Donnerstag, 9. Oktober 2014

Die Detonation ließ das alte Holzgebäude erbeben. Die Fensterscheiben klirrten, gleichzeitig begannen die Hunde draußen im Flur zu bellen. Felicitas Molin fuhr aus dem Tiefschlaf hoch, ihr Herz hämmerte, und sie wusste im ersten Moment nicht, wo sie war. Ein rötlicher Lichtschein fiel durch die Gardinen, die sich im Luftzug bauschten. Sie erkannte verschwommen die Digitalanzeige des DVD-Players unter dem Fernseher. 2:24. Erst dann fiel ihr ein, dass sie nicht in ihrer gemütlichen, sicheren Wohnung in Friedrichsdorf war, sondern im Haus ihrer Schwester. Mitten im Wald und völlig allein, kilometerweit entfernt von der nächsten menschlichen Behausung. Sie streckte die Hand aus. Statt eines vertrauten Körpers war da nur die Lehne des Sofas. Seit nunmehr neun Monaten, zwei Wochen und drei Tagen musste sie sich jedes Mal beim Aufwachen bewusst machen, dass auch Ehemann Nummer zwei aus ihrem Leben verschwunden war, und zwar auf äußerst schäbige Art und Weise. Genau genommen war er nämlich nicht einfach verschwunden, sondern hatte sie betrogen, gedemütigt und verlassen, nachdem er ihr Geld ausgegeben und dazu noch einen Riesenberg Schulden angehäuft hatte, für die sie nun geradestehen musste. Immer öfter dachte sie an ihren ersten Mann, mit dem sie fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen war, bevor sie ihn wegen dieses Bürschchens mit den treuen Hundeaugen und dem zugegeben äußerst appetitlichen Körper verlassen hatte. Bis heute fiel es ihr schwer zu begreifen, was geschehen war. Nichts war mehr übrig von ihrem Leben. Weil sie nicht mehr gewusst hatte, wo sie bleiben sollte, war sie schließlich hierher zu Manu und Jens gezogen, in diese grässliche alte Holzbude, die ein Eigenleben zu besitzen schien. Die Balken knackten und knarrten, der Wind heulte schaurig in den Kaminen, und in den Wänden glaubte sie permanent das Trippeln kleiner Pfoten zu hören. Die Nächte waren das Schlimmste. Am liebsten hätte Felicitas sich die Decke über den Kopf gezogen, den Knall und den seltsamen Lichtschein ignoriert und weitergeschlafen. Aber die Hunde bellten, als seien sie kurz davor, durchzudrehen.

»Was für ein blöder Mist!« Felicitas stemmte sich mühsam hoch und sackte wieder zurück. Sie war wieder auf der Couch eingeschlafen. Ihr Kopf dröhnte, das Zimmer drehte sich vor ihren Augen und ihre Zunge fühlte sich dick und pelzig an. Eine ganze Flasche Dornfelder und fünf Whiskey-Cola waren wohl ein bisschen viel gewesen, aber ohne die benebelnde Wirkung des Alkohols wäre sie gestern Abend wahrscheinlich vor Angst gestorben. Mühsam kam sie auf die Füße und schleppte sich zum Fenster. Sie schob die Gardine zur Seite, alles, was sie erkennen konnte, war ein diffuser Lichtschein drüben auf dem Campingplatz. Ohne Kontaktlinsen war sie blind wie ein Maulwurf. Auf dem Regal im Flur lag Jens’ Feldstecher, mit dem ihr Schwager im Sommer gerne die jungen Mädchen in ihren Bikinis beobachtete. Felicitas tastete sich hinaus in den Flur. Die Hunde hatten aufgehört zu bellen, hockten aber beide vor der Haustür und knurrten. Plötzlich huschte heller Lichtschein über die Wände. Motorengeräusch! Felicitas erstarrte für eine Sekunde vor Schreck. Doch das Auto fuhr vorbei, und sie entspannte sich wieder. Kein Einbrecher, der ihr nach dem Leben trachtete, nur irgendjemand, der um diese Uhrzeit mitten im Wald unterwegs war. Ein Liebespaar vielleicht, das ein abgeschiedenes Plätzchen gesucht und gefunden hatte.

Zurück im Wohnzimmer, gelang es ihr kaum, das Fernglas scharf zu stellen, so sehr zitterten ihre Hände. Dann sah sie es. Weiter hinten auf der großen Waldwiese, auf der die Wohnwagen standen, brannte es, und zwar heftig. Es würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Feuerwehr zu verständigen! Dummerweise hatte sie hier draußen null Handyempfang und das Festnetztelefon war vorne in Manus Büro. Just in dem Augenblick, als sie sich abwenden wollte, gab es auf dem Campingplatz eine zweite, noch heftigere Explosion. Eine grelle Stichflamme schoss in den schwarzen Nachthimmel, alle Fensterscheiben im Haus klirrten und die Hunde fingen wieder an zu bellen. Für ein paar Sekunden konnte Felicitas ganz deutlich die Umrisse eines Menschen vor dem hellorangefarbenen Feuerball erkennen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, und sie bebte am ganzen Körper, als sie nun hinaus in den Flur stürmte. Großer Gott! Da draußen war jemand, der die Wohnwagen anzündete! Sie traute sich nicht, das Licht einzuschalten. Erst gestern hatte sie in der Zeitung wieder von dem Feuerteufel gelesen, der seit Monaten hier in der Gegend sein Unwesen trieb und schon mindestens fünfzig Brände gelegt hatte.

Die Hunde bellten und jaulten vor der Tür des Windfangs wie rasend. Bear und Rocky waren Australian Cattle Dogs, furchtlose Tiere mit rötlich grauem Fell, hellen, wachsamen Augen und schneeweißen Zähnen. Sollte sie die zwei einfach nach draußen lassen? Was würde Manu wohl an ihrer Stelle tun? Ihre Schwester war immer pragmatischer und mutiger gewesen als sie, wahrscheinlich wäre sie direkt auf die Wiese marschiert, um den Kerl zur Rede zu stellen. Ach, verdammt, warum musste so etwas ausgerechnet jetzt passieren, wo ihre Schwester für sechs Wochen nach Australien geflogen und sie hier mutterseelenallein war? Felicitas schob die Tür zu dem kleinen Büro auf, tastete sich zum Schreibtisch vor und nahm das Telefon von der Ladestation. Mit zittrigen Fingern tippte sie die 112 und schloss die Tür hinter sich, sonst hätte sie bei dem Hundegebell keinen Ton verstanden. Ihr Blick wanderte zum Fenster und vor Schreck setzte ihr Herz für ein paar Schläge aus. Da draußen stand ein Mann direkt hinter der Scheibe und grinste sie an.

***

»Dad! Da-ad! Papa, wach auf!«

Ein helles Stimmchen und eine energische kleine Hand, die nachdrücklich an seiner Schulter rüttelte, katapultierten Kriminalhauptkommissar Oliver von Bodenstein unsanft vom Traum in die Realität eines viel zu frühen Morgens.

»Wie spät ist es?«, murmelte er und blinzelte in das grelle Licht der Deckenlampe.

»Zwei – Fünf – Eins«, erwiderte Sophia, die noch Schwierigkeiten mit dem Lesen der Uhrzeit hatte. »Dein Handy klingelt seit Zwei – Drei – Sieben. Da ruft einer mit einer unterdrückten Nummer an.«

Das klang vorwurfsvoll. Bodenstein zuckte vor Schreck zusammen, als direkt neben seinem Ohr eine dissonante Tonfolge losschrillte.

»Ich hab’s dir gleich mitgebracht, dann musst du nicht extra aufstehen.« Seine Tochter, sieben Jahre alt und hellwach, hielt ihm sein Smartphone entgegen. Anrufe mit unterdrückter Nummer konnten um diese Uhrzeit nur von Sophias Mutter kommen, wenn sie sich – wie es gerade der Fall war – in einem exotischen Land mehrere Zeitzonen entfernt aufhielt, oder vom KvD der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim. Bodenstein vermutete Letzteres und behielt recht. Auf einem Campingplatz mitten im Wald zwischen Königstein und Glashütten war ein Wohnwagen in Flammen aufgegangen, es hatte eine heftige Explosion gegeben, die man bis nach Königstein gehört hatte. Da ein Feuerteufel seit Monaten schon die ganze Region in Atem hielt und das K11 neben Verbrechen gegen das Leben auch für Brandsachen zwischen Main und Taunus zuständig war, hatte man ihn verständigt.

»Ich fahre gleich hin«, sagte Bodenstein und beendete das Gespräch. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und schloss die Augen. Läge dieser Campingplatz nur zweihundertfünfzig Meter weiter westlich, hätte das Telefon bei seinem Kollegen vom Hochtaunuskreis geklingelt. So ein Pech. Heute Nacht hatte er Bereitschaftsdienst, obwohl Sophia bei ihm war. Der Dienstplan konnte nicht immer Rücksicht auf seine private Situation nehmen, besonders nicht, seitdem die Kleine beinahe fest bei ihm wohnte. Die Ausnahme war mehr oder weniger zur Regel geworden.

»Musst du weg?«, erkundigte sich Sophia.

»Hm, ja.«

»Kann ich mitkommen?«

Gute Frage. Er konnte ein siebenjähriges Kind unmöglich allein im Haus lassen. Es war mitten in der Nacht, viel zu früh, um Eltern von Schulkameradinnen aufzuwecken und Sophia bei ihnen abzuladen. Zu seinen eigenen Eltern zu fahren würde einen ziemlichen Umweg bedeuten, und es war nicht sicher, ob sie es überhaupt hören würden, wenn er bei ihnen an die Haustür klopfte. Eine Klingel gab es am Gutshaus noch immer nicht.

»Gibt es Tote?«

Sophia klang genau wie ihre Mutter, Bodensteins Exfrau, die er vor beinahe dreißig Jahren am Schauplatz eines Selbstmordes kennengelernt hatte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete er gähnend. »Es ist wahrscheinlich nur eine Brandstiftung.«

»Schade.« Sophia hüpfte auf das Fußende des Bettes. »Ich würde total gerne mal einen Toten sehen.«

»Wie bitte?« Bodenstein öffnete die Augen, richtete sich auf und musterte seine jüngste Tochter, die sich im Schneidersitz niedergelassen hatte und nachdenklich eine Strähne ihres dunklen Haares zwischen den Fingern zwirbelte.

»Na ja. Greta hat ihre tote Oma gesehen. Mit Blut und Gehirn und allem«, erwiderte Sophia. »Und ich bisher nur ein paar tote Tiere. Das ist voll ungerecht.«

»Du bist noch ein bisschen jung für den Anblick einer Leiche«, entgegnete Bodenstein trocken.

Karolines Tochter Greta war durch das Erlebnis vom Dezember vor zwei Jahren tief traumatisiert, doch offenbar hatte sie mit Sophia darüber gesprochen, und das konnte ein gutes Zeichen sein, denn sonst erwähnte sie den Tod ihrer Großmutter mit keinem Wort. Karoline hatte ihre Tochter damals sofort aus dem Internat geholt und das Mädchen von Kinderpsychologen betreuen lassen, ihr Exmann und sie hatten viel Zeit mit Greta verbracht, und Karoline, die selbst ein schweres Trauma erlitten hatte, reiste seitdem nur noch dann, wenn Greta bei ihrem Vater war. Die meiste Zeit arbeitete sie nun von zu Hause aus, um jederzeit für ihre Tochter da sein zu können.

Bodenstein schwang die Beine über den Bettrand. »Was mache ich jetzt mit dir?«

»Ich will mitkommen!« Sophia sprang mit einem Satz aus dem Bett, ihre Augen glänzten. »Bitte, Dad! Bitte, bitte, bitte!«

»Es ist drei Uhr morgens«, erinnerte er sie. »Du musst morgen in die Schule, und eigentlich solltest du noch etwas schlafen.«

»Ich bin total ausgeschlafen«, behauptete Sophia. »Und ich kann ja morgen Mittagschlaf machen, wenn ich aus der Betreuung komme. Bitte, Papi!«

Er hatte ohnehin keine andere Möglichkeit, als sie mitzunehmen. Cosima ließ die Kleine zwar schon gelegentlich für ein paar Stunden alleine in ihrer Wohnung, wenn sie irgendwohin musste, aber nicht nachts.

»Dann zieh dich an. Und nimm gleich deinen Ranzen mit.«

»Juhu!« Sophia machte einen Luftsprung und sauste aus dem Schlafzimmer. Bodenstein blickte ihr kopfschüttelnd nach, dann öffnete er den Kleiderschrank und zog einen warmen Pullover heraus. Er kannte den Campingplatz am Waldfreundehaus, oben auf der Billtalhöhe. Im Wald war es grundsätzlich ein paar Grad kühler als innerhalb einer Ortschaft, und Mitte Oktober konnte es im Taunus nachts schon empfindlich kalt werden.

***

Die Straßen lagen wie ausgestorben da, alle Häuser waren dunkel. Nur die Straßenlaternen warfen ein mattes orangefarbenes Licht auf die Hausfassaden und den Asphalt, der noch völlig trocken war.

Vor Tag und Tau, ging es Bodenstein durch den Kopf, als er in die Robert-Koch-Straße abbog, die das kleine Taunusörtchen Ruppertshain in zwei Hälften teilte. Unterhalb der Straße lag der alte Teil des Ortes mit seinen verwinkelten Gassen, oberhalb waren die Neubaugebiete in den letzten vierzig Jahren den steilen Hang empor gekrochen. Am Zauberberg, der ehemaligen Lungenheilstätte, setzte Bodenstein den Blinker und bog rechts in Richtung Königstein ab. Sogar für Zeitungsausträger war es noch zu früh. Wer jetzt unterwegs war, war per se verdächtig. Zu 70 Prozent wurden Verbrechen nachts verübt. Nicht ohne Grund fürchtete der Mensch die Dunkelheit.

Sophia redete wie ein Wasserfall, Bodenstein hörte nur mit einem Ohr zu und brummte hin und wieder zustimmend. Ihr Mitteilungsdrang war immens, und sie besaß die Eigenart, alles, was ihr gerade durch den Kopf ging, ungefiltert herauszuplappern. Im Licht der Scheinwerfer tauchte eine Hinweistafel auf.

»Schon 65 Wildunfälle seit 2007«, las Sophia. »Vor zwei Wochen waren es erst 63. Wird das eigentlich immer automatisch geändert, Papa? So wie an einer Tankstelle?«

»Nein«, erwiderte Bodenstein. »Ich denke, dass der Förster die Zahlen aktualisiert.«

Für einen kurzen Moment herrschte Ruhe.

»Du, Papa? Was ist eigentlich ein Wildun-Fall

»Das heißt Wild-Unfall.« Bodenstein musste schmunzeln. »Wenn ein Auto mit einem Reh oder einem Wildschwein zusammenstößt, bezeichnet man das als Wild-Unfall.«

»Ach so.«

Nach ein paar Kilometern öffnete sich der Wald auf der rechten Seite. Die hohe Mauer der Ausbildungsstätte einer Großbank tauchte auf. Dahinter erstreckten sich die Lichter von Königstein bis hinab ins Tal. Über ihnen thronte majestätisch die hell erleuchtete Burgruine.

»Papa? Wusstest du, dass sich da mal einer erschossen hat?«

»Wo?«

»In der Gartenhütte von der KTC«, erwiderte Sophia. »Das hat der Opa erzählt. Aber das ist schon ganz lange her.«

»Hm«, murmelte Bodenstein nur und nahm sich vor, seinem Vater bei Gelegenheit ins Gewissen zu reden. Nur weil Sophia mit ihrer altklugen Art den Eindruck erweckte, älter zu sein, als sie war, so waren Geschichten über Selbstmorde definitiv ungeeignet für eine Siebenjährige mit einer so morbiden Phantasie, wie seine jüngste Tochter sie besaß.

Links ging es auf den Waldparkplatz, wo ein anderer Fall ihn vor Jahren zu einer Leiche in einem Ferrari geführt hatte. Nach zehn Jahren als Leiter des K11 der Regionalen Kriminalinspektion in Hofheim war es für Bodenstein kaum noch möglich, unbefangen durch die Gegend zu fahren. Erinnerungen an Schauplätze von Mord und Totschlag hatten in seinem Kopf neue Orientierungspunkte geschaffen. In seinem Beruf war das unvermeidlich, aber ein Kind in Sophias Alter sollte seine Heimat nicht als eine mit Leichen gespickte Landkarte wahrnehmen.

Durch die Nepomuk-Kurve fuhr er in den Ölmühlweg und dachte mit dem üblichen flauen Gefühl, das ihn jedes Mal auf dem Weg zu einem Verbrechensschauplatz beschlich, an das, was ihn wohl erwarten mochte. Die Feuerwehrleute befürchteten, im Wohnwagen könne sich jemand aufgehalten haben, als er in Flammen aufgegangen war, aber davon hatte er Sophia natürlich nichts erzählt. Brandleichen waren etwas Fürchterliches. In Bodensteins persönlicher Hitliste der schlimmsten Leichen standen sie ganz weit oben, zusammen mit solchen, die längere Zeit im Wasser gelegen hatten oder ein paar Tage warmen Temperaturen ausgesetzt waren und kaum noch etwas Menschliches hatten. Bislang hatte sich die mysteriöse Serie von Brandstiftungen auf unbewohnte Gartenhütten, Scheunen, Papiercontainer und Strohballenlager beschränkt. Nie war ein Mensch zu Schaden gekommen. Sollte sich das heute Nacht geändert haben?

Die Ampel an der B8-Kreuzung blinkte im Nachtmodus. Der Berufsverkehr ging frühestens in zwei Stunden los. Dann würde sich eine schier endlose Blechlawine durch das Nadelöhr des Königsteiner Kreisels in Richtung Frankfurt wälzen. Bodenstein bog nach links, Richtung Limburg, ab. Hoffentlich betraf dieser Brand tatsächlich nur den Wohnwagen, dann konnte er die Ermittlungen schnell an die Brandsachverständigen übergeben. Die Bundesstraße machte eine weite Links-, dann eine Rechtskurve. Schon von weitem sah Bodenstein das pulsierende Blaulicht eines Streifenwagens. Er stand an dem Waldweg, der zur Waldgaststätte auf der Billtalhöhe führte. Der uniformierte Beamte gehörte zu den Königsteiner Kollegen, erkannte ihn und ließ ihn mit einem Kopfnicken passieren.

Bodenstein folgte dem geschotterten Weg durch den Wald. Er konnte das Feuer riechen, bevor er die Lichtung erreicht hatte. Rauch hing zwischen den Bäumen und kroch durch die Lüftungsschlitze ins Innere des Autos. Dann sah er den Lichtschein durch die Stämme der Fichten. Auf dem Parkplatz standen mehrere Fahrzeuge, darunter ein Rettungswagen mit geöffneten Türen. Bodenstein parkte zwischen einem Streifenwagen und einem dunkelgrünen Jeep und wandte sich zu Sophia um, die bereits ihren Gurt gelöst hatte.

»Ich muss jetzt hier arbeiten«, sagte er zu seiner Tochter. »Und ich möchte, dass du solange im Auto bleibst, okay?«

»Och Menno! Wieso denn?« Sophia zog eine Flunsch.

»Weil ich das sage. Ich mache die Standheizung an und bitte einen Kollegen von der Streife, ein Auge auf dich zu haben.«

»Ich will aber das Feuer sehen! Bitte, Papi!«

»Nein.«

»Und was soll ich bitte schön hier machen?« Das Mädchen verdrehte die Augen. »Ich langweile mich zu Tode!«

»Das war die Abmachung. Du hast doch deinen iPod dabei. Kann ich mich darauf verlassen, dass du hierbleibst und keinen Unsinn machst?«

»Und wenn ich Durst kriege? Oder aufs Klo muss?«

Bodensteins Geduldsfaden wurde dünner. »Dann sagst du einem der Polizisten Bescheid. Sie bleiben in der Nähe und schauen nach dir. Aber du steigst auf keinen Fall aus und läufst hier alleine herum. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Sophia bemerkte die Schärfe in seinem Ton.

»Klar.« Sie wich seinem Blick aus. Bodenstein hatte ein ungutes Gefühl. Die Chancen, dass Sophia tatsächlich im Auto blieb, lagen bei knapp fünf Prozent. Sie hielt sich an keine Regel, denn Cosima erlaubte ihr so gut wie alles, nur, um ihre Ruhe zu haben. Das führte dazu, dass Bodenstein in der Zeit, die Sophia bei ihm verbrachte, ständig Kämpfe auszufechten hatte. Egal, ob es um Tischmanieren, Schlafenszeiten, die Nutzung des iPods oder Fernsehsendungen ging, jedes Mal gab es eine Diskussion, die nicht selten mit Tränen und Wutanfällen endete.

***

Die Ausflugsgaststätte und das benachbarte Wohnhaus lagen dunkel und abweisend da, die Möbel des Biergartens waren schon weggeräumt. Selbst Optimisten rechneten im Oktober hier oben im Taunus nicht mehr mit Biergartenwetter. Bodenstein öffnete den Kofferraum und holte ein Paar Gummistiefel heraus. Die Mischung aus Löschwasser und Matsch wollte er seinen Schuhen nicht zumuten. Er stellte den Kragen seiner Jacke auf und blickte sich um. In dem grünen Jeep, hinter dessen Windschutzscheibe an einem Saugnapf ein Schild mit der Aufschrift »Forstschutz Hessenforst« baumelte, saß ein Hund, dessen Atem die Scheiben beschlagen ließ.

Im unteren Bereich der großen Lichtung, auf der etwa drei Dutzend Campingwagen standen, war die Hölle los. Mehrere Löschfahrzeuge parkten kreuz und quer. Dichter Qualm waberte über der Wiese, helles Scheinwerferlicht vermischte sich mit den Farben des Feuers zu einem Lachsrosa, vor dem sich die Feuerwehrleute wie schwarze Scherenschnitte bewegten. Bodenstein betrachtete das hektische Treiben mit wachsender Besorgnis. Der Brand war noch nicht unter Kontrolle, die Flammen hatten auf einige Fichten übergegriffen, die nun wie Fackeln brannten. In den letzten Wochen hatte es kaum geregnet, der Wald war sehr trocken, und die Gefahr, dass sich das Feuer zu einem Waldbrand auswuchs, war groß. Mit einem Knall, der das Brummen der Aggregate übertönte, barst der Stamm einer Fichte und versprühte einen Funkenregen. Die ganze Szenerie hatte etwas Dämonisches, wie in einem Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren. Der beißende Brandgeruch trieb Bodenstein die Tränen in die Augen. Verbrannter Kunststoff und Benzin. So rochen brennende Tankstellen.

An der Einfahrt zum Campingplatz standen mehrere Leute und blickten zum Feuer hinüber. Ein Feuerwehrmann sprach mit einem Mann in grünem Loden. Wieland Kapteina war der Revierförster, ein alter Freund Bodensteins seit Kindertagen.

Der Feuerwehrmann bemerkte ihn und kam auf ihn zu. Auch er war Bodenstein gut bekannt. Immer wieder traf man sich an Schauplätzen ähnlich unerfreulicher Ereignisse wie diesem.

»Guten Morgen«, grüßte Bodenstein ihn.

»Morgen, Herr Hauptkommissar«, erwiderte Jan Kwasniok, der Wehrführer der Königsteiner Feuerwehr.

»Was ist passiert?«

»Einer der Wohnwagen und ein in der Nähe abgestelltes Auto brennen«, erklärte Kwasniok. »Außerdem hat das Feuer auf ein paar Bäume übergegriffen.«

»Der Feuerteufel mal wieder?«

»Bisher war er nur in Kelkheim und Liederbach aktiv.« Kwasniok schürzte nachdenklich die Lippen. »Viel kann ich noch nicht sagen, aber hier wurde mit ziemlicher Sicherheit Brandbeschleuniger benutzt. Und im Feuer dürften mehrere Flaschen mit Campinggas explodiert sein, das würde zumindest die Heftigkeit und die extreme Hitzeentwicklung des Feuers erklären.«

»Personenschaden?«

»Die Befürchtung liegt nahe, wegen des Autos. Aber an den Wohnwagen kommen wir noch nicht ran.«

»Wer hat den Brand gemeldet?«

»Die Schwester der Pächterin.« Der Wehrführer nickte in Richtung einer Frau, die auf zwei Polizisten einredete. »Der Knall der Explosion hat sie aufgeweckt. Dann hat sie das Feuer gesehen und gleich angerufen.«

Das Funkgerät des Einsatzleiters rauschte und knackte.

»Ich muss wieder«, entschuldigte er sich und setzte seinen Helm auf. »Bis später.«

Zwei weitere Feuerwehrautos näherten sich mit blinkendem Blaulicht durch den Wald, rumpelten über den Parkplatz und fuhren auf die Wiese. Bodenstein bat die Kollegen von der Schutzpolizei, ein Auge auf Sophia zu haben, dann wandte er sich der Frau zu, die den Brand gemeldet hatte. Er schätzte sie auf irgendetwas zwischen Ende vierzig und Mitte fünfzig, und sie war so mager, dass sie fast anorektisch wirkte. Ein verlebtes Gesicht, schmale Lippen, eine zerzauste Dauerwelle. Die blonde Farbe war an den Ansätzen schon ein paar Zentimeter herausgewachsen. Dicke Brillengläser ließen ihre rotgeränderten Augen unnatürlich groß erscheinen. Als sie den Mund öffnete und sich ihm als Felicitas Molin vorstellte, verschlug es Bodenstein für einen Moment den Atem. Eine solch massive Alkoholfahne hatte er selten gerochen.

»Haben Sie etwas getrunken?«, erkundigte er sich.

»Oh Gott, ja«, gestand sie ihm, hielt die Hand vor den Mund und kicherte hysterisch. »Ich hab hier draußen eine Todesangst. Nach einer Flasche Wein kann ich wenigstens einschlafen.«

»Das klingt nicht so, als ob Sie hier wohnen würden.«

»Momentan schon. Aber normalerweise bin ich nicht ganz alleine hier draußen. Meine Schwester und ihr Mann haben die Gaststätte gepachtet.« Mit einer vagen Handbewegung wies Felicitas Molin auf die Gebäude, die sich an den leeren Biergarten anschlossen. »Sie sind zum ersten Mal seit fünf Jahren in den Urlaub gefahren, und ich passe solange auf alles auf. Ich arbeite freiberuflich, deshalb ist das kein Problem.«

»Ist außer Ihnen noch jemand dauerhaft auf dem Gelände?«

»Nein, ich glaube nicht. Die Saison ist beendet und dann kommt kaum noch jemand hier raus.«

»Was haben Sie beobachtet?« Bodenstein hegte wenig Hoffnung, dass Felicitas Molin in ihrem Zustand irgendwelche hilfreichen Beobachtungen gemacht haben könnte, aber es konnte ja sein.

»Ich habe ein Auto gehört«, antwortete sie zögernd. »Und ich meine, jemanden beim Feuer gesehen zu haben. Aber ich bin mir nicht sicher.«

Ihr Blick schnellte zu den beiden Polizeibeamten hinüber.

»Da … da war ein Mann, der zum Fenster reingeguckt hat«, flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Aha. Wo?«

»Am Bürofenster. Das liegt auf der anderen Seite des Hauses, Richtung Straße. Ich habe die Feuerwehr angerufen und da … da glotzte er mich durchs Fenster an. Ich hätte mich fast zu Tode erschreckt!« Frau Molin streckte eine Hand aus. »Schauen Sie, wie ich immer noch zittere!«

»Konnten Sie sehen, wohin der Mann verschwunden ist?«, wollte Bodenstein wissen.

»Nein«, flüsterte die Frau. »Und das macht mir Angst.«

»Haben meine Kollegen schon nachgeschaut?«

»Ich … ich habe ihnen nichts davon erzählt.«

Bodenstein bat einen der Streifenbeamten, auf der rückwärtigen Seite des Wohnhauses nach Fußspuren zu schauen.

»Wem gehört das ganze Gelände hier eigentlich?«, fragte er Frau Molin, als der Kollege gegangen war.

»Einem Verein. ›Die Waldfreunde Hessens‹. Die Wohnwagen gehören Vereinsmitgliedern, und in der Holzbaracke da drüben gibt es Zimmer, die gelegentlich an Wanderer vermietet werden. Die Campingsaison ist seit Ende September vorbei, und das Gästehaus ist auch geschlossen.«

»Wissen Sie, wem der Wohnwagen gehört, der in Flammen aufgegangen ist?«

»Nein. Tut mir leid.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe aber irgendwo eine Telefonnummer vom Verein. Die kann ich Ihnen raussuchen.«

»Das wäre gut.«

Der jüngere der beiden Polizisten näherte sich.

»Herr Hauptkommissar, ich soll Ihnen von Ihrer Tochter ausrichten, dass sie aufs Klo muss und am Verdursten ist«, sagte er und grinste.

»Danke. Ich kümmere mich darum.« Bodenstein nickte resigniert, wandte sich um und winkte Sophia, die sofort die Tür aufriss und aus dem Auto kletterte.

»Sie nehmen Ihre Tochter mit zu einem Einsatz?« Frau Molin schürzte missbilligend die Lippen. »Und das zu dieser Uhrzeit?«

»Glauben Sie mir, das mache ich nicht gerne«, entgegnete Bodenstein kühl. »Allerdings kann ich ein siebenjähriges Kind wohl kaum alleine zu Hause lassen.«

»In sechsundsechzig Tagen werde ich acht«, verkündete Sophia mit Nachdruck. »Normalerweise darf ich nicht mit Papa zur Arbeit. Wegen den ganzen Leichen und so. Aber meine Mama ist gerade in Russland mit ihrem neuen …«

»Gibt es hier irgendwo eine Toilette?«, unterbrach Bodenstein seine Tochter hastig, bevor sie dieser Fremden noch mehr Familieninterna auf die Nase binden konnte.

»Ja, natürlich. Drüben, bei der Gaststätte.« Felicitas Molin starrte ihn aus wässrigen Augen an. Vorwurfsvoll oder mitleidig? Oder eher … sensationslüstern? Hauptkommissar schleppt seine siebenjährige Tochter mitten in der Nacht zu Verbrechensschauplatz mit. Bodenstein konnte die Schlagzeile schon vor seinem inneren Auge sehen und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht kroch.

»Komm, Sophia«, sagte er knapp.

»Ich kann ihr die Toilette zeigen«, bot Frau Molin eilfertig an. »Und die Kleine kann gerne bei mir im Haus bleiben, bis Sie hier fertig sind. Drinnen ist es wärmer als hier.«

Die Vorstellung, seine kleine Tochter in der Obhut einer alkoholisierten Unbekannten zu lassen, behagte Bodenstein ganz und gar nicht. Lieber würde er Wieland bitten, nach Sophia zu sehen. Mit ihm musste er ohnehin später noch sprechen.

»Vielen Dank, das ist nicht nötig«, sagte er deshalb höflich.

»Bitte sehr.« Das klang schnippisch. »Wenn Sie meinen, dass es besser ist, ein kleines Kind hier alleine herumlaufen zu lassen.«

»Ich bin nicht klein!«, protestierte Sophia.

»Sie läuft nicht alleine herum«, entgegnete Bodenstein schärfer als beabsichtigt.

»Schon klar.« Frau Molin stieß ein höhnisches Schnauben aus, dann zog sie einen Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Daunenjacke und drehte sich um. Er folgte ihr mit Sophia an der Hand über die Terrasse des Biergartens zu den Toiletten. Ein Außenstrahler am Dachfirst der Gaststätte sprang an. Bodenstein knipste das Licht in der Damentoilette an und wartete draußen. Es war höchste Zeit, mit Cosima zu sprechen, auch wenn er dazu nicht die geringste Lust verspürte. Aber es konnte nicht sein, dass sie Sophia bei ihm ablud, wann immer es ihr passte. Eine ganze Weile hatte es recht gut geklappt mit den Betreuungszeiten, aber seitdem Cosima im vergangenen Jahr erfahren hatte, dass ihre Mutter ihr Testament geändert und ihm, Bodenstein, ihre Villa in Bad Homburg per Schenkung vermacht hatte, hielt sie sich an keine Absprachen mehr.

»Herr Hauptkommissar?« Der Beamte, der nach Spuren schauen sollte, bog um die Hausecke. »Ich konnte den Spanner dingfest machen.« Er präsentierte ein Windlicht, das einem Halloween-Kürbis nachempfunden war, sichtlich darum bemüht, ernst zu bleiben. »Könnte es sein, dass es dieser Herr war, der Sie angestarrt hat, gnädige Frau?«

Bodenstein lächelte amüsiert.

»Sie machen sich über mich lustig!«, zischte Felicitas Molin gekränkt. »Das ist ja wohl das Allerletzte!«

Sie wandte sich ab und schwankte zurück zum Haus.

»Danke für Ihre Hilfe!«, rief Bodenstein ihr nach. »Ich habe später noch ein paar Fragen an Sie.«

»Sie wissen ja, wo Sie mich finden«, schnappte die Frau und verschwand in der Dunkelheit.

»Ein Kürbis!«, kicherte der Streifenbeamte und stellte das Windlicht auf die Waschbetonplatten. »Na ja, so, wie die Dame nach Alkohol riecht, sieht sie wahrscheinlich auch weiße Mäuse.«

***

Der Morgen graute schon, als das Feuer endlich gelöscht war. Über der Waldwiese hing der Qualm wie Morgennebel und stieg nur langsam in den von purpurfarbenen Streifen durchzogenen Himmel. Die Feuerwehrleute rollten die Schläuche ein, die ersten Fahrzeuge verließen die Wiese. Von dem Wohnwagen mit Vorzelt war nur noch ein geschwärztes Gerippe übrig, die Außenhaut aus Aluminium, die Styroporisolierung und die Innenverkleidung aus Holz waren restlos verbrannt. Das Löschwasser und die Hitze des Feuers hatten die Fläche ringsum in einen Kreis aus Matsch und Asche verwandelt. Daneben schwelte das Wrack eines Autos. Fabrikat und Typ des Fahrzeugs waren nicht mehr zu erkennen, selbst die Nummernschilder waren in der Flammenhölle geschmolzen. Zur Erleichterung des Försters war es der Feuerwehr jedoch gelungen, eine Ausbreitung des Feuers in den Wald zu verhindern, lediglich fünf Fichten, die im Halbkreis um den Wohnwagen herumgestanden hatten, waren den Flammen zum Opfer gefallen. Um kurz vor sechs Uhr morgens begannen zwei Feuerwehrleute damit, die Überreste des Wohnwagens zu inspizieren und nach letzten Glutnestern zu schauen.

Bodenstein stand ein paar Meter entfernt und sah ihnen schweigend zu, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. Immer wieder gingen Küchen, Wohnzimmer, Garagen und auch Wohnwagen in Flammen auf, weil Menschen leichtfertig mit Benzin und Gasflaschen hantierten. In den meisten Fällen konnten die Leute sich retten. Sein Bauchgefühl sagte ihm zwar, dass es hier nicht so war, dennoch hoffte Bodenstein inständig, in seinen letzten zweieinhalb Monaten als Leiter des K11 von einer Ermittlung wegen Brandstiftung mit Personenschaden verschont zu bleiben.

Zum Jahresende würde er für ein Jahr aus dem Berufsleben aussteigen. Die Entscheidung für ein Sabbatical hatte er sich lange und gründlich überlegt, bevor er Dr. Nicola Engel, seine Chefin, von seinem Ansinnen unterrichtet hatte. Sein Beruf war für ihn immer weitaus mehr gewesen als nur ein Job zum Geldverdienen. Er war mit Leib und Seele Polizist und Ermittler, nach einer Karriere beim LKA oder im Polizeipräsidium hatte er sich nie gesehnt. Doch in den letzten Jahren hatte sich etwas verändert. Dinge, die er früher problemlos auf Distanz hatte halten können, berührten ihn plötzlich stärker und ließen sich nicht mehr abschütteln. Es gelang ihm oft nicht, die Arbeit nach Feierabend auszublenden. Die Fälle verfolgten ihn. Er war Polizist geworden, weil er an Gerechtigkeit geglaubt hatte, an Regeln und Werte. An Gut und Böse. Und dieser Glaube war ihm abhandengekommen, genauso wie die Jagdlust, die ihn früher erfüllt und angespornt hatte. Er hatte es satt, von Menschen belogen und für dumm verkauft zu werden. Die endlosen, ermüdenden Stunden, in denen er jemandem gegenübersaß, von dem er wusste, dass er ihm etwas verschwieg, waren vergeudete Lebenszeit. Und wenn man endlich alle nötigen Indizien und Beweise für eine Verhaftung zusammenhatte, tauchte ein cleverer Anwalt auf, und schon wurden aus lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung fünfzehn Jahre oder eine Einweisung in die Psychiatrie. Mit einer günstigen Prognose spazierte der Täter irgendwann wieder frei herum, aber sein Opfer wurde nicht mehr lebendig, und die Kollateralschäden, die traumatisierten Angehörigen, schienen Gerichte, Gutachter und Staatsanwälte zunehmend weniger zu interessieren. Das war nicht mehr das, was Bodenstein unter Gerechtigkeit verstand.

Der Fall, bei dem er Karoline Albrecht vor zwei Jahren kennengelernt hatte, hatte ihm endgültig den Rest gegeben. Es war ihnen nicht rechtzeitig gelungen, diesem Psychopathen das Handwerk zu legen. Als sie ihm letztendlich auf die Schliche gekommen waren, war es ein bitterer Sieg gewesen, denn zu viele Menschen hatten sterben müssen. Das überwältigende Gefühl der Machtlosigkeit und das unbefriedigende Ende des Falles hatten aus dem vagen Unbehagen die Erkenntnis werden lassen, dass er etwas Grundsätzliches in seinem Leben verändern musste. Ein weiterer Grund, weshalb er ein Jahr pausieren wollte, war Karoline. Er wollte Zeit für sie haben, denn sie war ihm wichtig. Ihre Beziehung, die sich behutsam entwickelt hatte, machte seit Monaten keinerlei Fortschritte mehr, und er musste ergründen, woran das lag.

Seine Chefin war natürlich alles andere als begeistert gewesen, hatte die endgültige Entscheidung darüber aber nach Wiesbaden delegiert, und so hatte Bodenstein vor ein paar Wochen ein Vier-Augen-Gespräch mit dem neuen Polizeipräsidenten geführt, den er aus seiner Zeit bei der Frankfurter Kripo gut kannte. Im Unterschied zu den meisten seiner Amtsvorgänger war er kein Verwaltungskarrierist, sondern hatte selbst lange Jahre an vorderster Front Dienst getan: als SEK’ler, beim K11 in Frankfurt, wo er unter anderem die Ermittlungen in einigen der spektakulärsten Mord- und Entführungsfällen der letzten Jahre geleitet hatte. Er hatte Bodensteins Wunsch nach einer Auszeit verstanden und akzeptiert. Nicola Engel hatte die Nachricht mit einem Schulterzucken aufgenommen und gesagt, Bodenstein könne nicht erwarten, automatisch wieder Leiter des K11 zu werden, wenn er aus seinem »Urlaub« zurückkehrte, aber das hatte ihn kalt gelassen. Eine endgültige Entscheidung über seine Nachfolge war an höchster Stelle noch nicht gefallen, doch er ging fest davon aus, dass man seiner Kollegin Pia Sander die Leitung der Abteilung übertragen würde. In der Vergangenheit hatte sie oft genug bewiesen, dass sie absolut in der Lage war, seinen Job zu machen.

»Herr Hauptkommissar?« Die Stimme des Wehrführers riss Bodenstein aus seinen Gedanken. »Wir haben eine Leiche gefunden. Am besten, Sie schauen sich das mal selbst an.«

Der winzige Rest an Hoffnung war dahin. Leider hatte Bodenstein genau das befürchtet, irgendwem musste schließlich das Auto gehören, das direkt neben dem Wohnwagen abgestellt worden war. Als er Kwasniok durch die klebrige Asche folgte, spürte er die Wärme unter den Sohlen seiner Gummistiefel. Im Laufe der Jahre hatte er viele Leichen gesehen, das gehörte zu seiner Arbeit, aber an den Anblick gewöhnte er sich nie. Auch diesmal schauderte er. Vor wenigen Stunden war dieses verkohlte Etwas ein lebendiger, atmender und fühlender Mensch gewesen. Dass es sich bei dem Feuer um Brandstiftung gehandelt hatte, stand für die Feuerwehr mittlerweile außer Frage. Was zu klären blieb, war, ob der Tod des Opfers bereits vor dem Ausbruch des Brandes eingetreten war oder erst in dessen Verlauf.

Bodenstein zückte sein Handy, um erst dem KvD und dann Pia die Situation zu schildern.

»Am besten rufe ich Henning an«, antwortete Pia sofort. »Er soll selbst kommen, bevor er sich hinterher beschwert. Wer kümmert sich um die Spusi?«

»Der KvD weiß Bescheid.«

»Okay, ich fahre gleich los.«

Sie legte auf, und Bodenstein steckte sein Handy weg.

»Ich will Ihnen etwas zeigen.« Der Einsatzleiter der Feuerwehr hatte gewartet, bis Bodenstein das Telefonat beendet hatte, nun führte er ihn in einem Bogen um die Überreste des Wohnwagens herum. Er deutete auf mehrere halbrunde Metallstücke inmitten des Ascheberges, geschwärzt und verkohlt.

»Das sind die Reste von Propangasflaschen«, erklärte Kwasniok.

»Aha.« Bodenstein wusste nicht ganz, worauf der Einsatzleiter hinauswollte. Er war selbst kein Camper, aber es war allgemein bekannt, dass Wohnwagen mit Gas beheizt wurden und auch der Herd mit Campinggas funktionierte.

»Eine Propangasflasche kann im Prinzip nicht explodieren«, fuhr Kwasniok fort. »Ohne Sauerstoff brennt Propangas nicht. Und diese Flaschen sind so konzipiert, dass bei Wärmeentwicklung, wenn der Flascheninnendruck steigt, das Druckentlastungsventil aufgeht.«

»Und dann explodiert es.«

»Nein. Das Gas brennt nur ab. Wie eine Art Flammenwerfer. Gefährlich wird es erst dann, wenn das Gas ausströmt und nicht gleich entzündet wird, also wenn sich ein Raum mit Luft-Gas-Gemisch füllt. Dann reicht ein Funke, und alles geht in die Luft.«

Bodenstein nickte.

»Die Flaschen waren offenbar rings um das Vorzelt platziert«, sagte der Einsatzleiter. »Es ist nur eine Vermutung, aber ich könnte mir Folgendes vorstellen: Jemand dreht die Druckventile der Flaschen auf und sorgt dafür, dass der Inhalt der Flaschen in das geschlossene Vorzelt strömt.«

Er stapfte zurück zur Vorderseite des zerstörten Wohnwagens und deutete auf eine verkohlte Spur im Gras, die nun im heller werdenden Zwielicht deutlich zu erkennen war.

»Dann legt er eine Art Zündschnur aus Benzin.« Kwasniok ging an der Spur entlang, und Bodenstein folgte ihm. Der aufgeweichte Boden quatschte unter den Sohlen seiner Gummistiefel. »Ungefähr dreißig Meter lang. Dann muss er nur noch ein Streichholz an die Benzinspur halten, und – peng! – alles fliegt in die Luft.«

»Klingt plausibel.« Bodenstein fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das unrasierte Kinn.

»Hier war ein Brandstifter am Werk, der sich vorher einen genauen Plan zurechtgelegt hat«, behauptete Kwasniok. »Und ich denke nicht, dass das der Feuerteufel aus Kelkheim war.«

»Danke, Herr Kwasniok. Meine Kollegen von der Brandermittlung werden später noch mal mit Ihnen sprechen.«

»Alles klar. Ein paar meiner Leute bleiben hier und überwachen die Brandstelle. Sie können später bei der Bergung der Leiche helfen.« Kwasniok tippte sich grüßend mit dem Zeigefinger an die Schläfe und ging zu seiner Truppe hinüber.

Bodenstein blickte sich um. Die Grasnarbe der Waldwiese war von den Reifen der schweren Löschfahrzeuge zerwühlt. Löschwasser und Flammen hatten die Brandstelle, die sich durch das Auffinden einer Leiche in einen Tatort verwandelt hatte, zu einem Alptraum für die Techniker der Spurensicherung gemacht. Die Kollegen Kröger und Becht, der Brandspezialist vom K10, würden not amused sein, aber das ließ sich nicht ändern. Auf dem Weg zu seinem Auto rekapitulierte Bodenstein, was er bisher wusste. Irgendetwas konnte mit der zeitlichen Abfolge dessen, was diese Frau Molin ihm erzählt hatte, nicht ganz stimmen. Angeblich war sie von einer Explosion aufgewacht. Dann wollte sie das Motorengeräusch eines wegfahrenden Autos gehört haben, und erst danach, bei einer zweiten Explosion, hatte sie die Gestalt eines Menschen vor den Flammen beobachtet. Das ergab keinen Sinn. Es sei denn, der Brandstifter war nicht der Einzige, der hier in der vergangenen Nacht unterwegs gewesen war.

***

Nachdem die Sonne gegen sechs Uhr mit einem spektakulären Morgenrot den Tag angekündigt hatte, war sie kaum eine Stunde später hinter einer dicken grauen Wolkenschicht verschwunden und schien dort auch für den Rest des Tages bleiben zu wollen. Es nieselte leicht, als Kriminalhauptkommissarin Pia Sander auf dem Parkplatz des Waldfreundehauses aus dem Auto stieg. So weit oben im Taunus gab es keinen lichten Laubwald mehr, nur noch Nadelbäume. Hohe Fichten, Tannen und Kiefern drängten sich um die Lichtung und bildeten eine undurchdringliche dunkle Wand in der grauen Düsternis. Die Ausflugsgaststätte und die Nebengebäude aus verwittertem Holz machten auch keinen besonders einladenden Eindruck.

Pia blickte sich um. Bodensteins Privatauto stand zwischen einem Streifenwagen und einem grünen Jeep von der Forstaufsicht, weit und breit war jedoch keine Menschenseele zu sehen. Obwohl der Brand schon seit einer Weile gelöscht war, roch es noch immer intensiv nach Rauch. Weiter hinten auf der Waldwiese, die weiträumig mit rotweißem Flatterband abgesperrt worden war, stand ein Löschfahrzeug der Feuerwehr in der Nähe des abgebrannten Wohnwagens.

»Seltsam. Wo sind die alle?« Pia angelte ihre Daunenweste von der Rückbank und schlüpfte hinein. Dann nahm sie ihr Handy und rief die Anrufliste auf. Sie tippte auf Bodensteins Nummer, aber eine Verbindung kam nicht zustande. Kein Empfang. Pia blickte in das Auto ihres Chefs, dann in den Streifenwagen.

»Hallo? Was machen Sie denn da?«, fragte jemand dicht hinter ihr, und Pia fuhr erschrocken herum. Vor ihr stand eine magere Frau mit einem verhärmten Gesicht und einer herausgewachsenen Dauerwelle und starrte sie misstrauisch an. Die dicken Brillengläser verliehen der Frau das Aussehen einer zerrupften Eule.

»Ich bin Kriminalhauptkommissarin Sander.« Pia zückte ihren Ausweis. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

»Ich wohne hier, wenn’s recht ist«, entgegnete die Frau mit einem giftigen Unterton. Sie schnappte sich Pias Ausweis und prüfte ihn so eingehend, als ob sie bei der Einreisekontrolle an einem amerikanischen Flughafen arbeiten würde. »Meine Schwester ist die Pächterin vom Waldfreundehaus. Ich habe heute Nacht die Feuerwehr angerufen.«

Dann fischte sie einen Zettel aus der Tasche ihrer abgetragenen Jeansjacke mit einem Teddykragen, der irgendwann einmal weiß gewesen sein musste.

»Dieser Kommissar wollte von mir eine Telefonnummer haben.« Sie hielt Pia den Zettel hin. »Ich habe sie ihm aufgeschrieben.«

»Danke.«

Der Geruch nach Alkohol, Knoblauch und Mottenpulver, den die Frau ausdünstete, war überwältigend, doch Pia verzog keine Miene.

»Haben Sie meinen Chef zufällig irgendwo gesehen? Ich habe hier leider keinen Handyempfang.«

»Ach, das ist Ihr Chef. Na, herzlichen Glückwunsch.« Die Eule verzog ihre Lippen zu einem geringschätzigen Lächeln. »Dem ist wohl sein Kind abhandengekommen. Ist ja auch eine ziemlich bescheuerte Idee, ein kleines Mädchen nachts hierher mitzunehmen und unbeaufsichtigt herumlaufen zu lassen.«

Die freundliche Unvoreingenommenheit, die Pia normalerweise jedem Fremden entgegenzubringen versuchte, verwandelte sich blitzartig in Abneigung.

»Ich hatte ihm angeboten, auf die Kleine aufzupassen, aber das wollte er ja nicht«, sagte die Eule schulterzuckend. »Lieber hat er sein Kind bei der Kälte allein im Auto sitzen lassen. Können Sie sich so etwas vorstellen?«

Pia ging es entschieden gegen den Strich, wie abfällig diese Person über ihren Chef sprach.

»Nein, das kann ich nicht«, entgegnete sie deshalb frostig.

»Schon klar.« Der Tonfall war verächtlich. »Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.«

Da platzte Pia der Kragen.

»Ich würde mein Kind auch nicht bei einer Frau lassen wollen, die wie ein Schnapsladen riecht«, entgegnete sie scharf.

»Was fällt Ihnen ein?« Die Frau fixierte sie wütend aus zusammengekniffenen Augen. »Was wissen Sie denn wohl über mich?«

»Wahrscheinlich ungefähr so viel, wie Sie über meinen Chef wissen«, versetzte Pia kühl. »Man sollte nicht vorschnell Urteile über Menschen fällen, die man überhaupt nicht kennt, Frau …«

»Molin. Felicitas Molin. Ich schreibe übrigens für verschiedene Zeitungen.« In den Augen der Frau funkelte schiere Boshaftigkeit. »Ein Kommissar, der sein Kind nachts mit zu Ermittlungen nimmt, wäre sicherlich einen Bericht wert.«

»Na, dann viel Spaß beim Schreiben.« Pia schüttelte den Kopf. »Passen Sie nur auf, dass Sie sich keine Verleumdungsklage einhandeln.«

Die Eule brabbelte irgendetwas von »Pressefreiheit« und »Informationsauftrag«, aber Pia ließ sie einfach stehen und machte sich auf den Weg zur Brandstelle. Es war ein paar Jahre her, seitdem sie einmal mit Christoph in dem Ausflugslokal hier oben zum Essen gewesen war. Den Campingplatz hatte sie damals gar nicht wahrgenommen. Rings um die Waldwiese waren etwa vierzig Wohnwagen abgestellt, die meisten von ihnen wirkten im grauen Zwielicht trostlos und vernachlässigt. Manche standen zum Schutz vor den Einflüssen der Witterung unter ausgeblichenen Zeltdächern, andere versteckten sich hinter von Moos und Flechten überzogenen Holzpalisaden. Es wirkte nicht so, als ob sie jemandem am Herzen lägen.

Gerade als Pia die Überreste des Wohnwagens erreicht hatte, hinter dem die geschwärzten Stämme von fünf Fichten wie Finger einer Hand aus der Asche ragten, wurden am Waldrand Stimmen laut. Drei Feuerwehrleute und zwei Kollegen von der Schutzpolizei tauchten aus dem Unterholz auf, gefolgt von einem in Jägergrün gekleideten Mann und Bodenstein, der seine Tochter hinter sich her zog. Ihr wütendes Protestgeschrei überhörte er mit stoischer Miene. Nicht zum ersten Mal, seitdem Pia die jüngere Tochter ihres Chefs kannte, bedauerte sie ihn aufrichtig. Das Kind hatte sich zu einer echten Nervensäge entwickelt.

»Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragte sie nach einer kurzen Begrüßung. »Ich hätte das hier übernommen.«

»Du bist in der letzten Zeit schon oft genug für mich eingesprungen«, entgegnete Bodenstein und wandte sich an Sophia. »Du bleibst jetzt hier in der Nähe, verstanden? Ich fahre dich gleich in die Schule.«

»Aber ich will …«, begann Sophia mit erhobener Stimme.

»Schluss jetzt«, schnitt Bodenstein ihr barsch das Wort ab. »Ich will keinen Mucks mehr von dir hören.«

Sophia stampfte wütend mit dem Fuß auf und brach daraufhin in lautes Geheul aus.

»Was habe ich gerade gesagt?« Bodenstein sprach leise und drohend. »Das war das allerletzte Mal, dass ich dich irgendwohin mitgenommen habe.«

»Aber ich hab mir weh geta-han! Aua!«, jammerte das Kind und setzte sich heulend ins nasse Gras. »Ich glaub, mein Fuß ist gebrochen!«

Bodenstein ignorierte das Theater seiner Tochter und stellte Pia Wieland Kapteina vor, den Förster, der für diesen Teil des Taunuswaldes zuständig war. Er war groß und hager, hatte ein kantiges Gesicht mit tiefen Nasolabialfalten, melancholische dunkle Augen und einen grauen Haarkranz.

»Die Schwester der Pächterin, eine Frau Molin, will eine Person gesehen haben, als das Feuer schon brannte und nachdem sie ein Auto wegfahren hörte«, schloss Bodenstein seine knappe Zusammenfassung der Ereignisse. »Wir haben Blutspuren gefunden, die in den Wald führen. Möglicherweise stammen sie vom Täter oder dieser dritten Person.«

»Dann sollten wir einen Suchhund anfordern.« Pia ließ ihren Wortwechsel mit der Eule unerwähnt. »Vielleicht befindet sich derjenige noch in der Nähe, oder er hat eine Spur hinterlassen, die uns weiterbringt.«

Zwei Fahrzeuge holperten über die Wiese: der blaue VW-Bus der Spurensicherung, gefolgt vom Transporter der Brandermittler. Sie stoppten etwa fünfzig Meter entfernt. Bodenstein sah auf seine Uhr.

»Ich muss Sophia in die Schule bringen«, sagte er stirnrunzelnd. Ihm war nicht wohl dabei, jetzt, wo die Ermittlungen ins Rollen kamen, wegfahren zu müssen, das war ihm anzusehen.

»Fahr nur«, erwiderte Pia. »Ich kümmere mich hier um alles.«

»Danke.« Bodenstein stieß einen Seufzer aus. »Ich werde eine Lösung für die nächsten Tage finden. Leider ist es nicht so einfach, Sophia irgendwo unterzubringen.«

»Mach dir keinen Stress. Ich bin ja hier.« Pia wusste über die familiäre Situation ihres Chefs Bescheid und auch darüber, dass seine Exfrau immer häufiger Ausreden fand, um sich nicht um ihre jüngste Tochter kümmern zu müssen. Bodenstein hatte schon seine älteren Kinder mehr oder weniger alleine großgezogen, weil Cosima von Bodenstein oft in ferne Länder gereist war, um Dokumentarfilme zu drehen. Seine Beziehung zu seiner Jugendliebe, der Tierärztin Dr. Inka Hansen, war Pias Meinung nach nicht zuletzt an Sophia gescheitert. Und ob Karoline Albrecht, Bodensteins neue Lebensgefährtin, die Nervenstärke besaß, das anstrengende Kind und dessen unzuverlässige Mutter zu ertragen, musste sich erst noch zeigen.

»Kann ich irgendetwas tun?«, erkundigte sich der Förster mit dem Basset-Gesicht, als Bodenstein mit seiner Tochter Richtung Parkplatz abgezogen war.

»Kennen Sie die Leute, denen die Wohnwagen gehören?«

»Leider weder Namen und Adressen«, bedauerte Wieland Kapteina. »Außer von der Pächterin und ihrem Mann ist mir nur der eine oder andere Spitzname bekannt.«

»Hm.« Pia schob die Hände in die Taschen ihrer Daunenweste und berührte dabei den Zettel, den ihr die Eule eben in die Hand gedrückt hatte.

»Entschuldigen Sie mich. Ich bin gleich wieder da«, sagte sie zu dem Förster, dann spurtete sie hinter ihrem Chef her, der von Kröger aufgehalten worden war. Sie begrüßte den Leiter des Erkennungsdienstes der RKI Hofheim und die anderen Kollegen, die gerade damit beschäftigt waren, ihr Equipment auszuladen, das sie für die Tatortarbeit brauchten.

»Hier sieht’s ja aus, als hätten sie die Schlacht von Waterloo nachgespielt! Ist doch echt zum Kotzen!«, meckerte Christian Kröger verärgert. »Ich frage mich, ob die von der Feuerwehr auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwenden, dass wir noch Spuren sichern müssen!«

Bodenstein und Pia waren Tiraden dieser Art gewohnt. Kröger war ein Perfektionist und hätte am liebsten jeden Verbrechensschauplatz für sich und seine Leute allein gehabt, bevor jemand Spuren zerstören oder verändern konnte.

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Bodenstein trocken. »Aufgrund des Zustands der Leiche habe ich Kirchhoff angefordert.«

»Ein echter Glückstag also«, murrte Kröger. »Wenigstens bin ich diesmal vor ihm da.«

»Ihr seid echt kindisch, Henning und du!« Pia schüttelte den Kopf über den skurrilen Wettstreit zwischen ihrem Ex und dem Chef des Erkennungsdienstes.

»Ich führe aktuell 11:3.« Kröger grinste mit einem Anflug von Triumph. »Uneinholbar. Das wurmt den Doc gewaltig.«

Er und Pias Exmann Henning Kirchhoff pflegten seit vielen Jahren eine von Herzen kommende Feindschaft, die manchmal geradezu groteske Züge annahm, wenn sie sich an einem Leichenfundort wegen einer Kleinigkeit in die Haare gerieten. Ihre Streitereien waren legendär, doch da ihre Animositäten der Gründlichkeit ihrer Arbeit keinen Abbruch taten, ertrugen alle Beteiligten die ständigen Kabbeleien der beiden mit Gleichmut.

»Ach, Oliver, den hat mir die Eule für dich gegeben.« Pia reichte Bodenstein den Zettel. »Eine Telefonnummer, die du von ihr haben wolltest.«

»Danke.« Bodenstein warf einen Blick auf den Zettel. »Das ist wohl die Nummer des Campingplatzbetreibers. Ich rufe vom Auto aus an und erfahre hoffentlich, wem der Wohnwagen gehörte.«

Er ging mit einer theatralisch humpelnden Sophia an der Hand davon. Pia blieb bei Kröger stehen, weil ihr Handy an dieser Stelle Empfang hatte. Sie rief den KvD an, forderte einen Suchhund und Verstärkung für die Suche nach der Person an, die entweder der Brandstifter oder ein möglicher Augenzeuge war. Danach informierte sie den zuständigen Staatsanwalt.

Unterdessen waren weitere Autos eingetroffen. Zwei Streifenwagen, der silberne Mercedes-Kombi von Dr. Henning Kirchhoff und ein ziviler Opel aus der Dienstwagenflotte der RKI, mit dem drei von Krögers Leuten und der Neue vom K11 gekommen waren. Außerdem ein weißer Smart mit dem auffällig bunten Logo eines privaten Fernsehsenders.

»Da ist der Doc ja schon«, stellte Kröger missvergnügt fest und zog sich die Kapuze des Overalls über den Kopf, als Dr. Henning Kirchhoff mit seinem Metallkoffer in der Hand quer über die Wiese auf sie zustrebte.

»Und die Presse auch«, ergänzte Pia. »Ich kümmere mich darum, dass alles weiträumig abgesperrt wird.«

***

Schluchzend vor Scham und Zorn riss Felicitas eine Küchenschublade nach der anderen auf. Es war erst acht Uhr morgens, aber sie hätte am liebsten jetzt schon ein Glas Rotwein getrunken. Daran war nur diese blonde Polizistin mit ihrer herablassenden Art schuld! Und die anderen Bullen, die sich über sie lustig gemacht hatten. Sie hatte genau gesehen, wie sie gegrinst hatten! Ein Kürbis-Windlicht, herrje! Wie peinlich, dass sie sich so hysterisch aufgeführt hatte! Was musste der Kommissar wohl von ihr denken? Der war eigentlich ziemlich sympathisch. Ein Liam-Neeson-Typ mit Dreitagebart und grauen Schläfen. Felicitas hielt inne und presste ihre Stirn an das kühle Fensterglas. Ein attraktiver Mann: groß, schlank, breitschultrig, umweht von einer anziehenden Aura des Geheimnisvollen. Er hatte eine schöne Stimme, einen angenehmen, sonoren Bariton und eine saubere Aussprache ohne jede hessische Färbung. Leider war er mit einem vorlauten Kind gestraft. War seine Ehe in die Brüche gegangen, weil er zu viel den bösen Buben nachjagte? Oder war er fremdgegangen, hatte seine langweilige Vorstadt-Polizisten-Ehefrau mit einer anderen betrogen? Und wenn schon. Wahrscheinlich hielt er sie für eine armselige, versoffene Zicke.

Sie stieß sich vom Fensterbrett ab, marschierte entschlossen in Manus Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Methodisch durchwühlte sie eine Schublade nach der anderen. Irgendwo musste das Ding doch sein! Endlich, in der hintersten Ecke des Wandschrankes, fand sie, wonach sie gesucht hatte. Vorsichtig nahm sie die Holzkiste heraus, stellte sie auf die verkratzte Schreibtischplatte und klappte den Deckel zurück. Manuela hatte ihr vor einer Weile beiläufig von dieser Pistole erzählt, die Jens besaß, seitdem sie hier mitten im Wald wohnten. Ob ihr Schwager überhaupt einen Waffenschein hatte? Egal. Felicitas nahm die Pistole vorsichtig aus der Kiste. Mattglänzender schwarzer Stahl. Es war Jahre her, seitdem sie eine Waffe in der Hand gehabt hatte, auf einem Schießstand, für die Recherche zu einem Artikel. Nachdenklich wog sie die Waffe in der Hand. Sie war geladen. Leichtsinnig und typisch für Jens. Auf jeden Fall fühlte sie sich damit schon erheblich sicherer. Ihr Blick fiel auf die Hunde, die hinter ihr hergeschlichen waren und jede ihrer Bewegungen verfolgten.

»Ihr seid ja auch kein echter Schutz«, brummte sie und steckte die Pistole hinten in den Bund ihrer Jeans. »Mehr als kläffen könnt ihr nicht.«

Durch das Fenster konnte Felicitas ein Stück der Wiese sehen. Rotweißes Absperrband und eine Menge Leute. Offenbar war da Schlimmeres passiert als nur ein Wohnwagenbrand. Sie setzte sich an Manus Schreibtisch, klappte ihren Laptop auf und checkte ihre Mails. Vier Artikel hatte sie geschrieben und an mehrere Redaktionen geschickt, allmählich musste sie doch mal eine Antwort kriegen! Nichts. Nur ein paar Spam-Mails. Keine Einladungen zu Jury-Sitzungen, Galas, Buchpremieren oder Autorenlesungen mehr, wie sie sie früher täglich erhalten und beiläufig gelöscht hatte. Von Woche zu Woche bekam sie weniger Mails, und seit gestern war keine einzige mehr gekommen. Einfach nichts. Man hatte sie vergessen. Wo war ihr Leben hin? Warum wurde sie nicht mehr eingeladen und angerufen? Mit einem Knall schlug sie den Laptop zu. Was zum Teufel tat sie hier überhaupt, in dieser mäuseverseuchten Drecksbude mitten im Wald? Sie mochte keine Tiere. Sie hasste den Wald. Sie ekelte sich vor dem verwohnten, schmutzigen Haus. Es war eine Demütigung, dass ihr keine andere Wahl geblieben war, als bei ihrer jüngeren Schwester unterzukriechen.

***

»Wusstest du, dass im 19. Jahrhundert hier oben kaum ein Baum stand?« Kriminalkommissar Tariq Omari stapfte quer über die Wiese, blieb vor Pia stehen und schlug den Kragen seines olivgrünen Fieldjackets hoch. »Angeblich konnte man von Frankfurt aus bei guter Sicht die keltischen Ringwälle auf dem Altkönig sehen. Heutzutage ist alles komplett bewaldet.«

»Woher weißt du bloß solche Sachen?« Nicht zum ersten Mal wunderte Pia sich über den neuen Kollegen, der seit knapp zwei Monaten das Team des K11 verstärkte. Nachdem Kathrin Fachinger Anfang August überraschend verkündet hatte, sie sei schwanger und gehe im November in Mutterschutz, hatte Kriminalrätin Dr. Engel den Neuen quasi über Nacht aus dem Hut gezaubert.

»Hab ich irgendwo gelesen«, erwiderte Tariq nun achselzuckend. »Ich habe ein fotografisches Gedächtnis und vergesse nie etwas, was ich einmal gehört oder gelesen habe.«

Pia warf ihm einen raschen Blick zu, um festzustellen, ob er sie auf den Arm nehmen oder gar Bewunderung wollte, aber er hatte das ganz ernsthaft und in aller Bescheidenheit gesagt.

Tariq Omari war achtundzwanzig Jahre alt und kam direkt von der Polizeischule in Wiesbaden, wo er das Studium mit Bestnoten abgeschlossen hatte. Im Umgang mit dem Computer konnte er Kai Ostermann problemlos das Wasser reichen, außerdem wusste er erstaunlich viel und hielt mit diesem Wissen nur selten hinter dem Berg, was ihm in der Regionalen Kriminalinspektion Hofheim bereits den Spitznamen »Einstein« eingebracht hatte.

Sie erreichten die Brandstelle. Löschwasser und Nieselregen hatten die Asche in grauschwarzen Brei verwandelt, aus dem geschwärzte und verbogene Stahlstreben ragten. Hier und da kräuselten sich dünne Rauchfahnen empor. Zwei von Krögers Leuten errichteten ein Zelt zum Schutz vor dem Regen und legten Metallplanken rings um die Wohnwagenreste aus. Die Techniker von der Spurensicherung begannen mit ihrer Arbeit, spannten ein Fadennetz über die Leiche und kennzeichneten die Stellen, an denen sie potentielle Beweisstücke sicherstellten, mit nummerierten Markierungen. Einer von ihnen fotografierte jedes Detail der Brandstelle, des verbrannten Autos und des Opfers aus allen erdenklichen Perspektiven. Jeder noch so kleine und unbedeutend erscheinende Gegenstand wurde eingesammelt, die Berge von Asche mussten sorgfältig gesiebt werden, damit kein Knochensplitter und kein Zahn verlorenging. Die meisten Dinge würden sich später zwar als irrelevant erweisen, aber in diesem frühen Stadium der Ermittlungen konnte man noch nicht beurteilen, was wichtig war und was nicht, deshalb wurde alles eingetütet und ins Labor geschickt. Die Arbeit würde umso mühseliger sein, weil die Asche klebrig und durch Kunststoff- und Gummireste zäh war. Henning und Christian hockten neben den verkohlten menschlichen Überresten und diskutierten erstaunlich sachlich ihre Vorgehensweise.

»Am Waldrand sind übrigens Blutspuren gefunden worden«, bemerkte Pia. »Und eine Augenzeugin hat eine Person beobachtet. Wir müssen die Wiese also nach Fußspuren absuchen lassen.«

Kröger wandte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf.

»Wir sind nur zu sechst«, antwortete er ruppig. »Ich brauche hier jeden Mann.«

»Dann lasse ich alles absperren, bis wir Verstärkung kriegen.« Pia zog ihr Handy hervor. »Sieht nicht so aus, als ob hier jemand bloß mit einer Zigarette in der Hand eingeschlafen wäre.«

»Es muss eine extreme Hitzeentwicklung gegeben haben«, bestätigte Tariq und schnupperte. »Unverkennbar Benzin.«

»Und ein Hauch von Bratengeruch.«

»Was?«

»Verbranntes Fleisch. Ein bisschen wie eine Weihnachtsgans, die zu lange im Ofen war.«

»Tatsächlich.« Tariq nickte. »Bislang hatte ich nur theoretisches Wissen über Brandleichen, weil ich noch nie eine in natura gesehen habe, aber das hier bestätigt, was ich gelesen habe.«

»Und das wäre?«, erkundigte Pia sich, ein wenig amüsiert.

»Der menschliche Körper besteht zu 70 Prozent aus Wasser«, erwiderte ihr Kollege. »Bei starker Hitzeentwicklung beginnen die Körperflüssigkeiten zu kochen. Angeblich riecht eine Brandleiche verkohlt und nach Feuer, aber auch nach angebrannten Muskeln und Fett.«

Pia war beeindruckt. Henning Kirchhoff hatte den Dialog mit einem nachsichtigen Lächeln verfolgt.

»Sie sind der Neue, oder?«, fragte er.

»Ja, das stimmt. Kriminalkommissar Tariq Omari.« Der junge Mann nickte. »Und Sie sind Professor Kirchhoff, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin und forensischer Anthropologe.«

»Korrekt.« Henning Kirchhoff klappte seinen Koffer auf, in dem sich die Grundausrüstung für seine Arbeit befand. »Ist das Ihre erste Leichensache?«

»Ja.«

»Sie haben Glück. Von Frau Sander können Sie eine Menge lernen. Sie hatte einen fabelhaften Lehrer.«

»Puh! Eigenlob stinkt, Henning«, erwiderte Pia spöttisch.

»Ich rieche nichts. Mein Geruchssinn ist total abgestumpft«, entgegnete der ungewöhnlich gut gelaunt. Dann richtete er sich auf und blickte Pia prüfend an.

»Was ist?«, fragte sie argwöhnisch.

»Isst du etwa immer noch Nutella zum Frühstück?«

»Wieso?« Pia spürte, wie sie rot anlief. Sie war nie superschlank gewesen, und in den letzten Monaten hatte sie ein paar Kilo zugelegt, was daran lag, dass sie es einfach nicht fertigbrachte, sich selbst zu kasteien und auf Kohlenhydrate und Süßigkeiten zu verzichten. Es wäre typisch für ihren Ex, sie vor allen Leuten deswegen aufzuziehen.

»Weil du hier einen Nutella-Fleck hast«, sagte Henning jedoch und tippte sich grinsend an den Mundwinkel.

Tariq Omari hatte den Wortwechsel irritiert verfolgt.

»Das ist mein Exmann«, beeilte Pia sich zu erklären und fuhr sich verstohlen mit Daumen und Zeigefinger über ihre Mundwinkel. »Und da er mehr mit seiner Arbeit als mit mir verheiratet war, musste ich die Sektionssäle des Rechtsmedizinischen Instituts aufsuchen, wenn ich ihn mal sehen wollte.«

»Der Fleck ist weg.« Henning zwinkerte Pia zu. »Im Übrigen übertreibst du. So schlimm war es auch nicht.«

»Ach ja? Du hast erst nach vierzehn Tagen bemerkt, dass ich ausgezogen war«, erinnerte Pia ihn. Zehn Jahre war es her, seitdem sie Henning verlassen hatte. Die Wunden waren längst verheilt. Gefühlt hatte sie während ihrer Ehe mehr Zeit im Institut verbracht als in ihrer Wohnung in Sachsenhausen. Doch auch wenn sie sich etwas Schöneres hätte vorstellen können als unzählige Wochenenden und Abende in der Gesellschaft von verwesten, verbrannten, mumifizierten und skelettierten Leichen, so konnte sie nicht leugnen, dass sie auf diesem Wege eine hilfreiche Zusatzqualifikation erworben hatte. Immerhin war Henning einer der wenigen forensischen Anthropologen Deutschlands, eine international anerkannte Koryphäe auf seinem Spezialgebiet, und Pia hatte ihm sechzehn lange Jahre mehr oder weniger freiwillig assistiert. Darüber hinaus hatte sie Hennings chaotische Manuskripte für unzählige wissenschaftliche Artikel und mehrere Fachbücher transkribiert, ebenso wie seine Doktorarbeit. Sämtliche rechtsmedizinischen Fachausdrücke waren ihr also geläufig, und es gab in Bezug auf die Untersuchung von Leichen nichts, was sie nicht schon gesehen und gerochen hatte.

»Warst du schon mal bei der Obduktion einer Brandleiche dabei?«, riss Tariqs Stimme sie aus ihren Gedanken.

»Ja, ein paarmal«, erwiderte Pia. Sie balancierten über die Metallplanken und betrachteten stumm das, was das Feuer von dem Menschen übrig gelassen hatte. Die Leiche lag auf dem Bauch. Sie war völlig verkohlt, die Extremitäten waren fast komplett weggebrannt. In der Hitze hatten sich die Sehnen zusammengezogen, deshalb waren Arme und Beine der Leiche angewinkelt und der Mund aufgerissen wie zu einem verzweifelten Schrei.

»Hm, das sieht wirklich so schlimm aus, wie ich es mir vorgestellt hatte.« Tariq ging in die Hocke.

»Und?«, fragte Pia. »Was siehst du?«

»Da ist ein Loch im Schädel des Opfers«, antwortete er. »Aber da bei großer Hitze auch das Gehirn zu kochen beginnt, kann man eine Hitzesprengung des Schädels mit einem Impressionsbruch verwechseln. Erst bei der Autopsie kann man genau feststellen, ob eine Gewalteinwirkung von außen stattfand oder dieses Loch durch eine Explosion von innen entstanden ist.«

»Eine glatte Eins für diesen Vortrag«, kommentierte Henning, dann wedelte er ungeduldig mit der Hand. »Und jetzt würde ich hier gerne in Ruhe arbeiten.«

»Kannst du schon sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war?«, wollte Pia wissen.

»Was würden Sie sagen?«, wandte sich Henning an Tariq und nahm ein paar Gegenstände aus seinem Koffer. Dieser betrachtete die menschlichen Überreste intensiver.

»Ich würde sagen ein Mann«, antwortete er, ohne sich umzudrehen. »Der Os femoris – oder auch das Femur – erscheint mir zu lang und zu massiv, als dass er weiblich sein könnte.«

»So, so.« Henning richtete sich auf und fixierte Pias neuen Kollegen mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis.

»Wenn durch äußere Einwirkungen die Geschlechtsmerkmale einer Leiche nicht mehr deutlich erkennbar sind, kann ein fluoreszenzoptischer Nachweis des y-Chromosoms erfolgen.«

»Mit welcher Methode?«, wollte Henning wissen.

»Nach Anfärbung mit Quinacrine mustard.« Tariq balancierte über die Metallplanke zurück. »Haare und Knorpel haben sich als optimales Untersuchungsgut erwiesen. Das habe ich übrigens in einem Artikel aus dem Jahr 1979 von Tröger, Spann und Tutsch-Bauer im Internet gelesen. Aber in Ihrem Buch Rechtsmedizin in der Praxis für Juristen und Polizisten beschreiben Sie auf Seite 241 in Kapitel 14 Absatz 2 auch die individualtypischen Merkmale von nicht sicher identifizierten Brandleichen.«

Pia musste grinsen, als sie sah, wie Henning für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge entgleisten.

»Sie haben mein Buch offenbar sehr aufmerksam gelesen«, stellte er fest. »Das würde ich mir von meinen Studenten manchmal wünschen. Nicht schlecht.«

»Er hat ein fotografisches Gedächtnis«, merkte Pia an.

»Danke.« Hennings Lob ließ Tariq Omari erröten. »Ihre Bücher sind gut verständlich geschrieben, im Gegensatz zu vielen anderen fachmedizinischen Standardwerken.«

»Wollen Sie sich bei mir einschmeicheln?«, fragte Henning argwöhnisch.

»Nein!« Entrüstet über diese Unterstellung, schüttelte Tariq den Kopf.

Henning starrte ihn mit unergründlicher Miene an.

»Grau ist alle Theorie«, brummte er, zog die Kapuze über den Kopf und wandte sich ab. Die Kollegen von der Spurensicherung, die das Gespräch verfolgt hatten, grinsten.

»Ist er jetzt sauer auf mich?«, fragte Tariq Pia verunsichert.

»Wieso sollte er das sein?« Pia musste lächeln. Sie hatte nur sehr selten erlebt, dass ihr Exmann beeindruckt war. »Ich denke, er ist ziemlich geschmeichelt. Aber bevor er das zugibt, würde er sich lieber die Zunge abbeißen.«

Ihr Handy klingelte. Sie machte ein paar Schritte und nahm den Anruf entgegen. Der Suchhund und sein Führer von der Rettungshundestaffel Rhein-Main würden in Kürze eintreffen, der Staatsanwalt aus Frankfurt ebenfalls. Und in Mainz-Kastel hatte sich eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei auf den Weg in den Taunus gemacht. Allmählich kam Bewegung in die Sache.

***

»Ja, natürlich, das kann ich machen.« Karolines Stimme drang aus dem Lautsprecher von Bodensteins Auto. »Ich hole Sophia um drei von der Betreuung ab und bleibe dann bei dir zu Hause, bis du kommst.«

»Ich danke dir. Du bist ein Schatz.« Bodenstein, der seine Tochter gerade an der Grundschule in Eppenhain abgesetzt hatte, war erleichtert, eine so rasche Lösung für sein Problem gefunden zu haben. Doch dann fiel ihm etwas ein. »Hast du heute nicht einen Besichtigungstermin für das Haus?«

Schon vor einer Weile hatte Karoline beschlossen, ihr Elternhaus in Oberursel zu verkaufen, doch das gestaltete sich erheblich schwieriger als zunächst angenommen. Mehrere Kaufinteressenten waren abgesprungen, nachdem sie erfahren hatten, was in dem Haus passiert war. Andere Leute wiederum hatten einen Besichtigungstermin zum Vorwand genommen, um den Schauplatz eines Mordes aus der Nähe sehen zu können. Schließlich hatte Karoline die Verkaufsanzeige aus allen Online-Portalen entfernt. Die Leute, die heute kommen sollten, hatten kein Interesse an dem Haus selbst, sondern nur am Grundstück.

»Der Termin war gestern«, erwiderte Karoline leicht belustigt.

»Ach, stimmt ja.« Bodenstein wurde heiß. Im Büro war gestern viel los gewesen, dann hatte er Sophia von einem Kindergeburtstag abholen und noch etwas einkaufen gehen müssen. Darüber hatte er diesen für sie so wichtigen Termin schlicht vergessen. Hoffentlich wertete Karoline das nicht als Desinteresse. »Wie ist es gelaufen?«

»Das erzähle ich dir heute Abend, okay?«

»Ja, natürlich. Und danke schon mal für deine Hilfe.«

»Keine Ursache. Bis später.«

Bodenstein beendete das Gespräch und verfluchte sich für sein schlechtes Gedächtnis.

Er war Karoline im Dezember vor zwei Jahren unter denkbar ungünstigen Umständen begegnet, und eigentlich waren die Voraussetzungen für eine Beziehung alles andere als optimal gewesen. Dennoch hatte sich alles Schritt für Schritt in die richtige Richtung entwickelt. Da war die wunderbare, herzklopfende Anziehung, das körperliche Verlangen nacheinander, das sie mitunter zu kichernden Teenies mutieren ließ, aber auch Vertrauen, Respekt und eine grundlegende Übereinstimmung von Werten und Ansichten, die eine gute Basis für eine Partnerschaft verhießen. Das Problem war Greta, die vom ersten Moment an mit extremer Eifersucht auf ihn, den neuen Mann im Leben ihrer Mutter, reagiert hatte. Für Karoline stand ihre Tochter an erster Stelle; sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sie so lange ihres Berufes wegen vernachlässigt hatte, und versuchte jetzt, das Versäumte nachzuholen. Bodenstein beobachtete Gretas Entwicklung mit Sorge, aber Karoline reagierte auf die allerkleinste Kritik von seiner Seite überempfindlich, deshalb hielt er sich zurück und ging dem Mädchen so gut wie möglich aus dem Weg. Da er sein eigenes Leben außerdem mehr und mehr nach Sophias Bedürfnissen ausrichten musste, blieb ihnen nur wenig Zeit für Zweisamkeit. Karoline fand, er ließe sich von seiner Exfrau als Babysitter ausnutzen, er wiederum hielt ihre Überfürsorglichkeit in Bezug auf Greta für maßlos übertrieben. Jede Menge Konfliktpotential also, aber trotz aller Widrigkeiten wollte Bodenstein die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nicht aufgeben.

Sein Telefon klingelte, und er nahm das Gespräch entgegen.

»Wer ist denn da?«, erkundigte sich eine dunkle Frauenstimme, die nach Zehntausenden gerauchten Zigaretten klang.

Bodenstein wiederholte seinen Namen.

»Hier ist Hildegard Indenhock. Sie haben mir auf die Mailbox gesprochen«, sagte die Frau, und Bodenstein begriff, dass es sich um die Vorsitzende des Waldfreunde-Vereins handelte, deren Nummer die Schwester der Pächterin ihm gegeben hatte.

Rasch erklärte er, was sich in der vergangenen Nacht auf der Waldwiese ereignet hatte, und beschrieb die Lage des Stellplatzes, auf dem der Wohnwagen abgebrannt war.

»Großer Gott, das ist ja entsetzlich!«, stieß Frau Indenhock hervor und hustete. »Ich kann leider nicht kommen, ich warte auf den Klempner, der eigentlich um acht Uhr hier sein wollte.«

»Das macht nichts«, antwortete Bodenstein. »Wir müssen nur wissen, wem der Wohnwagen gehört hat.«

»Der letzte auf der rechten Seite, sagen Sie? Der mit dem grünen Vorzelt und dem Sichtschutzzaun?«

»Von einem Zelt und einem Zaun ist leider nichts mehr übrig. Direkt hinter dem Wohnwagen standen ein paar Fichten, die leider auch verbrannt sind.«

Er hörte das Klicken eines Feuerzeugs und einen tiefen Atemzug.

»Dann ist es der von der Rosie«, sagte Frau Indenhock nach kurzem Überlegen. »Rosemarie Herold.«

Bei der Nennung des Namens zuckte Bodenstein zusammen.

»Rosemarie Herold aus Ruppertshain?«, vergewisserte er sich mit einem mulmigen Gefühl im Magen.

»Ja, genau«, erwiderte die Vorsitzende der Waldfreunde im Taunus und hustete wieder. »Ich kann Ihnen ihre Adresse und Telefonnummer geben.«

»Nicht nötig«, sagte Bodenstein. »Ich kenne Frau Herold.«

Frau Indenhock sagte noch irgendetwas, aber Bodenstein hörte nicht mehr richtig zu. In all den Jahren, in denen er Mordermittler bei der Kriminalpolizei war, hatte er zum Glück noch nie im Fall eines getöteten Bekannten ermitteln müssen. Sollte dies nun etwa eine traurige Premiere werden? Rosemarie Herold war die Mutter von Edgar, einem von Bodensteins Klassenkameraden aus der Grundschule, darüber hinaus war sie in jungen Jahren als Haushaltshilfe Bodensteins Mutter zur Hand gegangen. Seit Generationen hatten Männer und Frauen aus Ruppertshain Arbeit auf dem nahe gelegenen Gutshof, den Ländereien und in den Wäldern der Familie von Bodenstein gefunden, denn es hatte früher nicht viele Alternativen gegeben. Ruppertshain war ein armes Dorf gewesen, bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Lungenheilstätte erbaut worden war und sich zum wichtigsten Arbeitgeber etabliert hatte.

Nach der vierten Klasse waren Bodenstein und seine Geschwister auf Gymnasien in Königstein gewechselt, statt auf die Gesamtschule nach Fischbach, wie die meisten anderen Kinder aus Ruppertshain. Trotzdem waren sie dem kleinen Ort verbunden geblieben: Bodensteins Vater war über Jahrzehnte hinweg Jagdpächter in den umliegenden Wäldern und Feldern gewesen, seine Mutter hatte sich in Kirche und Kindergarten engagiert. Insofern hatte sich sein Umzug nach Ruppertshain vor nunmehr drei Jahren wie eine Heimkehr angefühlt.

Am Zauberberg bog er rechts ab und nahm die scharfe Kurve, die nach Ruppertshain hineinführte. Bevor er an den Schauplatz des nächtlichen Brandes zurückkehrte, wollte er beim Bäcker Frühstück für seine Leute holen, außerdem brauchte er selbst dringend eine Dosis Koffein. Fünfhundert Meter weiter setzte er den Blinker und wollte schwungvoll auf den kleinen Parkplatz der Gaststätte »Zum Grünen Wald« einbiegen, dabei hätte er um ein Haar einen Geländewagen gerammt, dessen Fahrerin dasselbe vorhatte. Erschrocken trat er auf die Bremse. Erst dann erkannte er die Frau hinter dem Steuer des Geländewagens.

***

Auf dem Forstweg hinter dem rostigen Maschendrahtzaun, der die Waldlichtung umgab, war ein Fernsehteam in Position gegangen. Die Kamerafrau versuchte, möglichst spektakuläre Bilder einer menschlichen Tragödie für ihren Sender einzufangen. Weitere Vertreter der Presse waren bereits auf dem Weg. Sie waren an den Schauplätzen von Verbrechen so unvermeidlich wie Fliegen.

»Woher wissen die bloß schon, dass es hier was zu sehen gibt?«, wunderte sich Tariq.

»Polizeifunk«, erwiderte Pia knapp. Sie hatte zwei Streifenbeamte zu den Presseleuten geschickt, damit keiner von ihnen auf die Idee kam, über den Zaun zu klettern, dann steuerte sie auf den Förster zu. Wieland Kapteina lauschte mit ausdrucksloser Miene einer pummeligen jungen Frau, die ziemlich aufgebracht zu sein schien.

»… kann es echt nicht fassen!«, hörte Pia sie voller Empörung sagen, als sie näher kam. »Jemand hat einfach den Lockstock herausgerissen und sogar mitgenommen! Das ist doch Sabotage!«

»Was ist Sabotage?«, erkundigte Pia sich.

Die junge Frau flog herum und starrte Pia erbost an. Sie war klein und stämmig, höchstens Anfang bis Mitte zwanzig. Obwohl es alles andere als warm war, trug sie nur ein enganliegendes weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Die gefleckte Tarnhose, bis zu den Knien hochgekrempelt, ließ muskulöse Waden sehen, ihre Füße steckten in derben Wanderstiefeln.

»Das, was diese Penner mit unseren Lockstöcken machen!«, stieß sie hervor, bebend vor Zorn. Sie fuhr mit dem Daumen unter den Rand ihres T-Shirts und richtete mit einem Ruck ihren BH. Es war eine unbewusste Bewegung ohne jede Koketterie, die Tariq prompt die Röte ins Gesicht trieb.

»Wer macht mit was etwas?«, fragte Pia.

»Mit den Lockstöcken«, wiederholte die junge Frau nun geringschätzig und rollte die Augen, als habe sie es mit einem Kleinkind zu tun. Sie hatte bemerkenswert leuchtend grüne Augen, umkränzt von dichten Wimpern, ein hübsches Gesicht mit einer Stupsnase und eine makellos blasse Haut, typisch für echte Rothaarige. Alles an ihr wirkte prall und weich wie ein reifer Pfirsich: die vollen Wangen, der Ansatz eines Doppelkinns und die gerundeten Schultern. Ihr kupferrotes Haar hatte sie zu einem strengen Knoten auf dem Kopf zusammengebunden und ihren Mund mit den vollen Lippen missbilligend verzogen.

Tariq bemühte sich, nicht auf ihre Brüste zu starren, aber es war schlicht unmöglich, sie zu übersehen.

»Das ist Pauline Reichenbach«, mischte sich Wieland Kapteina ein. »Sie arbeitet ehrenamtlich für den Naturschutzbund und betreut ein Nachweisprojekt für Wildkatzen im Taunus. Es handelt sich dabei um eine Kooperation von mehreren Naturschutzverbänden, der unteren Naturschutzbehörde und dem Senckenberg-Institut für Wildtiergenetik.«

»Für das Monitoring haben wir an verschiedenen Stellen Wildkameras aufgestellt«, sprudelte es nun aus Pauline heraus. »Natürlich kommen die Katzen nicht einfach so vorbeigelatscht und gucken – kuckuck! – in die Kameras, deshalb stellen wir sogenannte Lockfallen auf, die mit einem für Wildkatzen attraktiven Duftstoff präpariert sind. Können Sie mir folgen?«

»Ja. Ich denke schon.« Pia nickte. Ein Gedanke flackerte in ihrem Hinterkopf auf.

»Ist das denn so tragisch, wenn einer von den Stöcken verschwindet?«, wollte Tariq von der jungen Frau wissen.

»Hallo? Wissen Sie, was so ein beschissener Lockstock kostet?«, explodierte Pauline und stemmte die Hände in die molligen Hüften. »Und wissen Sie, was es für ein Akt ist, die Stöcke anzubringen? Wir machen das alles ehrenamtlich, in unserer Freizeit! Und ganz abgesehen davon, könnte letzte Nacht eine Katze da gewesen sein, und wir haben sie verpasst!«

»Ach, die wird schon wieder mal vorbeikommen.« Tariq schlug einen gönnerhaften Tonfall an, der die junge Frau auf hundertachtzig brachte. In diesem Moment gelang es Pia, den Gedanken, der ihr durch den Kopf geschossen war, festzuhalten.

»Beruhigen Sie sich«, beschwichtigte sie Pauline. »Wo befinden sich die Wildkameras? Und wie viele gibt es?«

»Drei. Eine steht etwa hundertfünfzig Meter unterhalb der Lichtung, die zweite am Eichkopf und die dritte in der Nähe vom Landsgraben.« Pauline Reichenbachs Miene wurde misstrauisch. »Wieso wollen Sie das wissen? Wer sind Sie überhaupt?«

»Mein Name ist Pia Sander von der Kriminalpolizei Hofheim. Das ist mein Kollege Tariq Omari. Heute Nacht hat es hier einen Brand gegeben, bei dem ein Mensch ums Leben gekommen ist.«

Die junge Frau schien erst jetzt zu begreifen, was die Polizeibeamten, die Techniker in den weißen Overalls, das Feuerwehrauto und die rotweißen Absperrbänder, die mittlerweile rings um die Wiese gespannt waren, zu bedeuten hatten.

»Oh, ich wusste nicht … ich dachte, da wär nur ein Wohnwagen abgefackelt.« Sie machte ein betretenes Gesicht. »Das … äh … ist ja ziemlich blöd.«

»Es würde uns interessieren, ob die Kamera hier in der Nähe heute Nacht vielleicht etwas aufgezeichnet hat, was für uns hilfreich sein könnte«, sagte Pia zu der jungen Frau. »Ist es möglich, dass Sie das checken?«

»Ja. Ähm … klar. Logo.« Pauline schien sich zu schämen, weil sie ein solches Theater gemacht hatte. Sie ging zu ihrem Auto hinüber, einem alten, von Rostflecken übersäten Toyota, fischte einen Tablet-Computer vom Beifahrersitz und platzierte ihn auf der Motorhaube. Mit konzentrierter Miene, die Zungenspitze zwischen den Zähnen, wischte sie auf dem Touchscreen hin und her.

»Kamera 14 hat letzte Nacht um 3:07 Uhr tatsächlich etwas aufgezeichnet! Und zwar kein Tier!«, verkündete sie aufgeregt. Ihre Augen weiteten sich. Ihre blasse Hand mit schwarz lackierten Fingernägeln fuhr zum Mund. »Oh, shit!«

»Was ist? Darf ich mal sehen?« Pia trat neben sie und beugte sich über das Tablet. Die Wildtierkamera arbeitete mit Infrarot, deshalb war der Film grobkörnig und leicht unscharf, aber das, was er zeigte, war zweifellos eine erste Spur.

***

»Hallo, Inka«, sagte Bodenstein zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin, die auf dem Parkplatz des »Grünen Wald« gegenüber der Bäckerei stand. Obwohl Inka die Schwiegermutter seines Sohnes Lorenz war und ihr die Pferdeklinik unten im Tal gehörte, war es eine Weile her, seitdem er mit ihr gesprochen hatte. Auch Inka legte keinen gesteigerten Wert auf Begegnungen mit ihm und blieb daher allen Familienfesten fern, es sei denn, es war klar, dass er nicht kommen würde.

»Hallo«, erwiderte sie kühl. »Wie geht’s?«

Das war eine bloße Floskel. Er bezweifelte, dass es sie interessierte, wie es ihm ging.

»Gut«, erwiderte er. »Und dir?«

»Bestens.« In ihr kinnlanges naturblondes Haar mischte sich erstes Grau. Sie war immer sehr schlank gewesen, aber jetzt wirkte sie auf eine unvorteilhafte Weise ausgezehrt. Bodenstein bemerkte Falten an ihrem Hals und erschrak.

›Sie wird alt‹, schoss es ihm durch den Kopf, und im nächsten Moment korrigierte er sich selbst: ›Wir werden alt.‹ Inka war schließlich nur drei Monate jünger als er. Sie blickten sich einen Moment an, wussten beide nicht, was sie sagen sollten. Das Klingeln von Inkas Handy erlöste sie aus der unbehaglichen Situation.

»Da muss ich drangehen«, sagte sie nach einem kurzen Blick aufs Display.

»Ich muss auch los«, entgegnete er. Sie nickten sich zu, er überquerte die Straße, und sie setzte sich wieder in ihr Auto.

Das war also alles, was übrig geblieben war von ihrer langen Freundschaft, nach mehr als vierzig Jahren: verlegenes Schweigen, alberne Floskeln und ein leiser Groll. Bodenstein seufzte, stieg die beiden Treppenstufen hoch und betrat die Bäckerei. Eine altmodische Glocke bimmelte, der appetitliche Hefeduft warmen Brotes strömte ihm entgegen. Falls Inka auch vorgehabt hatte, zum Bäcker zu gehen, so hatte sie es sich nun anders überlegt. Sie fuhr vom Parkplatz und am Bäckerladen vorbei, ohne ihm noch einen Blick zuzuwerfen.

»Ei, gude Morsche!«, begrüßte ihn Sylvia Pokorny, die Frau des Bäckers, freundlich. »Dich hab ich ja lang net mehr gesehe. Was darf’s denn sein?«

»Ein Kaffee, bitte. Schwarz«, sagte Bodenstein. »Und zehn belegte Brötchen und zehn Kaffee zum Mitnehmen.«

»Na, du hast’s ja gut vor.« Sie zwinkerte ihm zu und wandte sich zu dem chromblitzenden Kaffeeautomaten um. »Haste schon geheert, dass die Stadt vorhat, e neu Straß’ zu baue? Von hier aus bis nunner in die Erle. Weesche der Erschließung für des Baugebiet. Damit geht’s doch ebe los.«

»Ach ja?«, machte Bodenstein nur. Er hatte im Augenblick kein Ohr für die städteplanerischen Spekulationen der Bäckersfrau. Die Information, die er gerade von der Waldfreunde-Chefin bekommen hatte, war ihm an die Nieren gegangen. Was, wenn es sich bei der verkohlten Leiche im Wohnwagen um Rosie Herold handelte? Er hatte im Laufe der Jahre viel zu häufig Menschen die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen müssen und hasste die Vorstellung, dies bei einem Bekannten tun zu müssen.

Sylvia hatte die ganze Zeit weitergeredet, und Bodenstein schaltete sein Gehirn wieder auf Empfang, als sie seinen Kaffee auf den Tresen stellte.

»Sag emol, stimmt des, was die Leut’ saache?« Die Frage klang beiläufig, aber das wissbegierige Funkeln in ihren leicht hervorstehenden Augen war nicht zu übersehen. »Obbe beim Waldfreundehaus soll’s die letzt’ Nacht gebrennt habbe? Dem Kuhne-Michel sei Bub, der is doch bei der Feuerwehr. Und der hat’s vonnem Kolleesch aus Königstein geheert.«

Es hatte wenig Sinn, irgendetwas abzustreiten, das wusste Bodenstein, denn spätestens morgen würde es ohnehin in allen Zeitungen und im Internet stehen.

»Ja, das stimmt«, erwiderte er deshalb. »Ich war vorhin da.«

»Jesses, naa!« Sylvia Pokorny riss die Augen noch ein bisschen weiter auf und hielt inne. »Ich hab aach geheert, es hätt ’n Tote gebbe.«

Bodenstein hob nur die Schultern und wünschte, Sylvia würde sich etwas beeilen. Doch er war gerade der einzige Kunde im Laden, und sie schien fest entschlossen, mehr von ihm zu erfahren.

»Ei, komm schon! Mir kannste’s ruhisch verrate, isch kann schweische wie ’n Grab.«

Bodenstein musste schmunzeln. Wenn ein Mensch auf der Welt ganz sicher nicht wie ein Grab schweigen konnte, dann Sylvia Pokorny. Nicht umsonst galt die Bäckerei als die Nachrichtenbörse des Ortes. Wollte man etwas über aktuelle Gerüchte, Skandale und Sensationen erfahren, dann musste man nur hierherkommen. Obwohl er in Ruppertshain wohnte, hatte Bodenstein nur wenig mit den Leuten im Ort zu tun. Er war keiner, der abends in einer Kneipe am Tresen saß und sich bei ein paar Bierchen den neuesten Dorfklatsch anhörte.

Als sie merkte, dass sich Bodenstein nichts entlocken ließ, begann Sylvia damit, den Kaffee in Pappbecher zu zapfen. Das Rattern des Mahlwerks machte ein Gespräch glücklicherweise unmöglich. Sylvias Mann kam mit einem Backblech in den Händen aus der Backstube in den Laden.

»Ei, Oliver«, brummte er.

»Grüß dich, Konni«, erwiderte Bodenstein.

Konstantin Pokorny war schon als Junge vierschrötig und maulfaul gewesen, mittlerweile war er so dick, dass er nur noch mit Müh und Not durch die Tür passte, die von der Backstube in den Laden führte.

»Na, biste widder am dumm Zeug schwätze?«, sagte er zu seiner Frau und kippte die noch dampfenden Brötchen in einen der Körbe in der Auslage. Die Glasscheibe der Theke beschlug von innen, und der Duft ließ Bodensteins leeren Magen knurren.

»Ei, isch interessier’ misch halt für des, was hier so passiert«, erwiderte seine Frau spitz. »Im Geeschesatz zu dir.«

»Du interessierst dich doch genug für zwei«, schnaufte Pokorny und fuhr sich mit einem fleischigen Unterarm über die Stirn. Die karierte Bäckerhose hing unter seinem Schmerbauch, das schweißfleckige T-Shirt war ein Stück hochgerutscht und ließ eine Handbreit behaarter Haut sehen.

»Kannste dir net emol e Schörz’ vorbinne, wenn de in den Lade kimmst?« Sylvia Pokorny warf ihrem Göttergatten einen missbilligenden Blick zu.

»Der Oli hat misch früher aach scho innere Unnerhos’ gesehe«, erwiderte der unbeeindruckt. »Gell? Is doch so!«

Er lachte dröhnend.

»Da warste abber aach noch ’n bissi knackischer.« Sylvia hatte den Kaffee fertig, steckte die Becher auf ein Papptablett und stellte sie neben die Papiertüten mit den Brötchen auf die Theke.

»En scheene Mensche kann nix entstelle.« Pokorny grinste gutmütig, zwinkerte Bodenstein zu und verschwand wieder durch die Schwingtür in die Backstube.

»Was kriegst du von mir?«, wollte Bodenstein wissen und zückte seine Brieftasche. Die Türglocke bimmelte. Zwei Frauen und ein grauhaariger Mann betraten den Laden: Annemarie Keller, weit über achtzig, mit einem scharfen Habichtblick, den auch das Alter nicht getrübt hatte, ihr Sohn Leo und deren Nachbarin Elfriede Roos, dick, rotgesichtig und kurzatmig. Bodenstein grüßte höflich. Die beiden Frauen scannten ihn neugierig von Kopf bis Fuß, Leo blieb neben der Tür stehen und starrte auf den Fußboden. Vor vielen Jahren war er ein sportlicher junger Mann gewesen, doch ein schwerer Unfall hatte ihn zu einem Invaliden gemacht, der mit sechzig Jahren noch immer bei seiner Mutter lebte und als Hilfsarbeiter bei der Stadt arbeitete.

»Hallo, Leo«, sagte Bodenstein zu ihm.

»Ha … hallo«, stammelte Leo, ohne den Blick vom Fußboden zu wenden. Sein Mund zuckte unkontrolliert, Speichel sickerte aus einem Mundwinkel. Ein bedauernswerter Anblick.

Sylvia wartete ungeduldig darauf, dass Bodenstein endlich verschwand, damit sie die Neuigkeit vom Brand am Waldfreundehaus zum Besten geben und gleichzeitig etwas ausschmücken konnte. Im Nu würde die Geschichte die Runde im Ort machen, und Spekulationen nach sich ziehen. Bodenstein musste zurück an den Schauplatz des Brandes, um in Erfahrung zu bringen, was Kirchhoff über das Geschlecht und Alter des Opfers in Erfahrung gebracht hatte. Handelte es sich bei der Leiche nicht um Rosie Herold selbst, so musste er dringend mit ihr sprechen, bevor der Dorfklatsch bei ihr angekommen war.

»Fuffzehn siebzisch.«

»Gib mir drei zurück.« Er legte einen Zwanzig-Euro-Schein auf den Tresen, nahm das Wechselgeld und ergriff Tüten und Tablett.

»Na, was macht die Mutter?«, erkundigte sich die Keller-Annemie, wie immer, wenn er ihr begegnete, und hielt ihm die Tür auf. Früher hatten sie und ihr Mann ein Lebensmittelgeschäft in der Wiesenstraße betrieben, an das er sich bis heute erinnern konnte. Die übervollen Regale, die bis unter die Decke reichten, und das frische Obst waren für ihn der Inbegriff von purem Luxus gewesen. Besonders die Süßigkeiten an der Kasse hatten es ihm angetan, und Annemie Keller hatte allen Kindern immer einen Lutscher geschenkt, wenn sie nach der Schule in den Laden gekommen waren.

»Der geht’s gut, danke.« Bodensteins Antwort fiel so stereotyp aus wie immer. »Und dem Vater auch.«

Noch vor zwanzig Jahren hatte es in dem kleinen Ort eine ganze Reihe von Geschäften gegeben: zwei Metzgereien, zwei Bäckereien, eine Bankfiliale, eine Tankstelle mit Reparaturwerkstatt, einen Kurzwaren- und einen Lebensmittelladen, vier Gaststätten, ein Café und einiges mehr. Doch seitdem die meisten Leute mit dem Auto unterwegs waren und bequem in den Supermärkten der Nachbarorte einkaufen konnten, war der Einzelhandel im Dorf nach und nach ausgestorben. Übrig waren nur noch die Bäckerei Pokorny und die Metzgerei Hartmann. Bodenstein trat hinaus auf den schmalen Bürgersteig, der durch Oma Kellers Rollator blockiert wurde, und wartete, bis die Straße, die an dieser Stelle einen Knick machte, frei war. Zwei Mal am Tag herrschte in Ruppertshain relativ viel Verkehr, nämlich morgens zwischen halb acht und halb zehn, wenn Eltern ihre Kinder in die Schule nach Eppenhain und die Berufstätigen zur Arbeit fuhren, und abends zwischen siebzehn und neunzehn Uhr, wenn die Leute von der Arbeit zurückkamen. Ein älterer, weißhaariger Mann ging auf der anderen Seite den Bürgersteig entlang.

»Hallo, Herr Pfarrer!«, rief Bodenstein.

Der Mann hob den Kopf, starrte ihn an und blieb stehen.

»Oliver«, sagte er.

Unvermittelt, ohne vorher nach rechts oder links zu schauen, betrat er die Fahrbahn. Den Bus, der gerade um die Ecke bog, schien er gar nicht wahrzunehmen. Bodenstein wurde vor Schreck heiß.

»Vorsicht!«, rief er erschrocken. »Stopp!«

Der Busfahrer trat heftig auf die Bremse, doch es war zu spät. Der dumpfe Schlag fuhr Bodenstein durch Mark und Bein, ein zweites Mal an diesem Tag raste sein Herz vor Schreck. Verschwommen nahm er erschrockene Gesichter hinter den Fenstern des Busses wahr, er hörte Reifen quietschen und Geschrei. Hinter ihm wurde die Glastür der Bäckerei aufgerissen, die Türglocke schrillte in seinen Ohren. Hastig legte er das Tablett mit dem Kaffee und die Brötchentüten auf den Rollator und quetschte sich zwischen den querstehenden Autos und dem Bus hindurch.

»Halt!«, sagte er scharf, und hielt die Bäckersfrau davon ab, über die Straße zu stürmen. »Hier stehen bleiben!«

Sein Gehirn war automatisch in den Polizistenmodus gewechselt, was die Angst vor dem entsetzlichen Anblick eines zerquetschten Körpers auf dem Asphalt vorübergehend ausgeschaltet hatte. Das Grauen würde ihn erst später heimsuchen. Nachts, in seinen Träumen.

***

Hinter dem rotweißen Flatterband schwärmten Beamte der Hundertschaft in einer langen Reihe über die Wiese, die Blicke konzentriert auf den Boden gerichtet. Andere waren damit beschäftigt, Presseleute und sogar einige Schaulustige, die sich bis hierher in den Wald verirrt hatten, auf Abstand zu halten. Henning Kirchhoff und Krögers Team arbeiteten unter Hochdruck am Autowrack, an der Leiche und den Resten des Wohnwagens, über denen man zum Schutz vor dem Regen ein Zelt errichtet hatte. Der Mantrailer von der Rettungshundestaffel Rhein-Main, eine belgische Schäferhündin mit Namen Leila, wartete in der Transportbox im Auto der Hundeführerin ungeduldig auf ihren Einsatz.

Bodenstein war noch immer nicht zurück, deshalb übernahm Pia es, den Staatsanwalt auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen. Dr. Jörg Heidenfeld war ein alter Bekannter, mit dem sie schon häufiger zusammengearbeitet hatte. Sie konnte sich noch an dessen allererste Obduktion erinnern. Damals hatte er sich übergeben müssen, als Professor Kronlage der toten Isabel Kerstner Herz und Lunge entnommen hatte. Aber das war neun Jahre her, und mittlerweile war Heidenfeld nicht mehr so leicht zu erschüttern. Alles Forsche und Jungenhafte war längst aus seinen Gesichtszügen verschwunden, ebenso die Neugier aus seinen Augen. Das war das, was die tägliche Konfrontation mit menschlichen Abgründen mit einem machte. Jedes der vielen Opfer, jede Begegnung mit den Tätern, jede Niederlage vor Gericht raubte ein Stückchen der Illusion, mit der sie alle einmal angetreten waren, egal ob Polizist oder Staatsanwalt.

»Mordbrand oder Brandmord?«, erkundigte er sich.

»Das können wir wohl erst nach der Obduktion beurteilen«, antwortete Pia.

»Sehe ich das richtig, dass sich der Täter bei der Brandlegung verletzt hat und in den Wald geflüchtet ist?« Der Staatsanwalt legte die Stirn in Falten.

»Nicht unbedingt.« Pia schüttelte den Kopf. »Die Zeugin hat zuerst ein Auto wegfahren hören, und erst danach will sie die Umrisse einer Person vor dem Feuer gesehen haben. Eine Infrarot-Wildkamera hat unterhalb der Lichtung um 3:07 Uhr eine Gestalt aufgezeichnet, und es ist gut zu erkennen, dass es sich dabei um einen Mann handelt. Wir haben Blutspuren gefunden, er ist also wahrscheinlich verletzt. Er hat ein etwa ein Meter dreißig langes Vierkantholz, das mit einem Lockstoff präpariert und eigentlich zum Anlocken von Wildkatzen gedacht ist, aus dem Boden gerissen und mitgenommen.«

»Wozu das?«

»Vielleicht, um sich darauf zu stützen«, vermutete Pia. »Oder als Waffe. Keine Ahnung.«

Weiter unten auf der Wiese schienen die Beamten von der Hundertschaft auf irgendetwas Interessantes gestoßen zu sein. Eine Polizistin kam angetrabt und richtete ein wenig atemlos aus, man habe an einem der anderen Wohnwagen Einbruchs- und Blutspuren gefunden. Pia, Tariq Omari und Staatsanwalt Heidenfeld folgten der jungen Frau vorbei an den Wohnwagen bis zum letzten in der Reihe, der unter den weitausladenden Ästen mehrerer Tannen stand. Vor langer Zeit hatte sich hier jemand viel Arbeit gemacht: Ein maroder Jägerzaun zog sich rings um den Wohnwagen, und man hatte eine Art Veranda in pseudo-bayerischem Stil angelegt. Allerdings wirkte alles vernachlässigt, überall lag Unrat herum. Leere Blumentöpfe, ein verrosteter Grill, ein kaputtes Vogelhäuschen, beschädigte Gartenzwerge und allerhand alter Plunder türmte sich auf und neben der morschen Veranda, bedeckt von einer dicken Schicht Tannennadeln. Der Hundertschaftsleiter, Polizeihauptkommissar Ewald Fritsche, und zwei seiner Gruppenführer warteten vor der Treppe. Fritsche begrüßte Pia und den Staatsanwalt mit einem Kopfnicken. Er war Mitte fünfzig, ein erfahrener Polizist mit einem kantigen, geröteten Gesicht und militärisch kurzem Haarschnitt. Sein Ruf als Ausbilder und Scharfschütze war legendär.


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