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»Die Welt ist voller Geheimnisse. Wenn ich älter bin, werde ich sie ergründen.«

Ein folgenschwerer Tag ist jener 15. Juni 1919 für Esau Matt: Die Familie zieht um, von einem Niederlausitzer Heidedorf in ein anderes, nach Bossdom. »Brod-, Weissbäckerei, auch Colonialwarenhandlung« steht über dem Laden, den die Eltern mit nichts als Geborgtem erworben haben. Von nun an wird Esau Bäckersch Esau sein und bleiben, und der Laden wird tyrannisch in den Familienfrieden eingreifen.

Erwin Strittmatter

Der Laden

Roman

Erster Teil

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Für Günter Caspar

In Grauschteen, von wo wir herkommen, war alles anders, auch mit dem Kunsthonig war es anders: Jedem Haushalt wurde jede Woche eine Scheibe zugeteilt. Ich war fünf Jahre alt und durfte unsere Scheibe aus dem Dorfladen holen, und ich hielt meinen Daumen dabei so, daß eine Spur von der graugelben Masse an ihm kleben blieb, wenn die Krämerin sie mit dem Spatel auf den Teller klatschte. Den bekleckten Daumen durfte ich ablecken, aber ich durfte ihn unterwegs nicht in die Masse stippen, um mich zu laben. Gott sieht den Sünder, Gott sieht alles, sagte meine Mutter. Sünde und Unsünde hingen von einer Bewegung meines Daumens ab.

Ich versuchte Gott mit meinem Zeigefinger, stippte, leckte und lauschte. Alles blieb ruhig. Der Herr schien über mich kleinen Affen zu lächeln, doch am Nachmittag ließ er ein großes Gewitter auf Grauschteen los, und alle mußten leiden und sich fürchten, weil ich den Zeigefinger in den Kunsthonig gebohrt hatte.

Nun sind wir nach Bossdom gezogen, sind noch keine Stunde hier, und alles ist anders: Ein Junge wird von seiner Mutter Waldchen gerufen. Der Name gefällt mir nicht, in Grauschteen gab es ihn nicht.

Waldchen wirft Pappwürfel gegen die Stalltüren im Bäckereihof; die Pappwürfel platzen, weicher Kunsthonig quillt aus ihnen und kleckt am Holz herunter. Volltreffer! schreit Waldchen.

Was wird Gott dazu sagen?

Meine Großmutter, ein Anderthalbmeter-Mütterchen, ist wie eine Zwergin aus dem Märchen. Sie hat tiefliegende Augen und rote Oberbäckchen, ist gütig und listig und – eben die tiefliegenden Augen. Wenn etwas nicht so geht, wie es gehen soll, stellt sie sich ein und schiebt an. Sie kommt in den Hof und sagt zu dem Jungen, der Waldchen heißt: Was schmeißt du den Honig?

Kann ich! sagt der Junge.

Du vergeidest Gottes Gaben, sagt die Großmutter.

Es ist unser Honig, sagt Waldchen und wirft weiter.

Kinder, sagt die Großmutter listig: Geht auf die Straße, gleich wern se den Möbelwagen ausladen. Gott weiß, ob nicht der große Spiegel zerscherbt ist.

Wir gehn auf die Straße. Waldchen neugierig hinter uns drein. Wir sind noch neu in der Welt. Wir wollen wissen, wie Dinge entstehn; wir wollen wissen, wie Dinge vergehn. Wir wissen noch nicht, daß sich in Scherben und Wassertropfen die Welt spiegelt. Spiegel zerscherbt – sieben Jahre Pech! heißts.

Der Möbelwagen ist ein Haus auf Rädern; sein Dach ist gewölbt, an seiner Vorderseite, hoch über den Pferden, ein Sitz für vier Kutscher. Es sind Männer mit Bauerngesichtern und Lederschürzen, stämmig, gewaltig, krummbeinig, vom Lastentragen erdwärts gedrückt, und alle sind Sorben vom Lande, die in der Kleinstadt nach Glück fischen.

Die Räder des Möbelwagens sind athletisch. Ihre metallenen Reifen rieben sich an den Landstraßensteinen silberig; auch die Steine werden was von der Reibung gehabt haben, aber unsere Augen sind grob, sie sehen die Reibspuren auf den Straßensteinen nicht.

Vor dem Möbelwagen stehen sechs Belgierpferde, sie stehn in zwei Reihen und haben gespaltene Kruppen. Eine Hirschlaus krabbelt durch das Brusthaar eines Braunschimmels. Vielleicht fürchtet sie sich so wie ich, wenn ich durch eine finstere Waldschlucht muß?

Von den Flanken der Pferde steigt Dunst auf. Der Dunst ist wie mit Nadeln versetzt, und die Nadeln sticheln in meiner Nase.

Ammoniak, sagt die Mutter. Was hilfts? Es stichelt.

Die gelösten Zugstränge liegen über den Rücken der Gäule; sie klirren leise, wenn die Tiere atmen, und sie klirren laut, wenn die Pferde sich schütteln. Die Köpfe der Pferde stecken bis zu den Augen in Futterbeuteln, und die Tiere prusten in den Häcksel, um an die Haferkörner zu kommen. Sogleich nässen die Kutscher das Futter, gießen je einen Schwapp Wasser in die Freßsäcke, und Häcksel und Hafer sind nicht mehr zu trennen. Die Steppe, die Pferdeweide von einst, ist auf einen Raum, der in einem Futtersack Platz hat, zusammengedrängt.

Das schreibst du heute, sagt mein Sohn, aber hast dus damals so gesehen?

Ich habe es damals so gesehen, aber ich sagte es nicht; ich fürchtete mich vor dem Ausgelächter.

Einmal bewirtete mich die Vatermutter, von uns die Amerikanische genannt, mit Milchsuppe, und ich löffelte die Suppe langsam, weil sie einen Beigeschmack hatte.

Was mäkelst du?

Die Suppe schmeckt mir begierig, sagte ich, und da prasselte das grobe Gelächter der Amerikanischen auf mich nieder; und die Urgroßmutter und die Tante und die Magd – sie alle folterten mich mit ihrem Lachen.

Es war so, daß die Suppe nach Maschinen-Öl schmeckte, das aus der Milchzentrifuge getropft war. Und es war so, daß ich im Sommer den Dreschmaschinisten umlungerte, der nach Maschinen-Öl roch und von meinem Quarkbrot abbeißen wollte, und daß mein Stiefgroßvater sagte: Ein begieriger Kerl!

Viele Jahre meines Lebens gingen dahin, bis ich Mut genug beisammen hatte, das Hohngelächter der Dummköpfe und den Spott der Besserwisser für nichts zu achten, bis ich zu sagen und zu schreiben wagte, was ich sah, was ich fühlte, was ich dachte, und nicht, was ich hätte sehen, fühlen und denken sollen.

Die Möbelkutscher luden unseren Hausrat in Grauschteen ein, und sie entzogen ihm den Raum, den er im Kotten um sich gehabt hatte. Sie stellten die Stücke auf- und nebeneinander, preßten die Luft hinfort, die zwischen ihnen hin- und hergegangen war; sie schachtelten Tische und Schränke, Stühle und Bänke in das kleine Haus auf Rädern, und dort jappte das Gemöbel, wie mir schien, nach Luft.

Ich höre die Leute reden, und manche nennen das Haus, in das wir ziehen, eine Wirtschaft, andere nennen es ein Anwesen, aber ich benenne es nicht, weil ich erst hineinkriechen, mich einnisten und erproben muß, welche Spiele drin möglich sind.

Neben dem Haus, in das wir einziehen, stehn sieben Eichen. Die Deitsch-Nationalen reden von stolzen Eichen, sagt der Großvater. Er mag die Deutschnationalen nicht, weil er ein Sorbe ist; da mag auch ich sie nicht, die Deutschnationalen.

Wenn was Eigenschaftliches von den Eichen zu sagen ist: Sie sind, wie Eichen sein sollen: Wenn die Luft still ist, stiebt mir ihr beruhigendes Blätterrascheln Tag und Nacht in die Ohren; wenn Wind weht, schwillt das Rascheln zum Rauschen an, und der Sturm treibt das Rauschen zum Gebrüll auf.

Aber jetzt ist Juni, und es ist warm im Himmel und auf Erden, und es säuselt in den Eichenkronen; Kühle und Wärme treiben Tauschhändel miteinander, ziehen die Eichenblätter hinein, und es säuselt.

Unter diesen eichenhaften Eichen lagern am fünfzehnten Juni neunzehnhundertneunzehn Dorfkinder und Dorfleute. Wer von den Feldern hereinkommt, stellt Mistgabel, Harke oder sein Kuhgespann ab, setzt sich ins Gras oder bleibt, ein Auge auf die brummenden Kühe gerichtet, stehen, verfolgt den Einzug der neuen Leute und bestaunt den ersten Möbelwagen, dieses in der Stadt geborene rollende Haus, das nun hier in der Sandheide steht und nach der anstrengenden Tour zu dampfen scheint.

Die neuen Leute, das sind wir, und wir werden es so lange bleiben, bis unsere Vorgänger, die Tauers, fortziehen, und danach wird man uns die neuen Bäckersch nennen, und nach fünf Jahren werden wir die Bäckersch sein, doch die alten Bäckersch werden wir nie werden, und unseren Familiennamen werden wir nie wiederbekommen, weil wir nie fortziehen. Ich werde im Dorfe bis zu meinem Tode Bäckersch Esau heißen und werde unter diesem Namen in einem Kriege, den die lieben Deutschen sich nach fünfzehn Jahren mageren Friedens wieder ranschaffen, sterben und wieder auferstehen.

Ich beleidige drei dicke Pappeln und eine schlanke Esche, wenn ich sie nicht erwähne. Sie stehen seitab zur Feldmark hin, wo der Eichenhügel sich in eine kleine Mulde fallen läßt. Wie konnt ich die Pappeln vergessen! Aus ihrem Knospensekret werde ich später versuchen, Pomade zu gewinnen, weil der Duft des klebrigen Saftes dem der Haarsalbe ähnelt, die sich die Dorfburschen an Festtagen in ihre Tollen schmieren.

Ich setz mich abseits von den Dorfkindern ins struppige Gras, nutznieße den Schatten der Eichen, beobachte meine künftigen Spielgefährten und warte aufs Möbelausladen. Wird unser Küchentisch sich erschrecken, wenn er die vielen fremden Leute sieht? Der Ladentisch wird, denk ich, fromm sein; er ist von Grauschteen her an Leute gewöhnt wie ein Zirkuszebra.

Noch schneiden die Kutscher Würfel von ihren Klappstullen, schieben sie hinter die Zähne, spülen mit Bier nach und lassen ihre Gurgeln hüpfen, aber Zeitchen drauf erheben sie sich ächzend, klopfen sich die Brotkrümel von ihren Lederschürzen und füttern, ohne es zu ahnen, Straßen-Ameisen und Dorfspatzen. Sodann entriegeln sie die Möbelwagentüren, und ich, der ich mit den in Knappluft lebenden Möbeln fühlte, atme auf, und ich kann in den Wagen sehen wie in ein aufgeschlagenes Buch.

Ein kleiner Tisch poltert heraus, überschlägt sich und fällt auf die Dorf-Aue. An ihn habe ich am wenigsten gedacht. Der Muttervater hat ihn in einem Kriegswinter gebastelt und der Mutter zu Weihnachten geschenkt. Das Tischchen stammt aus der Familie der Heringstonnen; sein Fuß ist der gebeizte Boden, seine Platte der Deckel eines ehemaligen Heringsfasses. Boden und Platte sind durch drei Beine aus je fünfzehn leeren Garnrollen verbunden, durch deren Seelen Eisendrähte gezogen sind. Die Beine kreuzen sich in halber Tischhöhe und werden dort von einer blauen Haarschleife zusammengehalten. Die Tischplatte hat die Mutter, damit sie sich vom Tischfuß unterscheidet, mit einer gehäkelten Dreikantspitze versehen. Das Tischchen mit seinen Garnrollen-Beinen sieht aus wie ein Ding aus einem schlechten Traum, doch die Mutter hält es wert, weil es den Händen meines göttlichen Großvaters entsprang wie die Pallas Athene dem Kopfe des Zeus.

Mutters Großvaterverehrung teilte sich dem abscheulichen Tischchen mit. Es wurde hoffärtig, pochte während der Fahrt im Wagen auf sein vornehmes Wesen und kroch über andere Möbel hinweg nach hinten, um beim Öffnen der Türen der frischen Luft und der neuen Umgebung zuerst teilhaft zu sein. Nun liegt es mit verbogenen Gespensterbeinen und heruntergerissener Häkelkante da, und mein Großvater tritt hin und redet mit ihm: Hast du dir die Beene verstaucht auf die holperige Chaussee? sagt er, und er streichelt das Tischchen und biegt ihm die Beine zurecht, und er trägt es als erstes Möbel in unser neues Nest.

Ein Dorfjunge rückt zu mir heran. Das drahtige Gras fietscht, wie er mit seinem Hosenboden drüber hinrutscht. Der Junge hat kurz geschorenes Haar und abstehende Ohren, er lächelt, und seine Sommersprossen hüpfen: Was soll eich die hölzerne Kreizspinne, sag mir!

Eine Kreuzspinne soll unser Ziertisch sein? Wir nennen ihn so, weil Mutter ihn von Anfang an so nannte. Können die Dinge denn dies oder das sein? Sind sie was anderes als ihre Namen? Ganz freilich, denn auch ich bin nicht Esau, wie sie mich nennen. Es sitzt wer in mir, den kennen sie nicht, doch ich sags ihnen nicht; sie lachen mich aus.

Der Junge stößt mich: Schläfst du?

Ich schlaf nicht, sag ich. Wie heißt du, frag ich. Er heißt Hermann Wittling, sagt er. Woher weiß ers? Sie haben es ihm gesagt, sagt er.

Das Vertiko meiner Mutter erscheint, hölzern, braun und auf Hochglanz gestriegelt. Ein Zimmerbewohner von dieser Art wurde in Bossdom bislang nicht gesichtet. In den Guten Stuben der Bauern halten Glasschränke die Hauptpredigt.

Die Dorffrauen erkennen die Nachteile des Vertikos. Aller Klunkerkram, Gläser, Tänzerinnen und Hunde aus Porzellan stünden uneingeschrankt und verletzbar auf ihm.

Die Stobwischerei! Das täte mir scheußern! sagt eine Frau. Sie hat Hüften wie ein gesockelter Ofen. Die Frau heißt Pauline, man nennt sie auch Mannweib.

Meine Mutter erklärt den Dorffrauen die Vorzüge ihres Vertikos, lobt seinen Aufsatz, rühmt seinen Spiegel, weil er verdoppelt, was vor ihm steht, weil er aus wenig- vielhabend macht.

Der große Spiegel wird ausgeladen. Sein Gesicht ist mit grauen Decken verhängt. Wir sehn ihm wie einem Hochseilartisten entgegen, von dem man fürchtet, er könnte stürzen, obgleich man, wenns doch geschehen sollte, schon gern dabei wär. Von unserem Spiegel wünschen wir uns, er möge heil sein, und alles möge so bleiben, doch wärs uns nicht unlieb, wenn er zerscherbt, wenn zu sehn wär, was da wird, wenn es nicht bleibt, wie es ist.

Die Großmutter geht auf den Spiegel zu, bestreicht die Decken und hext ein bißchen. Meine Großtante Lidola ist eine große Hexe; meine Anderthalbmeter-Großmutter hexelt nur für den Hausgebrauch. Sie spuckt dreimal trocken, wispert und streicht, lüftet die Maske des Spiegels, schaut drunter und hexelt wieder. Endlich reißt sie die Decke herunter:

Da ist der Spiegel. Er schaut uns an. Wir sind in ihm, ich und der Junge, der Hermann heißt, die Eichen, die Frauen, die Männer, die Kühe. Er läßt nichts und niemand aus, unser Spiegel, er benachteiligt niemand.

Wenn man freilich zur Seite tritt, kann man sein Bild aus dem Spiegel nehmen. Doch er holt es sich wieder. Der Spiegel hat Macht, Macht über die, die Verlangen spüren, gespiegelt zu sehen, wer sie sind, und wer von uns verlangt nicht danach?

Bewahrt der Spiegel, was je in ihm war? Erinnere nicht auch ich mich an vieles, was ich sah?

Kann sein, sagt der Großvater. Der Spiegel ist Glas, das kummt aus die Erde, auch du bist Erde und wirscht wieder Erde. Von manches wissen wa zuviel, und von zuviel wissen wa zuwenig.

Der Spiegel wird waagerecht durch die Haustür getragen. Dabei hat er Gelegenheit zu vermerken, wie der Himmel über dem Anwesen an diesem Tag aussieht, an diesem Junitag neunzehnhundertneunzehn, und wie er gekantet um die Ecke getragen wird, fängt er noch rasch die Linde ein, die zehn Meter entfernt vom Haus am Dorfstraßenrand steht, die uns noch fünfundzwanzig Jahre lang blühen wird, in der noch fünfundzwanzig Jahre die Bienen zur Blütezeit summen werden, die sich noch fünfundzwanzig Male belauben und entlauben wird, bis sie der Vorbeimarsch von tausend sowjetischen Panzern so erschüttert, daß sie sich langsam, ganz langsam hin und über die Straße legt und das gerade, als meine Mutter zum Fenster hinaussieht und dem letzten Panzer nachschaut, der auf Berlin zu fährt, und wo sie denkt: Nun ist der Krieg wohl zu Ende.

Jetzt hinein mit dem Spiegel ins Haus! Er wird zwischen die Fenster der Guten Stube gestellt, und dort wird er zwanzig und dreißig, ja, fünfzig Jahre stehen, und alle Menschen, die je in dieses Hausnest kommen, werden sich vor ihm bezupfen und betupfen; er wird die Weihnachts-, die Geburtstags- und die Hochzeitsfeiern spiegeln, und ehe die Brautpaare zum Fotografen gehen, werden sie vor ihn hintreten und fragen: Passen wir nicht gut zueinander?

Der Spiegel wird schweigen, wird klüger sein als die Menschen, die sich bei Fragen von Liebesleuten zu einer Antwort gedrungen fühlen.

Der Spiegel wird uns in Fest- und Trauerkleidern wiedergeben, aber niemand wird, soviel ich mich erinnere, als Leiche in ihm sein, auch nicht die Mutter.

Der Küchenschrank wird aus dem Möbelwagen gehoben, die Eimerbank mit dem Stall für die gußeisernen Töpfe, das Tassenregal, die Ofenbank, und dann wird das Kinderklosett aus dem Dunkel gezogen, das Kinderklosett mit dem Rundloch und dem Nachttopf im Kasten.

Die hoabns gut, sagt das Mannweib Pauline, die brauchen im Winter nich uffn Mist!

Zuletzt kommt der Schaukelstuhl, den uns die Vatermutter, die Amerikanische, leihweise mitgab. Er reiste siebenmal über den Atlantischen Ozean und ist bis zu den Kufen von Ferne umflimmert. Die Dorfleute streiten um seinetwillen. Die einen meinen, es handele sich um einen Stuhlschlitten, die anderen halten ihn für eine Quarkleiter, auf der man sitzen und warten kann, bis alle Molken aus der eingesackten Dickmilch herausgelaufen sind.

Und das alles ist eire? fragt mich Pauline.

Großmutter hört es und kommt mir zu Hilfe: Wems solls denn sein, wenns nich unse is?

Es hat geheeßen, ihr hoabt nich mal Bettzeig, deckt eich mit eire Hemden zu.

Wer sagt denn sowas?

Schißchen sagt sowas.

Die Anderthalbmeter-Großmutter weiß, wie man erfährt, was man wissen möchte: Kein Bettzeug, sagt sie, ich wär dir verkloagen für die Beleumdung, wenn du nich soagst, wer sowas geredt hat.

Die eene Hälfte wär ich dir soagen, brummelt Pauline, die andere Hälfte mußte dir roaten!

Na? fragt die Großmutter, na?

Eene Frau woars, die mal gebetet hoaben soll: Lieber Gott, schick mir een zweegeschwänzten Mann! Mußte bissel rumhorchen, welche Frau so gebetet hat!

Die Anderthalbmeter-Großmutter spuckt aus. Sie mag Zweideutigkeiten nicht. Die Verleumdung, die von einer mannstollen Frau ausgegangen sein soll, wird für sie ein Fall; wir werden ihr später nicht umsonst den Spitznamen Detektiv Kaschwalla geben. Am Abend hat Kaschwalla heraus, welche Frau uns verleumdete. Die Tauern wars, die Frau unseres Vorgängers. Sie wohnt noch in einer der Stuben im ersten Stock. Ihr Sohn ist Waldchen, der Kunsthonigschmeißer.

Die Tauern heißt Martha. Sie hat die Auszehrung. Ihr blasses Gesicht ist mit Bosheit durchwest, doch ihr Mund ist edel und gleicht einer Möwe, einer blaßrosa Möwe, wie sie Maler in den Himmel hängen, wenn sie Sonnenuntergang am Meer machen. Tauersch Martha möchte alle Männer. Der Tod sitzt in ihr und sorgt sich ums Leben. Die Tauern möchte auch meinen Vater, den schon lange. Sie und mein Vater haben als Jungpaar eine Hochzeit mitgemacht, von da an will Martha unseren Vater, der aber nahm meine Mutter. Tauersch Martha verleumdet das Hauswesen meiner Mutter aus Eifersucht. Das Leben ist verwickelt, verknotet; man erkennt nicht, von wannen der Faden kommt.

Es weht ein Wind von den Eichen herüber. Die Kutscher klappen die Türen zu. Sie sperren das Windchen aus Bossdom mit ein. Sie nehmen das Lüftchen mit in die Stadt. Dort wird es entweichen, wird sich mit Stadtluft mischen, mit dem Gestank, der aus Rinnsteinen steigt, ganz aufgeben aber wird es sich nicht, in Minderheit wird es weiterleben, als Lüftchen, das einmal durch die Blätter unserer Eichen ging, auch wenns unsre Nasen nicht glauben wollen.

Habe ich unsere Eichen gesagt? Bin ich schon heimisch hier?

Die Möbelkutscher schnallen die Futterbeutel ab. Sie nehmen den Pferden die leergegraste Steppe von den Mäulern, und sie strängen die Tiere an, und sie steigen auf den Sitz, und sie spalten die Luft mit den Peitschenriemen, und die Luft fährt knallend wieder zusammen. Der Sechser-Zug zieht an. Der Möbelwagen wendet vor unserem Haus.

Habe ich unser Haus gesagt?

Die Dorfleute packen ihre Arbeitsgeräte, gehen dorfeinwärts und sinnen nach, wie sie uns, die neuen Leute, in den Organismus, der ihr Dorf ist, einbeziehen werden.

Die Kinder rennen dem Möbelwagen bis zum Dorfausgang nach. Ich geh nicht mit ihnen, noch nicht. Ich hab meine Arbeit, ich muß anfangen, hier zu wohnen. Wo werden Großmutter und Hanka mein Bett aufstellen?

Hanka kam aus Grauschteen mit uns nach Bossdom. Sie ging das letzte Jahr zur Schule, als meine Mutter sie einlud, Kindermädchen bei uns zu sein. Hanka hat große Augen, mit denen sie sündig rollt, wie ich später weiß. Sie küßte mich gleich, als sie zu uns kam. Mutters Küsse waren zärtlich und samten; Hankas Küsse sind kühl wie frisch gepflückte Kirschen und drängelnd. Ich werde sie, bis ich sterb, nie vergessen, die ersten Küsse einer fremden Frau.

Ich suche Gelegenheit, Hanka zu küssen. Wir spielen Hasenkuß, und das Hasengras ist ein weißer Nähfaden. Hanka mümmelt ihn von der einen Seite in ihren frischen Mund, ich von der anderen, und wir brennen in der Mitte in einem Kuß zusammen. Auch meine Schwester spielt mit. Ich will sie nicht als Gegenhasen, ich will Hanka.

Hanka und die Großmutter stellen unsere Betten in der Bodenstube auf. Sie probieren, welches Teil zu welchem paßt. Dieses Brett paßt da, das andere dort nicht, und die Großmutter hexelt und spuckt, bis jedes Einlegebrett neben seinem richtigen Nachbarbrett zu liegen kommt, und die Betten werden ein zweites Mal erfunden.

Das andere Gemöbel döst ratlos umher. Am Stubeneingang wartet der Schrank. Von ihm wird abhängen, ob mein Bett künftig in der Nähe des Fensters steht, ob mich Mond und Sonne eifrig bescheinen werden, und ob ich von hoch oben werde auf die fremde Landschaft sehen können, ohne auf einen Baum klettern zu müssen.

Der kleinere Hausrat treibt sich herum, wird aufgefunden und mit einem Ausruf des Unmuts beiseite geschoben. Kehrschaufel und Kehrbesen, Schrubber und Scheuerlappen rutschen verscheucht umher, bis sie ihre Nischen gefunden haben, in denen sie bleiben werden, so lange unser Hauswesen besteht, und das ist bis zum Tode der Mutter. Nicht nur der Mensch stirbt, auch die Anordnung seiner Umdinge stirbt, und es stirbt das, was er zu Lebzeiten, oft widerlich selbstgerecht, seine Ordnung nannte.

Drei Tage sind nach unserem Einzug vergangen, und die Großeltern wandern nach Grodk zurück Die Anderthalbmeter-Großmutter betreibt dort An der Mühlen Numero eins einen Gemüseladen. Drei steinerne Stufen führen zur Ladentür hinauf, und auf der obersten steht seit drei Tagen eine schwarze Holztafel, die den Kunden in Großmutters krakelig-gotischen Buchstaben schuldbewußt mitteilt: Sind paar Tage nich zahause.

Die Großeltern haben drei Tage lang ihre Ersparnisse nicht vermehrt. Die Zeit fürs Sommer-Obst beginnt. Großvater muß sehn, daß er zu Gelde kommt. Er zieht einen klackernden, schlackernden Handwagen, und Großmutter drückt hinten mit einer Gabelstange. Zeitchen drauf drückt der Großvater, und die Anderthalbmeter-Großmutter zieht. Schißchen, Schißchen, von wegen sie zieht, sagt der Großvater. Er hört auf zu drücken: Der Großelternmarsch kommt ins Stocken. Da haste den Dreck vom heiligen Mann! sagt der Großvater, sie lenkt bloß.

Es geht mir zu forsch, Alter, sagt die Anderthalbmeter-Großmutter. Sie hat sich abgerackert bei unserm Umzug. Sie ist die Schwester von Großvaters erster Frau und gebar einen einzigen Sohn, meinen Onkel Phile; und drei Tage nach seiner Geburt ging sie wieder auf den Kartoffel-Acker und tat sich Schaden. Nun quält sie sich mit einem Gebärmuttervorfall durchs Leben.

Großvater erbarmt sich. Setz dir rein in Woagen, Lenka!

Die Anderthalbmeter-Großmutter lächelt verschämt; hineinkrabbeln in den Wagen muß sie ohne Hilfe; soweit geht die Galanterie meines Großvaters nicht; sie lugt mit ihren tiefliegenden Augen über den Rand des Kastens. Der Wagen rappelt und rasselt über die hartgepflasterte Straße. Die Alte ist glücklich und fängt nach einer Weile an zu singen: Geh aus mein Herz und suche Freud …

Großvater lauscht wie ein Kavalleriepferd auf die Militärkapelle. Er macht selber kleine Liedchen und krittelt, wenn Großmutter Lieder singt, die andere Leute gemacht haben: Sieh an der schönen Gärten Zier / und siehe, wie sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben …, singt die Großmutter.

Ohne Arbeit wächst nischt in son Garten, brummelt Großvater.

Das Schwälblein speist die Jungen …, singt die Großmutter eine Weile später.

Na, na, na, erst müssen se sich mal poaren, die Schwalben, Eier legen und brüten! sagt Großvater.

Ein Fuhrwerk kommt den Alten entgegen, ein Bauer mit einem Einspänner. Kriech ausm Woagen! sagt der Großvater zur Großmutter, sonst heeßts noch, die kleene Kräte hat ihren Alten aber unter die Fuchtel!

Die Anderthalbmeter-Großmutter klettert rasch aus dem Wagen, viel zu rasch für ihr Leiden. Sie will den Ruf des Großvaters nicht gefährden, sie liebt ihn, sie hat ihn schon geliebt, als er zu ihrer älteren Schwester auf die Heirat kam. Da ging sie noch in die Schule. Aber sie wollte immer auf dem Schoß des jungen Großvaters sitzen und mit dessen Uhrkette spielen, deshalb blieb ihr, als Großvater ihr nach dem Tode ihrer Schwester Hanne einen Heiratsantrag machte, der Atem stehen.

Für Großvater ist die Anderthalbmeter-Großmutter immer noch jene Lenka, die auf seinem Schoß sitzen und mit seiner Uhrkette spielen will, das Kind, das er ab und an zurechtweisen muß.

Aber laßt sie ziehen, die Alten, laßt sie ziehen; sie wissen, was ihnen frommt!

Ich höhle mich in die Fremde wie ein Wildkaninchen in die Erde. Der Abend kommt, der erste Abend in Bossdom. Wir essen spät, und draußen steigt der volle Mond, und sein ausgeborgtes Licht fällt sanft auf den Taubenschlag in der Hofmitte.

In Grauschteen sah uns der Vollmond beim Abendbrot mit großen Augen in die kleine Fettschüssel. Hier muß ich aus der Küche in die Wohnstube gehen, um mich mit ihm zu unterhalten. Großvater erzählt von Leuten, die mit dem Mond sprachen: Ein Mann kommt betrunken aus der Schenke, sieht den Mond an, hält sich an einem Lindenbaum fest und sagt: Ach, ach, du bist nur alle vier Wochen mal voll; und ich bins alle Tage.

Ein anderer Mann fürchtet sich, abends auf den Abtritt in den Hof zu gehen. Seine Frau muß ihn begleiten und vor der Tür stehen. Die Frau sieht den Mond aufgehen und sagt: Der Mond kommt.

Was, ein Mann kommt? fragt der furchtsame Mann.

Kacke man, kacke! sagt die Frau.

Mit ner Hacke? sagt der schlotternde Mann und rennt in sein Haus.

Ich muß über Großvaters Mondgeschichten nicht mehr lachen, schon, als ich sie zum zweiten Male hörte, nicht mehr. Ist meine Lachlust erkrankt? Ich rede lieber selber mit dem Mond und frage ihn, ob er alles im Kopfe behalten kann, was er in einer Nacht sieht. Ich weiß, daß er zur gleichen Zeit hier und in Grauschteen scheint. Ob er merkt, daß ich dort fehle?

Der Küchenherd hockt in der Ecke wie ein warmes weißes Tier. Die Wand, an der er steht, ist halbhoch gekachelt. Die obere Kachelkante ist mit einer güldenen Leiste verziert. Aus der Leiste ragen güldene Haken, an den güldenen Haken hängen unsere Trinktöpfe. Die Erwachsenen sagen, die Leiste sei aus Messing. Woher wissen sie es? Einer sagts dem andern und weiter. Wer sagte mir, die Leiste ist gülden? Niemand. Ich spüre sie gülden schwingen, wenn sich das gelbliche Licht der Petroleumlampe in ihr spiegelt.

Unsere Familie vergrößert sich, ohne daß jemand hinzugeboren wird. Außer Hanka kamen Martha, das Hausmädchen der Tauern, und Nikolas Golub hinzu.

Das will erklärt sein: Der kleinen Martha, blaß und schwarzhaarig, ist von der Tauern gekündigt worden, doch sie wird dem Vater, der sich einarbeiten muß, noch für ein paar Tage in der Backstube zur Hand gehen.

Nikolas Golub ist ein ehemaliger Kriegsgefangener. Er ist Schmied auf der Bossdomer Kohlengrube, ist hiergeblieben und will nicht mehr heim. Seine Eltern schrieben ihm, er möge draußen bleiben, wenn er es gut hätte; in der Ukraine würden die Bolschewiken alles kollektivieren.

In Grauschteen stand an der Kirchentür ein Opferstock. Die Bauern steckten Geldstücke hinein. Kollekte, erklärte Hanka. Aha, denk ich, der Pastor kollektiviert. Wie groß muß ein Opferstock sein, in den eine Schmiede hineingeht?

Golub war Kostgänger bei der Tauern. Sie hat ihn geliebt, hat ihn überfordert, reden die Leute. Er hat sich die bedachtsam sprechende und langsamer liebende Martha Nickusch angeschafft, die Tochter des Grubennachtwächters, draußen in der Heide.

Golub hat angewachsene Ohrläppchen, lächelt gütig aus rundem Gesicht, ist stark, dabei sanft und bei Frauen beliebt. Hanka rollt mit den sündigen Augen, wenn sie ihn ansieht. Golub verstehts, obwohl er schlecht Deutsch spricht. Er kommt von der Nachtschicht; ein Igel läuft ihm über den Weg. Golub wills uns erzählen und weiß nicht, wie der Igel auf Deutsch heißt: Issa sona Kleena, wassa so loofta, erklärt er. Von diesem Tage an heißen für uns alle kleinen Tiere: Issa sona Kleena, wassa so loofta.

Der Vater sitzt starrblickend und unredselig am Abendbrot-Tisch. Er beißt ins Brot und kaut, daß seine Kieferknochen knacken. Seine Gefühle pendeln zwischen den Seitenstreben seines Wesens, zwischen Furcht und Wut.

Wut kommt einmal auf, wenn etwas da ist, und ein andermal, wenn nichts da ist. Mein Stiefgroßvater Jurischka bekam die Wut, wenn Hühnerdreck auf seiner Gasthaustreppe lag. Mein Vater bekommt die Wut, weil nicht eine Handvoll Mehl, nicht ein Krümchen Sauerteig, nicht eine Prise Salz da ist. Die Tauern hat uns alles, alles wegverkauft, und sowas war einmal seine Geliebte!

Es gibt Gespräche, die ich nicht höre, die ich aber gern hören würde, zum Beispiel die Gespräche, die durch die hohlen Telefondrähte geführt werden. Andere Gespräche höre ich, aber ich würde sie lieber nicht hören, weil sie mich ängstigen: Hoffentlich bringt uns der erste Kunde, der was bei uns kooft, ooch passendes Geld, sagt die Mutter. Wenn er Großgeld bringt, könnt ich nich rausgeben!

Wir müssen verarmt sein; es ist kein Geld da. Der Vater soll nach Grodk, hör ich, und beim Großvater Geld leihen.

Der Vater sucht sein Fahrrad hervor, das er von Onkel Hugo geerbt hat. Die Franzosen schossen dem Onkel ein Ohrläppchen weg. Er kam ins Lazarett, danach auf Genesungsurlaub. Er spielte mit uns, und das gefiel ihm. Wenn sie ihm nochmal Urlaub gäben, sagte er, ließe er sich auch das andere Ohrläppchen abschießen. Das Schicksal hörte es, aber der Franzose, der vom Schicksal beauftragt war, Hugo das zweite Ohrläppchen abzuschießen, zielte schlecht, und seine Kugel traf den Onkel in den Kopf. Der Onkel war tot. Patriotisch ausgedrückt: Der Onkel fiel.

Vaters Erbfahrrad heißt Viktoria. Viktoria ist beim Umzug die Luft ausgegangen. Vater pumpt auf und stellt fest, daß die Ventilgummi vertrocknet sind, daß sich die Kette gedehnt hat und daß die Zersetzung, die in allen Dingen dieser Welt arbeitet, auch an der stählernen Viktoria gearbeitet hat.

Vater war nach dem Kriege einige Monate Rumgeher. Er zog mit zwei Körben von Dorf zu Dorf. Ein Rumgeher-Korb sieht aus wie ein geflochtener Lehnstuhl ohne Beine und kann auf dem Rücken, auch vor dem Bauch getragen werden. Vater fuhr auf seiner Viktoria und war eigentlich Rumfahrer, aber ein einzelner Mann kann einen festgelegten Begriff nicht auf einen neuen Inhalt umstimmen.

In Vaters Rückenkorb waren Textilwaren geschichtet; grobe Nachkriegs-Hand- und Wischtücher, bunte Trägerschürzen und stumpfe Taschentücher.

Vaters zweiter Korb war mit Kleinwaren bestückt. Man hätte ihn Brustkorb nennen müssen. Er enthielt Schuhbürsten, Pinsel, Zylinderputzer, Wäscheknöpfe, Klimbim, Krimskrams, auch Bilderbücher. Ein Bilderbuch hieß Der Pfützenfritze. Es war, im Gegensatz zur Broschüre Anleitung zur Erzüchtung von Hauskaninchen, eine Sammlung von Untersagungen für Kinder: Kinder dürfen nicht in die Pfützen treten, damit sie nicht Halsschmerzen bekommen; Kinder dürfen ihr Brot nicht wegwerfen, weil die Not groß ist; Kinder sollen nicht in Sonntagsanzügen auf Bäume klettern, nicht, weil sie die Sonntagsruhe der Bäume stören, sondern weil sie ihr Sonntagszeug nicht schmutzig machen sollen; Kinder sollen keine fremden Hunde anfassen, damit die nicht zubeißen und ihnen die Hand wegreißen.

Alles, was Kinder nicht dürfen, ist mit grellbunten Farben auf die Buchseiten gemalt, zum Beispiel die abgerissene Hand des Jungen, die der Hund im Maule fortschleppt, und auch der handtellerlose Arm ist abgebildet, den der Hund dem Jungen daläßt.

Der Pfarrer kommt und redet, der Vater soll das blutrünstige Buntbild mit der abgerissenen Hand zukleben, aber der Vater ist theoretischer Novemberrevolutionär und hält den Pfarrer für kaisertreu. Es ist Ihnen nur so schaurig, sagt er zum Pfarrer, weil Sie sich ham im Krieg nischt mit ansehen müssen.

Vaters Viktoria hat mich verführt, vom Pfützenfritze zu erzählen, aber jetzt ist die Rumgeher-Zeit meines Vaters vorbei; es geht geradeaus, und die Rumgeher-Körbe hocken im neuen Anwesen in einer Ecke des Mehlbodens.

Vater fährt zum Großvater, sitzt im Haus An der Mühlen Numero eins und druckst. Er will um etwas bitten, weiß nicht, wie er es anstellen soll, und hört in Gedanken die Tauern lachen.

Die dunkle Küche der Großeltern ist das Gemüselager für den Laden, auch die Schuster-, Schlosser- und Tischlerwerkstatt meines Großvaters, der, wie wir wissen, ein Allerweltsmensch und Alleskönner ist, und wenn man ihn nackt und brotlos in einem Walde aussetzen würde, käme er nach einiger Zeit in einem Bast-Anzug mit einem Weidenkorb voll geräucherter Wildwürste zum Vorschein.

In der Küche riecht es nach Schwefel, altem Stiefelleder, trockenem Holz, Wagenschmiere, Terpentin, Öl, Weißkohl, Porree, Zwiebeln und Lauch, und all diese Düfte kommen in der Mitte der Küche wie auf einem Marktplatz zusammen und wimmeln dort. Kaum hast du einen erkannt, taucht er unter, und ein anderer tritt hervor, aber auch der verschwindet sogleich im Duftgewühl, zu packen kriegst du keinen.

Großvater ist Geschäftsmann und weiß, was der Vater will. (Noch oft, wenn Berufe genannt werden, werde ich sagen müssen: Das war mein Großvater auch!) Großvater hält es für unanständig, einem anderen, der auch Geschäftsmann werden will, geradezu blankes Geld anzubieten; nein, der andere soll bitten.

Mein Vater holt weit aus: Jetzt sind wir steckengeblieben, sagt er.

Wie das?

Es geht nicht vor und nicht zurück, weil sie uns beschissen hat, sagt der Vater und meint die Tauern. Auf den Nackten müßte sie kriegen, sagt er und meint wieder die Tauern. Und Lenchen grämt sich, sagt er.

Lenchen ist der Kosename meiner Mutter. Sie ist der Liebling des Großvaters. Sieben Kinder sind ihm an der Schwindsucht gestorben und zum Schluß auch die Frau Hanne, nur meine Mutter blieb übrig, und die war noch nicht ein Jahr alt, als die Großmutter starb. Lenchen ist ein Stück von Hanne, der geliebten Frau: Was, Lenchen grämt sich? fragt der Großvater.

Sie wird nicht mal rausgeben können, wenn der erste Kunde unpassendes Geld bringt, antwortet der Vater.

Der Großvater sieht den Vater an und denkt: Holt weit aus mit der Sense, der Schwiegersohn, aber sein Schwad ist klein. Wenn Lenchen nicht rausgeben kann, sagt er, behält sie das Großgeld, bis Kleengeld reinkommt, und gibt dann raus!

Der Vater muß erklären, daß überhaupt kein Kunde kommen wird; es ist nichts von dem, was Kunden brauchen, im Laden, nicht mal läufiger Kunsthonig, wie wir wissen, nur ein paar schwarz-weiß-rote Papierfähnchen und Ansichtskarten vom Kaiser, von seiner Gemahlin Auguste-Viktoria und den Kaiser-Kindern. Von Kaisersch aber will im Augenblick niemand etwas wissen. Sie haben die Deutschen mit ihrer Nachkriegsnot allein gelassen, sind nach dem Butterland Holland raus, und die Arbeiter singen: O Tannenbaum, o Tannenbaum, / der Kaiser hat in Sack gehaun. / Auguste müßt Kartoffeln schäln, / und Wilhelm müßte hamstern gehn …

Was der Vater jetzt machen muß, ist schlimmer als hamstern, er muß betteln; der Großvater ist ihm noch immer nicht entgegengekommen, und der Vater druckst und druckst, und endlich findet er eine Wendung, die nicht nach Bettelei riecht: Wenn du uns noch mal könntest unter die Arme greifen, sagt er.

Nichts ist leichter gemacht als das, wenn mans wörtlich nimmt, aber Großvater weiß, wohin er wirklich greifen soll. Er denkt an sein Lenchen und zieht sein Schlüsselbund aus der Hosentasche. Am Schlüsselbund hängt, neben dem Uhrschlüssel und dem Schlüssel zum Aufziehen meiner Spielzeuglokomotive, die der Großvater verwahrt, der Schlüssel zum Geldschub im Küchenschrank. Großvater schließt es auf und zählt dem Vater eine Geldsumme auf den Tisch: Es würde mir frein, wenn es das letzte Moal wär! sagt er. Er hat schon beim Kauf von Vaters Laden mitgeholfen, und die Amerikanische und unsere Vorvorgängerin haben Hypotheken auf dem Grundstück stehen. Unsere neue Heimat gehört uns wenig; es gehört uns nur ein Brett vom Schiff, mit dem wir durch die Fremde segeln.

Nun ist Geld da, Geschäftsgetriebefett, es kann losgehen, aber Mehl und Kleinwaren müssen erst mit einem Fuhrwerk aus der Stadt herangeschafft werden. Fuhrwerke stehen nicht auf dem Anger. Der liebe Gott hat sie, als er das Dorf schuf, auf die Kleinbauern verteilt, zudem ist Heu-Ernte, und alle sind unterwegs, aber jemand sagt: Fragt mal Töppchenhändler Tinke.

Meine Mutter überprüft, ob alle Kämme im hochgesteckten Haar richtig sitzen, ob ihr keine Strähne liederlich in den Nacken fällt, und sie bindet sich eine steifgestärkte Trägerschürze vor, die sonntäglich raschelt, und sie geht mit einer ihrer Sondergaben, dem etwas in die Hinterwelt gereckten Gesäß, die Dorfstraße hinunter. Die Kleinbauerfrauen lugen durch die Spählöcher ihrer Hofzäune und prophezeien: Die neien Bäckersch, prophezeien sie, werden niemoals nich zu wase kumm. Seht, seht, wie sich das Bäckerweib wochtags geputzt und breet spazieren trägt!

Töppchenhändler Tinke ist dick, rot und blau, und die Wassersucht plagt ihn, die Fußerweiterung. Keen Wunder, sagen die Dorfleute, den ganzen Tag aufm Woagen hocken, wo soll sein Wasser hin beim Gerüttel?

Quatscht nur, quatscht! sagt Tinke. Ihr wißt erscht goar nich, wie mir is. Wenn ihm die größten Schuhe zu klein sind, fährt Tinke nicht auf Töppchentour. Sein Brauner hat einen angesilberten Kopf, tiefe Altersdellen über den Lidern und ein blindes Links-Auge. Das ausgelöschte Ooge is mir dienlich, sagt Tinke. Sein Brauner scheut nicht, wenn die dämlichen Töff-Töffs ihn überholen. Er sieht se erscht, sagt Tinke, wenn se am ins rechte Ooge kumm, denn sind se schont vorbei.

Töff -Töffs heißen bei uns die Motorräder, doch es gibt auch Autos, und die zwei, die wir kennen, sind dreiräderig.

Alles was man noch erleben wird, heißt Zukunft. Mit dem Auto kommt man geschwinder in die Zukunft. Tier-Arzt Zehse hat ein dreiräderiges Auto. Wenn eine Kuh schwer kalbt, ruft man Doktor Zehse, und das Kalb kommt rischer in seine Zukunft. Doktor Zehse auch. Manchmal bockt das Dreirad-Auto von Zehse und bleibt auf der Landstraße stehn. Dann muß ein Pferd heran, und die Zukunft eines Kalbes wird fraglich. Die von Doktor Zehse nicht; er kommt auch mit dem Pferd vor dem Auto in seine Zukunft.

Einmal, erzählt man sich, hat das Pferd von Töppchenhändler Tinke, dem der Doktor die Kolik austreiben fuhr, erst das bockige Auto des Doktors ins Dorf schleppen müssen, und das Pferd trieb sich beim Trecken die Kolik selber aus dem Gedärm und sicherte sich seine Zukunft, aber nicht durch die Geschwindigkeit, sondern durch die Unbeweglichkeit des Tier-Arzt-Autos. Es is ebent uff manches, was sich die Stadtleite ausdenken tun, keen Verlaß nich, sagte Töppchenhändler Tinke und schickte dem Tier-Arzt eine Rechnung fürs Autoabschleppen.

Es werden viele Geschichten in der Heide erzählt. Sie springen von einem Mund in den anderen und werden dabei länger, lustiger und bunter.

Wenn kein Wasser im Töppchenhändler ist, fährt er mit seinem angeblindeten Braunen ins Niederschlesische nach Muskau und Kromlau zu den Töppchenmachern und belädt seinen Planwagen mit Gurken- und Milchtöpfen. Tö, Tö, Töppe, kauft Tö, Tö, Töppe! ruft er, nicht weil er stottert, sondern weil die Straßen so schlecht sind.

Tinke sitzt in der Küche auf einem Stuhl; seine Füße mit den blaugrauen Zehen liegen auf dem Küchentisch, das Wasser soll aus ihnen heraus, soll nach unten, nach dort, wo Tinke sitzt; Tinke betreibt die einzige Wasserleitung in Bossdom.

So etwas hat meine Mutter noch nicht gesehen, obwohl sie in der Kreisstadt Grodk in die Schule gegangen ist. Manchmal zeigt sie uns ihre Schulhefte und Zeichenblöcke. Wir sollen uns angereizt fühlen, denn meine Mutter hat mancherlei gezeichnet und ausgetuscht, eine große Stachelbeere zum Beispiel, ein Biest mit Haaren, mit Haaren, die du übersiehst, wenn du die Beere ißt. Und sie hat auch Rosen gezeichnet, Rosen mit Mittelachsen, und sie schrieb einen Aufsatz über das Thema Des Lebens ungetrübte Freude ward keinem Irdischen zuteil. Unter die Stachelbeere und die Rosen hat Mutters Lehrer mit Blaustift gut geschrieben. Alles, was gut ist, wird mit blauer Schrift ausgezeichnet. Der Stempel von Fleischbeschauer Scrabak leuchtet blau von Schweineschinken: Trichinenfrei. Aber unter den Aufsatz über die Ungetrübte Freude schrieb Mutters Lehrer: Ausgezeichnet! Und das mit roter Tinte. Wir haben eine ausgezeichnete Mutter.

Aber das stört Töppchenhändler Tinke nicht; er läßt seine Füße auf dem Küchentisch liegen.

Herr Tinke, sagt die Mutter, Sie wern ja wissen, daß wir in Grauschteen gewesen waren, jetzt sind wir hierher geworden und haben noch keen Fuhrwerk.

Das hört sich so an, als hätten wir in Grauschteen ein Fuhrwerk gehabt. Die Mutter spricht grodkisch; es ist im Tonfall sorbisch eingefärbt wie das Deutsch von Bossdom, nur ein bißchen umständlicher. Für die Grodker wie für die Bossdomer gibt es kein klares A; sie sprechen erst ein O und dann ein A. Aber wenn die Bossdomer hutten, dann hoaben die Grodker was gehoabt, wenn die Bossdomer wo waren, dann waren die Grodker wo gewesen, und wenn die Bossdomer kleen sind, sind die Grodker klenne. Ich bin geborn, sagen die maulfaulen Leute von Bossdom; die Grodker sagen vornehm gedrechselt: Als ich geborn geworden bin.

Ich hoab ja ooch immer Seeltänzern wern gewollt, tröstet sich die Mutter, wenn ein kleiner Zirkus ins Dorf kommt. Mag sein, aber jetzt steht sie bei Töppchenhändler Tinke und bittet um ein Fuhrwerk.

Tinke sagt zu, nicht aus Hilfsbereitschaft, nicht aus Nächstenliebe, sondern aus Neugier. Er will der erste sein, der hiebfest zu wissen kriegt, was wir für Leute sind und wieviel kloares Geld mein Vater in der Hinterhand hat. Ich foahr eich, sagt er, aber erscht muß das Wasser aus meine Beene.

Man hat gehört, daß das Anschwellen des Meerwassers vom Monde abhängt, aber nie, daß die Eröffnung eines Ladens mit dem Wasserstand in den Füßen eines Fuhrmannes zusammenhängt.

Vater und Mutter fahren mit Töppchenhändler Tinke zum Wareneinkauf nach Grodk, und Hanka heizt daheim den Backofen vor. Das Feuer verhilft dem Backofen, wie Gott einst dem Adam, zu einer Seele. Kohlen werden, wo wir jetzt wohnen, gleich hinter den Wäldern geerntet und nicht nur im Herbst wie die Kartoffeln, sondern das ganze Jahr; sie sind hier so unrar wie anderwärts die Steine.

Der Vater bringt von der Stadtexpedition ein Pfund Sauerteig mit. Ein Bäckerkollege hats ihm geschenkt: Hier haste, ich wünsche dir gute Goare. Was wollt ich noch sagen? Gott segne das Bäckerhandwerk!

Der Sauerteig liegt bei uns in Bossdom auf der Backbeute und ist nichts als ein bemehlter Teigklecks. Der Vater klapst ihn mit flacher Hand und sagt: Hoffentlich biste gesund, alter Kleister!

Was soll der Sauerteig darauf antworten? Er tut, was uns Menschen arg schwerfällt, er schweigt und wirkt. Der Vater verrührt ihn mit Wasser und Mehl, und der Sauerteig, der Verantwortliche für die gleichmäßige Durchlöcherung der Brotkrume, fängt sich an wohl zu fühlen, macht los und fängt an zu gären.

Brod-, Weissbäckerei, auch Colonialwarenhandlung, steht auf dem Firmenschild über unserem Laden, und Reinhold Tauer wird als sein Besitzer genannt. Meinem Vater ist das Auswechseln des Firmennamens fast wichtiger als das Brotbacken. Brot ist nicht Brot, behauptet der Vater. Er hat vor, ein Brot mit eigener Note zu backen.

Die Mutter, eine berühmte Entwerferin von Stickmustern, sitzt einen ganzen Abend und bastelt Vaters Namen in Zierschrift heraus. Vater nimmt die Hühnerleiter und legt sich als papierener Schatten über seinen Vorgänger, löscht ihn aus. Wir alle stehn bei der heiligen Handlung Pate. Namen sind so wichtig wie nur was, belehrt uns der Vater. Ich sage nicht, daß ich was anderes fühle. Ich werde mich nicht auslachen lassen. Ich laß den Vater beim Glauben, ich wär sein Sohn Esau.

Die ersten Brote, die bei uns in der Backstube erscheinen, sind blaßgelb und breitgelaufen. Die gestärkte Bäckerschürze des Vaters steht wie vom Frost befallen von seinem Bauche ab, er wirft die teigbekrusteten Arme in die Höhe, als flehe er Gott um Rettung an, aber ein Novemberrevolutionär hat keinen Gott. Er rennt in den Hof und rüttelt an der mächtigen Tragsäule des Taubenschlags, als wolle er das Herz des Anwesens umreißen, doch der Taubenschlag rührt sich nicht. Er sieht auf den ohnmächtigen Vater hinunter und sagt mit seiner ausgestanzten Zahl in der blechernen Wetterfahne: Achtzehnhundertneunundachtzig. Achtzehnhundertneunundachtzig ist Vaters Geburtsjahr.

Unmöglich, mit bleichen, breitgelaufenen Broten vor die Kundschaft zu treten! Vater hat Bäcker-Ehre. In der Kindheit hatte er keine. Er hat sie zusammen mit seinem Beruf erlernt.

Kann man Ehre auch verlernen, Mama?

Was du alles wissen willst!

Vater verfüttert die mißglückten Brote an die Hühner, und dabei segnet ihn, den Ungläubigen, Gott mit einer Eingebung, und die Eingebung heißt: Ein Schwein muß her!

Vater geht, beschürzt und teigverschmiert, in die Feldmark. Dort wohnen Tante Magy und Onkel Ernst als Ausbauern; sie heißen Zetsch, und wir können ihr Anwesen in der flimmernden Juniluft sehen. Vater tauscht beim Onkel sein verfehltes Brot gegen ein dürres Läuferschwein und schleppt es in einem Sack über die Felder.

Durch die Ausbauern-Wirtschaft von Tante und Onkel fegt dreihundert Tage im Jahr der Wind. Sie denken nicht daran, die breitgelaufenen Brote des Vaters ans Vieh zu verfüttern, sondern stecken sie in große Tontöpfe und essen wochenlang davon: Bäckerbrot! Mal was anderes.

Vater schüttet daheim, wie Knecht Ruprecht mit Bäckerschürze, den Läufer aus dem Sack, und unsere Familie vergrößert sich. Der Rücken des neuen Familienmitgliedes ist nicht viel breiter als die Rücken jener stilisierten Holz-Schweine, die man als Frühstücksbretter benutzt; es macht sich sogleich auf die Suche nach seiner Herde, flutscht zum Hoftürchen hinaus, rennt über die Straße und schlüpft in den Garten des Müllers. Der Müller mahlt auf seiner Windmühle nicht nur Roggen und Weizen; er schrotet auch Hafer, stampft Buchweizen und bäckt vor allem im Haus unter der Mühle Brot. Er ist unsere Konkurrenz, politisch ausgedrückt: unser unverbrüchlicher Feind und heißt Sastupeit.

Sastupeits Großvater hegt einen weißen Vollbart, trägt einen sorbischen Kittelrock und eine schwarze Kappe. Er ähnelt dem älteren Tolstoi und flucht wie die Männer im Alten Testament: Denn also denn, brüllt er und reckt die Arme gen Himmel, denn also denn, sperrt eires Schwein ein, oder ich schloags tot!

Der Vater hat endlich ein Ventil für seinen Ärger über den mißglückten Brotschuß gefunden; sein Jähzorn macht ihn vergessen, daß er als künftiger Ladenbesitzer einen guten Eindruck auf die künftige Kundschaft zu machen hat, er ist noch beim Stellungskrieg in Flandern, ganz bei Auge um Auge und Zahn um Zahn. Was er beim Müller erschlagen wird, wenn der unser Läuferschwein erschlägt, weiß er noch nicht, aber er will los und drauf.

Da tritt unsere Mutter, die Muse des Ladengeschäftes, hervor, drängt den Vater beiseite und sagt: Heinrich, Heinrich, bedenke! Die Mutter verstellt dem Vater den Weg zu unbedachten Taten und uns das Erlebnis einer Schlacht. Die Mutter wirkt in ihrer hellen Schürze mit den gestutzten Flügelansätzen an den Schultern auf den alten Müller wie ein coupierter Engel. Er gibt ihr ohne Gewure den Weg in den Müllergarten frei, und die Mutter geht mit Koseworten, wie Liebling, auf das Ferkel los. Das Ferkel will nichts davon hören, es will zur Tür hinaus, aber der alte Müller klemmts zwischen seinen Beinen ein, und die Mutter kann es sich nehmen. Die Mutter hat noch nie im Leben ein Schwein in der Mache gehabt, doch sie packts beim Hinterlauf und bringts geschleppt, und der Läufer schreit, als wär der Metzger mit dem Messer über ihm, doch die Mutter läßt nicht los; sie hält sich mit der linken Hand das rechte Ohr zu, und sie bringt das Ferkel heim, und sie hat den offenen Krieg mit China verhindert.