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Veit Etzold

Kronos Code

Thriller

hockebooks

40

London

Freitag, 5. Januar

20:20 Uhr

Sarahs Herz raste. Was hätte sie darum gegeben, jetzt Vincents Hand halten zu können. Wenn sie schon starb, dann hier gemeinsam mit ihm. Wie würde es sein? Sarah hörte ein Klicken. Gleich würde es kommen, ein gedämpftes Geräusch, mehr einem Fauchen als einer Explosion gleich. Schwärze würde sie umgeben, dann diese wohlige Wärme, von der die Patienten immer sprachen, die vom Tod zurückgeholt wurden. Die Wärme würde in ihr aufsteigen, sie sanft in die Höhe heben. Sie würde eins werden mit der ganzen Welt, dem Gebäude, dem Himmel, der Nacht, den Sternen – und Vincent. Das Fauchen der Explosion würde verschwinden, wie es gekommen war, gleich dem Nachhall eines schnellen Zuges, und am Horizont würde ein helles Licht aufflammen, das sich rasch näherte.

Sie hörte noch mal ein Klicken, blickte ein letztes Mal Vincent in die Augen, bevor sie ihre schloss, zitterte, wartete.

Dann hörte sie zwei Schüsse. Und dann nichts mehr.

41

London

Freitag, 5. Januar

20:20 Uhr

Raymond Carter saß in seinem Rover und überfuhr die London Bridge, während er über Funk mit einem der Constables sprach. Er versuchte, mit einer Hand eine Zigarette aus der Schachtel zu fingern und gleichzeitig das Lenkrad zu halten.

»Schlechte Nachrichten, Mr. Carter«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Der Volvo Kombi ist gesehen worden, das Nummernschild hat sich aber niemand gemerkt.«

»Das ist London«, sagte Carter. »Millionen Leute, und keiner hat was gesehen.« Es war ihm nicht gelungen, die Zigarette mit einer Hand aus der Schachtel zu bugsieren, und er warf die Packung ärgerlich auf den Beifahrersitz.

»Was ist mit den Peilsendern?«, fragte er.

»Die haben sie Ms. Jakobs und Mr. Wagner abgenommen und beide an verschiedene Autos geklebt, Sir.« Carters Gesicht verdunkelte sich. Der Constable sprach weiter. »Einer war an einem Taxi, das ich selbst in Lambeth angehalten hatte, das andere wurde von den Kollegen an einem Reisebus von Rainbow Tours entdeckt, in einer Nebenstraße von King’s Cross.«

Carter blickte mürrisch auf die glitzernde Wolkenkratzerfassade der City an der Nordbank der Themse. »Haben die Kollegen aus Deutschland etwas gehört?«

»Nichts«, sagte der Constable. »Gar nichts.«

42

London

Freitag, 5. Januar

20:21 Uhr

Sarah öffnete die Augen. Sie blickte an sich hinunter. Kein Blut. Sie schaute zu Vincent, der sie erstaunt durch seine tränennassen Augen anblickte. Dann sah sie, wie Tyron und Wolf, jeder von einer Kugel getroffen, zu Boden sanken.

Träumte sie? Hoffte sie? War sie schon tot?

Sie hob den Blick – und sah Nemesis, einen Arminius-Revolver in der Hand, aus dessen Mündung Rauch aufstieg. Der kleine schwarze Koffer lag zu ihren Füßen. Nemesis hob die Waffe, feuerte noch einmal. Noch einmal zwei Schüsse. Tyron und Wolf wurden nach hinten geschleudert und blieben regungslos liegen.

43

London

Freitag, 5. Januar

20:25 Uhr

Tyron und Wolf bewegten sich nicht mehr, als Nemesis die Handschellen und Fußfesseln aufschloss. Sarah blickte Nemesis an wie ein Gespenst.

»Raus hier«, rief Nemesis in die Erstarrung hinein. Beide wollten aufspringen, sackten aber gleich wieder in sich zusammen. Ihr Blut musste erst wieder zu zirkulieren beginnen. »Na los«, zischte Nemesis und riss Sarah nach oben. »Ich weiß nicht, wie lange ich euch noch helfen kann.« Es war so, als schien sie erstaunt zu sein, dass sie selbst noch lebte. Marcus half Vincent dabei, wieder auf die Beine zu kommen. Dann öffnete Nemesis eine Klappe an der Wand und drückte einen roten Knopf. Emergency. Sirenen fingen an zu heulen. »Ein Feueralarm schafft immer Chaos«, sagte Nemesis, »und das brauchen wir. Vorwärts! Zum Aufzug!«

*

Tyron hob schmerzverzerrt den Oberkörper. Mehrere Rippen waren gebrochen, sein Oberkörper eine blaugelbe Fläche aus Hämatomen. Innere Blutungen, mehrere Organe waren angequetscht und er würde sicher operiert werden müssen. Doch er tat das, was nach den zwei Schüssen, die aus nächster Nähe auf ihn abgefeuert wurden, niemand tun würde: Er lebte!

Denn der Anzug und das Hemd, das er getragen hatte, die beide teuer und wie aus teurem Stoff aussahen, bestanden in Wirklichkeit aus einer synthetischen Textur, die unendlich stabil und gleichzeitig unendlich dehnbar war. Detectives in New York trugen extraweite Anzüge, an denen sich Funkgerät, Waffe und Handschellen nicht abzeichneten. Tyron trug Anzüge, denen man nicht ansah, dass sie eigentlich Panzerung waren.

Nemesis war eine Profikillerin, und das war sein Glück gewesen. Profikiller haben es an sich, ihrem Opfer niemals in den Kopf zu schießen, da dies die Identifizierung erschwert und jeder Auftraggeber das Gesicht des Toten sehen will. Man will nicht erst einen Gerichtsmediziner kaufen, der anhand von DNA und Zahnstatus auch bei einem völlig zerschmetterten Kopf noch die Leiche identifizieren kann. Man will gleich wissen, ob es den Richtigen erwischt hat. Gut, wenn man es mit Profis zu tun hat, dachte Tyron und zog sich am Tisch hoch. Aber warum? Warum, zum Teufel, hatte der Sensor nicht funktioniert? Warum war Nemesis nicht in entsetzlichen Qualen zusammengebrochen und elend gestorben, als sie den Abzug betätigt hatte? Er würde die ganze IT-Mannschaft, die für die Sensorik zuständig war, erschießen lassen.

Doch das hatte Zeit. Wichtige Dinge zuerst. Der Aufzug, dachte er. Sie würden den Aufzug benutzen und er würde wissen, was er zu tun hatte.

Wolf war bereits auf den Beinen. Er trug die gleiche Schutzkleidung und dazu ohnehin immer eine kugelsichere Weste. Tyron zeigte mit dem Finger zur Tür und fuhr sich dann mit demselben Finger über die Kehle. Wolf nickte, während er sich mit noch etwas unsicheren Schritten Richtung Tür bewegte und Tyron sich an seinem Schreibtisch emporzog. Die eiserne Krone auf dem schwarzen Marmorblock, die ihm einst der Wächter geschenkt hatte, blitzte im Licht der Deckenstrahler.

44

Rom

Freitag, 5. Januar

20:25 Uhr

Constantino Kardinal Coreolanus stand vor dem riesigen Wandgemälde des Jüngsten Gerichts von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle und sah die Verdammten und die Erlösten, die sich in nicht enden wollenden Reihen Richtung Hölle und Himmel bewegten.

Zwei Engel, von Wolken umgeben, hatten das Buch der Verdammnis und das Buch des Lebens in der Hand, während unter ihnen die erwachten Toten aus ihren Gräbern stiegen. Erst noch Gerippe, von Leichentüchern umhüllt, die sich langsam und zögernd aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf erhoben, bis sie allmählich zu schweben begannen und immer höher dem großen Kreis der Ewigkeit zuflogen.

Er übt Macht mit seinem gewaltigen Arm. Die Worte des Magnificat waren in seinem Kopf. Er hielt den Rosenkranz in seinen Händen. Freitag, der Tag der Schmerzhaften Geheimnisse. Doch Schmerz spürte er nicht. Eher eine kindliche, eine beinahe schon naive Freude, von der er gar nicht sagen konnte, woher sie kam.

Manchmal glaubte er, dass der unmittelbare Anblick der Natur und des Lebens, der Schönheit und des Vollkommenen, nur eine Täuschung des Glücks gewesen war, eine diffuse und undeutliche Erinnerung an vergangene Tage, als er die Welt noch wie ein Kind sehen konnte.

Doch war nicht dieser kindliche Blick auf die Dinge die wirkliche Sicht auf die Welt? Es waren die Momente, in denen er die Welt staunend wie ein Kind betrachtete, in denen er in der Lage war, Dinge zu sehen.

Und da wurde ihm klar, dass Venturini gestorben war. Und dass er jetzt bei Gott in der Ewigkeit war.

Ob es ihm gelungen war, seinen Auftrag zu erfüllen?

Was ist Glaube?, dachte er. Eine gewisse Zuversicht dessen, was man hofft. Und ein Nichtzweifel an dem, was man nicht sieht.

Er fiel auf die Knie, und Tränen erfüllten seine Augen.

45

London

Freitag, 5. Januar

20:30 Uhr

Der Aufzug raste nach unten. Das Display zeigte die Ziffern der einzelnen Stockwerke in rasanter Folge. 90, 89, 88, 87 … Nemesis machte sich an einem Sicherungskasten zu schaffen, fand zwei Kabel, schnitt sie durch – und der Fahrstuhl hielt mitten in der Bewegung mit einem knirschenden Geräusch. Die Neonbeleuchtung flackerte, ging kurz aus und strahlte dann weiter.

»Hört zu«, sagte Nemesis, »Tyron hat mich vergiftet und das Gift kann jederzeit wirken. Ich weiß nicht, warum es noch nicht gewirkt hat, aber vielleicht ist das göttliche Fügung.« Sarah und Vincent versuchten gar nicht erst, zu verstehen, was sie meinte. »Sie werden den Ausgang bewachen, ebenso die Stockwerke und das Treppenhaus.« Nemesis blickte nach oben. »Es gibt nur eine Treppenflucht, die als Notausgang gedacht ist. Eine Wendeltreppe, die direkt neben dem Aufzugsschacht verläuft. Man kann sie nur zwischen den Stockwerken erreichen.«

»Heißt das, wir müssen aus dem Fahrstuhl rausklettern?«, fragte Sarah.

Nemesis lächelte kurz und nickte.

Sie zog eine Chipkarte hervor. »Wenn wir uns verlieren sollten«, sagte sie, »geht die Treppe immer weiter hinunter, bis es nicht mehr weitergeht. Es wird lange dauern, sehr lange, die Treppe endet erst tief unter der Erde. Dann kommt ein Betongang, auch der nimmt schier kein Ende. Am Ende kommt eine weitere Tür. Und dafür braucht ihr das.« Sie gab Sarah die Karte, die sie in ihre Innentasche steckte und den Reißverschluss zuzog.

»Es geht los«, sagte Nemesis.

Sie öffnete die Deckenverkleidung und einer nach dem anderen kletterte auf das Dach der Kabine. Bläuliches Licht umgab sie. Der Fahrstuhlschacht erstreckte sich endlos in die Höhe und verlor sich irgendwo in der Finsternis. Es war, als befänden sie sich in der Speiseröhre eines riesigen Ungeheuers.

Sarah blickte sich um. In etwa zwei Metern Höhe war eine mannshohe Öffnung. Ein paar Sprossen in der Wand führten dorthin.

Nemesis zeigte auf die Tür. »Dort oben ist die Öffnung zur geheimen Treppe.«

Sarah zeigte auf Vincent und Marcus. »Ihr zuerst!«

Vincent und Marcus kletterten hintereinander die schmalen Sprossen der stählernen Leiter nach oben. Höhenangst konnte man kaum haben, da unter ihnen die Fahrstuhlkabine hing. Doch Vincent wurde es dennoch schwindelig, wenn er in die nicht enden wollende Höhe des Fahrstuhlschachts schaute.

Die beiden Brüder zwängten sich durch die Öffnung. Hinter der Tür führte die Wendeltreppe in absoluter Finsternis in die Tiefe. Kein Licht, kein Geländer. Geheime Treppe, hatte Nemesis gesagt.

Sarah schaute nach oben zu dem Licht, dann zu Nemesis. Die blickte irritiert nach oben. »Was ist los?«, fragte Sarah.

»Ich glaube, sie wollen die Stahlseile durchtrennen und die hydraulischen Halterungen lösen.« Sie gab Sarah einen leichten Stoß. »Hoch mit dir!«

Doch dazu kam es nicht. Sarah wollte gerade die Leiter hinaufsteigen, als sich über ihnen im Schacht eine Fahrstuhltür öffnete und eine schwarze Gestalt von der Öffnung auf die Kabine sprang. Eine Handbewegung von Wolf warf sie zur Seite. Eine zweite Handbewegung traf Nemesis in den Solarplexus und ließ sie zusammensacken. Sie richtete sich wieder auf, versuchte, die Schläge von Wolf abzublocken, doch es hatte keinen Sinn. Wolf war einfach stärker und schneller, und er würde gewinnen. Er hatte sich so positioniert, dass Sarah hinter Nemesis stand und sie nichts für sie tun konnte.

»Wir müssen ihr helfen«, schrie Vincent und machte sich daran, wieder die Leiter herunterzusteigen. Ein Schlag nach dem anderen prasselte auf Nemesis ein, Blut spritzte ihr aus Mund und Nase. Wenn Wolf sie lange genug aufhalten würde, bis sie oben die Seile gekappt hätten, wäre Sarah tot. Ob mit oder ohne Wolf.

Ein letzter stumpfer Schlag von Wolf warf sie zu Boden. Wolf hob die Pistole.

Als hätte irgendein perfider Wille nur darauf gewartet, drang von oben ein dumpfes, hässliches Geräusch an ihre Ohren. Die Stahlseile! Selbst Wolf hielt inne – und machte den Fehler, den man in seinem Beruf nur einmal machen durfte. Zum ersten und zum letzten Mal. In der Zehntelsekunde, in der er nach oben blickte, zeigte Nemesis, dass sie der größere Profi war. Es war dieselbe Zehntelsekunde, in der sie das Messer zog, es in einem Halbkreis nach oben zu Wolfs Hals bewegte und in einem grausamen, schnellen Schnitt von einem Ohr zum anderen gleiten ließ. Parallel zu der verheilten Wunde an seiner Kehle.

Genauso lang, aber diesmal schneller.

Diesmal tiefer.

Diesmal richtig.

Wolfs Augen weiteten sich, Blut schoss aus der Wunde hervor, rann warm seinen Hals hinunter, floss seine Speiseröhre hinauf, füllte seinen Mund und spritzte in kleinen Strahlen zwischen den vor Verwunderung und Schrecken zusammengepressten Lippen hervor. Seine Augen brachen, und mit einem letzten, grunzenden Geräusch brach auch er zusammen. Nemesis stand über ihm wie die Rachegöttin, deren Namen sie trug.

Jeder Teufel findet irgendwann seinen Meister.

Wolf war soeben daran erinnert worden, dass er keine Ausnahme war.

*

»Sarah!!!«

Vincents Stimme durchbrach die gespenstische Ruhe.

Er war halb die Leiter heruntergeklettert und streckte seine Hände aus. »Kommt, schnell, bevor der Aufzug …«

Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Ein hässliches Geräusch ertönte, wie eine Explosion. Für einen kurzen Moment schienen Sarah, Nemesis und die Fahrstuhlkabine im leeren Raum zu schweben. Ihre Blicke trafen sich, und Sarah sah für Bruchteile von Sekunden in die Augen, die das Letzte gewesen waren, was Stuart Hill gesehen hatte, bevor er starb. Bruchteile von Sekunden, bevor die Schwerkraft die Erfüllung ihres unbeugsamen Gesetzes fordern würde. Bruchteile, in denen Sarah die Sprossen in der Wand fixierte, fühlte, wie sie der Boden unter ihren Füßen verließ – und sprang.

46

London

Freitag, 5. Januar

20:40 Uhr

Mit einem grässlichen Kreischen, das wie Nadeln in den Trommelfellen brannte, schoss die Aufzugkabine in die Tiefe, eine Spur aus Funken und blauem Qualm hinter sich herziehend.

Vincent blickte über den Rand der Öffnung.

Sarah hing an der letzten Sprosse der Treppe. Ihr Gesicht war eine Maske des Schmerzes. Sie versuchte, ihn mit seiner Hand zu erreichen, doch es war noch immer fast ein Meter zwischen ihnen.

»Marcus«, schrie Vincent, »wir brauchen ein Seil.«

Marcus blickte sich hastig um. »Wie wäre es hiermit«, rief er dann. Dann band er sich mit zitternden Fingern seine Krawatte ab. »Habe mir immer schon gedacht, dass die zu irgendetwas gut sein müssen.«

Ein dumpfes Krachen ertönte von weit unten. Die Kabine war gelandet.

»Ist das Ding stabil genug?«, fragte Vincent gegen den Lärm an.

»Mailändische Handarbeit.«

Sarah ergriff das Ende der Krawatte und mit vereinten Kräften zerrten Vincent und Marcus sie nach oben. Vincent ergriff Sarahs Hand und beide zogen sie mit letzter Kraft durch die Tür zum Treppenhaus hinein. Sie schauten nach unten, in den nicht enden wollenden Schacht, aus dem blauer Qualm nach oben zog und Blitze zuckten.

In den Abgrund blicken. Sie hatten gerade gelernt, was das bedeutet.

47

London

Samstag, 6. Januar

Die Treppe war unendlich. Kein Licht, kein Geländer, keine Taschenlampe. Schritt für Schritt konnte man sich nur vorantasten, einen Fuß nach dem anderen. Vincent hatte schon lange aufgehört, die Stockwerke zu zählen.

Unten angekommen, hatte sich der Gang erstreckt, ebenso endlos und in völliger Dunkelheit. Als sie schon dachten, dass sie im Kreis laufen würden und der Gang nie mehr ein Ende nehmen würde, gelangten sie irgendwann an eine Tür. Sarah zog die Chipkarte, die Nemesis ihr gegeben hatte.

*

Es war Samstag, der Tag des Saturn, am sechsten Januar. Sie standen auf einem Hügel und sahen unter sich die Stadt und am Osthimmel die erste Andeutung des Tages, begleitet von ruhelosen Wolkenfetzen, die der Ostwind über den Himmel trieb. Das Rot der Morgendämmerung schimmerte auf den Häusern von North London, während sich in der Ferne NatWest und Canada Tower, und noch weiter entfernt London Eye und Big Ben im Morgennebel erhoben. Sie waren im Freien, draußen, gerettet.

»Wir leben«, sagte Sarah ungläubig. »Wir sind draußen und leben!«

Alle drei sanken zu Boden und lagen minutenlang auf der eiskalten Erde dieses Wintermorgens. Nach einer Weile standen sie auf. Sarah atmete noch immer schwer, sah Vincent an und war doch glücklich, glücklich, entkommen zu sein, glücklich, hier mit ihm zu sein, hier in der Morgendämmerung eines neuen Tages.

Eine Weile noch schwiegen sie nur und blickten auf die Stadt hinunter, dann setzten sie sich in Bewegung Richtung Stadt. Ihre Hände umschlossen einander, als sie noch immer auf die grandiose Szenerie unter sich schauten, die erwachende Stadt, deren Silhouetten mehr und mehr im roten Licht des Sonnenaufgangs aus dem Morgennebel hervortraten, umgeben von der Themse, die die Stadt in den Strahlen des Sonnenlichts durchzog wie ein Strom aus flüssigem Gold.

Marcus faltete die Krawatte zusammen und folgte ihnen.

*

Crawford’s Coffeeshop schien der einzige Ort in Tottenham zu sein, in dem man zu dieser frühen Stunde überhaupt etwas zu essen bekam. Sarah hatte mit dem öffentlichen Telefon nahe der Theke bei Scotland Yard angerufen und Carter und Winterfeld verständigt.

Draußen fuhr die Müllabfuhr vorbei und zwei Müllmänner warfen mit dampfendem Atem die schwarzen Säcke in den Container. Irgendwo bellte ein Hund mit heiserer Stimme. Eine Kellnerin füllte aus einer großen Kanne schwarzen Kaffee in die Becher. Der Geruch von gebratenen Eiern und Speck wehte vom Grill herüber. Taxifahrer, die ihre Frühschicht begannen, und Krankenschwestern aus dem nahe gelegenen Krankenhaus, die ihre Nachtschicht beendet hatten, saßen an den Tischen, schlürften Kaffee und kauten auf ihren Muffins herum. Madonnas Like a Virgin dudelte aus scheppernden Lautsprechern.

»So hat das Jahr angefangen«, sagte Vincent und nippte an dem dampfenden Kaffee. »Mit einem Frühstück.« Er schaute nach draußen.

»So eine Art Katerbrunch, nehme ich an?« Sarah hob die Augenbrauen.

»Kann man so sagen«, sagte Vincent und stocherte in seinem Rührei herum. »In meinem Horoskop stand, dass das neue Jahr für mich mit einer Überraschung beginnen würde. Übertrieben war das nicht.«

»Was wohl mit uns auch passiert wäre, wenn Nemesis nicht gewesen wäre.« Sarahs Hände zitterten noch.

Vincent umfasste ihre Hand mit beiden Händen. »Weißt du noch, was Stokes gesagt hat: Manchmal ist es besser, an Märchen zu glauben, denn die Wirklichkeit muss man ertragen können. Ich glaube, ich weiß jetzt, was er damit meinte.«

Sein und werden, dachte Sarah. Selbst Märchen konnten Realität werden. Und dennoch sollte man sie weiter als Märchen behandeln, weil man sonst zu viel Angst vor ihnen hätte. Nach dem Frühstück würde sie die reale Welt wiederhaben. Zu Scotland Yard, aussagen, nach Deutschland fliegen, Bellmann den Tathergang schildern und sein verdutztes Gesicht genießen … Sie schaute Vincent an, der nachdenklich aus dem Fenster blickte, als würde er den ganzen Film noch einmal in seinem Kopf abspielen lassen. Sie konnte es nicht. Es war so unmittelbar gewesen, hatte sich in so kurzer Zeit ereignet, dass sie Wochen brauchen würde, um alles zu verarbeiten.

»Das heißt, dass wir jetzt in einem Märchen sind?«, fragte Sarah und sah Vincent erwartungsvoll an, so als erhoffe sie sich eine besonders akademische Antwort.

Er streute Zucker in seinen Kaffee und nickte.

»So ungefähr. Jetzt sind wir gerade wieder aufgewacht. In Wirklichkeit ist heute der erste Januar. Gestern war Silvester, wir haben zu viel gesoffen und dann ziemlich schräges Zeug geträumt.«

Sie umfasste seine Hände noch fester und eine wohlige Freude breitete sich in ihr aus, sodass sie plötzlich lachen musste, obwohl sie gar nicht genau wusste, worüber. Und als sie Vincents Hand hielt und ihn ansah, merkte sie an dem salzigen Geschmack in ihrem Mund, dass sie weinte. Lachte und weinte.

Wer die Merchant Street entlangging, konnte an diesem eiskalten Wintermorgen drei Menschen sehen, von denen zwei sich gegenübersaßen und so aussahen, als würden sie sich seit Jahren kennen, aber erst heute kennengelernt haben. Zwei Menschen, die sich verändert und doch nicht verändert, die sich verloren und wiedergefunden hatten. Die einem neuen Tag entgegensahen, dessen Ende ebenso ungewiss war wie sein Anfang, während um sie herum die Stadt in den flammenden Strahlen der Morgensonne aus dem Nebel stieg und am Himmel einzelne Wolkenteile wie eilige Schatten kamen, gingen und nicht blieben.

Epilog

»Angst ist der Preis dafür, wenn man zu viel sieht«, sagte Richard Stokes, während er seine Pfeife stopfte und bedächtig seinen Espresso umrührte.

Kardinal Coreolanus, der ihm gegenübersaß, nickte. »Hoffnung kann die Angst besiegen, aber nicht vollkommen.«

Beide genossen die Stille, die noch an diesem Morgen herrschte, bevor die Touristen und Pilger die Straße in Beschlag nehmen würden. Zu dieser frühen Stunde war noch niemand in dem kleinen Café in der Via della Conciliazione, das sich trotzig seinen Platz zwischen all den Devotionalienhandlungen bewahrt hatte. Außer ihnen nur ein älterer, elegant gekleideter Herr, der an einem der Ecktische hinter einer braun getönten Brille ruhig vor sich hin zu dösen schien.

»Hoffnung werden wir brauchen«, sagte Stokes. »Sie sind unsichtbar und sie werden unsichtbar bleiben.« Er trank von dem dampfenden Espresso und entzündete danach seine Pfeife. »Denn ist es nicht so, dass es die Unsichtbaren sind, die die größte Macht haben?«

Coreolanus nickte. »Schauen Sie sich die Geschichte an«, sagte er und ließ die Kreuzkette durch seine Finger gleiten. »Denken Sie zum Beispiel an … Gott.«

Sie blickten beide nach draußen auf die Straße, auf der die Strahlen der morgendlichen Wintersonne lange Schatten zogen, während sich der ältere Herr erhob, einen 10-Euro-Schein auf den Tresen legte, beiden zunickte und das Café mit etwas wackeligen Schritten verließ.

Als der Mann draußen vor dem Café auf der Straße stand, kam es ihm vor, als hätte er dieses Bild schon tausendmal gesehen, als gäbe es eine Urform dieses Ortes und dieser Straße, die sich im Laufe der Jahrhunderte verändert hatte, aber deren Wesen sich niemals ändern würde.

Es war ein neuer Tag, der in dieser uralten Stadt anbrach, deren Straßen und Plätze er schon kannte, bevor sie gebaut worden waren. In östlicher Richtung wehte die Fahne des Heiligen Stuhls auf der Spitze der Engelsburg, rechter Hand erstreckte sich die Piazza San Pietro, wo Paulus und Petrus hingerichtet worden waren.

Es gab Opfer, dachte der Mann, es musste sie geben, um den Plan zu erfüllen. Tyron, der aufgeflogen war und in Untersuchungshaft saß, Wolf und Nemesis, die mit zerschmetterten Knochen in einem Haufen von Stahl, Beton und Blech tot am Boden eines Fahrstuhlschachtes in Canary Wharf lagen. Stuart Hill, tot auf dem Teppich der Suite im Adlon, Miller und Thomson als blutbefleckte Renaissance-Statuen in einem unterirdischen Bunker, Michael Davids, der unbelehrbare Schüler, gekreuzigt wie Petrus in Battersea in der Asche seiner Leibwächter und Lustdienerinnen.

Er dachte an John Murphy, der mit der Pistole im Mund auf seinem Ledersessel saß, die aufgerissenen Augen noch immer auf das Foto gerichtet, am Fenster hinter sich ein Kranz aus Hirn, Blut und Knochensplittern, der ihn wie ein satanischer Heiligenschein schmückte.

Er sah Ted Andrews, den unschuldigen Killer, der trotz der drei Millionen Dollar Kaution, die er sofort bereitgestellt hatte, dennoch fünf Tage in Untersuchungshaft verbringen musste. Der sich in diesen fünf Tagen den Fingernagel des Zeigefingers an der Mörtelunterseite der Fensterbank seiner Zelle scharf geschliffen hatte, um sich schließlich damit die Halsschlagader durchschneiden zu können. Wärter fanden ihn auf dem Boden seiner Zelle in der blauen Gefängnismontur, eine Insel der Verzweiflung in einem dunkelroten Meer.

Rings um ihn erwachte die Stadt. Die Morgensonne tauchte die Kuppel des Petersdoms und die Spitze des Obelisken in ein goldenes Licht und warf den Schatten des Mannes auf das Bordsteinpflaster der Via Conciliazione.

Der Mann, der immer unsichtbar bleiben würde.

Der Mann, der mit dem Plan die Menschen vor sich selbst schützen wollte.

Der Mann, den sie den Wächter nannten.

Herkunft der Zitate und Textpassagen

Dante: Die Daten und Zitate stammen aus Dante: Göttliche Komödie, hrsg. von Henry Francis Cavy, Übersetzung Otto Gildemeister, Phaidon Verlag, Essen, 1997.

Hesiod: Die Passagen über die Entstehung des griechischen Pantheons, wie sie der Wächter und Tyron intonieren, stammen aus Hesiod: Theogonie: Vom Ursprung der Götter. Hesiod ist der erste namentlich bekannte Dichter der Weltliteratur. Sein Epos Theogonie besingt die Entstehung der Welt aus dem Chaos bis zur Machtergreifung des Zeus. Übersetzung von Johann Heinrich Voß.

Somnia, Raptus, Furor: Nach der De Occulta Philosophia (1510) von Agrippa von Nettesheim ist Somnia der Wahrtraum, Raptus das Emporsteigen der Seele vermittels der Kontemplation und Furor die Erleuchtung der Seele. Diese drei Seelenzustände – vacatio animae – steigen als höhere Eingebungen von Dämonen geleitet zu den Menschen herab und ermöglichen ihnen, die innersten Prinzipien der Dinge zu durchschauen.

Dank

Ein großer Dank vorweg geht an Frank Sarnowski, der sehr detailliertes und hilfreiches Feedback gab, ebenso an Susanne Bader, Werner Irro und Markus Höhne, die mit nicht weniger scharfem Blick Schwächen des ersten Entwurfs aufdeckten.

Für fachliche Unterstützung zu polizeilichen Fragen möchte ich Mirjam Selmke vom LKA Berlin danken, zum Thema Hacker, Trojaner, Computerviren und Botnets außerdem Harald Viehweger und Werner Bogula.

Ein besonderer Dank geht an Michael Tsokos, Direktor des rechtsmedizinischen Instituts der Charité, für ausgesprochen hilfreichen und freundschaftlichen Rat und viele spannende Gespräche.

Ohne meine Agentin Petra Hermanns sowie Valesca Schober würde es dieses Buch in dieser Form sicher nicht geben und es wäre fraglich, ob es jemals einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht worden wäre. Für die gesamte Hilfe, Feedback und Erreichbarkeit zu jeder Zeit an dieser Stelle noch einmal: DANKE! Ebenso ein großer Dank meinem Lektor Martin Breitfeld und dem gesamten Team von KiWi und allen, die an der Erstellung beteiligt waren.

Mein Bruder Jörn hat mich vor einigen Jahren auf das Buch »Saturn und Melancholie« aufmerksam gemacht, das sozusagen die »Initialzündung« für diesen Roman war. Auch hierfür vielen Dank!

Der größte Dank am Ende geht an meine Eltern Barbara und Hans Jürgen Etzold, die mir nicht nur die Welt gezeigt, sondern mir auch beigebracht haben, sie aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen. Meine Mutter Barbara konnte zwar den Beginn, aber den Abschluss des Romans nicht mehr erleben. Ihr ist dieses Buch in liebevoller Erinnerung gewidmet.

Vielen Dank an Roman Hocke, Lisa Blenninger und Markus Michalek von hockebooks, die das ehemals »Große Tier« jetzt als »Kronos Code« zum neuen Leben erwecken.

Veit M. Etzold

im Mai 2016

Der Autor

Veit Etzold
Veit Etzold

Veit Etzold ist Autor von fünf Spiegel Bestsellern. Sein erstes Buch schrieb er mit Prof. Michael Tsokos, dem Chef der Berliner Rechtsmedizin, über spektakuläre Todesfälle in der Forensik. Bevor er zu schreiben anfing, war Etzold Banker, Strategieberater und Programmdirektor in der Management Ausbildung. Heute arbeitet er als Thriller Autor und Keynote Speaker. Passend zu seinen Thrillern ist er mit der Rechtsmedizinerin Saskia Etzold (geb. Guddat) verheiratet. Veit Etzold lebt mit seiner Frau in Berlin.

Besuchen Sie den Autoren auf www.veit-etzold.de oder auf seiner Facebook Seite unter www.facebook.com/veit.etzold.

Das ist nicht tot, was ewig liegt,
Bis dass die Zeit den Tod besiegt.

H. P. Lovecraft

Prolog

Der Plan war schon immer da gewesen. Nun waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Der alte Mann, den sie den Wächter nannten, sah nach draußen. Er ließ seinen Blick über die Stadt schweifen, während die Sonne in der Abenddämmerung zwischen den Häuserschluchten und sturmgetriebenen Wolken verschwand. Er sah auf die gigantischen Stahl- und Betontürme, in deren Tausenden Fenstern helles Licht brannte. Es war das Ende des letzten Tages am Ende des letzten Jahres. Die Zeit war gekommen, alles zusammenzuführen und alle Figuren gleichzeitig zu bewegen. Seine Werkzeuge waren vielfältig, seine Diener überall. So hatte die Stille der beginnenden Nacht etwas Unheimliches, denn sie war keine wirkliche Stille. Sie war wie das leise Luftholen vor dem Sprung.

Die Firma war ein Teil des Plans. Sie war groß und erfolgreich. Keiner glaubte, ihr Aktienkurs würde sinken und darum sank er auch nicht. Doch war der Sturz nicht immer heftiger als der Anstieg, war die Tiefe nicht immer bedrohlicher als die Höhe? Wenn eine Aktie um 50% fiel, musste sie um 100% steigen, um wieder den gleichen Wert wie zuvor zu erreichen. Alle glaubten, die Aktie der Firma würde steigen, der alte Mann wusste, sie würde fallen.

Denn alles, was ist, endet.

Somnia

Er stürzt sie bei Nacht
Und sie sind zermalmt.

Hiob 34, 25

1

Berlin

Montag, 1. Januar

01:00 Uhr

Stuart M. Hill öffnete mit seiner Schlüsselkarte die Tür zu seiner Suite im Adlon und ließ der attraktiven Dame, die ihn begleitete, den Vortritt. Das Wachpersonal war mit solchen Situationen vertraut und durchsuchte die Begleitung diskret nach Waffen. Was für eine Nacht, dachte Hill, so musste sich Gott gefühlt haben, nachdem er am sechsten Tag Himmel und Erde geschaffen hatte.

Im letzten Jahr hatten sie ein Rekordergebnis erzielt. Promethean Industries und Stuart Hill waren zu einer Einheit verschmolzen. Ohne ihn ging dort nichts mehr. Die Analysten fraßen ihm aus der Hand, seine Visionen bewegten die Kurse, seine Optionen würden ihn zum Milliardär machen. Die Expansion, die sich unter seiner Ägide endlich auszahlte, übertraf alle Erwartungen. Der in Deutschland notwendige Stellenabbau war bereits beschlossene Sache.

Wenn du weißt, dass der Verhandlungsführer der Gewerkschaften Päderast ist – und das hat man zu wissen, wenn es so ist –, schicke ihm eine 12­Jährige nach seinem Geschmack. Dann mach Fotos davon bzw. drehe gleich einen ganzen Film. Und lass ihn davon wissen. Das erleichtert manches.

Er blickte sich um, sah, dass alles arrangiert war. Der Champagner, die Gläser, das Eis. Er hatte sich die Fliege geöffnet und im James-Bond-Stil um den Hemdkragen gelegt und fühlte sich genauso wie der Filmheld. Er schaute nach draußen durch die großen Scheiben der Flügeltür, die auf den Balkon führte. Seine weibliche Begleitung stellte sich dicht vor ihn und schaute ihm in die Augen.

»Was gibt es da draußen schon zu sehen? Sieh mich an.« Sein Blick glitt von ihren hochhackigen Schuhen und ihren schlanken Beinen über das Schwarz ihres Abendkleids, das sich vor dem Balkon der Suite gegen die von Lichtblitzen durchzuckte Silvesternacht Berlins nur ein wenig abhob, hinauf über den gewölbten Ausschnitt, wo die Schwärze der Nacht aufhörte und ihr brünetter Teint verheißungsvoll begann, und weiter zu ihrem für ein Lächeln leicht geöffneten Mund, ihrer klassisch geformten Nase und den dunkelbraunen Augen, die ihn verführerisch anblickten.

»Wenn ich da bin«, sagte sie und schüttelte ihren Kopf, wobei ihre leicht gelockten, kastanienbraunen Haare ihren Nacken umspielten, »solltest du mich anschauen, und nichts sonst.« Sie zog ihn an den zwei Enden seiner Fliege zu sich heran. »Mr. Bond …«

»Verzeih«, sagte Hill, »wie konnte ich?« Den ganzen Abend hatte er nur für sie Augen gehabt. Für sie, die ihm nun endlich so nahe war und ihn verführerisch anlächelte. Seine Lippen näherten sich ihren – doch sie drehte sich weg.

»Nicht so schnell«, lachte sie, nahm seine Hände und führte ihn tänzerisch durchs Zimmer. »Ich dachte, du bist ein Gentleman. Wir haben noch die ganze Nacht vor uns. Lass uns erst noch etwas trinken.«

So war sie schon den ganzen Abend. Sie hatten ein exquisites 4-Gänge-Menü genossen und danach ausgelassen getanzt. Als er sie küssen wollte, war sie ausgewichen und hatte sich nur tiefer in seine Umarmung geschmiegt. »Hier!« Sie hielt ihm die Champagnerflasche hin, die sie aus einem Eiskübel auf dem Servierwagen nahm. »Öffne du!«

Er ergriff die Flasche und öffnete die Flügeltür zum Balkon. Eisige Luft strömte ihm entgegen. Das einmalige Ambiente des Pariser Platzes vor dem Brandenburger Tor mit der Quadriga, dieses Ensemble aus Tor, Botschaft, Bank und Akademie, strahlte trotz der Silvesterraketen Ruhe aus. Architektur ist gefrorene Musik, hatte mal irgendwer gesagt. Merkwürdig, dachte Hill, eine leise Musik, die in der Lage ist, den Lärm zu übertönen. Vorsichtig lockerte er den Korken, bevor er ihn mit einem Knall in den Nachthimmel fliegen ließ. Er füllte die Gläser und reichte ihr eines.

»Auf uns?« Die Gläser stießen mit einem hellen Ton zusammen. Sie hob die rechte Augenbraue. »Auf uns.«

Sie tranken. Ein Ambiente wie auf Hochglanzfotos, dachte Hill. Er konnte sich gut den Fotografen, einen Beleuchter und die Assistenz in der Suite vorstellen. Doch sie waren allein. Nur sie und er.

Er strich über ihre Hüften, wie vorhin beim Tango. »Du hast mir noch nicht verraten, wie du heißt.«

»Ich mag neugierige Männer«, antwortete sie und streichelte über seine Wange, »aber ich mag auch Männer, die ein Geheimnis zu schätzen wissen. Man muss doch nicht immer alles wissen. Wir sind zusammen in dieser Nacht. Das reicht doch …«

»Und du bist die Königin der Nacht«, fuhr er fort und zog sie noch näher zu sich heran. »Diese Nacht ist noch lang und kann gar nicht lang genug sein«, sagte er schwer atmend.

Seine Lippen näherten sich wieder ihrem Mund. Diesmal ließ sie es zu. Ihre Lippen umspielten einander. Er spürte, wie ihre Arme seinen Hals umschlangen, spürte ihre Wärme, ihren Atem, ihre Zunge, die über seine fuhr – und plötzlich einen beißenden Geschmack, der ihm die Kehle zuschnürte. Sein Kopf schien das Ende einer Kette zu sein, die mit einer diabolischen Kraft im Kreis bewegt und irgendwann krachend gegen die Balkontür schlagen würde. Seine Beine wurden schwächer, er sank an ihr herab, versuchte sich an ihr festzuhalten, ihrem Hals, ihrem Kleid, ihren Beinen.

»Was ist das«, brachte er noch hervor, als er zu ihren Füßen lag, doch seine Stimme war kaum mehr zu vernehmen. Er sah ihr Gesicht zu ihm herunterblicken.

»Nemesis schenkt dir deine längste Nacht«, sagte sie, lächelte ihn an und warf ihm einen Kuss zu.

Doch Stuart Hill war schon tot.

2

St. Moritz

Montag, 1. Januar

1:00 Uhr

Den ganzen Abend schon hatte ihn der Anrufer mit der unterdrückten Nummer auf seinem Handy kontaktiert. Oder sollte er besser sagen »terrorisiert«? Jedes Mal hatte er ihn weggedrückt. Es konnte eigentlich nichts Wichtiges sein – mit seinen Eltern hatte er schon telefoniert, um ihnen ein frohes neues Jahr zu wünschen, und alle seine großen Kunden waren hier. Doch jetzt klingelte es wieder. Wieder die anonyme Nummer. Er hasste unterdrückte Nummern. Er drückte auf den Annahmeknopf und erntete einen verständnislosen Blick von seiner Tanzpartnerin.

»Musst du immer ans Handy gehen?«, fragte sie. »Wir feiern Silvester.«

»Bleiben Sie dran, ich bin gleich da.« Er ließ seine Tanzpartnerin in der Mitte des Saales stehen, durchschritt die Menge der Tanzenden, abwechselnd »Entschuldigung«, »Scusi« und »Sorry« murmelnd, während er die Fliege um seinen Hals ein wenig lockerte.

Er war Investmentbanker, und die Bank feierte mit ihren besten Kunden Silvester, Badrutts Palace Hotel, 165 Zimmer, 30 Suiten, alle von seiner Firma belegt. Das Programm war grandios: Dinner und Ball, vorher und hinterher Skifahren und Schneepolo, danach Fachsimpeln am Kamin oder im Spa-­Bereich über die makroökonomischen Trends, die Kursentwicklung, Anfang und mögliches Ende der Kreditkrise und die globalen Chancen, die sich irgendwann daraus ergeben würden. Er hatte sich gut unterhalten. Was auch immer passieren würde, das nächste Jahr würde das erfolgreichste der Firma werden. Das sagten, oder hofften, jedenfalls alle. Er hätte nie gedacht, dass so viele Kunden einer Silvester-­Einladung folgen würden. Die Party würde einen hohen, sechsstelligen Betrag kosten, und er sah schon die Managing Directors, wie sie am nächsten Tag Bilanz ziehen würden, ob das Geld gut investiert war.

»So, jetzt können wir«, sagte er.

»Das freut mich«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Es freut mich, dass Sie sich Zeit nehmen.«

»Silvester ist ein etwas merkwürdiger Zeitpunkt für Business-­Gespräche, meinen Sie nicht?«

Die Stimme lachte leise. »Haben Sie denn keine guten Vorsätze? Wann werden die Entscheidungen getroffen, wenn nicht zu Beginn eines Jahres? Und ich muss Sie korrigieren. Es geht nicht um Business, es geht um Sie.«

Er schaute durch die Fenster auf den zugefrorenen, schneebedeckten See hinunter. Die Musik von der Party war gedämpft zu hören. Die ersten Gäste steuerten schon ihre Zimmer an.

»Sie sind in einer Top-­Position in einem Top-­Unternehmen, nicht wahr?«, fragte die Stimme abwartend. »Sie wären nicht dort, wo Sie sind, wenn Ihnen das reichen würde.«

»Bieten Sie mir einen Job an?« Er wählte den direkten Weg.

Stille am anderen Ende. Er wollte schon nachfragen, weil keine Reaktion kam, da meldete sich die Stimme wieder.

»Ich biete Ihnen an, der Elite beizutreten. Der Spitze der Nahrungskette. Da wollen Sie doch hin?«

Spitze der Nahrungskette, dachte er, während er einen Kellner wegscheuchte, der sich ihm mit einem Tablett mit Champagner näherte. Elite. Jeder nannte sich so, Goldman Sachs, Morgan Stanley, McKinsey. Doch die Elite gab es nur einmal – sonst wäre sie keine Elite. Er hatte schon öfter davon gehört, das Gerücht spukte durch die Business Schools, durch die Beratungshäuser, die großen Anwaltskanzleien und durch die Investmentbanken. Ein Unternehmen, mächtiger, älter und ein­flussreicher als alle anderen – und dennoch völlig unbekannt, oder besser: verborgen.

»Davon habe ich schon einmal gehört«, sagte er, bewusst desinteressiert. Headhuntern gegenüber darf man nie euphorisch sein. »Gesetzt den Fall, ich gehe auf Ihr Angebot ein, was würde Ihre Elite mir denn bieten?«

»Zunächst einmal einen gigantischen Auftrag für Ihre Bank. Von Ihnen vermittelt. Unser Kunde wird Ihr Kunde. Damit sind Sie ganz schnell Managing Director. Nicht erst Associate, dann Vice President und dann irgendwann MD, sondern Fast Track. Und das wollen Sie doch?«

Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht und wechselte das Handy an das andere Ohr. MD, dachte er, Managing Director. Spitze der Nahrungskette. Das wollte er allerdings.

»Was noch?«, fragte er.

»Zugang zu allem, von dem Sie jetzt noch zu wenig haben: Geld, Menschen und Informationen. Wir reden nicht nur davon, dass wir die Welt bewegen. Wir tun es.«

»Was heißt das konkret für mich?«, fragte er.

»Egal, was Ihnen Ihre Bank derzeit an Gehalt zahlt, wenn Sie mit uns kooperieren, bekommen Sie noch mal das Doppelte dazu.«

Er hob die Augenbrauen. »Könnte durchaus sein, dass ich interessiert bin.«

»Schön«, sagte die Stimme. »Wir wissen, dass Sie gut sind. Wir wollen, dass Sie noch besser werden. Dafür müssen wir wissen, ob Sie wirklich so gut sind, wie wir glauben.«

Er schüttelte den Kopf. Die wollten doch wohl keinen Aufnahmetest mit ihm machen? »Was kommt jetzt?«, fragte er. »Ein Multiple-­Choice-­Test, Case Studies, Gruppeninterviews, Assessment-­Center? Psycho­-Schnickschnack? Wollen Sie nicht gleich an die Unis gehen?«

Wieder leises Lachen. »Banken wie die Ihre haben Fallstudien, lassen die Bewerber zu 20 verschiedenen Gesprächen antanzen, Beratungen machen das ähnlich, die führenden MBA-­Schulen haben den GMAT, ohne den niemand reinkommt. Unser Klient …«, fuhr die Stimme fort, »… unser Klient hat andere Tests.«

»Und was für Tests sind das?«

»Zunächst einmal testen wir Ihre Flexibilität.«

Er schüttelte den Kopf. Solche Plattitüden hätte er dann doch nicht erwartet. So stand es auch bei Stellengesuchen der miesesten Unternehmen. Wir erwarten Flexibilität, Belastbarkeit, einen guten bis sehr guten Hochschulabschluss …

»Haben Sie schon mal einen I-Banker gesehen, der unflexibel ist?«, knurrte er.

»Nein«, sagte die Stimme. »Darum seien Sie auch bitte morgen Mittag in Berlin-­Tegel. Dort erhalten Sie weitere Instruktionen.«

»Wie bitte?«, sagte er. »Ich soll morgen nach Berlin? Am ersten Januar? Hören Sie, ich bin hier in einem Event meiner Firma eingespannt. Die Kunden erwarten …«

»Ich dachte, Sie seien flexibel?«

Er lauschte auf die Musik. Vom Walzer war man jetzt zu Rocksongs übergegangen.

»Was soll ich meinem Boss sagen?«, fragte er. »Dass jemand gestorben ist?«

»Warum nicht?«, sagte die Stimme. Etwas gefiel ihm nicht in der Art und Weise, wie der Anrufer Warum nicht gesagt hatte.

Er dachte nach, überlegte sich schon Wege, Ausreden, Möglichkeiten. Er war es gewohnt, in solchen Szenarien zu denken. What if … Er könnte nach Berlin fliegen und dann gleich nach London weiter, vorher noch kurz Zwischenstopp bei seinen Eltern. Doch dann sah er sich in Berlin stehen und niemand wäre da und es gäbe auch keinen Test. Und er stellte sich vor, dass ihn hier ein paar frühere Freunde hochgenommen hatten, dass es die Elite, die Möglichkeiten, die Karriere und den Test gar nicht gab.

»Versprechungen lassen sich leicht machen«, sagte er. »Woher weiß ich, dass Sie es ernst meinen?«

Die Stimme lachte wieder leise. »Checken Sie um zwei Uhr Ihr Bankkonto. Wenn Sie dann fünf Millionen Euro mehr sehen als vorher, wissen Sie, dass wir es ernst meinen.«

»In einer Stunde?«

»Terminüberweisung«, sagte die Stimme.

Er blinzelte in die Dunkelheit über dem See. Fünf Millionen waren für jeden viel Geld. »Meine Kontonummer …«, fragte er.

»Haben wir«, sagte die Stimme. »Und alles andere auch.«

»Und wo finde ich Sie in Berlin?«

»Gar nicht. Wir finden Sie. Gute Nacht.«

Die Verbindung endete.

3

Berlin

Montag, 1. Januar

1:30 Uhr

So also beginnt das neue Jahr für einen angehenden Doktor der Kunstgeschichte, dachte Vincent, als er den Flug einer Rakete in den Nachthimmel verfolgte. Bei eisiger Kälte, mit Gejohle, ohrenbetäubendem Getöse, pflichtbewusster, lauter Fröhlichkeit und Funken sprühenden Raketen, deren Explosionen die Glasfassaden des Potsdamer Platzes zurückwarfen und das ganze Areal in eine einzige Großraumdisko verwandelten. Vincent hatte sich von seinen Freunden überreden lassen, doch noch dahin zu gehen, wo etwas los war, und da am Brandenburger Tor keine Feuerwerkskörper gezündet werden durften, wich der ganze Tross nun auf die Straßen rund um den Potsdamer Platz aus.

Er war kein Freund dieser lärmenden Fröhlichkeit. Und ein Freund großer Menschenmassen erst recht nicht. Hier hatte er nun beides, hing mit 32 Jahren mit irgendwelchen Studienanfängern herum und ließ sich Böller um die Ohren schmeißen. Silvester in Berlin, in Dunst und Kälte, umgeben von Idioten. Für jemanden, der sich für origineller hielt als den Durchschnitt, war das nicht besonders originell. Ebenso wenig wie seine Suchanfrage im Internet, wo er vor Kurzem auf einer Horoskop-Seite seinen Geburtstag eingegeben hatte. Das neue Jahr wird für Sie mit einer Überraschung beginnen, hatte dort gestanden. Es waren Tausende von Menschen um ihn herum und er langweilte sich trotzdem. War das die Überraschung?

»… ich habe gesagt, Heraklit hat gesagt, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei«, brüllte Vincent gegen den Krach an. Silvester war Krach, in Clubs war Krach, auf Partys war Krach. Er sprach mit einem jungen Mädchen, das neben ihm stand, ungefähr zwanzig und vielleicht ein bisschen sehr jung für ihn. Eine von denen, die Tobi »Cityhuhn« nannte, weil sie zwar jetzt in der Großstadt war, sich aber noch immer wie ein Huhn vom Land benahm. Seit Oktober studierte sie Sozialpädagogik an der FU, und Silvester in Berlin hatte natürlich ganz anders zu sein als zu Hause in Ostwestfalen. Von der Größe der Stadt war sie noch immer fasziniert. Eigentlich war sie ganz hübsch, fand Vincent, wenn auch erschreckend naiv. Er hatte ihr vorhin gesagt, dass ihr Gesicht ihn an ein Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle erinnern würde. So wie einer der Engel, die gemeinsam mit Gott dem Herrn in der Wolke schwebten, während er Adam zum Leben erweckte. Das fand sie so süß, dass Vincent sie jetzt nicht mehr loswurde. Vincent passierte das häufiger: Wenn es auf nichts ankam, traf er mit seinen Beobachtungen ins Schwarze. War es aber mal wichtig, fehlten ihm oft die Worte. Jedenfalls wich das Cityhuhn nicht mehr von seiner Seite und nahm öfter einen Schluck aus seiner Sektflasche, aus der er selbst gar nichts trank.

»Aha«, schrie das Mädchen zurück, dessen Namen Vincent noch gar nicht wusste oder schon wieder vergessen hatte, »und was hat das mit Silvester zu tun?«

»Die Menschen vermissen den Krieg anscheinend auch in Friedenszeiten und darum holen sie ihn sich zurück, so wie hier.« Vincent kämpfte gegen jaulend in den Himmel fahrende Raketen an, während Tobi sich bückte, um den nächsten Feuerwerkskörper zu entzünden. Das Ding drehte sich mit einem klagenden Geräusch um sich selbst, um dann abrupt zu verglühen. Tobi wandte sich um, nahm dem Mädchen die Sektflasche aus der Hand, trank einen Schluck und suchte in seinem Rucksack nach weiteren Böllern.

»Erzähl der doch nicht so ’n Scheiß, kapiert die eh nicht. Krieg ist Vater aller Dinge! Sieh mal zu, dass du heute Nacht noch König zweier Dinger wirst!« Er lachte dreckig, schob wenig rhythmisch die Hüfte vor und zurück, und entzündete gleich wieder einen Böller. Vincent verzog das Gesicht, während er Tobi betrachtete, der in seinem Rucksack nach weiteren Böllern suchte. Mit seinen halblangen Haaren, der Jeansjacke, die er unabhängig von der Außentemperatur immer trug, und den weißen Sportschuhen sah er aus wie ein Relikt aus den Achtzigern, das sich ein wenig ironisch als Proll inszenierte, zu zwanzig Prozent aber auch einer war. Heute geht es aber noch, dachte Vincent. Tobi hatte früher so wenig Treffsicherheit in Kleidungsfragen bewiesen, dass Vincent oft geglaubt hatte, er sei farbenblind. Das Cityhuhn schaute wie gebannt auf den brennenden Himmel.

»Das ist aber eine komische Erklärung für Silvester, das mit dem Krieg«, rief das Mädchen zurück, »da soll man doch feiern und nicht an Krieg denken. Was machst du eigentlich so?«

»Wenn ich nicht gerade Vergleiche über Krieg und Silvester anstelle, promoviere ich an der Humboldt in Kunstgeschichte.«

So etwas hinterließ bei jemandem, der gerade sein Studium begonnen hatte, natürlich Eindruck. »Das heißt, du machst deinen Doktor? Echt? Das ist ja toll! Und worüber?«

»Über Michelangelo und den Beginn des Geniekults. Geht so über die Jahrhunderte bis heute.«

Das Mädchen schien so fasziniert wie ratlos am ersten Namen hängen geblieben zu sein. »Michelangelo? Der mit der Decke in der Kapelle?«

»Ja.«

»Das war doch auch der, der den Kölner Dom gebaut hat?«

»Äh, nein, das stimmt nicht ganz. Den Petersdom hat er zum Teil mit entworfen, da war er aber schon sehr alt. Besonders berühmt ist er aber durch seine Skulpturen und Malereien geworden. Und durch seine Lebensart, die die Vorstellungen späterer Jahrhunderte vom rastlosen, einsamen Künstler prägte, der besser und auch einsamer ist als alle anderen – eben ein Genie.«

»Aber doch den in Köln, oder?«

»Wie, in Köln?«

»Den Petersdom in Köln.«

Vincent konnte getrost die Augen verdrehen, denn sein Gegenüber hatte sich den Fassaden zugewandt, wo gerade eine wahre Flut von Raketen Blitze und Sterne regnen ließ.

»Nein! Den in Rom.«

Tobi rettete ihn. »Wie sieht’s aus? Die anderen Hühner wollen gerne in die Kulturbrauerei.« Er nahm noch einen Schluck vom Sekt. »Du weißt ja, wie das ist: immer kalte Füße, kalte Hände.« Er schulterte seinen Rucksack. »Also, wir gehen da jetzt hin. Vielleicht läuft dort ja was Vernünftiges herum.«

»Da hätte ich nichts gegen«, knurrte Vincent. »Ich frage mich sowieso, warum die größte Outdoor-Party des Jahres ausgerechnet zu der Jahreszeit stattfindet, wo es draußen arschkalt ist. Das Einzige …«, Vincent unterbrach seine Gedanken, um einer Horde Baseballjacken tragender Kerle auszuweichen, die, munter Feuerwerkskörper um sich werfend, die Menschenmenge durchpflügten, »… das Einzige, was komischerweise trotz der Kälte warm ist, ist der Sekt.«

»Scheißegal, Hauptsache es rummst«, meinte Tobi und trank noch einen Schluck. Dann blickte er Vincent an und hob eine Augenbraue, als wäre ihm gerade etwas eingefallen.

»Wo ist eigentlich Sarah?«

Vincent zuckte die Schultern. »Hier ist sie nicht.«

»Das seh’ ich auch.« Er schulterte seinen Rucksack.

»Wo iss’n die?«

»Bei Freunden.«

Tobi schien mit der Antwort nicht ganz zufrieden. Vincent allerdings genauso wenig. Sarah und Vincent trafen sich zwar öfter und hatten dabei auch eine Menge Spaß, aber keiner von beiden wusste so recht, ob das jetzt nur eine Affäre war oder mehr.