Dienstag, 7. Oktober 2014

»Danke fürs Mitnehmen.«

»Alles klar.« Der Mann nickte gleichgültig, setzte schon den Blinker, um sich wieder in den Verkehr einzufädeln, und blickte in den Außenspiegel. »Ciao!«

»Ciao!« Er kletterte aus dem Lieferwagen, zerrte seinen Rucksack aus dem Fußraum und schlug die Tür zu. Glück gehabt, dass der Typ angehalten hatte. Es zog sich nämlich ganz schön, den Berg hoch von Königstein bis zur Billtalhöhe, und er wollte vor Einbruch der Dunkelheit im Wohnwagen sein. Von den Pendlern, die aus Frankfurt in den Hintertaunus fuhren, nahm keiner einen Tramper mit, erst recht keinen Langhaarigen, der aussah wie ein Penner. So was täte sein Vater auch niemals. Der Lieferwagen tauchte in den Verkehrsstrom ein, und er wartete am Straßenrand, bis er endlich die Straße überqueren konnte.

Von hier aus waren es noch knapp anderthalb Kilometer Fußmarsch, dann hatte er sein Ziel erreicht, den Campingplatz am Waldfreundehaus. In den drei Monaten im Jugendknast hatte er jede Nacht vom Wald geträumt. Von Bäumen, die bis in den Himmel wuchsen, vom lehmigen Duft feuchter Erde, vom dämmerigen Licht und den Geräuschen. Er liebte den Wald, seitdem er denken konnte. Seine Schwester hatte immer Schiss gehabt, aber er mochte es, wenn sich die Bäume über ihm schlossen. Nur dann fühlte er sich geborgen. Vielleicht sollte er ja Förster werden. Oder Waldarbeiter, so lange, bis er das Abi nachgeholt hatte. Denn das hatte er vor.

Auf der linken Seite der Schotterstraße tauchten mehrere Weiher auf, die dem Angelsportverein gehörten. Zwischen Tannen und Fichten standen vereinzelte Laubbäume, deren Blätter sich schon herbstlich verfärbten. Als sich ein Auto näherte, verbarg er sich hinter dem Stamm einer mächtigen Buche. Niemand sollte ihn sehen. Im Laufe der Zeit hatte er gelernt, sich unsichtbar zu machen. Es dämmerte schon, als er endlich die große Waldwiese erreichte. Um nicht an der Ausflugsgaststätte vorbeigehen zu müssen, schlug er sich ein Stück durchs Unterholz, bog den rostigen Maschendrahtzaun herunter, der den Campingplatz umgab, und kletterte darüber. Dann setzte er sich unter einen Baum und wartete. Von seinem Platz aus hatte er einen ungehinderten Blick auf die Wohnwagen, die in einer großen Runde rings um die Wiese am Waldrand standen. Die meisten waren seit Jahren nicht mehr bewegt worden. Ihre Besitzer nutzten den Campingplatz zur Sommerfrische oder an den Wochenenden. Manchen der Wagen sah man allerdings an, dass sie schon sehr lange unbenutzt waren. In einem von ihnen wollte er die nächsten Tage unterkommen, bis er den Entzug hinter sich hatte.

Heute war Tag vier seiner neuen Zeitrechnung. Der Zeit ohne Drogen. Diese ersten vier Tage eines kalten Entzugs waren die schlimmsten, das wusste er, denn es war nicht der erste, den er machte. Im Knast hatte er schon dasselbe erlebt, aber danach hatte es keine Woche gedauert, bis er wieder voll drauf gewesen war. Diesmal wollte er es wirklich durchziehen. Er wollte weg von der ewigen Jagd nach dem Zeug, das sein ganzes Leben bestimmte. Endgültig. Das hatte er Nike versprochen. Und seinem Kind, das in ein paar Wochen zur Welt kommen sollte. Ein Junge würde es werden, Nike hatte es ihm auf dem Ultraschallbild gezeigt. Und dann hatte sie ihm gesagt, dass er nicht mehr wiederzukommen bräuchte, solange er nicht clean sei. Sie hatte dabei geweint, und er auch.

In dem Augenblick hatte er sich vorgenommen, es zu schaffen. Er wollte seinem Sohn ein Vater sein, ein guter Vater. Kein Junkie, der nur den nächsten Schuss im Kopf hatte und für den sein Sohn sich schämen musste. Vor allen Dingen aber wollte er ein besserer Vater sein, als seiner es für ihn gewesen war.

Die ersten drei Tage, die schlimmsten, hatte er in einem leerstehenden Haus in Bockenheim verbracht. Stöhnend hatte er sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Der kalte Schweiß hatte widerlich nach dem Gift gestunken, das eine solche Macht über seinen Körper und seinen Geist hatte. Das ganze Zimmer hatte danach gerochen und nach Kotze und Urin. Vielleicht war es genau das, was er gebraucht hatte. Dieses Gefühl, das letzte Stück Dreck zu sein.

Er wartete, bis am späten Abend die Lichter im Wohnhaus neben der Gaststätte erloschen waren. In einem einzigen Wohnwagen auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese brannte Licht, sonst war alles dunkel. Er hatte sich für den Wagen ganz am Ende der Kolonie entschieden. Die morschen Holzstufen der Veranda, die rings um den Wohnwagen führte, knarrten unter seinen Füßen. Das Schloss an der Tür war ein Witz. Er brauchte keine Minute, um es zu knacken. Drinnen roch es muffig und nach Schimmel, aber das war ihm egal. Mit dem Feuerzeug leuchtete er das Innere des Wohnwagens aus, das erstaunlich geräumig war. Natürlich alles im spießigen Fünfziger-Jahre-Look. Aber es gab ein Bett mit Kissen und Decken und ein Campingklo. Zu seiner Freude fand er mehrere Sixpacks mit Mineralwasser auf der Arbeitsfläche der Küchenzeile, im Hängeschrank Konservenbüchsen mit Ravioli und Thunfisch und Gläser mit eingemachtem Obst. Im abgeschalteten Kühlschrank, dessen Tür nur angelehnt war, lagen sogar noch sechs Dosen Bier. Hier konnte er es eine Weile aushalten. Er warf seinen Rucksack auf die Eckbank, streifte die Schuhe von den Füßen und ließ sich auf das Bett fallen. Noch zwei, drei Tage, dann konnte er Nike sagen, dass er clean war.

»Du wirst sehen, Nike«, murmelte er. »Alles wird gut.«

Minuten später war er tief und fest eingeschlafen.