanische Aktion den eigentlichen Wärmespender darstellt.“23

Der Begriff „Kybernetik“ ist schon vor Norbert Wiener im „sozialen“ Kontext gebraucht worden: „Kybernesis nennt die katholische Kirche die Kunst der Führung eines Kirchenamtes (nach Karl Steinbuch, Automat und Mensch). Weiterhin hat der bekannte Physiker André Marie Ampère 1834 ein Buch geschrieben, welches im Titel das Wort `Cybernétique` enthielt und das Fragen der Regierungskunst, d.h. politisch-soziologische Fragen zum Inhalt hatte.“24 Seit den 1980er Jahren hat sich als ein Bereich der Soziologie die Soziokybernetik entwickelt. Sie „fasst die Anwendung kybernetischer Erkenntnisse auf soziale Phänomene zusammen, d. h. sie versucht, soziale Phänomene als komplexe Wechselwirkungen mehrerer dynamischer Elemente zu modellieren. Eine wichtige Problemstellung der Soziokybernetik liegt in der Kybernetik zweiter Ordnung, da Soziokybernetik eine gesellschaftliche Selbstbeschreibung ist.“25

„Selbstregulierung - das ist für Endenburg denn auch das Grundprinzip, nach dem er nicht nur die Unternehmen, sondern am liebsten die gesamte Gesellschaft verändern würde. In den 50er Jahren faszinierten ihn die Theorien Norbert Wieners, doch, so bedauert er, ´obwohl wir heute viel mehr über Kybernetik wissen, tun wir uns noch immer schwer, das Denken in Regelkreisen auf soziale Systeme zu übertragen`. Dabei stelle jede Lebensform ein mehr oder weniger komplexes Gefüge von Kreisprozessen dar. Aufgabe des Managements sei es, diese Prozesse zu beherrschen. Endenburg empfiehlt da sein Modell: In der soziokratischen Kreisorganisation garantieren vergleichend-steuernde, ausführende und messend-rückkoppelnde Komponenten ein dynamisches Gleichgewicht, nicht anders als bei einer automatischen Heizung, wo ein Fühlerteil die gewünschte Temperatur mit der tatsächlichen vergleicht und ein Schaltelement […] die Wärme reguliert. Auch wenn der Mensch nicht wie ein Maschinenteil eingesetzt werden könne - die Respektierung seiner Eigenständigkeit, die Beschlussfassung im Konsent und ein Informationswesen ohne Tabus stärkten in jedem Fall die Überlebensfähigkeit einer Organisation. Endenburg: `Es ist eine Binsenweisheit der Kybernetik, dass wir die Folgen unseres Handelns wahrnehmen müssen, um steuern zu können.´“26

Endenburgs Modell der Kybernetik lässt sich vereinfacht so darstellen:

Leiten heißt, die Rahmenbedingungen festlegen, Planung und Steuerung der Ausführung, sowie Auswertung der Messergebnisse.

Ausführen ist das Tun anhand der von der Leitung vorgegebenen Richtlinien. Der Plan wird umgesetzt.

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