Prolog

31. August 1972

Ich will das nicht tun. Aber ich muss. Ich habe keine andere Wahl. Ich kann nicht zulassen, dass er mir alles zerstört. Und genau das wird passieren, und zwar schon bald. Er wird irgendjemandem das erzählen, was er mir erzählt hat, vielleicht sogar der Polizei, die noch immer überall nach dem Russenkind sucht und jeden im Dorf ausfragt. Man wird ihm glauben, so, wie ich ihm geglaubt habe. Es wird sich herumsprechen und das ganze Dorf wird es erfahren. Sie werden schockiert tun und mitleidig, aber hinter meinem Rücken werden sie über mich lachen, weil ich so naiv bin. Ich kann schon hören, wie sie tratschen. Ich kann mir genau vorstellen, wie sie verstummen, sobald ich irgendwo auftauche. Bevor das geschieht, muss ich handeln. Ich muss einfach.

Die ganze Nacht über habe ich mir den Kopf zerbrochen. Jetzt habe ich einen Plan. Es ist ziemlich praktisch, dass mich alle für etwas dumm halten. Niemand würde mir so etwas zutrauen. Nicht mir.

Ich laufe durch die Obstwiesen, auch wenn die Strecke etwas weiter ist. Falls mir jemand begegnet, kann ich behaupten, ich wollte ein paar Äpfel lesen. Die Sonne ist eine bleiche Scheibe am Himmel. Beim Laufen kleben meine Oberschenkel aneinander, so schrecklich heiß ist es. Kein Lüftchen geht. Seit Tagen hat es keinen Tropfen mehr geregnet, doch heute wird es ein Gewitter geben. Die Schwalben fliegen ganz tief und die Luft ist elektrisch aufgeladen.

Endlich habe ich den Wald erreicht. Die Schatten der Bäume spenden kaum Kühle. Es ist unnatürlich still. Der Wald scheint den Atem anzuhalten. Vielleicht ahnt er, was ich vorhabe. Zwischen hohen Fichten steht seine Hütte. Er hat sie selbst ausgebaut, und ich habe ihm oft dabei geholfen. Ich kenne jeden Winkel, und manchmal wünschte ich, es wäre anders gekommen.

Am liebsten würde ich wieder umkehren, aber ich kann nicht. Ich muss es tun, sonst wird er mir die Chance zerstören, endlich von meiner Familie wegzukommen. Die Oberfläche des kleinen Tümpels, den wir letzten Sommer zusammen gegraben und in den wir Kaulquappen gesetzt haben, schimmert wie schwarzes Glas. Mein Herz pocht, als ich an die Tür der Hütte klopfe. Ein paar Sekunden hoffe und fürchte ich, dass er nicht da ist. Aber dann geht die Tür auf. Er trägt nur eine Jeans, sein Oberkörper ist nackt und sein Haar noch feucht. Sein Blick streift mein Gesicht, ein ungläubiges Lächeln schleicht sich in seine Mundwinkel. Er hat nicht mit mir gerechnet. Natürlich nicht. Nach allem, was ich vorgestern zu ihm gesagt habe.

»Hey, das ist ja schön!«, sagt er und seine Augen leuchten. »Warte, ich zieh mir schnell was über.«

Er ist so anständig. Trotzdem hasse ich ihn, weil er mich festhalten will, hier, in diesem Leben, das ich nicht mehr will. Er streift sich ein T-Shirt über.

»Willst du reinkommen?«, fragt er. Er ist ein bisschen unsicher.

»Klar. Wenn du mich rein lässt …« Ich lächele, obwohl ich lieber weglaufen würde. Mir ist übel. Die Hütte besteht nur aus einem Raum. Er klaubt ein paar Klamotten zusammen, wirft sie auf einen Stuhl. Mein Blick fällt auf die Schlafcouch, die ordentlich gemacht ist.

»Setz dich doch.« Er ist aufgeregt, glaubt, hofft, ich sei gekommen, um ihm zu sagen, dass ich über alles nachgedacht habe und zu ihm zurückkehre. Trotz allem. »Willst du was trinken? Ich hab Coca-Cola da.«

»Nein, danke«, sage ich.

»Du … du siehst sehr hübsch aus«, sagt er verlegen. »Das Kleid steht dir echt gut.«

»Danke.« Ich muss mich beeilen. Nicht dass die Kinder mich hier überraschen. Ich schmiege mich an ihn. Er riecht nach Duschgel und Shampoo, und ich schließe die Augen, weil mir die Tränen kommen. Ach, wenn es doch nur eine andere Lösung gäbe!

»Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe«, murmele ich.

»Und mir tut’s leid, dass ich dir gedroht habe.« Seine Stimme ist ganz nah an meinem Ohr. »Aber ich musste es dir doch sagen. Immerhin war es dein …«

»Nicht! Bitte! Ich weiß ja, dass du es nur gut meinst.«

Und trotzdem lasse ich mir mein Glück nicht von dir kaputtmachen, denke ich. Nicht von dir, und auch von keinem anderen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine echte Chance.

Sein Atem streichelt mein Gesicht, ich berühre seine Wange, seinen Nacken. Alles an ihm ist so vertraut.

Geh!, schreit die Stimme in meinem Kopf. Geh einfach weg und lass ihn in Ruhe!

Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Er ist völlig arglos.

»Ach, ich habe dich so sehr vermisst.« Ich spüre seine Lippen weich und zärtlich in meinem Haar.

Jetzt, denke ich. Lieber Gott im Himmel, verzeih mir!

Er begreift nicht, was mit ihm geschieht. Guckt mich nur ungläubig an. Und dann ist alles vorbei.

Fünf Minuten später atme ich die warme Luft, den Duft von Harz und Sommer und Fichtennadeln. Meine Knie sind weich wie Pudding. Ich wollte das nicht tun. Aber ich musste. Er hat uns keine Wahl gelassen.