Elmar M. Lorey, geb. 1941, lebt im Rheingau und beschäftigt sich immer wieder mit besonderen Aspekten der Weinbaukultur. 1997 erschien die WEINAPOTHEKE, ein Rückblick auf die Rolle des Weines in der volkstümlichen Heilkunde und der Medizin bis ins 19. Jahrhundert. 2005 veröffentlichte er seine Nachforschungen zu den REBTRÄNEN und über die Heilwirkungen dieses Pflanzensaftes aus dem Immunsystem der Rebe. 2007 machte er in Zeitschriftenbeiträgen und im „Deutschen Weinbau“ auf die weltweite Wiederentdeckung des VERJUS aufmerksam. Seit Jahren schon informiert er auf seinen Internetseiten über das „Gewürz aus dem Weinberg“ und seine kulinarische Überlieferung anhand von historischen Dokumenten und Rezeptbeispielen. (www.elmar-lorey.de)
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© 2017 Elmar M. Lorey
Umschlag-Illustration: Bettina Wölfel
Layout und Satz: Almuth Lorey, Granatäpfel Kommunikation
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7448-2479-8
Rezepte
Mitten im August oder auch früher eilt der Winzer in den Weinberg, um einen Teil seiner Trauben, die ihm die Rebe für die herbstliche Ernte angeboten hat, vom Stock zu schneiden. Er tut das nicht grundlos und ganz im Interesse seines Weines und auch zur Freude seiner Kunden. Er nennt es „Grüne Lese“ und das Ziel ist eine Optimierung des späteren Lesegutes. Denn: Weniger Trauben bedeuten mehr Extrakt und mehr Extrakt bedeutet bessere Qualität.
Doch leider ist das, so muss man klagen, die pure Verschwendung. Oder genauer gesagt: Leider war in Vergessenheit geraten, dass aus diesen wertvollen überschüssigen Beeren, die abgeschnitten nun sinnlos am Boden verkommen, ebenso wie aus den „Geizen“ einst ein hochgeschätztes Würzmittel hergestellt wurde, das die besten Köche nicht nur zu Höchstleistungen inspirierte, sondern dem Winzer auch klingende Münze brachte. Selbst die armen Leute profitierten davon, durften sie doch nach Abschluss der Lese in den wieder geöffneten Weinbergen ungehindert nach den übersehenen Beeren und den „Geizen“ suchen, jenen unreif gebliebenen Beeren, die aus der zweiten Generation der Blüten nachgewachsen sind. Für sie hat der Winzer heute nicht mehr als Verachtung übrig, wenn er sie nicht sogar schon frühzeitig vom Stock geschnitten hat. Die einfachen Leute machten daraus „natürlich milden Essig“. Der war kostenlos und wurde in jeder Küche geschätzt.
Damit haben wir schon einen ersten historischen Faden in der Hand. Die Praxis dieser Nachlese war bereits in biblischen Zeiten bekannt, wie im dritten Buch Moses, Vers 19,10 belegt ist: „Und in deinem Weinberg sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinbergs sollst du nicht auflesen; für den Armen und für den Fremden sollst du sie lassen.“ Der Gebrauch unreifer, saurer Trauben war vom Genuss keineswegs ausgeschlossen, wie auch die Vorschrift 4. Mose 6,4 bezeugt: „Solange sein Gelübde währt, soll er nichts essen, was man vom Weinstock nimmt, von den unreifen bis zu den überreifen Trauben.“
Über Jahrhunderte hinweg hat man aus unreifen Trauben eine kulinarische Spezialität gewonnen, mit der sich manch herrschaftlicher Hofkoch gleich fassweise bevorratete. In der Tat war der ausgepresste und unvergorene Saft aus „unzeitigen“ Beeren eine der Säulen der mittelalterlichen Küche und gehörte bis weit ins 18. Jahrhundert zum Würz-Repertoire eines jeden Kochs, der etwas auf sich hielt. Der Name dieser kulinarischen Spezialität aus dem Weinberg: Agrest.
Seit mehr als hundert Jahren steht das einst so gebräuchliche Wort „Agrest“ in keinem deutschen Lexikon, in keinem Wörterbuch mehr. Mit jedem verschwundenen Wort verschwindet aber auch ein Teil des kulturellen Gedächtnisses. Anders als ausgestorbene Tiere oder Pflanzen haben verschwundene Wörter jedoch die Chance für einen Wiederauftritt auf der großen Geschichtsbühne. Man muss sie nur wieder aussprechen und ihren alten Spuren folgen. Und wir werden dabei die Beobachtung machen, dass beim Kochen auch die Wörter zu den wichtigen Zutaten gehören.
Beginnen wir also unsere kleine Küchen-Archäologie mit dem eigenartigen Begriff, der aus unseren Wörterbüchern ebenso gründlich verschwunden ist wie die Würze aus unseren Küchen. In der ältesten deutschen Quelle, einer Handschrift, die etwa um 1200 entstand, lautet der Name Agraz, der sich in den folgenden Jahrhunderten mit mehr oder weniger Variationen zu Agrest stabilisiert. Der Begriff stammt von dem italienischen agresto und verweist auf die lateinische Wurzel agrestis für wild wachsend. Die Deutschen, so scheint es, basteln noch eine zeitlang an dem raukehligen Wort, das doch eine so angenehme Sache bezeichnen wollte. Wir finden Varianten wie Agressz bei Brunnfels (1532), Agreßsafft beim Übersetzer des Tacuinum Sanitatis (1533), Philippine Welser (1540) schreibt Agerest, der Mainzer Mundkoch Max Rumpolt (1581) diktiert seinem Schreiber Agrastwasser in die Feder und im ersten in Österreich gedruckten „Grazer Kochbuch“ von 1668 finden wir die Variante Agriß. Die renommierte Kennerin der deutschen Kochbuchliteratur, Trude Ehlert, sieht die Wurzel im provenzalischen agras, was gar nicht so abwegig erscheint. Das Provenzalische zeigte sich besonders aufnahmebereit für sprachliche Einflüsse aus dem Spanischen, Französischen und Italienischen. Und agras entspricht sehr wohl dem Katalanischen, wo die Tradition dieser Würze noch weiter zurückreicht und heute unter dem Begriff el agraz wieder gebräuchlich ist.
Die Franzosen schaffen schon früh ihre eigene Version. Sie nennen ihn jus-vert, grünen Saft. In dem um 1393 entstandenen Hausbuch „Le ménagier de Paris“, in dem auch eine umfangreiche Rezeptsammlung enthalten ist, hat der Schreiber den ursprünglichen Begriff noch beibehalten. Gut hundert Mal taucht bei seinen Rezepten der vertjus auf. Daneben begegnen wir aber auch schon der Schreibung verjus, die sich zu dieser Zeit bereits stabilisiert, wie die Befunde in den Handschriftenvarianten des „Taillevent“ (zwischen 1373 und 1392) zeigen. Dieses frühe kulinarische Kompendium wird dem Hauptkoch des französischen Königs Karl V. (reg. 1364–1380) zugeschrieben und bestimmte über mehrere Jahrhunderte hinweg die französische Kochbuchliteratur. Noch früher findet sich der Verjus in einer Handschriften- Variante des „Viandier“ (Lebensmittel) der Bibliothèque Cantonale von Sion im Wallis belegt. Ihre Entstehung datiert man bereits in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts. Unter den dort aufgeführten 153 Rezepten erscheint der Verjus allein bei einem Drittel aller Zubereitungen als entscheidendes Würzmittel.
Das englische verjous, veriaws oder verious, wie es im „Forme of Cury“, dem frühesten englischen Kochbuch vom Ende des 14. Jahrhunderts, in schöner Abwechslung geschrieben steht, leitet sich gleichfalls vom französischen verjus ab. Was die Schreibweise betrifft, kämpfen die Engländer allerdings über längere Zeit mit diesem semantischkulinarischem Import. Mitte des 15. Jahrhunderts schreibt der aus Nordengland stammende Autor des „Liber Cure Cocorum“ verius, das sich ein Jahrhundert später im „Proper newe Booke of Cokerye“ in vergis verwandelt hat. Und John Murrell schreibt in seinem „New booke of Cookerie“ (London, 1615) als eigene Variante Uergis, wenn er seine aus der französischen Küche entlehnten Rezepte ("on the French fashion") vorstellt. Heute hat sich im englischsprachigen Raum allgemein der Begriff Verjuice eingebürgert.
Oft waren es die geschäftstüchtigen holländischen Weinhändler, die diese begehrte Würze von Frankreich nach England brachten. Und auch sie hatten anfangs ihre Schwierigkeiten, diese sanften französischen Zischlaute (verschü) ins Niederländische zu transponieren. Im ersten niederländischen Kochbuch des Brüsseler Druckers Thomas Van der Noot (1475–1525) „En notabel boecriten van cokeryrn“ (Brüssel 1510), das mehrer Wiederauflagen erlebte, lesen wir gleich im zweiten – und dann in 30 weiteren – der 174 Rezepte „veriups“, was fast ein wenig an Schluckauf erinnert, auf jeden Fall aber gut gelaunt klingt. Tatsächlich ist mit dem Buchstaben p aber ein y gemeint, das dem Schriftgießer freilich etwas verquer geraten war.
Im Flämischen hält sich als weitere Variante bis ins 17. Jahrhundert die Schreibung veriu, wie man im Kochbuch des Lancelot de Casteau, „Ouverture de Cuisine“, Lüttich 1604 nachlesen kann. Angesichts all dieser Varianten holt der flämische Arzt und Botaniker Rembert Dodoens (1517–1585) in seinem “Cruyde Boeck” (Gewürzbuch) Antwerpen 1563, zu einer breiten lexikalischen Auskunft aus, in der er zugleich noch einmal die enge Verbindung von Küche und Apotheke unterstreicht: “Der Saft, der aus den unreifen Beeren des wilden Weinstocks und ebenso aus jeglichen unreifen Trauben, sowohl angebauten als auch wild wachsenden, gepresst wird, heißt auf Griechisch òmphakion und auf Lateinisch Omphacium. In den Apotheken Agresta, in Niederdeutsch / Niederländisch Veryus.“
Im deutschen Sprachraum hält sich der Begriff Agrest zwar bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, doch schon im 16. Jahrhundert und unter dem europaweiten Einfluss der französischen Hofkultur wandert der Verjus auch in die deutsche Sprache ein. Daneben sprechen die Kochbuchautoren jedoch meist vom „Saft aus unzeitigen Beeren“ oder einfach von „grünen Winbeeren“, und sie machen damit zugleich auch die Vielgestaltigkeit dieser Zutat kenntlich. Denn wie hinter dem französischen Verjus verbirgt sich hier mehr als nur der ausgepresste Saft. Bei vielen Gerichten – so sagen es die Zubereitungsvorschriften – wird der Saft erst gar nicht ausgepresst, sondern die Beeren werden zur Würzung direkt dem Gericht beigefügt. Hierzulande sind sie unter dem Namen „torshi gureh“ (in Essig eingelegte unreife Weinbeeren) neben dem „abe gureh“, dem persischen Agrestsaft, im gut sortierten persischen und iranischen Lebensmittelhandel und für ein mutiges Experiment in der Küche zu haben.
Als eines der frühen Zeugnisse für diese Praxis, die im Grunde das Ergebnis eines Lernprozesses ist – wie wir noch sehen werden – und die sich in den Rezepten bis weit ins 18. Jahrhundert hält, kann die Überlieferung eines zweitägigen Festmahles gelten, das im September 1303 anlässlich der Einweihung der neuen Stadtkirche in Weißenfels (südwestlich von Leipzig) zu Ehren von Bischof Benno von Zeitz ausgerichtet wurde. Am zweiten Festtag wurde, wie die Stadtchronik überliefert, bei den drei Gängen unter anderem ein Eierkuchen „midt Honnik und Wynbeeren“ gereicht. Nicht nur von der Jahreszeit her, sondern auch von den nach diätetischen Grundsätzen zusammengestellten Zutaten des Eierkuchens darf man hier sehr wohl „unzeitige Wynbeeren“ annehmen. Sie waren in dieser Region auch leicht zu haben, in der durch eine Schenkung Kaiser Otto III. an das benachbarte Kloster Memleben seit dem Jahre 998 Wein angebaut wurde.
Diese Agrestbeeren sind als Würzmittel so sehr in Vergessenheit geraten, dass in zahlreichen Neuausgaben alter Kochbuchquellen die dort erwähnten „winbeeren“ häufig als Trauben oder gar Rosinen übersetzt werden. Aus der Kombination der Zutaten, die nach der damals geltenden Humoralpathologie und den Gesetzen der „Temperier-Kunst“ zusammengestellt wurden, ergibt sich jedoch häufig, dass statt süßer, reifer Trauben oder Rosinen tatsächlich unreife Weinbeeren gemeint sind. Über die Jahrhunderte sind die mühsamen Versuche zu verfolgen, nicht nur den Saft, sondern auch diese Beeren, die jahreszeitlich nur begrenzt zu haben sind, zu konservieren und auf unterschiedlichsten Wegen haltbar zu machen, damit ein Koch sie als Würzmittel stets zur Hand haben konnte. Wo man jedoch nicht zu befriedigenden und verlässlichen Ergebnissen fand, suchte man nach Ersatz, gewissermaßen nach jahreszeitlich möglichen Varianten, die beispielsweise aus dem Saft bestimmter Äpfel, aus saurem Beerenobst oder aus Sauerkräutern zubereitet wurden. Wir werden dabei den interessantesten Variationen – etwa dem Saft des Granatapfels oder dem Saft aus dem Schildampfer (Rumex scutatus) – begegnen, die den Ruf des originalen Weinbeerensaftes keineswegs schmälern müssen.
Bereits im Altertum kannte man die Praxis, aus der natürlichen Säure der unreifen Weinbeeren verschiedene Heilmittel herzustellen. Überraschend ist freilich die Tatsache, dass in der römischen Küchentradition bisher kaum Belege für seine Verwendung zu finden sind. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Marcus Porcius Cato (234–149 v. Chr.), der in seinem Buch „De re rustica“ im Kapitel 23 über die Weinernte davon berichtet, dass in der Zeit des Rebenbindens den Weinbergsarbeitern der „vinum praeliganeum“, der Wein aus unreifen Trauben als Erfrischungsgetränk zustand. Die alten Quellen verweisen vor allem auf die medizinische Verwendung. Zusammen mit dem Saft unreifer Oliven wurde im alten Ägypten eine medizinische Salbenbasis hergestellt, wie Plinius (23–79 n. Chr.) berichtet. Unter dem aus dem griechischen entlehnten Begriff Omphacium lobt der römische Militärarzt Pedacius Dioskurides (1. Jhdt. n. Chr.) den „unzeitigen Traubensaft“ wegen seiner adstringierenden (zusammenziehenden) Eigenschaften. Man verwandte ihn zur Behandlung von Fiebern, bei Entzündungen in Mund-, Hals-, und Rachenraum, bei Augen- und Ohrenbeschwerden, bei roter Ruhr, bei Magenbeschwerden, Frauenleiden, zur Wundbehandlung und zur Vorbeugung bei Pestgefahr. Sogar Schönheitsrezepte sind überliefert und selbst aphrodisische Wirkungen wurden ihm einst zugeschrieben. Die Väter der antiken Medizinlehre Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) und Galen (129–200 n. Chr.) hatten sich allerdings vor allem mit den gesundheitsförderlichen Eigenschaften dieses Saftes befasst und dadurch seine Verwendung als Lebensmittel und diätetische Würze in der Küche gefördert.
Um diesen Schatz wieder zu heben, ist ein kleiner Spaziergang durch die Geschichte der europäische Kochkunst und des Weinbaus sehr von Nutzen, weil sich bei allem, was darüber in den alten Quellen zu finden ist, dazu ein paar herzhafte Strophen singen lassen. Dass dabei auch Rezepte und Kochanweisungen nicht zu kurz kommen werden, ist unumgänglich und soll die Experimentierlust des Lesers anregen. Wenn wir dabei immer wieder auf kurzen Wegen zwischen Apotheke, Küche und Keller hin- und herwechseln, wird auch das sich sehr bald aufklären.
Um unser zart säuerliches Naturprodukt richtig zu verorten, werfen wir zuvor noch einen kurzen Blick auf die kulinarische Frühgeschichte: Das Säuerliche und das Herbe gehören sicherlich zu den ältesten Geschmackserfahrungen des frühen Homo sapiens sapiens. Seine Ernährung bestand neben dem erjagten Wild vor allem aus Wurzeln, Körnern und Pflanzen und war vermutlich ziemlich sauer. Es genügte, dass ein Gemüse zu jung, einige Körner zu schwach gekocht oder eine Speise zu schlecht gekühlt war, um eine Milchgärung in Gang zu setzen. Dennoch wurden solche Speisen über längere Zeit aufbewahrt und selten weggeschüttet. Die Menschen machten die Erfahrung, dass das Säuerliche zugleich auch konservierte. Noch heute hat sich in Osteuropa, in Polen und Russland eine „saure Küche“ (saure Suppen, Sauerkraut, eingemachtes Essiggemüse) erhalten und spielt zum Beispiel bei der Resteverwertung auch hierzulande noch eine Rolle.
Das Bittere hingegen hatte Signalcharakter, war Warnung und deutete auf die Gefahr von Giften hin, bis auch hier die Erfahrung lehrte, dass bestimmte Bitterstoffe als Verdauungshilfe und zur Magenstärkung sehr wohl nützlich sein konnten. Erst bei genügend Wärme vermochten die Pflanzen auch Zucker zu bilden. Das Süße und Milde setzte also das günstigere Klima voraus.
Dennoch blieb mit dem Säuerlichen und Herben, wie es etwa in manchen Obst- und Beerensorten anzutreffen ist, immer die Assoziation von Frische verbunden. Heute haben Senf, Zitrone und milde Essige diese Aufgabe übernommen. Wenn die Menschen eine nicht nur kulturell erlernte, sondern – wie alle Säugetiere – auch physiologisch bedingte Affinität zum Süßen und Milden zeigen und die geschmacklichen Vorlieben sich über die Jahrhunderte immer stärker in diese Richtung verschieben, so ist doch die ursprüngliche Geschmackserfahrung des Säuerlichen tief verwurzelt. Bis heute gilt eine typische Kombination von frischen Pflanzen mit säuerlicher Würze nahezu als Inbegriff für die gelungene Eröffnung einer Speisefolge: der Salat.
Trotz wachsendem Essigverbrauch scheint die Neigung zum Sauren zu schwinden, obwohl die Säuerung, etwa durch Fermentierung und kontrollierte Gärung auch bei den westlichen Essgewohnheiten noch immer eine große Rolle spielt. Die Geheimnisse dieser Umwandlungsprozesse, wie sie beispielsweise bei Wein, Essig, Sauerteigbrot und Bier stattfinden, wurden erst im 19. Jahrhundert durch Louis Pasteur gelüftet. Bis dahin waren sie nur durch Beobachtung und Erfahrung beherrschbar. Deshalb griffen die Menschen im Alltag aus ganz pragmatischen Gründen zu jenen wenig riskanten Säurespendern, die ihnen aus ihren landwirtschaftlichen Kulturen vertraut waren: dem Saft bestimmter Äpfel und Beeren, säuerlichen Kräutern und vor allem zum Saft der unreifen Trauben. Doch die wirklichen Gründe für die jahrhundertlange Erfolgsgeschichte des Agrest werden wir nicht bei den Köchen, sondern bei den Ärzten finden. Wenn wir dabei zuerst auf einen Dichter stoßen, so ist das dennoch kein Umweg.
Diese Kaufurkunde von Kloster Eberbach im Rheingau aus dem Jahr 1225 dokumentiert den Erwerb eines Weinbergs, der heute zum berühmten „Steinberg“ gehört, dem Lieblingsweinberg des ehemaligen Zisterzienserklosters. Zugleich ist sie der bisher älteste Erzeugernachweis für Agrest. In einem Nachtrag am Ende des Dokumentes wird den Hospitalbrüdern Heinrich und Herweg sowie den beiden Konversen Gisselbert und Adolf das Recht zugesichert, in diesem Weinberg unreife Trauben (uvae praecoquae) für die Kranken des Hospitals zu ernten. (Siehe 1.4) Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden Abt. 22, U 87.
Man könnte es leicht für den geschickten Trick eines Sternekochs halten, der bei der Vorstellung eines Menüs, weit ausholend, den Gästen als Erstes eine der ältesten mythischen Geschichten auftischt, die unsere literarische Überlieferung zu bieten hat. Doch die mittelalterlichen Verse, mit denen wir unseren Spaziergang durch die Geschichte beginnen wollen, spiegeln nicht nur die damals noch ungewohnte Wertschätzung des Dichters für den Koch. An der Tafel des Gralskönigs Anfortas finden wir in der Tat auch die erste Spur, das vorerst älteste schriftliche Zeugnis für unser Würzmittel. Noch vor den gesüßten und gewürzten Weinen wurden auf der Gralsburg die Gewürzsaucen aufgetragen: eine salzige und eine pfeffrige Sauce und als dritte eben der Agrest. Auch wenn diese Kombination auf den ersten Blick den skeptischen Betrachter von heute an die Nachkriegsküche aus der Mitte des 20. Jahrhunderts erinnern mag, bei der dem Gast am Tisch als karge Würze nur Salz und Pfeffer geboten wurde, und – an Stelle des Agrestes – die unvermeidliche Maggi-Flasche, so war damals für den Kenner höfischer Gebräuche ein fürstliches Gelage angekündigt, bei dem wirklich niemand fürchten musste zu kurz zukommen:
In kleiniu goltvaz man nam,
als ieslîcher spîse zam,
salssen, pfeffer, agraz.
dâ het der kiusche und der vrâ
zalle gelîche genuoc.
In kleine goldene Schüsseln tat man,
wie es zu jeder Speise geziemte,
Salzbrühen, Pfefferbrühe und Agrest.
Da hatten sowohl
der Bescheidene als auch der Vielfraß alle gleich reichlich.
Mit diesen Versen beginnt Wolfram von Eschenbach (um 1170– um 1220) im fünften Buch seines Parzival die Beschreibung eines festlichen Mahles an der Tafel des Gralskönigs Anfortas und er ist damit in der Tat unser frühester Zeuge deutscher Zunge für den Agrest. Dieser bisher älteste Beleg für das Würzmittel aus unreifen Weinbeeren wurde etwa um das Jahr 1200 bis 1210 vermutlich im Odenwald niedergeschrieben und spiegelt die Speisegewohnheiten und Moden eines herrschaftlichen Hauswesens der Zeit, wie sie beispielsweise am Hofe von Eschenbachs Gönner und Förderer, dem Thüringer Landgrafen Hermann, gepflegt wurden.
Schon die Wörter führen uns auf die Spur noch älterer Wurzeln. Das mittelhochdeutsche „salsse“, das seine Wurzeln im Romanischen hat und das lautierte „l“, das sich später in Anlehnung an das Französische zur „Sauce“ verwandelt, weisen ebenso wie der „Agraz“ (mlat. agresta, acer: sauer, griech. akis: spitz) auf den mediterranen Ursprung dieser kulinarischen Spezialität hin. Wolfram von Eschenbach schreibt zwar in fränkischer Mundart mit bairischen Einschlägen, doch sein Blick reicht sowohl kulinarisch als auch literarisch weit über den Tellerrand seiner Heimatregion hinaus. Er kennt die altfranzösische Vorlage des Chrétien de Troyes (um 1140) und dessen unvollendet gebliebenes Werk „Conte du Graal“. Er schöpft aber auch aus keltischen, provenzalischen und orientalischen Quellen. Ausgerechnet im Zeitalter der Kreuzzüge macht er in den Gestalten zweier Halbbrüder – der eine Christ und der andere Muslim – die Versöhnung von abendländischer und morgenländischer Kultur zum Thema.
Auf den ersten Blick, so könnte man vermuten, waren es also die Kreuzritter und auch die Pilger, die diesen Kulturaustausch besorgen, weil sie sich über längere Zeit im Heiligen Land aufhielten und sich – sofern sie die kriegerischen Auseinandersetzungen überlebten – an die orientalische Lebensweise und die dortigen Ernährungsgewohnheiten angepasst und sie nach Hause gebracht hatten. Die orientalische Vorliebe für ausgesuchte Gewürze und die Kunst, Speisen nach strengen Regeln zu komponieren, basierte freilich auf einer medizinischen Vorstellungswelt, die in den Ländern östlich des Mittelmeeres seit der Antike überliefert wurde, hierzulande aber noch auf eine Wiederentdeckung wartete. Und so blieb die kulinarische Neuentdeckung anfangs auch nur auf Teile der Oberschicht beschränkt, die sich die kostspieligen neuen Geschmackserlebnisse leisten konnten. Sie bestanden vor allem in der Würzung der Speisen mit Pfeffer, Safran, Ingwer, Zucker und Zimt, Handelswaren also, die noch in eher bescheidenen Mengen ins Abendland gelangten. Durch den neuen Küchentrend erweiterte sich auch das heimische Repertoire an Gewürzpflanzen um Quendel, Lavendel, Estragon, Schalotten, Knoblauch und Senfkörner. Die einfache Bevölkerung war von solchen Genüssen freilich weit entfernt und auf literarische Spuren ihrer ärmlich monotonen Ernährungsbedingungen wird man noch ein paar Jahrhunderte warten müssen.
Der einheimische Wein, den Wolfram von Eschenbach für die bevorstehende Schlemmerei auftragen lässt, wurde übrigens in der Regel als zu sauer empfunden. Man trank ihn nur gesüßt oder mit Kräutern versetzt, wenn man ihm nicht gleich die südländischen Weine vorzog. Die Kenntnisse von Veredelung, Kultivierung, Rebschnitt und Kellertechnik waren noch unzulänglich und die mäßig süßen Trauben in den Regionen nördlich der Alpen brachten ein Getränk hervor, dessen geringer Alkoholgehalt nur selten ausreichte, um eine dauerhafte Konservierung zu garantieren. Oft überstand der Wein kaum die Hitze des ersten Sommers und verwandelte sich ungewollt in Essig. Das Saure war als Erfrischung zwar sehr geschätzt, aber schon seit der Antike unternahm man Anstrengungen, gerade den Wein durch die Beifügung von Kräutern, Honig, eingedickten süßen Säften oder anderen Stoffen zu süßen, zu verfeinern und auch haltbarer zu machen. Gerade dieses strategisch-kulinarische Problem der Konservierung, das mit dem Saft aus reifen wie aus unreifen Weinbeeren aufgeworfen war, wird uns bei unserem Streifzug durch die nächsten Jahrhunderte wie ein Refrain begleiten.
Dass der Dichter an dieser Stelle des Parzival dem Koch die Ehre gibt, ist für die Zeit noch sehr ungewöhnlich und zeigt ihn als wachsamen Beobachter. Die Speise war bisher kein literarisches Thema und bis ins Hochmittelalter galten die Köche als wenig angesehene Bedienstete. Neben ihrer Tätigkeit am offenen Feuer wetzten sie nicht nur die großen Messer, sie waren zugleich auch die Metzger und Schlächter der Tiere. Wegen ihres Umgangs mit Blut, mit Innereien und Exkrementen, aber auch wegen ihrer Nähe zur Sphäre des Todes war ihr Beruf bemakelt und galt als „unehrenhaftes“ Handwerk. Die Missachtung, die man dem Berufsstand entgegenbrachte, war nicht zuletzt eine der Ursachen dafür, dass mit dem Niedergang des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert nahezu die gesamte kulinarische Literatur aus Europa verschwunden war.
Als im 14. Jahrhundert die Pest über Europa hereinbrach und selbst die renommierten Ärzte der Pariser Medizinischen Fakultät ihre Rat- und Hilflosigkeit eingestehen mussten, entwickelte sich jedoch so etwas wie ein neues Bewusstsein für den Zusammenhang von Ernährung und Gesundheit. Die Köche sahen sich immer häufiger damit konfrontiert, dass man sie für die Krankheiten oder auch nur für das gestörte Wohlbefinden ihrer Herrschaft zur Verantwortung zog. Sie waren förmlich gezwungen, neugierig zu sein und sich entsprechendes Wissen und laienärztliche Kenntnisse anzueignen. Das befeuerte ihre Karriere und sie begannen den Ärzten über die Schulter zu schauen und in Erfahrung zu bringen, was jene aus den wiederentdeckten antiken medizinischen Schriften selbst gerade neu zu lernen gezwungen waren. Und nicht selten wurden die Ärzte, die für ihre Patienten nach Wegen einer angemessenen, neuen Ernährungsweise suchten, selbst zu guten Köchen.
Angesichts der noch geringen Verbreitung von Lese- und Schreibfertigkeiten der Bediensteten dauerte der Qualifizierungsprozess der Köche freilich über Generationen. Selbst am Ende des 16. Jahrhunderts gehörten solche Kenntnisse noch nicht zu den Selbstverständlichkeiten. 1594 gesteht etwa der fürstlich braunschweigische Mundkoch Frantz de Rontzier in der Vorrede zu seinem „Kunstbuch von mancherley Essen“, er habe: „diß buch zusammen schreiben vnnd verzeichnen lassen (...) weil ich selbst nicht kan schreiben“. Das Kochen wird neben dem Handwerklichen immer mehr auch zum Denkakt, zur intellektuellen Durchdringung der in der Küche verwendeten Stoffe und der Reflektion über die dabei angestellten Beobachtungen und Erfahrungen. Das Kochen wird zur Koch-Kunst, einer Kunst, die aus medizinischer Neugier entsteht. Das solchermaßen aus Erprobung und Experiment gewonnene Wissen eines Koches wird schließlich so wertvoll, dass man ab dem 14. Jahrhundert damit beginnt dieses Wissen zu sammeln und auf Pergament aufzuzeichnen, jenem raren und teuren Schreibmaterial, das bisher nur frommen Texten, politischen Willensbekundungen oder Erbschaftsdokumenten vorbehalten war. Das wachsende Ansehen des Berufsstandes führte im Übrigen dazu, dass in der Zeit, in der sich die Tradition fester Familiennamen herauszubilden beginnt, der Name Koch eine solche Wertschätzung erfährt, dass er sich bis heute als einer der häufigsten deutschen Familiennamen erhalten hat.
Die ersten Kochbücher des christlichen Abendlandes entstehen also im 14. Jahrhundert und gehen aus den Küchen des Adels und der Klöster hervor. Anfangs sind es meist nicht mehr als unsystematische Rezeptsammlungen, die deutlich ihren Ursprung aus der mündlichen Überlieferung spiegeln, aus der sie hervorgegangen sind. Die Anweisungen sind knapp, meist ohne Angaben von Mengen oder Garzeiten und selbstverständliche Zubereitungsweisen werden gar nicht erst niedergeschrieben. Weil es noch keine Fachsprache gibt, greifen die Dienstschreiber – selbst der Kochkunst meist unkundig – mitunter zu umständlichen Wendungen, die den Leser schon mal in die Irre führen. Meist willkürlich angeordnet, beschränken sich die Anleitungen fast ausschließlich auf die verwendeten Zutaten und Würzmittel. Sie sind gleichsam nur Gedächtnisstütze für den Koch oder dienen als Anregung für die Planungsaufgaben der Haushofmeister.
Es ist also nicht ganz überraschend, wenn uns der – bei Parzival in goldenen Schalen aufgetragene – Agraz auch gleich im ältesten erhaltenen Kochbuch deutscher Sprache wieder begegnet. Die Rezeptsammlung „Von guoter Speise“ ist Teil der so genannten „Würzburger Liederhandschrift“, einem Pergamentband, der in der Münchener Universitätsbibliothek als Codex 20 MS.731 aufbewahrt wird. Seine Entstehung datiert man in die Zeit zwischen 1345 und 1354, also gut hundert Jahre bevor Gutenberg in Straßburg und Mainz seine ersten Druckversuche unternimmt. Die Rezept-Sammlung ist Teil eines „Hausbuches“, in dem sich weitere deutsche und lateinische Texte finden, darunter auch eine Würzburger Polizeiverordnung und eine Sammlung von Liedern des Walther von der Vogelweide. Man darf wohl vermuten, dass diese intime Nachbarschaft zu behördlichen Dokumenten, zu Poesie und geistlichen Interessen den Kochrezepten das kulturelle Überleben gesichert hat. Unter den gut hundert Anleitungen des „Buches von guter Speise“ beansprucht der Agraz, wenn wir großzügig sind, vier Plätze. Die Art der Präsentation weist fraglos darauf hin, dass es sich hier um ein charakteristisches Element der zeitgenössischen Küchenkunst handelt.
Wilt du machen einen agraz
Nim wintruebele vnd stoz sur ephele. diz tuo zvo sammene, menge ez mit wine vnd drueckez vz. dise salse ist guot zvo scheffinen braten vnd zv huenren vnd zvo vischen vnd heizet agraz.
Willst du einen Agraz machen, nimm Weinbeeren, zerstoße saure Äpfel, tu dies zusammen, vermeng es mit Wein und drück es aus. Diese Sauce ist gut zu Lammbraten und zu Hühnern und zu Fischen und heißt Agraz. (Nr. 32)
Es ist das erste von vier aufeinander folgenden Saucen-Rezepten, die offensichtlich nicht ohne Grund in so enger Nachbarschaft zusammengefasst sind. Sie stellen gewissermaßen eine Gruppe eigenständiger säuerlicher Würzungen dar, die zur Verfeinerung der bereits fertig am Spieß oder auf dem Rost gebratenen Fleischstücke dienten. Als eigenständige Zutat zu anderen Speisen tauchen die sauren Weinbeeren hier noch nicht auf. Zugleich offenbaren die vier Varianten aber ein grundlegendes Problem im Umgang mit diesem Würzmittel. Die sauren Weinbeeren stehen nur während einer beschränkten Vegetationsphase der Rebe zur Verfügung und mit der Frage der Haltbarkeit dieses relativ instabilen Beerensaftes werden sich noch Generationen von Köchen herumplagen. Das erste der vier Rezepte scheint die Möglichkeit anzubieten, zwar vom Beeren-Aroma der schon vollreifen, süßen Trauben zu profitieren, die gewünschte Säuerung aber durch Wein und den Saft besonders säuerlicher Äpfel zu erreichen.
Aber ein condiment
Nim aschlauch (Schalotten) vnd scheln (schäl ihn), ribin (reib ihn) mit saltze, mengin mit wine eder (oder) mit ezzige vnd drueckez vz. dise salse ist guot zvo rinderinen braten.
Das zweite Rezept (Nr. 33) wird „Condiment“ (Würze) genannt und ist wohl für die traubenlose Zeit gedacht. Es verzichtet gleich ganz auf die Weinbeeren und die Säuerung der Sauce erfolgt mittels Wein oder Essig, während die Schalotte die Aromatisierung beisteuert. Dass Wein und Essig gleichwertig nebeneinander stehen, weist nicht allein auf einen recht säurebetonten Charakter der damaligen Weine hin, sondern hat, wie wir noch sehen werden, seinen Grund auch im diätetischen Konzept der „Temperierung“, der richtigen Mischung von Zutaten. Im geltenden System der Gesundheits- und Lebensregeln, die mittlerweile Eingang in die Kochkunst gefunden hatten, setzte das besondere Kenntnisse voraus, die ein guter Koch jetzt beherrschen musste. Dem Besitzer der Handschrift waren die diätetischen Lehrtraktate der Zeit jedenfalls bekannt. Im Anschluss an die Rezeptsammlung folgen nämlich gleich zwei lateinische Versionen des „Regimen Sanitatis“ und andere medizinische Schriften.
Ein salse
Nim sure (saure) winber vnd tuo dar zv salbey vnd zwei knobelauches haubt vnd spec vnd stoz daz zv sammene, drueckez vz vnd gibz fuer eine guoten salse.
Die dritte Anleitung (Nr. 34) stellt endlich ein lupenreines Agrest-Rezept dar, das als „salse“, also als Brühe oder Sauce bezeichnet wird. Sie besteht aus dem Saft unreifer Weinbeeren, die zusammen mit Salbei, Knoblauch und Speck zerkleinert und durch ein Sieb oder ein Tuch gedrückt werden. Eine fast gleichlautende Variante findet sich auch in dem um 1453 entstandenen „Mondseer Kochbuch“ (Cod. Vind. 4995, Fol. 191r–224r Österreichische Nationalbibliothek). Dort verzichtet der Schreiber jedoch sinnvoller Weise auf den Speck, der zumindest im kalten Zustand nur schwer nach der angegebenen Methode verarbeitet werden konnte. In späteren Quellen werden wir der Kombination von fetthaltigen Zutaten und Agrest bei anderen Zubereitungsarten wieder begegnen, die sich dann zu einer der Standardverwendungen entwickelt. Dass alle diese Rezepte nahezu unverändert und in gleicher Reihenfolge auch im schon genannten „Mondseer Klosterkochbuch“ enthalten sind, lässt vermuten, dass beide Handschriften aus einer gemeinsamen früheren Quelle schöpfen, die heute unbekannt ist.
Das vierte Rezept (Nr. 35) schließlich bietet uns wieder eine Art Ersatzvariante an, die ebenfalls ohne Weinbeeren auskommt. Sie wird aus dem ausgepressten Saft besonders saurer Holzäpfel, aus Mangold und Petersilie zubereitet und der Schreiber betont ausdrücklich, dass auch dies Agraz genannt wird.
Ein agraz
Nim holtzepfele vnd peterlin vnd bezzin vnd stoz daz zvo sammene vnd drueckez vz, daz die petersilie ein wenic zvo var. daz heizzet auch agraz.
Nimm Holzäpfel, Petersilie und Mangold und stoße dies zusammen und drück es (so) aus, dass einwenig von der Petersilie dabei bleibt. Das heißt auch Agraz.
Weitere Saucen-Rezepte tauchen noch an anderen Stellen der nicht sehr systematischen Sammlung auf, die von späterer Hand häufiger korrigiert worden ist. So etwa „Swallenberges salse“ (Nr. 49), die aus Wein, Honig, Ingwer, Pfeffer und Knoblauch zubereitet wurde. Ihr Name ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass ein Koch dieses Namens mit dieser Rezeptur einen gewissen Ruhm hatte erlangen können. Die oben genannten, in einer Gruppe zusammengefassten vier Rezepte werden offensichtlich als Varianten des gleichen säuerlichen Grundrezeptes angesehen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ausschließlich zur nachträglichen Würzung des fertig gebratenen Fleisches dienen, also jeweils am Ende des Zubereitungsprozesses stehen.
Der Agraz, so scheint es, ist noch nicht integraler Bestandteil der Zubereitung selbst, wie sich dies zur gleichen Zeit in den Rezepten französischer Hofköche schon abzuzeichnen beginnt. Im Umgang mit diesem natursäuerlichen Saft ist man dort bereits experimentierfreudiger und erfindungsreicher. Zugleich beobachten wir das Bemühen, immer wieder nach einem angemessenen Ersatz für die jahreszeitlich nur beschränkt zur Verfügung stehenden unreifen säuerlichen Weinbeeren zu suchen. Denn dass mit „Agrestum“ ursprünglich allein die unreifen Weinbeeren gemeint waren, ist in Quellen belegt, die bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen.
Bleibt anzumerken, dass diese Rezeptsammlung einer gehobenen Küche an den weinreichen Ufern von Rhein und Main beheimatet ist, was jedoch nicht den Schluss rechtfertigt, dass darin auch eine typisch regionale Küche ihren Niederschlag gefunden hätte. Der Auftraggeber ließ die Texte für seine persönlichen Bedürfnisse aus schon vorhandenen Sammlungen kopieren und nur in Einzelfällen wird auf einen regionalen Ursprung Bezug genommen, wie etwa bei den „Griechischen Hühnern“ oder den „Rheingauer Hühnern“. Als Besitzer der Handschrift gilt der bischöfliche Protonotar Michael de Leone, dessen Tod für das Jahr 1355 bezeugt ist. Er stammte aus einer vornehmen Mainzer Familie und hieß eigentlich Michael Jud. Wie in der Zeit üblich, übernahm er später den Namen seines Würzburger Besitzes, der „Zum Löwen“ hieß. De Leone, wie er sich nun nannte, hatte in Bologna die Juristerei studiert und war dann als hoher geistlicher Würdenträger in Würzburg zu Ehren und Ansehen gekommen. Als Kanzler und Kassenverwalter des Fürstbistums konnte er sich wohl einigen Luxus leisten, wie an der großzügigen Verwendung kostspieliger Gewürze abzulesen ist, die noch über eine lange Handelskette aus dem Orient eingeführt werden mussten. Die Sammlung bietet vorwiegend Festtagsrezepte, während einfache Gemüsegerichte wie Kohl, Rüben und Kraut ausgespart sind, die auch bei reichen Leuten beispielsweise an Fasttagen auf den Tisch kamen. Über deren Zubereitung musste man in einem Kochbuch keine weiteren Worte verlieren.
Der Agrest hat sich in der adligen Küche im 14. Jahrhundert zwar schon eingebürgert, aber seine Verwendung erscheint noch eher monoton und wenig phantasievoll. Ganz anders sieht das in den französischen Küchen aus. In der ältesten der drei Handschriftvarianten des „Viandier“, dem frühesten Küchentraktat in französischer Sprache, der etwa um 1273 entstand und heute in der Bibliothèque Cantonale du Valais (Sion) aufbewahrt wird, spielen der saure Beerensaft oder die frischen sauren Weinbeeren schon bei 49 der 153 Rezepte eine Rolle. Im weinreichen Wallis verwendet man ihn auch zur Marinade von Fleisch und Fisch oder als Zutat für Suppen. So finden sich zum Beispiel zwei Varianten eines „Brouet d'Alemagne“, was in diesem Falle nicht „Suppe aus Deutschland“ meint, sondern eine solche aus „a(l)mandes“, also aus Mandeln, die mittlerweile von Frankreich auch in den deutschen Sprachraum ausgeführt werden und in der Küche eine steile Karriere beginnen. Dieser schon differenziertere und phantasievollere Gebrauch zeigt sich auch im Manuskript „Enseignements qui enseingnent a apareillier toutes manieres de viandes“ (Bibl. Nationale der France, ms. lat. 7131, Fol. 99 ff.), das um 1300 entsteht. Hier wird der „Verjus“ auf vielfältige Weise verwendet, unter anderem für Pasteten, in denen er neben Ingwer, Pfeffer und Zimt für die säuerliche Note der Fleischspeisen sorgte.
Auch in der englischen Küche wird der „vions“ – wie er anfangs dort geschrieben wird – zuerst nur als Würzsauce eingesetzt, wie in der ältesten englischen Rezeptsammlung „Forme of Cury“, bezeugt ist, die um 1390 im Auftrag von König Richard II. (1367–1400) von seinem Hofkoch niedergeschrieben wurde. Die Bezeichnung „Cury“ im Titel – die freilich erst im 18. Jahrhundert vom Herausgeber einer ersten kritischen Druckausgabe, Samuel Pegge, gewählt wurde – verweist weniger auf ein von englischen Köchen bevorzugtes Gewürz, sondern meint, in Ableitung des lateinischen cura, vielmehr die „Aufmerksamkeit“ oder „Pflege der Gesundheit“. Denn das Rezeptmaterial ist ganz und gar der hippokratisch-galenischen Diätetik und der Kunst des „Temperierens“ verpflichtet, die sich die herrschaftlichen Köche seit dem 13. Jahrhundert anzueignen hatten. Deshalb macht der Autor bereits im Vorwort darauf aufmerksam, dass diese Sammlung nicht zuletzt unter der sorgsamen Beteiligung von Ärzten und Philosophen niedergeschrieben wurde.
Auf 90 Blättern enthält die alte Pergamenthandschrift, die als „English MS 7“ in der John Rylands University Library, Manchester aufbewahrt wird, rund 200 Rezepte, von denen 14 ausdrücklich den sauren Traubensaft als Basis einer Sauce vorschreiben. Meist sind die Angaben ähnlich knapp gefasst wie die Anweisungen des „Viandier“, aus dem eine Reihe von Rezepten übernommen ist. Das muss nicht weiter verwundern, weil seit dem Vertrag von Bretigny (1360) immer noch der Großteil des französischen Südwestens in der Hand der Engländer ist. Doch ein vergleichbar extensiver Gebrauch des „Verjus“ ist bei den Engländern um diese Zeit noch nicht zu beobachten. Die Köche greifen stattdessen meist zu den herb-trockenen Weinen aus französischen Importen und jenen Weinbergen, die man auch in Englands Süden angelegt hat. Im Verlauf des Hundertjährigen Krieges (1337–1453) war es dem französischen Dauphin zwar gelungen, die Eindringlinge zeitweise vom Kontinent zu vertreiben. Doch unter seinen Nachfolgern kehrten die Engländer wieder zurück und hielten nun einen Großteil des französischen Nordens besetzt, bis sie unter tatkräftiger Mithilfe der später als Hexe verbrannten Jeanne d’Arc vertrieben wurden.
Unter kulinarischen Gesichtspunkten blieben während des Hundertjährigen Krieges die französischen Köche jedoch die Sieger. Ihr Einfluss auf die herrschaftliche englische Küche ist unübersehbar, wie sich auch noch an den frühen englischen Kochbuchhandschriften des 15. Jahrhunderts ablesen lässt. Unter der eher kargen Überlieferung dieser Gattung bezeugen das zum Beispiel die sogenannten Harleian-Handschriften des British Museum. Die beiden Codices MS 279 und MS 4016 entstanden um die Jahre 1430 bis 1450 und ihre Rezeptüberschriften, wie etwa potage, bruet, sawse (sauce), metys (mets), oder chawdwyn (chaudun), machen den französischen, den italienischen und auch den katalanischen Einfluss deutlich. Das bezeugen die gut datierten Speisezettel großer Bankette am Hofe Henry IV., von feierlichen Hochzeiten oder festlichen Bischofseinführungen, die von den Schreibern hier detailreich dokumentiert werden.
Der Einfluss unseres Würzmittels auf der Insel ist in dieser Epoche noch eher bescheiden. Unter den 258 Rezepten der Handschrift MS 279 taucht es nur siebenmal auf. In der Handschrift MS 4016 sind es unter den 182 Rezepten immerhin schon 18 Anweisungen. Nicht nur die Köche, auch die Schreiber, so scheint es, fremdeln noch mit diesem Import. Nebeneinander finden wir Schreibvarianten wie verjous, varius, verion, verius, vertious, veriaws oder auch vions, eine Schreibung, zu der sich auch der Autor des „Forme of Cury“ entschlossen hatte. Dem sogenannten Asmole-Manuskript MS. 1439, das ebenfalls um 1430–1440 entstand, ist eine kleine Rezeptsammlung für Saucen beigefügt, deren 19 Anweisungen zwar elfmal den Essig, aber nur viermal den verious verlangen. Das klassische Anwendungsspektrum beschränkt sich noch auf gebratenes Hühnerfleisch und auf die Zubereitungen von Stockfisch. Für diese zögerliche Karriere sind vermutlich die bekannten Schwierigkeiten bei Haltbarkeit und Vorratshaltung verantwortlich. Während in Deutschland ein paar Klosterbrüder bereit sind, eine regelrechte Revolte anzuzetteln, um an das geschätzte Würz- und Heilmittel zu kommen, scheint der sparsame Gebrauch auf den britischen Inseln vielleicht doch eher den nicht allzu experimentierfreudigen englischen Köchen geschuldet, von denen eigenständige Kochbücher erst ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts überliefert sind.
Entscheidende Impulse für die Entwicklung der spätmittelalterlichen Küche gehen immer wieder von den Klöstern aus. Die zahlreichen Fasttage, zu denen neben dem Freitag zeitweise auch der Mittwoch und der Samstag gehören und an denen nur eine beschränkte Zahl von Speisen erlaubt sind, stellen die frommen Köche vor besondere Herausforderungen. Um ihren Mitbrüdern an den „strengen Tagen“ schmackhafte Angebote zu machen, entwickeln sie sich zu wahren Gewürzspezialisten. Zusammen mit den für die Krankenpflege abgeordneten Brüdern und dem klösterlichen Kellermeister nutzen sie neben den Gewürzgärten, die nach überlieferten medizinischen Regeln angelegt sind, auch die klösterlichen Weingärten und Keller.
uvae praecoquae,