Christoph Augner

Seele auf Sinnsuche

Für eine Psychologie, die unserem Leben wieder Halt gibt

Patmos Verlag

Für meine Familie

Meine Dankbarkeit gilt all jenen, die großen Anteil an der Entstehung dieses Buches hatten: Meiner Frau Kerstin Augner, Anton Bucher, Thomas Engl, Wolfgang Stricker.

ÜBER DEN AUTOR

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© Privat

Dr. Christoph Augner ist Psychologe und Hochschullehrer. Umfangreiche Forschungstätigkeit am Universitätsklinikum Salzburg in den Bereichen Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Personalentwicklung. Seit 2014 Leitung eines Masterprogramms für Führungskräfte im Gesundheitswesen an der Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg. Gründer des Blogs „moments of truth“: augner.blogspot.de

ÜBER DAS BUCH

Mit Sinn und Seele

Mobbing, Burnout und Depression erreichen epidemische Ausmaße. Sinnverlust lässt Menschen am Leben verzweifeln. Noch nie war die Psychologie so gefordert wie heute und noch nie war sie uns so wenig Hilfe. Denn Statistik, ein materialistisches Menschenbild und angebliche Objektivität liefern noch keine Antworten auf die zentralen Fragen nach Sinn und einem guten Leben.

Der Psychologe und Hochschullehrer Christoph Augner macht sich auf die Suche nach einer Psychologie, die dem Leben wieder Halt gibt. Er zeigt, wie viel Veränderungskraft eine Psychologie haben kann, die den Mut hat, sich den großen Themen des Lebens zu widmen.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0844-2

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© 2016 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Umschlagmotiv: © ringo/photocase.de

ISBN 978-3-8436-0844-2 (Print)

ISBN 978-3-8436-0845-9 (eBook)

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LESEEMPFEHLUNG

Brigitte Dorst

Resilienz

Seelische Widerstandskräfte stärken

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Stress im Beruf, Trennung von Partnern, schwere Erkrankung – Belastungen wie diese werfen manche Menschen völlig aus der Bahn. Andere können solche Krisen gut bewältigen. In der Psychologie werden diese Widerstandskräfte der Seele als Resilienz bezeichnet. Sie befähigen uns, in belastenden Lebenssituationen seelisch im Gleichgewicht zu bleiben.

Brigitte Dorst verdeutlicht, warum wir Resilienz gerade in schwierigen Zeiten brauchen. Die erfahrene Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin ermöglicht den Leserinnen und Lesern, mit Hilfe wirksamer tiefenpsychologischer Übungen ihre Widerstandskräfte der Seele zu stärken.

Dr. Brigitte Dorst, Professorin für Psychologie, Jung’sche Analytikerin und Psychotherapeutin in eigener Praxis in Münster, ist Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Stuttgart sowie wissenschaftliche Leiterin der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Themen Symbolpsychologie, Krisenintervention und Spiritualität.

Als Printausgabe erhältlich:

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-0632-5

Als eBook-Ausgabe erhältlich:

www.patmos.de/EBOOK978-3-8436-0633-2

Inhalt

Einleitung

Teil 1: Die Macht der Zahlen

1. Der Mensch als Objekt

Was der Materialismus mit unserer Seele macht

Ein Materialist stirbt den Heldentod

Der Mensch als Reiz-Reaktions-Kiste

Gehirn statt Seele und die Verführung der Allmacht

2. Psychologie als Naturwissenschaft

Was Psychologen so tun

Psychologie in der Krise

3. Erfolg als Maß aller Dinge

Das Primat der Ökonomie

Wie uns die Wirtschaft um unser Leben betrügt

Die Folgen einer „wertfreien“ Psychologie

Teil 2: Eine Psychologie, die uns Halt gibt

1. Sinn statt Zahlen

Die Berechnung der Seele – eine Mission ohne Sinn

Den Menschen als Ganzes sehen

2. Werte: Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Was kann ich wissen? Was soll ich tun?

Jenseits von Gut und Böse?

Psychologie als Trostspenderin?

Menschenbild und Freiheit

3. Die Suche nach dem Sinn

Was ist Sinn?

Sinnstiftende Beziehungen

4. Jenseits des Narzissmus

Der narzisstische Sozialcharakter

Alternativen zum Narzissmus

5. Das Leben – eine Beziehungsgeschichte

Der Mensch im Mittelpunkt

Spiritualität und Transzendenz

Kunst

6. Alles eine Frage der Perspektive

Die andere Seite der Depression

Die andere Seite der Angst

Die andere Seite der Aggression

Die andere Seite von Prioritäten: Wie die Probleme der Ökonomie uns die Sicht verstellen

Vision: die wichtigen Fragen stellen

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Teil 1: Die Macht der Zahlen

2. Psychologie als Naturwissenschaft

Was Psychologen so tun

Nachvollziehbare Zahlen, Daten, Fakten – das alles ist den Psychologinnen und Psychologen des 21. Jahrhunderts besonders wichtig. Wenn Dinge nicht objektiv erforscht werden können, sind sie de facto nicht real – gar nicht da! Am objektiv nachvollziehbarsten ist, was man angreifen kann: Materie. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die Forschungsschwerpunkte psychologischer Institute immer mehr in die Erforschung von biophysiologischen Strukturen, dem Zusammenwirken von Neuronen, Hormonen und Neurotransmittern verschieben. Hier kann das gemacht werden, was Naturwissenschaft auszeichnet: messen, wiegen, zerteilen. Das menschliche Verhalten wird nicht in seiner Gesamtheit verstanden, es wird in seine Einzelteile zerlegt. Es reicht nicht mehr, aus Erfahrung zu wissen, dass es Angst, Wut, Mitgefühl, Freude gibt. Was nicht neurobiologisch nachweisbar ist, existiert einfach nicht. Zwei Beispiele, was Psychologinnen und Psychologen in der Forschung so tun:

Beispiel 1: Die Erforschung des Selbstwertgefühls

Einen Prototyp für ein „naturwissenschaftliches Vorgehen“ lieferten Dimitrij Agroskin und Kolleginnen und Kollegen bei der Erforschung des Selbstwertgefühls.28 Dessen wissenschaftliche Definition aus dem Psychologielexikon („eine stationäre Gestimmtheit des Selbstseins, mit dem der Mensch sich als Träger eines Wertes erlebt“29) bringt nicht allzu viel Erkenntnisgewinn.

Dass ein hohes Selbstwertgefühl eine Reihe positiver Effekte auf die psychische Gesundheit hat, ist sowohl intuitiv nachvoll­ziehbar als auch empirisch belegt. Menschen mit einem hohen Selbstwert sind weniger anfällig für Stress und können besser damit umgehen. Dafür ist ein niedriger Selbstwert umso schlimmer: Agroskin und Kolleginnen und Kollegen betonen schon in der Einleitung ihrer Studie, wie schlimm sich dies auswirkt: negativer Affekt („schlechte Stimmung“), erhöhte Vulnerabilität gegenüber psychosozialen Stressoren, Depression, Posttrauma­tische Belastungsstörung und Angst! Dies rechtfertigt jedenfalls, das Ganze einmal mittels Magnetresonanztomographie in den Gehirnen von 48 Psychologiestudierenden zu untersuchen. Und siehe da: Es zeigen sich positive Zusammenhänge zwischen dem Selbstwertgefühl der jungen Menschen und der anatomischen Struktur ihres Gehirns. Just in den Gehirnteilen, die für die Stressregulation wesentlich sind, hatte die Graue Substanz bei den Studierenden mit einem hohen Selbstwert mehr Volumen. Das Selbstwertgefühl, so schlussfolgern die Autorinnen und Autoren daraus, ist damit eine zentrale Coping-Ressource.

Nun gibt es Selbstwertgefühl nicht zu kaufen. Gott sei Dank haben die Autorinnen und Autoren eine Lösung parat: Die Graue Substanz lässt sich durch Trainingsmethoden in ihrem Volumen vergrößern – Therapiemethoden, die darauf abzielen, diese Hirnstruktur zu stärken, könnten hier also helfen … Dann legen sie noch nach: Für die Evaluierung einer allfälligen Psychotherapie wird die Verwendung des MRT empfohlen. Heißt: Nachdem Sie Ihrem Therapeuten oder Ihrer Therapeutin Ihre selbstwert­fördernden Erfolgserlebnisse geschildert haben, wird im MRT nachgemessen, ob sich die Graue Substanz in Ihrem Kopf schon verändert hat. Für Außenstehende mag sich dieses Vorgehen etwas bizarr anhören, in der naturwissenschaftlichen Psychologie ist das Alltag: psychische Phänomene ausschließlich biologisch zu erklären. Das „Ausmaß“ des Selbstwertgefühls wird über bild­gebende Verfahren erhoben – so als wäre es etwas Physisches.

Beispiel 2: Im Begriffsdschungel der Sozialpsychologie

In ihrem Aufsatz „The Density of the Big Two“30 [„Die Dichtheit der Großen Zwei“] beschäftigen sich Susanne Bruckmüller und Andrea Abele mit den sozialpsychologischen Begriffen Communion und Agency, was in etwa so viel bedeutet wie Gemeinschaftsgefühl (das z.B. einhergeht mit Einfühlsamkeit oder Freundlichsein) und Kompetenz (z.B. willensstark und durchsetzungsfähig zu sein). Beides sind Attribute bzw. Eigenschaften, die wir anderen Personen zuschreiben oder eben auch nicht. Die Autorinnen beschreiben nun zwei Studien, in denen – wie so oft – Psychologiestudierenden Listen mit Wörtern vorgelegt werden, deren inhaltliche Nähe zueinander bzw. Distanz voneinander sie auf einer numerischen Skala beurteilen sollten.

Aufwändige statistische Analysen sollen schließlich nachweisen, dass unser Gehirn mit Hilfe von Strukturen arbeitet, in de­nen dem „Abstand“ zwischen Wörtern wie „cool“ und „zynisch“ oder „hilfsbereit“ und „sympathisch“ eine besondere Bedeutung zukommt.

Schlussfolgerungen aus diesen Analysen sehen beispielsweise so aus: „Unmoralisch“ und „kompetent“ sind im Gehirn näher repräsentiert als „moralisch“ und „inkompetent“. Das kommt daher: Unmoralische kompetente Menschen sind für uns gefährlicher, weil sie uns mit miesen Tricks hinters Licht führen. Daher sind die beiden Begriffe enger miteinander „vernetzt“. Diese Begründung ist symptomatisch für Studien in diesem Bereich: evolutionär-biologistische Argumentationen für statistisch begründete „Gedächtnisstrukturen“. Die Art, wie wir „Informationen verarbeiten“, ist von der Evolution zu unserem Nutzen (vgl. Ökonomie!) entwickelt worden. Letztlich ist also auch hier wieder irgendeine „unsichtbare Hand“ am Werk, die uns zu unserem individuellen Vorteil steuert.

Die Studien von Susanne Bruckmüller und Andrea Abele überspringen hinsichtlich Methoden, Durchführung und Auswertung mühelos jene qualitativen Hürden, die in der psychologischen Forschung heutzutage aufgestellt werden. Dennoch wird gerade an dieser Arbeit deutlich, welchen Weg die Sozialpsychologie eingeschlagen hat. Explizit wird von social information processing gesprochen, also die bereits angesprochene Computermetapher verwendet. Symptomatisch ist auch die extrem künstliche Versuchsanordnung: Psychologie­studierende beurteilen in einem sozialpsychologischen Experiment Wörter, es kommen keine realen Personen vor, es findet keine Interaktion statt. Die Analyse basiert vielmehr auf dem sogenannten Antwortverhalten der Teilnehmenden, d.h. auf jenen Werten, die sie auf vorgegebenen Skalen ankreuzen. Welchen Sinn das aus ihrer Sicht macht, wie beliebig die Antworten sind, welche Bedeutung bestimmte Begriffe für sie haben, diese Fragen interessieren nicht.

Es wurde auch im quantitativen Forschungsbereich immer wieder kritisiert, dass bei standardisierten Befragungen Menschen mit Inhalten konfrontiert werden, die für sie möglicherweise irrelevant sind oder die sie für unsinnig halten. Was ist eine Bewertung wert, wenn ich die Frage selbst für unbedeutend halte? Hat es überhaupt Sinn, die inhaltliche Bedeutung von Wörtern mit Zahlen zu erfassen und zu vergleichen? Wie viel vom Sinn eines Wortes bleibt da auf der Strecke? Auch wenn diese Methode harte Fakten liefert – nämlich jede Menge Zahlen –, ist es schwer zu glauben, dass wir so mehr Einsicht in die „soziale Informa­tionsverarbeitung“ des Menschen gewinnen ...

Generell ist die Übertragbarkeit von naturwissenschaftlich-psychologischen Forschungsergebnissen auf die Lebensrealität von echten Menschen meist nur mit viel Fantasie möglich. So zeigen zwar viele Berichte über Studienergebnisse die herausragenden intellektuellen Fähigkeiten ihrer Verfasserinnen und Verfasser auf – viel Alltagstaugliches kommt dabei aber nicht zum Vorschein. Gerade diese mangelnde praktische Anwendbarkeit hat bereits in der Vergangenheit immer wieder zu Diskussionen in der Psychologie selbst geführt. Nicht selten wurde dabei unter dem Titel Psychologie in der Krise die ganze Disziplin in Frage gestellt. Einige historische Schlaglichter dazu liefert der folgende Abschnitt.

Psychologie in der Krise

Die inflationäre Verwendung des Krisenbegriffs hat dazu geführt, dass alles, was irgendwie nach Schwierigkeiten aussieht, als Krise bezeichnet wird: Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Be­ziehungs­krise, politische Krise ... Dabei ist eine Krise nicht einfach ein Problem, das gelöst werden muss, sondern eine Umbruchsituation, in der alles in Frage gestellt wird, was bisher Gültigkeit hatte. Sie ist Risiko und Chance zugleich.

Als der Psychiater Hector im Roman Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück31 in seinem Alltagstrott erkennt, dass er – genauso wie seine Klientinnen und Klienten – keine Antworten auf die zentralen Lebensfragen hat, verlässt er seine Verlobte und reist durch die Welt. Die Suche nach dem Glück führt ihn in die entlegensten Erdteile, nur um zu erkennen, dass er schon alles hat, was er im Leben braucht – eine tiefe Beziehung.

Erfahrungen wie diese treffen schon eher die ursprüngliche Bedeutung des Krisenbegriffs als Umbruchsituation. Damit einher geht häufig die Erkenntnis, dass herkömmliche Lösungsmethoden nicht mehr greifen, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wie die Psychotraumatologie lehrt. Wenn Menschen mit schlimmen Erfahrungen konfrontiert werden, schwere Unfälle und Katastrophen verarbeiten sollen, können bisherige Fähigkeiten und bewährte Hilfsmittel versagen.32 Durch die Krise ist die psychische Existenz oder die soziale Identität gefährdet. Sie kann als „Verlust des seelischen Gleichgewichts, wenn Ereignisse oder Lebensumstände nicht bewältigt werden können“33 gesehen werden.

Krisen können (aber müssen nicht) zu signifikanten Verhaltensänderungen von Einzelpersonen, Gruppen, ganzer Staaten führen. Als die Neue Zürcher Zeitung, wie bereits in der Einleitung erwähnt, die ganze Psychologie in der Krise sah, war eklatantes wissenschaftliches Fehlverhalten und Betrug gemeint. Forschungsprojekte und Studien schienen zu beliebig zu sein, wissenschaftliche Kontrollmechanismen nicht zu funktionieren.

Identitätsprobleme, fehlende Existenzberechtigung – das wären sicherlich gute Gründe für eine handfeste Krise der Psychologie. Identität wird in psychologischen Nachschlagewerken als „Bezeichnung für eine auf relativer Konstanz von Einstellungen und Verhaltenszielen beruhende, relativ überdauernde Einheitlichkeit in der Betrachtung seiner selbst oder anderer“34 gesehen. Und tatsächlich: Die Geschichte der Psychologie ist voll von Krisen-Diskussionen, in denen die Fachidentität eigentlich immer eine Rolle spielte. Besonders prominent thematisierte der einflussreiche Karl Bühler erstmals 1926 die beziehungslose Konkurrenz der verschiedenen wissenschaftlichen Strömungen in seinem Buch Die Krise der Psychologie. Bühler wendet sich darin klar gegen eine „sinnfreie Theorie des Seelenlebens“35 und sieht im Sinn von Erlebnissen ein zentrales Element der Psychologie.

In einer Arbeit von Thomas Sturm und Annette Mühlberger („Crisis discussion in psychology“36) wird ein Überblick über den Verlauf der Krisen-Diskussion in der Psychologie dargestellt. Sie beziehen sich naturgemäß sehr stark auf die Paradigmentheorie von Thomas Kuhn, der für die Naturwissenschaften (!) die These entwickelte, dass jedem Paradigmenwechsel eine Krise vorangeht. Krisen können sich demnach auf methodische oder ontologische Grundannahmen einer Disziplin beziehen, auf theoretische oder empirische Probleme oder aber auf mangelnde praktische Relevanz für gesellschaftliche Problemstellungen. Als Krise im Rahmen der Psychologie wurde schon früh gesehen, dass der konzeptionelle Rahmen des Faches der einer Naturwissenschaft nicht angemessen sei, d.h. der „Mangel“ an wertfreier (!) Erkenntnis und strikten wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten.

Genau der gegenteiligen Ansicht war in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Hans Driesch: Zu viel Naturwissenschaft war sein Befund in seinem Buch The Crisis in Psychology37. So liege die Krise primär in der Frage, welche Richtung die Psychologie in der Zukunft gehen soll. Die phänomenologische Beschreibung psychischer Entitäten solle das naturwissenschaftliche Zerteilen ablösen. Seine „moderne Psychologie“ impliziert, dass dem Unbewussten eine ganz zentrale Rolle zukommt, ein Bereich, den die naturwissenschaftliche Richtung weitgehend negiert. Demzufolge kommen Träumen, Hypnose, Halluzinationen, Illusionen und (Auto-)Suggestionen eine besondere Bedeutung zu.

Überhaupt kritisiert Driesch den Versuch, psychische Phänomene auf physiologische Prozesse und Strukturen zurückzuführen. Zentrale Begriffe in seiner „modernen Psychologie“ sind Sinn (meaning) und Bedeutsamkeit (significance). Besonders auf Ersteren werde ich in diesem Buch noch zurückkommen. Hans Driesch bringt seine Kritik sehr treffend auf den Punkt: „Eine Psychologie, die Sinn und Bedeutsamkeit in den einzelnen Akten psychischen Lebens nicht erklärt und die der Bereicherung des Lebensprozesses durch Sinn und Bedeutsamkeit nicht ausreichend Beachtung schenkt, ist eine Psychologie, die ihre Hauptanliegen unberücksichtigt lässt.“38 Er postuliert eine psychische Ganzheit, die mit physiologischen und damit chemischen Prozessen nicht erklärbar ist.

Ein weiterer Kritikpunkt lag schon damals in der mangelnden praktischen Anwendbarkeit von Forschungsergebnissen. Aus einer interdisziplinären Sichtweise wären besonders Historiker und Soziologen auf sinnvolle Erkenntnisse aus der Psychologie angewiesen. Driesch formulierte dazu die Psychologie explizit als angewandte Wissenschaft. Mit Ergebnissen aus einer rein experimentellen – naturwissenschaftlich orientierten – Psychologie konnten Geisteswissenschaftler schon damals wenig anfangen. Aus gutem Grund: Ergebnisse aus Experimenten sind zwar sehr exakt, die Übertragbarkeit auf alltägliche Situationen ist aber in vielen Fällen nicht möglich. Zu künstlich sind die Situationen, die in solchen Studien geschaffen werden.

Ein weiteres Zitat in Drieschs Krisenbuch verdeutlicht, was er mit einer neuen, angewandten Psychologie meint und was er von der „alten Psychologie“ hält: „Die alte Psychologie wurde, zumindest weitgehend, dem Seelenleben, wie es der natürliche Mensch erfährt, absolut entfremdet. Sie ‚erklärte‘ etwas, das gar nicht existiert! Die moderne Psychologie dagegen versucht zu erklären, was wirklich da ist. Die populäre Sicht vom Seelenleben wird vertieft, nicht ersetzt.“39 Dass die Psychologie Dinge erklärt, die von niemandem außerhalb der Psychologie als Problem oder auch nur als Thema wahrgenommen werden, ist ein Befund, der auch von anderen Autorinnen und Autoren geteilt wird. Zum Teil widersprechen wissenschaftliche Theorien nicht nur klinischer bzw. praktischer Erfahrung, sondern schlicht dem common sense, also dem gesunden Menschenverstand.

Drieschs völlige Ablehnung des psychophysischen Parallelismus ist deckungsgleich mit der der Neuropsychologinnen und -psychologen, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Seelische Phänomene sind aus seiner Sicht nicht mit physiologischen Grundlagen zu erklären, es gilt das absolute Primat des Psychischen – eine Radikalposition, die mittlerweile etwas aus der Zeit gefallen zu sein scheint.

Ebenso wie Hans Driesch wirft auch – etwa zwanzig Jahre später – Peter Hofstätter die Frage nach der praktischen Relevanz der Psychologie auf. Er sieht das Fach, das nicht in der Lage ist, praktische Themen zufriedenstellend zu behandeln, in einer „Absterbenskrise“. Hier geht es also um Sein oder Nichtsein. Hofstätters Idee zur Lösung dieser Krise ließe sich sicherlich mit den Überlegungen von Driesch vereinbaren: Ausweg sei eine praktische Psychologie, die säkulare, nicht-therapeutische Hilfestellungen für Menschen liefert.40 Die Psychologie solle nicht in Konkurrenz zur Psychiatrie treten, denn ihr gehe es um Gesundheit, nicht um Pathologie. Innere und äußere Konflikte seien keine Krankheit. Hier wird – ähnlich wie bei Driesch – das Befremden darüber deutlich, dass Körper und Seele als Elemente völlig gleichen Ursprungs angesehen werden.

Ein weiteres Element der Krise bei Hofstätter ist die Enttäuschung, dass die Psychologie das durch die sinkende Bedeutung der Religion entstandende Vakuum nicht füllen konnte.41 Diese (europäische) Lücke – so könnte man mit heutigem Wissensstand ergänzen – wird heute von der Esoterik mit ihren zahllosen Angeboten gefüllt. Zahlreiche Studien zeigen, dass das Bedürfnis nach Spiritualität bzw. einer tragenden Idee, einem übergeordneten Sinn, nach der Verbindung mit etwas Transzendentem keineswegs abgenommen hat. Reduziert hat sich nur der konfessionelle Glaube und damit verbunden die Deutungshoheit der Kirche(n).42

Auch in den 70er Jahren war von einer Krise eines prominenten Teilbereichs des Faches die Rede: der Sozialpsychologie. Cathy Faye von der York University in Toronto berichtet, dass sich zu diesem Zeitpunkt die experimentelle Methode bereits durchgesetzt hat. Die berühmten Experimente von Stanley Milgram (Gehorsam) und Leon Festinger (kognitive Dissonanz) lagen bereits einige Zeit zurück, als sich Kritik am experimentellen Vorgehen äußerte. Versuchspersonen wären keine passiven Objekte der Forschung, sondern würden aktiv das Geschehen interpretieren, der Untersuchung einen Sinn zuschreiben und damit die Ergebnisse beeinflussen. Nicht nur methodisch krachte es, sondern – wieder einmal – hinsichtlich der praktischen Verwertbarkeit von Studien­ergebnissen. Die Sozialpsychologie schien am Bedarf vorbeizuforschen. So kritisierte Irvin Silverman, die Sozialpsychologie habe nicht viele Daten geliefert, die für soziale Missstände relevant wären. Auch stünden Experimente sehr viel stärker mit den Motiven, Gefühlen und Gedanken der Probandinnen und Probanden in Bezug auf ihre Rolle im Experiment im Zusammenhang als mit ihrem wirklichen Leben.43 Als problematisch wurde schon damals gesehen, dass Daten aus künstlichen Situationen entstünden und Personen aus ihrem sozialen Kontext herausgelöst würden.

Aktuell ist zwar kaum noch von einer Krise der Psychologie die Rede, dennoch sind viele der angesprochenen Probleme nicht gelöst, insbesondere die folgenden:

• Die mangelnde Integration der verschiedenen Ansätze und Perspektiven: Psychologisches Denken lässt sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Behaviorismus, kognitive, biologische, humanistische, psychodynamische Perspektiven – sie alle haben völlig verschiedene Grundannahmen über den Menschen und postulieren jeweils, welche Forschungsmethoden angewendet werden dürfen und welche nicht.

• Die „falsche“ oder eingeschränkte Themensetzung, die einige Autorinnen und Autoren konstatieren. Die Kritik konzentriert sich hier häufig darauf, dass sich die Psychologie mit ureigensten Themen nicht oder nur unzureichend auseinandersetzt (z.B. mit dem Unbewussten, wie Hans Driesch postuliert).

• Das Ignorieren grundlegender transpersonaler Bedürfnisse. Menschen möchten in ihrem Leben Sinn sehen bzw. ihren Handlungen Bedeutung beimessen. Die Frage der Transzendenz oder Transpersonalität behandelt hier nicht nur religiöse oder spirituelle Themen, sondern generell das Denken in Sinn- und Bedeutungszusammenhängen, die über das einzelne Individuum hinausgehen.

• Die mangelnde praktische Verwertbarkeit von Ergebnissen aus der Forschung. Wissenschaft bildet ein eigenes Milieu, das sich vom Rest der Welt abschottet und damit kaum Fragen thematisiert, die gesellschaftlich relevant oder deren Beantwortung für die Praxis besonders wichtig wären.

Krisen, Zahlenlastigkeit und die vielen anderen Kritikpunkte an der Psychologie sind aber nicht nur aus der Fachgeschichte verstehbar. Es wäre unfair, den gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die Disziplin bewegt, außer Acht zu lassen. Daten, Fakten, Effizienz und Wirksamkeit sind die Modewörter unserer Zeit. Und das hat einen Grund: die Ökonomie mit ihren Wertvorstellungen ist zur Leitdisziplin schlechthin geworden. Sie ist die lingua franca der Wissenschaft und der Gesellschaft. Was nicht auf harten Statistiken beruht, hat nicht nur keinen Wert, es ist schlicht nicht da. Eine Humanwissenschaft, die den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen will, muss das Primat der Ökonomie brechen ...