Der Autor

Robert Brack – Foto © CHARLOTTE GUTBERLET

Robert Brack, geboren 1959, lebt seit 1981 in Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und freier Schriftsteller. Für seine historischen und politischen Kriminalromane wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Mehr unter: www.gangsterbuero.de
Von Robert Brack sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Toten von St. Pauli
Die Morde von St. Pauli

Das Buch

Hamburg, im März 1931. Kriminalkommissar Alfred Weber ist inzwischen bei der Politischen Polizei und hat ganz andere Sorgen, als sich um die Todesfälle der Hochbahn zu kümmern: Mitten in der Polizeizentrale ist ein Mordanschlag verübt worden. Der Täter ein Nazi, das Opfer Webers Vorgesetzter. Die Lage ist angespannt, rechte Kreise bemühen sich um Zugang zur Macht.
Im Zuge seiner Ermittlungen stößt Alfred Weber auf einen Zusammenhang mit den Todesfällen in der Hamburger Hochbahn. Offenbar ist die Unterwelt von St. Pauli mit den Nationalsozialisten eine gefährliche Allianz eingegangen. Weber ermittelt nun auf eigene Faust und gerät selbst ins Visier der Mörder …
Ausgehend von zwei wahren Mordfällen im März 1931 erzählt Robert Brack von den sozialen Konflikten und der gesellschaftlichen Stimmung in Hamburg Anfang der Dreißigerjahre und den sich verschärfenden Machtkämpfen innerhalb der Polizeibehörde.

Robert Brack

Der Kommissar von St. Pauli

Kriminalroman

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage September 2018
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: plainpicture / © Thomas Grimm; © FinePic®, München (Hintergrund)
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ISBN 978-3-8437-1812-7

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Motto

»In gewaltiger Anspannung legt sich der gleißende Leib der Hochbahnschienen über Hamburgs Straßen und Wasser, drängt sich hinunter mit wühlenden Kräften in der Erde Dunkelheit, ausgestreckt zu fossiler Größe wie ein Nachkomme der Midgardschlange.«
Hamburgischer Correspondent

Prolog: Hurra ich lebe!

Es war einmal eine U-Bahn-Station von vollendeter Schönheit, in der lauerten Zerstörung und Vernichtung.

Nein, das ist nicht angenehm, aber schauen wir doch weiter:

In Hamburg am Hafentor unterhalb des Stintfangs erhob sich das turmartige Eingangsgebäude der Hochbahn-Haltestelle gegenüber den Landungsbrücken, wo tuckernde Barkassen auf Fahrgäste warteten und kleine Dampfer mit heiseren Sirenen Touristen zu einer Ausflugstour auf der Elbe anlockten.

Das klingt freundlicher und entspricht der Wahrheit.

Das Stationsgebäude stand unterhalb des klassizistischen Seewarten-Gebäudes und war nicht weniger wuchtig. Eine breite steinerne Treppe, die eines venezianischen Palazzos würdig gewesen wäre, führte auf eine zweiflügelige Tür zu, über der sich ein eleganter Turm aus Steinquadern in den Himmel reckte, gekrönt von einem Dachgeschoss mit bunten Bleiglasfenstern und einem geschwungenen Kupferdach.

Ein herrlicher Anblick, das muss ich zugeben.

Auf jeden Neuankömmling, der gerade von einem der hier anlegenden Seeschiffe an Land gestiegen war, musste der kolossale Turm wie ein Festungsgebäude wirken. Tatsächlich aber sollte dieses Monstrum dem Fremden bloß den Weg zur Hochbahn weisen, deren Züge entlang des Hafenrands über eine hohe Eisenbrücke Richtung Innenstadt ratterten.

Wie aufregend kann man doch eine Stadt inszenieren!

So empfand es auch die junge Frau in dem etwas zu großen Wollmantel, unter dem sie ein Hemdkleid aus zu dünnem Stoff trug, weshalb sie wohlig fröstelte. Ich sah sie gut, ich folgte ihr. Über ihrem Bubikopf trug sie eine Baskenmütze, lässig über das rechte Ohr gezogen. Es war erst Anfang März und noch sehr kalt, nicht zuletzt aufgrund der schweren Wirtschaftskrise, die die kapitalistische Welt auch im Jahr 1931 noch nicht überwunden hatte.

Die junge Frau jedoch war optimistisch gestimmt, denn sie hatte seit Anfang des Jahres eine Stelle in einem Schreibbüro, die zwar schlecht bezahlt, aber solide war, und neuerdings sogar einen Freund, der ihr gerade im »St. Pauli Fährhaus« einen Kaffee mit Schuss spendiert hatte.

Jedenfalls bildete sie sich das ein. Täuschte sie sich etwa? Aber nein, für sie war es die reine Wahrheit.

Beschwingt stieg sie die breite Treppe zum Hochbahn-Eingang hinauf.

An Zerstörung und Vernichtung dachte sie gewiss nicht. Sie dachte an ihn: An Jeremias, den netten jungen Mann, der in einem kleinen Handelskontor arbeitete, ein überaus charmanter und witziger Mensch. Na gut, er war offenbar Jude, aber das war ihr einstweilen schnurzpiepegal, solange er etwas hermachte und spendabel blieb.

Man liebt, was man lieben soll, wer wüsste das besser als ich? Wer wüsste besser als ich, was sie dachte: Falls es irgendwann – nicht zu bald, aber auch nicht in allzu weiter Ferne – etwas intimer wurde, wollte sie eigenhändig herausfinden, was es mit diesem kleinen Unterschied auf sich hatte, von dem ihr eine Freundin kürzlich erzählt hatte.

Und nun wurde sie ganz träumerisch: Jeremias und Juliane, das klang doch gar nicht schlecht! Nicht schlecht, Frau Specht, kaum hatte sie sich in Hamburg niedergelassen, hatte sie auch schon ein Rendezvous. Es ließ sich gut an. Und wenn der Sommer kam, vielleicht wurde ihr dann richtig schön heiß. Vielleicht schon an Pfingsten, wenn’s in die Sommerfrische ging, bei der »Pfingsttour«, von der die Kolleginnen so geschwärmt hatten. Sie stellte sich vor, wie sie auf dem warmen Gras lag und die Grillen zirpten und sie sich zurückbog und seine Schultern sich senkten und seine Augen kurz aufleuchteten, bevor er sie schloss, weil ihm genauso schwindelig wurde wie ihr selbst.

Das dachte sie sich, dessen bin ich mir gewiss. Aber wie sie sich das so vorstellte, wurde ihr doch ein bisschen blümerant. Schwummerig. Schwindelig sogar. Hoppla, dachte sie, wieso dreht sich denn jetzt alles in meinem Kopf? Stütz dich doch mal kurz an der Wand ab. Normalerweise sitzt so eine Unpässlichkeit doch tiefer, Mädchen, wieso denn jetzt im Kopf? Sollte das etwa eine Folge aufwallender Gefühle sein? Na, vielen Dank auch, ausgerechnet jetzt, wo die Mittagspause vorbei ist und ich mich sputen muss!

Da hörte sie das Lerchengezwitscher hoch oben über einem weiten Feld. Und stimmte mit ein … und ließ sich fallen …

Na bitte.


Später wurde es im Polizeibericht so formuliert, als Ergebnis zusammengeführter Zeugenaussagen:

»Die Opferperson trat um 13.41 Uhr aus dem Lokal ›Fährhaus‹, blieb kurz stehen und schaute offensichtlich auf ihre Damenarmbanduhr. Anschließend lief sie zügig auf die Treppe zu, die zum Eingang Hochbahnstation führt. Dabei ist sie offenbar kurz mit dem linken Fuß umgeknickt oder gestrauchelt, erreichte aber das Portal, ohne anzuhalten. In der Tür hielt sie inne und stützte sich am Rahmen ab. Dabei soll sie leise aufgelacht haben. Möglicherweise ist das Geräusch, das sie von sich gab, aber auch auf einen Schluckauf zurückzuführen. Sie soll im Lokal ja Alkohol getrunken haben. Nun wandte sie sich nach rechts und bewegte sich auf den Aufgang zu, der zum Bahnsteig in Richtung Innenstadt führt. Nach wenigen Stufen blieb sie stehen und stützte sich mit der rechten Hand an der Wand ab. In dieser Stellung und laut schnaufend, wie mehrere Zeugen übereinstimmend berichteten, verharrte sie einige Minuten. Widersprüchlich wurde berichtet, sie habe gelacht oder geweint. Schließlich stieg sie weiter die Treppe hinauf zum Bahnsteig. Oben angekommen, trippelte sie mit kleinen Schritten ›wie eine aufgezogene Puppe‹ bis zum Unterstand des Haltestellenaufsehers und blieb dort stehen. Nachdem drei Züge abgefertigt worden waren und die junge Frau immer noch dastand, trat der Aufseher zu ihr und fragte sie, wohin sie denn fahren wolle. ›Zur Arbeit‹, sagte sie und starrte dabei zu Boden. Der Aufseher bemerkte hierzu, sie müsse schon in den Zug steigen, um transportiert zu werden. Daraufhin antwortete sie wörtlich: ›Keine Sorge, ich tu’s ja gleich.‹ Dabei schaute sie ihn zum ersten Mal an. ›Ihre Augen waren voller Tränen‹, so der Aufseher, ›sie presste die Lippen zusammen, als müsste sie noch genügend Mut finden für das, was sie sich vorgenommen hatte.‹ Der Aufseher ging zurück auf seinen Posten. Als der Zug aus Richtung Millerntor sich lautstark ankündigte und um die Kurve fuhr, rannte die junge Frau ihm entgegen, wobei sie zwei wartende Passagiere roh beiseiteschob, und warf sich vor den ersten Wagen, der sie erfasste und mit sich zog. Dabei wurde dem Opfer von einem Rad der Kopf abgetrennt. Jede Hilfe kam zu spät, sie war augenblicklich tot. Der Hochbahn-Verkehr wurde sofort gestoppt, die Haltestelle von den Aufsehern umgehend geräumt. Bis zum gleichzeitigen Eintreffen von Polizei und Samaritern wurde an Zug und Opfer nichts verändert. Die Augen der Toten waren weit aufgerissen, der Mund zu einem grotesken Lächeln verzerrt.«

Anmerkung eines bearbeitenden Kriminalbeamten: »Von dem Mann, der mit dem Unfallopfer kurz zuvor in der Gaststätte ›St. Pauli Fährhaus‹ einen Kaffee mit Cognac verzehrt hat, fehlt jede Spur. Sein Name ist nicht bekannt, die Personenbeschreibung dürftig, siehe Anlage 3a (gez. KS Erichs).«

Über das, was im Kopf der jungen Frau kurz vor ihrem Selbstmord vorgegangen war, war im Polizeibericht natürlich nichts vermerkt.