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Für Jette



Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz



ISBN 978-3-8270-7768-4
November 2016
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1998
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Alle im Buch vorkommenden Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhalt

Kapitel 1 – Zeus

Renate Meurer erzählt von einer Busreise im Februar 90. Am zwanzigsten Hochzeitstag ist das Ehepaar Meurer zum ersten Mal im Westen, zum ersten Mal in Italien. Den mitreisenden Dieter Schubert treibt eine Buspanne vor Assisi zu einer verzweifelten Tat. Austausch von Erinnerungen und Proviant.

Kapitel 2 – Neues Geld

Conni Schubert erzählt eine alte Geschichte: Ein Mann kommt in die Stadt, macht Geschäfte, nimmt sich ein Mädchen und verschwindet. Blauäugigkeit und Voraussicht.

Kapitel 3 – Mal eine wirklich gute Story

Danny erzählt von Krokodilsaugen. Sie schreibt zuwenig für Anzeigenkunden und zuviel über Schlägereien. Christian Beyer, ihr Chef, ist unzufrieden. Peter Bertrams Geschichte. Zum Schluß muß sich Danny etwas ausdenken.

Kapitel 4 – Panik

Martin Meurer erzählt von seinem Werdegang und einer Reise ohne Auto. Seine Frau fährt Rad. Erlebnisse mit einer Touristin und einem Taxifahrer in Halberstadt.

Kapitel 5 – Zugvögel

Lydia erzählt von Dr. Barbara Holitzschek, die behauptet, einen Dachs überfahren zu haben. Ein langes Gespräch über Tiere. Die Unfallstelle. Rätselhaftes Ende ohne Dachs.

Kapitel 6 – So viel Zeit in einer Nacht

Patrick erzählt von den Schwierigkeiten, im Dunkeln ein Haus zu finden. Geburtstagsfeier auf dem Land. Rückfahrt mit Verfolgungsjagd und Tankstellenparty.

Kapitel 7 – Sommerfrische

Wie Renate und Ernst Meurer ein verlassenes Wochenendhaus herrichten. Die kaputte Scheibe. Meurer bleibt allein zurück und unternimmt einen Spaziergang. In der Nacht hört er Gesang.

Kapitel 8 – Der Atem an meinem Hals

Dr. Barbara Holitzschek erzählt von einem nächtlichen Anruf. Hanni legt im Spiel ein Geständnis ab und erkundigt sich nach dem Leben mit einem berühmten Mann. Die Tochter, die Katze und die Schildkröte.

Kapitel 9 – Dispatcher

Warum sich Taxiunternehmer Raffael keinen Arbeitsplatz aus den Rippen schneiden kann und Orlando als Fahrer ungeeignet ist. Gewollte und ungewollte Verwirrung. Für die Jahreszeit zu warm.

Kapitel 10 – Lächeln

Martin Meurer erzählt, wie er seinen leiblichen Vater nach vierundzwanzig Jahren wiedersieht. Eine unerwartete Beichte. Gläubige werden seltener krank und leben länger. Die Apostelgeschichte und Topflappen.

Kapitel 11 – Zwei Frauen, ein Kind, Terry, das Monstrum und der Elefant

Wie Edgar, Danny und Tino in eine gemeinsame Neubauwohnung mit Balkon ziehen. Der Duft von Bratwürsten. Große und kleine Katastrophen. Flecken auf Sessel und Kelim.

Kapitel 12 – Die Killer

Wie Pit Meurer und Edgar Körner im Vorzimmer vom »Möbelparadies« auf ihren Mitbewerber Christian Beyer treffen. Die Sekretärin, Marianne Schubert, bewirtet die Wartenden. Eile mit Weile macht Nerven wie Seile.

Kapitel 13 – Du kannst jetzt

Marianne Schubert erzählt von Hanni. Schwierigkeiten beim Einschlafen, Vorwürfe und Lockrufe. Durch eine wichtige Erkenntnis gerät Marianne Schubert in gute Stimmung.

Kapitel 14 – Spiegel

Was sich Barbara und Frank Holitzschek zu sagen haben. Eine Szene im Badezimmer. Der Politiker reagiert nicht und wundert sich dann. Den Schuh auf der Flucht verloren.

Kapitel 15 – Big Mac und Big Bang

Wie Dieter Schubert und Peter Bertram über zwei Frauen reden. Karpfenjagd – ein neuer Sport. Schwierigkeiten mit dem Objekt des Erfolgs und seiner Dokumentation. Stiche in der Herzgegend. Nebel und Morgensonne.

Kapitel 16 – Büchsen

Wie sich Schwesternschülerin Jenny und Patientin Marianne Schubert nahe dem Berliner Virchow-Klinikum treffen und über einen toten Mann sprechen. Maik, ein junger Kellner, bedient sie. Jennys Zigarette bleibt im Aschenbecher liegen. Vergängliche und ewige Werte.

Kapitel 17 – Schulden

Christian Beyer erzählt von einem Sommerurlaub in New York mit Hanni, seiner neuen Freundin. Ein unerwarteter Besuch. Männer, Geld und Wasser.

Kapitel 18 – Der Morgen nach dem Abend

Frank Holitzschek erzählt von einem Morgen Ende Februar. Barbara und die jüngste Entwicklung ihres Alptraums. Franks Aufmunterungsversuche. Enrico Friedrich, Lydia und Fotos.

Kapitel 19 – Ein Wunder

Wie Enrico Friedrich eine Flasche Martini geschenkt bekommt. Er erzählt Patrick vom plötzlichen Erscheinen und Verschwinden Lydias. Dabei trinkt er sich selbst unter den Tisch. Patrick schweigt und stellt ihm zum Schluß eine Gretchenfrage.

Kapitel 20 – Kinder

Edgar Körner erzählt von einer Fahrt mit Danny über ein Stück alte Autobahn. Die Frau am Steuer, oder wenn beide gerne fahren. Wahre und erfundene Geschichten. Wirkliche Liebe kann warten.

Kapitel 21 – Nadeln

Wie Martin Meurer in seiner neuen Wohnung den ersten Besucher empfängt. Ein Mann für Fadila. Fische in Flasche und Schüssel. Lebensläufe. Die Säuberung eines Balkondachs. Auf wen wartest du?

Kapitel 22 – Vorbei ist vorbei

Ein Gespräch im Parkkrankenhaus Dösen. Wie Renate und Martin Meurer die kurze Geschichte des Ernst Meurer erzählen. Dr. Barbara Holitzschek schreibt mit. Was aus der Liebe wird. Eine verunglückte Ehefrau und eine verliebte Tramperin.

Kapitel 23 – Sendeschluß

Wie Christian Beyer beteuert, daß Hanni seine Pläne mißverstanden hat. Plötzlich ist alles ganz anders. Ein gequälter Unternehmer und ein korrupter Beamter. Nur weil die Belege fehlen. Augen zu – vielleicht macht es ja Spaß. Eine Zugfahrt in stiller Nacht.

Kapitel 24 – Vollmond

Pit Meurer erzählt vom Ende einer Betriebsparty. Peter Bertram und er sehen Hanni unter den Rock. Pläne für den Heimweg. Marianne Schubert tritt als Amazone auf. Die Geburt eines Ritters, der Beginn einer Liebe und der mißglückte Versuch, sich freizukaufen.

Kapitel 25 – Mein Gott, ist die schön!

Wie Edgar Körner Geschichten erzählt und Jenny und Maik in ein Motel einlädt. Plötzlich will er auf und davon. Das gelingt nicht. Die Kellnerin wendet sich einem jungen Helden zu.

Kapitel 26 – Blinking Baby

Berlin, ein Sonntagabend im August. Lydia erzählt von Jenny, Maik, Jan und Alex und ißt Milchreis. Ein alter Mann sitzt auf seinem Balkon. Die Signallampe steht auf dem Fensterbrett. Wer und was wohin gehört.

Kapitel 27 – Der falsche Mann

Wie Patrick Danny verläßt. Eine Szene im Wohnzimmer. Lydias Brief und ihre zusätzlichen Pfunde. Tino, Terry und das Monstrum.

Kapitel 28 – Schnee und Schutt

Taxiunternehmer Raffael erzählt von den Scherereien mit einem Schriftsteller und einem Ofen. Enrico Friedrich hat seinen Vornamen geändert und will sich das Bein brechen. Böse Nachbarn. Wo man überall glücklich sein kann.

Kapitel 29 – Fische

Jenny erzählt von einem neuen Job und Martin Meurer. Der Chef weist ein. Wo ist die Nordsee? Erst geht alles gut. Dann muß Jenny Überzeugungsarbeit leisten. Was passierte bei der Sintflut mit den Fischen? Zum Schluß erklingt Blasmusik.

Kapitel 1 – Zeus

Renate Meurer erzählt von einer Busreise im Februar 90. Am zwanzigsten Hochzeitstag ist das Ehepaar Meurer zum ersten Mal im Westen, zum ersten Mal in Italien. Den mitreisenden Dieter Schubert treibt eine Buspanne vor Assisi zu einer verzweifelten Tat. Austausch von Erinnerungen und Proviant.

Es war einfach nicht die Zeit dafür. Fünf Tage mit dem Bus: Venedig, Florenz, Assisi. Für mich klang das alles wie Honolulu. Ich fragte Martin und Pit, wie sie denn darauf gekommen seien und woher überhaupt das Geld stamme und wie sie sich das vorstellten, eine illegale Reise zum zwanzigsten Hochzeitstag.

Ich hatte mich darauf verlassen, daß Ernst nicht mitmacht. Für ihn waren ja diese Monate die Hölle. Wir hatten wirklich anderes im Kopf als Italien. Aber er schwieg. Und Mitte Januar fragte er, ob wir nichts vorbereiten müßten – am 16. Februar, einem Freitag in den Schulferien, sollte es losgehen – und wie wir mit unseren DDR-Papieren über die italienische Grenze kämen und über die österreichische. Als ich ihm sagte, was ich von den Kindern wußte, daß wir von dem Reisebüro in München westdeutsche Ausweise erhalten würden, gefälschte wahrscheinlich, spätestens da dachte ich, jetzt ist Schluß, nicht mit Ernst Meurer. Aber er fragte nur, ob die beiden Paßbilder dafür gewesen seien. »Ja«, antwortete ich, »zwei Paßbilder, Geburtsdatum, Größe und Augenfarbe – mehr brauchen die nicht.«

Es war wie immer. In den dunkelgrünen Koffer packten wir unsere Sachen, in die schwarzrot karierte Tasche Besteck, Geschirr und Proviant: Wurst- und Fischkonserven, Brot, Eier, Butter, Käse, Salz, Pfeffer, Zwieback, Äpfel, Apfelsinen und je eine Thermoskanne Tee und Kaffee. Pit fuhr uns nach Bayreuth. An der Grenze fragten sie, wohin wir wollten, und Pit sagte Shopping.

Der Zug hielt in jedem Nest. Außer Schnee, beleuchteten Straßen, Autos und Bahnhöfen sah ich nicht viel. Wir saßen zwischen Männern, die zur Arbeit fuhren. Als Ernst eine Apfelsine schälte, dachte ich zum ersten Mal wirklich an Italien.

Auf dem Münchner Bahnhof werden Ernst und er sich erkannt haben. Ich bekam davon nichts mit. Woher sollte ich wissen, wie er aussieht? Nicht mal seinen richtigen Namen hätte ich angeben können.

Ab Venedig erinnere ich mich an ihn. Ein mittelgroßer Mann mit hastigen Bewegungen und einem schlechtsitzenden Glasauge ohne Lidschlag. Er schleppte so einen Wälzer mit sich herum, einen Finger zwischen den Seiten, um immer, wenn Gabriela, unsere italienische Reiseleiterin, etwas erklärte, seinen Senf dazugeben zu können. Ein richtiger Besserwisser eben. Andauernd strich er sein schwarzgraues Haar zurück, das ihm im nächsten Augenblick wieder über Stirn und Augenbrauen fiel.

Den Dogenpalast und die Säule mit dem Löwen kannte ich aus dem Fernsehen. Die Venezianerinnen – selbst die in meinem Alter – trugen kurze Röcke und schöne, altertümliche Käppchen. Wir waren viel zu dick angezogen.

Um unabhängig zu sein, nahmen wir tagsüber in der Provianttasche ein paar Konserven, Brot und Äpfel mit. Abends aßen wir auf dem Zimmer. Ernst und ich sprachen nicht viel, aber immerhin mehr als in den letzten Monaten. »Una gondola, per favore«, rief er mal morgens beim Waschen. Überhaupt machte Ernst den Eindruck, als ob ihm Italien gefiel. Einmal griff er sogar nach meiner Hand und hielt sie fest.

Ihn hat er mit keinem Wort erwähnt. Bis zuletzt nicht. Das heißt, in Florenz, als wir darauf warteten, daß alle vom Glockenturm herunterkämen, fragte Ernst: »Wo ist denn unser Bergsteiger?« Ich achtete nicht darauf oder glaubte, die beiden hätten sich irgendwann mal unterhalten – Ernst ging ja immer vor mir zum Frühstück. Er sagte noch etwas von Klimmzügen am Türrahmen. Vorher, in Padua, wollte der Bergsteiger unbedingt, daß wir anhielten, um eine Kapelle zu besichtigen oder eine Arena, was gar nicht im Programm stand. Ich drehte mich nach ihm um – er saß ganz hinten. Sein Blick ließ sich von nichts irritieren und ging geradewegs zur Frontscheibe hinaus, als wären wir alle nur dafür da, den Herrn endlich an sein Ziel zu bringen. Vielleicht bin ich ungerecht, vielleicht wäre er mir ohne das spätere Spektakel gar nicht in Erinnerung geblieben, vielleicht werfe ich auch die Reihenfolge durcheinander, aber ich erfinde nichts.

Sie müssen mal versuchen, sich das vorzustellen. Plötzlich ist man in Italien und hat einen westdeutschen Paß. Ich hieß Ursula und Ernst Bodo, Wohnort: Straubing. Unsere Nachnamen habe ich vergessen. Man befindet sich auf der anderen Seite der Welt und wundert sich, daß man wie zu Hause trinkt und ißt und einen Fuß vor den anderen setzt, als wäre das alles selbstverständlich. Wenn ich mich beim Zähneputzen im Spiegel sah, konnte ich noch viel weniger glauben, in Italien zu sein.

Bevor wir Florenz in Richtung Assisi verließen, es war unser letzter Tag, hielt der Bus auf einem Parkplatz, von dem aus wir über die Stadt blicken konnten. Der Himmel war bedeckt. Ernst kaufte einen Teller mit der Darstellung Dantes und schenkte ihn mir – zum Hochzeitstag.

Dann fuhren wir durch Regen, und allmählich wurde es so neblig, daß ich außer Leitplanken nichts sah und einschlief.

Als Ernst mich weckte, stiegen die ersten schon aus. Wir standen bei einer Tankstelle. Irgendwas war mit dem Motor oder dem Auspuff. Es schneite auf die Schirme, und die Autos fuhren mit Licht, richtiges Pannenwetter. Unser Fahrer suchte ein Telefon. Ich weiß noch genau, wie er dann die Unterarme bewegte, so über Kreuz, hin und her. Gabriela verkündete, daß wir auf den Werkstattservice warten müßten. Sie schlug vor, Perugia und seine Sehenswürdigkeiten zu besichtigen.

Wir holten unsere Mäntel heraus und liefen im Gänsemarsch zur Altstadt hinauf, Gabriela und der Bergsteiger vorneweg. Der war aufgebracht und bestand darauf, nach Assisi gefahren zu werden, das bei gutem Wetter angeblich von hier aus zu sehen sei. »Zum Greifen nah«, hat er immer wieder gesagt. Dabei war es ein Mordsglück, daß wir nicht irgendwo auf der Autobahn oder der Landstraße herumirren mußten.

Auf dem Fußweg blieb der Schnee inzwischen liegen. Kunstmuseum und Kirchen waren geschlossen, Mittagspause. Gabriela führte uns um den Maggiore-Brunnen, sagte einiges zum Rathaus und zur Kathedrale, die riesig wirkte, weil ihre Mauern im Nebel verschwanden. Seit über 500 Jahren stehe die Fassade unverkleidet da, worauf eine Frau aus Plauen meinte, daran gemessen schneide die DDR gar nicht schlecht ab. So spottete sie ständig. Ernst reagierte nie. Er überhörte das einfach.

Am Marktplatz verteilte sich die Gruppe auf verschiedene Lokale. Unseres hieß »Victoria«.

Bisher hatten wir nur für den Dante-Teller und ein paar Tassen Kaffee Geld ausgegeben. Deshalb beschlossen wir, uns etwas zu bestellen. Der Kellner schlängelte sich in seiner langen weißen Schürze um die wenigen Tische, die nun auf einen Schlag besetzt waren. Manchmal erstarrte er mitten in der Bewegung und reckte seinen Oberkörper einem Rufer entgegen. Nur vor dem Fernseher, wo er die Zieleinfahrt eines Skifahrers abwartete, war er plötzlich taub. Mit uns saßen zwei Männer aus Dresden am Tisch, ein Kinderarzt und ein Bühnenbildner, die beide etwas Italienisch konnten und uns die Speisekarte erklärten. Ernst versuchte, den Kellner heranzuwinken, während ich darauf achtete, daß sein Finger nicht von der Zeile mit »Pizza con funghi« rutschte.

Auf einmal erhob sich der Kinderarzt. Weil er zum Fenster starrte, drehte ich mich um. Von der gegenüberliegenden Seite stürmten sie über den Platz – wie Kinder zu einer Schneeballschlacht, Gabriela mit Fäustlingen, die anderen hinter ihr her, ein keilförmiger, schreiender Schwarm.

Um uns herum schurrten die Stühle. Ein richtiges Getrappel entstand, als alle, am Kellner vorbei, zum Ausgang wollten. Wir folgten ihnen zur Kathedrale, wo sich auf der Treppe vor dem Seiteneingang schon ein kleiner Pulk versammelt hatte.

In vier, fünf Meter Höhe stand der Bergsteiger auf einem der horizontalen Mauervorsprünge, die Arme seitlich ausgestreckt, die Schultern an die Wand gedrückt. Seltsam war die Stille, als wäre der da oben ein Schlafwandler, der beim ersten Geräusch erwachen und abstürzen könnte. Gabriela blinzelte durch den Schnee hinauf. Andere schirmten ihre Augen mit den Händen ab. Seine halbhohen Schuhe lagen genau unter ihm.

Er reckte den Kopf vor und blickte wie ein Vogel mit einem Auge auf uns nieder. Beide Strümpfe hingen an den Zehen ein Stück herab. Mit etwas Übung schien der Aufstieg kein Problem zu sein. Wahrscheinlich hatte er von den Quadern des Portals aus die kleine Kanzel daneben erreicht, sich auf deren Brüstung gestellt und dann an hervorstehenden Steinen und in Gerüstlöchern Halt gefunden.

»Nicht runterschauen«, rief ein Mann. Daraufhin löste der Bergsteiger den linken Arm, drehte sich mit einem steifen Schritt herum und schmiegte sich sofort wieder der Mauer an. Seine Finger umkrallten den nächsten Vorsprung. Die Füße tasteten die Wand ab. Froschartig bewegte er die Beine und klomm höher. Dann konnte er sich an dem kleinen Vordach über dem Fenster abstützen.

Ernst zog mich am Ellbogen. »Komm weg hier!« flüsterte er. Der Sonneberger, ein rothaariger Riese, begann als erster zu fotografieren. Gabriela schimpfte. »Wenn der runterspringt!« Sie irrte zwischen uns umher, raffte mit einer Hand den aufgestellten Kragen ihrer Jacke zusammen und eilte dann die Stufen hinab auf eine Polizistin zu, deren hoher weißer Helm mir wie Karnevalsschmuck erschien. Von hinten war Gabrielas aufragender, gezwirbelter Zopf das einzige, was von ihrem Kopf zu sehen war. Die Polizistin sprach in ihr Funkgerät.

Die Frau aus Plauen meinte, daß es jetzt ernst werde. »Heh, Herbert«, rief sie, »steig runter, Herbert! Na los, du!« Der Sonneberger unterbrach sie. Wir könnten ihn nicht Herbert nennen. Herbert sei doch nur der Name vom Straubinger Ausweis. Danach blieb es still, oder es wurde nur geflüstert.

Mich ärgerte, wie Ernst mit mir umging, sein Gezerre. Ich wollte ein paar Schritte von ihm weg, als er mich am Arm packte: »Dem passiert nichts!« zischte er. »Das ist Zeus. Komm!«

»Nein!« entfuhr es mir. Diesen Namen hatte ich vor zehn, fünfzehn Jahren zum letzten Mal gehört. »Der Zeus?«

Gabriela drehte sich um. »Heißt er so, Zeus?«

Auf einmal sahen uns alle an.

»Heißt er Zeus?«

»Der fällt da nicht runter«, sagte Ernst.

»Zeus?« fragte jemand laut. Und schon riefen alle »Zeus, Zeus«, als sei endlich das Stichwort gefallen, auf das sie so sehnsüchtig gewartet hatten, um ihr Schweigen zu brechen. Wie befreit schrien sie um uns herum: »Zeus, Zeus!«

Das hörte erst auf, als ihn Nebelschwaden verhüllten. Einige streckten die Arme aus, um den anderen zu zeigen, wo sie Zeus zuletzt erspäht hatten. Die Fotoapparate mit Teleobjektiv wurden als Fernrohre benutzt und herumgereicht. Eine Socke fiel aus dem Nebel in den Halbkreis, den wir um seine Schuhe gebildet hatten. Kurz darauf folgte die zweite. Beidemal erschrak ich.

Plötzlich erschien Zeus spukartig wieder. Er beugte sich vor, so weit, daß einige aufschrien und zurückdrängten. Panik hätte ausbrechen können. Unglaublich, wie er da oben Halt fand. Zwischen seine Lippen schob sich Spucke, die wie eine Spinne am Faden hing, sich löste und lautlos in den Schnee fiel. Mit verkrümmtem Körper, den Mund verzerrt – er erinnerte mich an die Wasserspeier in Naumburg oder Prag –, begann er seine Rede.

Natürlich wußte keiner, wer gemeint war, als er vom »roten Meurer« sprach. Die Italiener verstanden ihn sowieso nicht. Er nannte Ernst den »Bonzen in dem grünen Anorak« und wies mit ausgestrecktem Arm auf uns. Keiner begriff, was er wollte. Vor allem wunderte ich mich, woher er die Kraft nahm zu schreien, so aufgebracht zu schreien. Die Geschichte lag weit zurück. Und gern hat es Ernst damals nicht gemacht, das weiß ich. Zu Hause hatte er ihn immer nur »Zeus« genannt, bei seinem Spitznamen eben. Eigentlich heißt er ja Schubert, Dieter Schubert.

Wer nicht genau hinsah, hörte nur das dumme Geschrei. Ich dachte, daß Zeus jeden Moment abstürzen und vor uns aufschlagen könnte. Ich stellte mir vor, wie jeder versuchen würde, sich vorzudrängen, um ihn zu sehen. Und keiner brächte den Mut auf, ihn zu berühren. Sein Körper sähe unversehrt aus, wie manchmal der von toten Tieren am Straßenrand, wo nur das Blut, das unter ihnen hervorsickert, ahnen läßt, was passiert ist. Gabriela führte mit gesenktem Kopf Selbstgespräche.

Es dauerte lange, bis Zeus verstummte, als hätte ihn endlich der Schnee erstickt. Dann schob er sich zentimeterweise nach links zur Dachrinne. Viel vorsichtiger und zögernder waren seine Bewegungen geworden, als wäre der Schlafwandler erwacht.

»Jetzt ist es vorbei«, sagte ich zu Ernst und hakte mich bei ihm ein. Ich meinte natürlich das Geschrei. Ernst behielt die Hände in den Taschen und starrte auf Gabrielas aufragenden Zopf.

Zeus hangelte am Blitzableiter herunter. Carabinieri nahmen ihn in Empfang und schirmten ihn ab, während er seine Socken und die verschneiten Schuhe anzog. Ein Feuerwehrwagen mit Blaulicht rollte an. Gabriela bekreuzigte sich. Sie gab die Uhrzeit bekannt, zu der wir uns am Bus einfinden sollten, und ging mit Zeus und den Carabinieri davon. Unsere Reisegruppe teilte sich wieder auf. Der Kellner in seiner langen Schürze eilte voran ins »Victoria«.

Ernst und ich blieben noch eine Weile stehen. Aus den zu langen Ärmeln des neuen Anoraks sahen nur seine Fingerkuppen hervor. Ich begann zu frieren, und wir machten uns auf den Weg zum Bus.

Plötzlich fragte Ernst: »Riechst du das?«

»Ja«, sagte ich und dachte, er meint das Benzin. Hier roch ja alles anders.

»Erdbeeren!« rief er. »Es duftet nach Erdbeeren!« Wir hatten in unserem Garten fast nur Erdbeeren und bestimmten die Jahre danach, wie viele Torten ich von ihnen machen konnte. Das Kaffeetrinken wurde richtig feierlich, wenn es hieß: Das ist die letzte Torte. Zum letzten Mal Erdbeeren in diesem Jahr. Ich sah unseren Garten vor mir und die Klause »Zum Fuchsbau«. Und da sagte ich: »Die leeren Biergläser. Riechst du das, die vielen leeren Biergläser auf dem Abstelltisch in der Sonne?«

»Ja«, sagte Ernst, »ein ganzes Tablett voll.«

Ich bin sicher, daß wir eine Weile genau dasselbe vor Augen hatten, das abgewetzte Tablett und die Gläser mit dem roten Punkt am Boden. Und unsere Erdbeeren.

Der Fahrer öffnete die Tür. Ich lud ihn ein, mit uns zu essen. Seine Hemdsärmel waren hochgekrempelt. Er wischte sich die verschmierten Hände an einem Lappen ab und langte ordentlich zu. Denn obwohl wir bis auf das mickrige Hotelfrühstück die Mahlzeiten von unserem Proviant bestritten hatten, war von allem noch reichlich da, selbst Äpfel. Auch wir waren ziemlich hungrig. Wir aßen noch, als es sich der Fahrer wieder in seinem Sitz bequem gemacht hatte, um vor der Rückfahrt ein bißchen zu schlafen. Der Schnee war bereits weggetaut.

Warum ich das erzähle? Weil man so schnell vergißt. Dabei ist es gar nicht lange her, daß Ernst und ich noch an dasselbe gedacht und in einer schwarzrot karierten Tasche Konserven mit uns herumgeschleppt haben.

Kapitel 2 – Neues Geld

Conni Schubert erzählt eine alte Geschichte: Ein Mann kommt in die Stadt, macht Geschäfte, nimmt sicb ein Mädchen und verschwindet. Blauäugigkeit und Voraussicht.

Harry Nelson kam im Mai 90, eine Woche nach meinem neunzehnten Geburtstag, aus Frankfurt nach Altenburg. Er suchte nach Häusern, vor allem aber nach Bauland an den Zufahrtsstraßen zur Stadt. Es ging um Tankstellen. Harry war mittelgroß, brünett und Nichtraucher. Er wohnte im einzigen Hotel, dem »Wenzel«, in der ersten Etage. Überall, wo er auftauchte, selbst beim Frühstück oder Abendbrot, sah man ihn mit seinem ledernen Aktenkoffer, der zwei Zahlenschlösser hatte.

Ich arbeitete seit September 89 als Kellnerin im »Wenzel«. Etwas Besseres gab es im Kreis nicht. Ich hätte nach Leipzig fahren müssen oder nach Gera oder Karl-Marx-Stadt. Meine Chefin, Erika Pannert, ich kannte sie aus meiner Lehrzeit, sagte mal, daß sie früher genauso gewesen sei wie ich, genauso schlank und hübsch. Natürlich weiß ich, daß mein Mund ein bißchen zu klein ist. Und wenn ich schnell laufe, zittern mir bei jedem Schritt ganz leicht die Wangen.

Ich mochte Harry, vor allem die Art, wie er hereinkam, uns zunickte, sich setzte, die Beine übereinanderschlug und dabei seine Hose am Knie ein Stück nach oben zog, wie er Wein probierte und die Serviette auseinanderfaltete. Ich mochte sein Parfüm und daß er abends schon unrasiert aussah, daß er unsere Geldscheine verwechselte und daß er wußte, wie wir heißen, ohne auf das Namensschild starren zu müssen, das jede von uns trug. Doch am meisten liebte ich seinen Adamsapfel. Ich sah Harry zu, wenn er trank. Das passierte ganz automatisch, gegen meinen Willen. Auf dem Heimweg versuchte ich, mich möglichst genau an ihn zu erinnern.

Der »Wenzel« war ausgebucht, und wer übers Wochenende nach Hause fuhr, zahlte lieber weiter, als daß er sein Zimmer räumte. Für Harry stand abends ein Sechsertisch bereit, weil er immer Gäste hatte. Erika flüsterte mir ihre Namen zu, und bei manchen wedelte sie mit der Hand, als hätte sie sich verbrannt. »Die haben nie vergessen, was ihnen gehört«, sagte sie.

Harry stellte nur Fragen. Waren die Leute erst einmal beim Erzählen, wurde es spät. Ich fand nichts dabei, lange zu arbeiten. Außerdem glaube ich noch heute, daß es einfacher ist zu kellnern, als morgens mit dem Aktenkoffer aus dem Haus zu müssen, um Verträge abzuschließen.

Außer Harry blieben nur wenige übers Wochenende. Ich erinnere mich an den dicken Czisla aus Köln, der mehrere Stände mit Kassetten und Schallplatten von Markt zu Markt ziehen ließ und seine Verkäufer in den »Wenzel« bestellte, junge Kerle aus der Gegend, die Ahnung von Musik hatten. Sie tranken und aßen oft hier, weil Czisla sie warten ließ, bis die Abrechnung stimmte. Erika kümmerte sich um Peter Schmuck von der Commerzbank, einen dürren jungen Mann mit großen Händen und einem lautlosen Lachen, der so lange sitzen blieb, bis sie Zeit hatte und ihm zuhörte. Es war auch noch einer von der Allianz da, den wir Mister Wella nannten, und einer, der bei uns Schuhshine hieß. Die Woche über sprachen sie kaum miteinander. Nur sonntags, wenn man aus dem Frühstücksraum die Menschenschlange schräg gegenüber vor dem Bahnhof sehen konnte, die auf die ›Bildzeitung‹ wartete – die Leute kauften oft gleich mehrere Exemplare –, witzelten sie darüber und rückten um einen Tisch zusammen.

Mitte Juni erschienen in der ›Volkszeitung‹ und im ›Wochenblatt‹ Fotos, die Harry und den neuen Bürgermeister beim Handschlag zeigten. Noch 1990 sollte eine Tankstelle gebaut werden, ich glaube, von BP.

Plötzlich hieß es, Herr Nelson reise ab. Dann hörte ich, er habe eine Wohnung und ziehe aus. Dann, Harry Nelson fahre für eine Woche weg, komme jedoch zurück. Ich wollte ihm ein Päckchen für unterwegs machen, fürchtete aber, die anderen könnten es merken oder er empfände es als aufdringlich.

Ich nahm eine Woche Urlaub und schlief mich aus. Zu Hause sprachen meine Eltern viel von dem neuen Geld, das es ab nächsten Montag geben sollte. Mein Vater, der nach seinem mißglückten Assisitrip in die DSU eingetreten war, meinte, daß ich es goldrichtig mache: Den Japanern reichten schließlich auch fünf Tage Urlaub. Jetzt müsse man sich ins Zeug legen. Selbst meine Mutter sagte, daß sich nun die Spreu vom Weizen trenne, wir seien schon mittendrin. In der Badewanne überkam mich einmal die Vorstellung, ich küßte Harrys Adamsapfel.

Am Montag, dem 2. Juli, begann meine Schicht mittags. Niemand saß im Restaurant. Mindestens drei, vier Wochen würde es dauern, meinte Erika, bis auch unsere Leute bereit wären, für ein Schnitzel Westgeld auszugeben.

Gegen eins kam ein dunkelhäutiges Paar, Pakistanis, wie Erika sie nannte, die mit Teppichen handelten. Beim Kassieren fühlte ich mich wie zu Beginn der Lehrzeit, als wir untereinander servieren geübt und mit Spielgeld bezahlt hatten.

Harry erschien am Abend. Als er mit seinem Aktenkoffer das Restaurant betrat, sagte er: »Hal-loh!« und setzte sich ans Fenster, dahin, wo immer für ihn reserviert gewesen war. Endlich sah ich wieder seine kleinen Ohren, die breiten Fingernägel, den Adamsapfel. Harry trug ein kurzärmeliges Hemd, Leinenhosen und Sandalen ohne Socken. Erika sagte, daß Harry gekündigt habe, aber hierbleibe. »Einer wie der«, flüsterte sie, »braucht immer was Neues, immer weiter, weiter, weiter.«

Nachdem die Pakistani sämtliche Teppiche aus einem VW-Bus in ihr Zimmer im zweiten Stock getragen hatten, bestellten sie Suppe. Harry blätterte, während er aß, die Zeitungen der letzten Woche durch, und ich brachte ihm einen Schoppen Wein nach dem anderen.

Czisla, der ausgezogen war und nur noch ein paar Sachen abholte, setzte sich später zu ihm. »Na, auf dein Spezielles«, sagte er. »Auf daß der Laden läuft«, sagte Harry. Und Czisla erwiderte: »Auf uns!« Das hab ich behalten, obwohl es völlig belanglos war. Da die Hausbar montags nicht öffnete, brachen sie gegen zehn auf. Ich sah die beiden am Fenster vorbeigehen, Richtung Zentrum. Czisla hatte einen Arm um Harrys Schulter gelegt, gestikulierte mit dem anderen und blickte zu Boden. Ich blieb allein mit den Pakistani. Die Frau sprach leise zu dem Mann, der etwas in seinen Taschenrechner tippte und ihn dann zu ihr herumdrehte. Ich sagte, daß ich kassieren müsse. Sie bezahlten und verzogen sich.

Ich deckte den hinteren Teil des Saales für das Frühstück ein. Nachdem das erledigt war, setzte ich mich an den Tisch neben der Tür und faltete Servietten. Die Küchenleute machten Schluß. Bis auf das Radio an der Rezeption war es still.

Als ich kurz nach halb zwölf den Gitterrost am Eingang scheppern hörte, wußte ich, daß Harry zurückkommt. Ich brauchte nicht mal aufzuschauen. Er blieb hinter meinem Stuhl stehen und beugte sich langsam über meine Schulter. Ich drehte den Kopf und streifte dabei seine Wange. »Connie«, sagte er, und im selben Moment spürte ich seine Hände. Er berührte das Namensschild und tastete gleich nach meiner Brust.

»Nicht«, sagte ich. Harry preßte mich an die Lehne. Er küßte meinen Hals, meine Wangen und, als ich den Kopf zurücklegte, meinen Mund. Dann streckte er die Arme aus und griff nach meinen Knien. Ich drehte mich unter ihm schnell zur Seite und stand auf.

Er war um einiges größer als ich, tiefrotes Gesicht, das Haar verstrubbelt. Sein Blick ging hinab zu meinen weißen, halbhohen Stoffschuhen. Ich sah den Haarwirbel auf seinem Kopf. Harry hatte jetzt etwas Verwegenes, etwas, was ich bisher an ihm nicht bemerkt hatte.

»Komm«, sagte er, »drehn wir eine Runde.«

Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen. Ich holte meine Strickjacke, verschloß das Restaurant und gab den Schlüssel an der Rezeption ab. Draußen schlang Harry den Arm um meine Hüfte. Ich wollte gern außer Sichtweite sein, doch alle paar Schritte blieben wir stehen und küßten uns. Wir haben also einander gefunden, einfach so, ohne große Worte, dachte ich.

An der Kreuzung, hinter der die Straße anstieg und es rechts zum Waggonbau ging, zog er mich auf das kleine Rasenstück. »Harry«, sagte ich und hoffte, das würde genügen. Seine Hände rutschten von meiner Hüfte zum Po, gingen tiefer zu den Beinen und kamen unter meinem Rock zurück. »Harry«, sagte ich. Ich küßte seine Stirn, er fuhr mit beiden Händen in meinen Schlüpfer und streifte ihn nach unten. Harry hielt mich fest, eine Hand drängte sich zwischen meine Beine, und dann spürte ich seine Finger, erst einen und dann mehrere.

Harry schien glücklich. Er lachte. »Warum nicht«, sagte er. »Warum denn nicht?« Ich sah seine Haare, seinen Nacken. Er sprach weiter. Ich konnte nicht alles verstehen, weil er so viel lachte. Weder er noch seine Hand hörten auf mich. Dann folgte ein Schmerz, der von der Schulter den Rücken hinablief. »Die Arme hoch«, rief jemand, »Arme hoch!« Für einen Moment wußte ich nicht, wo ich war und was sich auf mich geschoben hatte. Meine Bluse wurde hochgezerrt. Und immer wieder, jede Silbe betonend: »Die Ar-me hoch!«

Harry klang nicht mehr glücklich. Er stemmte sich kurz auf meine Handgelenke, dann sah ich nichts mehr. Ich hörte ihn nur noch und spürte, wie er leckte und biß. Ich versuchte, gleichmäßig zu atmen. Darauf konzentrierte ich mich. Egal, was passierte – wichtig war, daß ich atmete. Daran kann ich mich erinnern.

Harry war auf mir liegengeblieben. Zuerst bekam ich einen Arm aus der Bluse. Ich versuchte, mich zu drehen und ihn wegzuschieben. Der Himmel war schwarz und die Laterne eine große Pusteblume. Harry rollte auf den Rücken, den Mund offen. Sein Hemd war hochgerutscht. Der weiße Bauch war ein Dreieck, der Nabel als Spitze. Das Glied hing seitlich herab, direkt auf dem Saum der Unterhose.

»Harry«, sagte ich. »Du kannst hier nicht liegenbleiben.« Er schluckte. Ich wollte reden. Die ganze Zeit, während ich nach meinem Schlüpfer suchte, redete ich. Ich verhielt mich genauso, wie im Film Leute nach einem Unfall dargestellt werden. Ich versuchte, meine Strickjacke unter ihm vorzuziehen, schaffte es nicht und lief los.

Ich dachte, wie oft in letzter Zeit auf dem Heimweg, daß ich ja nur schlafen muß, um ihn morgen wiederzusehen, meinen zukünftigen Mann, den Vater meiner vielen Kinder, der mit niemandem vergleichbar war, der mir die Welt zeigen und alles verstehen, der mich beschützen – und rächen würde.

Was danach kam, weiß ich nur aus Briefen und Telefonaten. Meine Stelle wurde nicht mehr besetzt, und im Herbst schloß der »Wenzel«. Erika wurde von einem Italiener eingestellt, der sein Glück mit einer Pizzeria in der Fabrikstraße versuchte. Im April 91 mußte er schließen. Erika fand andere Gaststätten. Doch kaum war eröffnet, kaum waren einige Monate vergangen, machten sie wieder dicht. Viermal passierte ihr das. Schließlich stand sie in dem Ruf, ein Unglücksengel zu sein. Aber auch nicht lange, denn man sah ja, wie es insgesamt lief.

Zu dieser Zeit hatte Harry Nelson mit seinem Aktenkoffer die Stadt schon wieder verlassen. Es heißt, ihm würden noch einige Häuser gehören, aber gesehen hat ihn niemand mehr.

Ich habe erst in Lübeck, dann, zwei Jahre später, auf einem englischen Kreuzfahrtschiff Arbeit gefunden. Meine Eltern erzählen das gern. Ich rufe sie oft an oder schicke Ansichtskarten.

Obwohl ich so naiv und blauäugig gewesen wäre, sagen sie, hätte ich bereits sehr früh – als sich die andern noch Illusionen hingaben –, bereits da hätte ich gewußt, wie alles hier kommen würde. Und damit haben sie ja auch irgendwie recht.

Kapitel 3 – Mal eine wirklich gute Story

Danny erzählt von Krokodilsaugen. Sie schreibt zuwenig für Anzeigenkunden und zuviel über Schlägereien. Christian Beyer, ihr Chef, ist unzufrieden. Peter Bertrams Geschichte. Zum Schluß muß sich Danny etwas ausdenken.

Es ist Februar 91. Ich arbeite bei einer Wochenzeitung. Überall wartet man auf den großen Aufschwung. Supermärkte und Tankstellen werden gebaut, Restaurants eröffnet und die ersten Häuser saniert. Sonst gibt es aber nur Entlassungen und Schlägereien zwischen Faschos und Punks, Skins und Redskins, Punks und Skins. An den Wochenenden rückt Verstärkung an, aus Gera, Halle oder Leipzig-Connewitz, und wer in der Überzahl ist, jagt die anderen. Es geht immer um Vergeltung. Die Stadtverordneten und der Kreistag fordern Polizei und Justiz zu energischen Schritten auf.

Anfang Januar schrieb ich eine ganze Seite über das, was sich regelmäßig freitags auf dem Bahnhof abspielt. Von Patrick stammten die Fotos. Eine Woche später sorgte ein anderer Artikel von mir für Wirbel. Nach Zeugenaussagen berichtete ich, daß Unbekannte nachts in Altenburg-Nord eine Wohnungstür aufgebrochen und den fünfzehnjährigen Punk Mike P. fast erschlagen hatten. Nach zwei Tagen war er aus dem Koma erwacht. Sein jüngerer Bruder lag auf derselben Station mit einer Gehirnerschütterung. Den Vater hatten sie mit Reizgas betäubt, die Mutter war auf einem Lehrgang gewesen.

Beyer, unser Chef, untersagte mir, die Beiträge zu unterzeichnen. Auch Patricks Name durfte nicht erscheinen. Ihm war das ganz recht, weil seine Freundin gerade zu ihm ziehen wollte. Beyer erwog ernsthaft, einen Schäferhund für die Redaktion anzuschaffen. »Gegen Vandalismus«, sagte er, »versichert einen niemand.«

Mehr Angst habe ich vor dem Alten, der eine Etage über den Redaktionsräumen wohnt. Erst steckten Zettel unterm Scheibenwischer – ich wurde ultimativ aufgefordert, ihm sein Geld zurückzugeben –, dann zerstach er die Vorderreifen von meinem alten Plymouth. Die versichert mir auch niemand. Zweimal hat er das gemacht. Abends wartet er stundenlang auf der dunklen Treppe neben unserem Eingang. Ich bemerke ihn immer erst, wenn er röhrt: »Mein Geld will ich!« Ich hab versucht, mit ihm zu reden und bei ihm geklingelt. Vier Wochen zuvor haben wir uns noch ganz normal unterhalten. Einmal hab ich ihm sogar den Kohleneimer hinaufgetragen.

Ich bin völlig überarbeitet und lebe, seit sich Edgar von mir getrennt hat, keusch wie eine Nonne. Ich kann Edgar verstehen. Ich habe ja nicht mal Zeit, für meinen dreijährigen Neffen ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen.

Außerdem werde ich mal wieder in Beyers Zimmer zitiert, weil ich den Artikel über Nelson-Immobilien noch nicht fertig habe. Harry Nelson ist Anzeigenkunde, wöchentliche Schaltung, dreispaltig, hundert Millimeter, trotz zwanzig Prozent Rabatt immer noch DM 336,- plus Mehrwertsteuer, ergibt im Jahr DM 17472,- plus Mehrwertsteuer. »Haben oder nicht haben«, sagt Beyer. Die Scholz, die mit zwei Kaffeetassen hereinkommt, gießt mir Milch ein, was sie sonst nur für Beyer macht.

Ich sage, daß ein Foto mit Bildunterschrift besser ist als ein Artikel und daß ich zwar vier solcher Unternehmerporträts auf eine Seite bringe, aber nicht weiß, wann ich sie schreiben soll, und wir endlich lernen müssen, auch mal nein zu sagen. Beyer beginnt abermals mit den DM 17472,- und endet mit der Feststellung: »Vielleicht reden wir hier über Ihr Gehalt, Danny.«

Ich sehe auf die Holzfolie seines Stasi-Tisches – das Mobiliar der örtlichen Staatssicherheit war der »Lebenshilfe e.V.« übergeben worden, und die hatten, was sie nicht brauchten, weiterverkauft – alles billiger Krempel. Die Maserung der Tischplatte erinnert mich wieder an Beyers Frage im Bewerbungsgespräch, ob ich schwanger sei oder »ein Kind in Planung« hätte. Er müsse da nachhaken, und es klang, als wolle er das noch begründen. Erst hatte ich ihn, dann nur noch den Tisch angestarrt und »nein« gesagt.

Jedesmal nehme ich mir vor, mit den anderen über diese amöbenartige Maserung zu sprechen. Wir alle müssen doch dauernd auf diese Linien und Rundungen schauen, die links außen einem Krokodilsauge gleichen. Aber niemand spricht davon, und ich vergesse es auch immer wieder wie einen bösen Traum.

Ich erkläre Beyer, der in unangenehmen Situationen den Zeigefinger unter Mittel- oder Ringfinger klemmt, daß es nicht gut ist, wenn eine Zeitung vor ihren Kunden buckelt. Im Gegenteil. Wir sollten uns mehr um Inhalte kümmern, um Gestaltung und interne Organisation und im übrigen die Haltung vertreten: Man darf bei uns Kunde sein. So rum wird ein Schuh draus!

»Langsam, langsam«, sagt er. »Langsam, Danny!«

Beyer ist kaum älter als ich, und das »Sie« wirkt meistens komisch, aber daß er mich Danny nennt, ist plump. Er will Kumpel sein, er will fair sein und läßt uns immer eine Zeitlang reden. Aber wann hätte er je auf uns gehört? Er denkt nicht mal über unsere Vorschläge nach. Er hat keine Ahnung vom Geschäft und glaubt, wenn er sich ums Geld kümmert, schaffen wirs. Er sagt, daß ich den Artikel über Harry Nelson mit zwei Fotos bringen soll – Nelson hat zwei Häuser sanieren lassen. Außerdem bittet mich Beyer, in den nächsten Ausgaben »die Bandenkriege außen vor zu lassen«, wie er sich ausdrückt, und anderen Hinweisen nachzugehen. Mal wieder was über den Teersee in Rositz oder über ehemaliges jüdisches Eigentum am Marktplatz, eine kritische Diskussion über den Grundsatz: Rückgabe statt Entschädigung.

Wir sind uns einig, daß man niemandem absagen darf, der uns anruft oder aufsucht, und daß man viele hören muß, um eine gute Story zu bekommen, weil man nie weiß, ob an den Informationen was dran ist, und wenn ja, was. Er will keine Beschwerden mehr, oder nicht so viele, keinesfalls aber einen 52er dreispaltig hundert – also Nelson – verlieren. Beyer verabschiedet mich mit Handschlag. »Bis gleich«, sagt er, »19.00 Uhr, Kfz-Innung. Danach können wir ja noch ein Bier zusammen trinken.«

Ich frage mich, wann ich die Amöben und das Krokodilsauge wohl wiedersehe und ob sich dann mein Leben schon verändert haben wird.

Als ich an der Scholz vorbeigehe, hält sie mir das Fahrtenbuch hin, auf dem die Renaultschlüssel und ein Zettel liegen: 17.00 Uhr Bertram – Adresse, Telefon und zwei Ausrufezeichen.

»Er weiß, daß es später wird«, sagt sie. »Er wartet.«

Ich erinnere mich an seinen Anruf. Er hat leise und fahrig gesprochen, aber keine dieser kaputten Stimmen, die über die Familie neben ihrer Schlafzimmerwand oder die Garagenverwaltung herziehen. Unsere Zeitung sei die einzige, der er traue.

Bertram wohnt in Nord, Schumannstraße, gegenüber den Russenwohnungen. Genau vor seiner Haustür finde ich eine Parklücke. Ich muß in die vierte Etage.

Er öffnet schnell und gibt mir die Hand. Ich sage ihm, daß ich nur eine Stunde Zeit habe. Er sagt, daß wir zumindest anfangen können, und schenkt aus der Thermoskanne Kaffee ein. Auf meinem Teller liegen, wie auf seinem, ein Stück Bienenstich und ein Stück Eierschecke. Bertram stellt noch einen zweiten Aschenbecher auf den runden Couchtisch und zündet eine rote Kerze an. »Oder wollen Sie Tee?« fragt er und setzt sich mir gegenüber in den Sessel. Hinter ihm steht ein Aquarium ohne Grünpflanzen. Auch Fische sehe ich nicht.

In mehrere kleine Stapel sortiert, liegen unsere Zeitungen auf der Couch. Ich lese die Überschrift: »Von Südafrika über Australien bis nach Kanada: Ansprüche im Kreis Altenburg«, Donnerstag, 25. Oktober 1990. Vor den Skin- und Punkerschlachten fiel unsere Auflage öfter unter die zwölftausend.

»Ich beneide Sie um Ihre Arbeit«, beginnt er. »Wenn man schreibt, sieht man aufmerksamer in die Welt. Aber Sie müssen mutiger werden …« Statt weiterzusprechen, nimmt er sich ein Stück Bienenstich. »Bitte«, sagt er. Beim Abbeißen verzerren sich seine Lippen, und die Augen blicken irgendwie erschrocken. Die Falte zwischen den Augenbrauen vertieft sich. Mit vollem Mund kaut er übertrieben gründlich. Über dem Sofa, auf weißer, silbergemusterter Tapete, hängt van Goghs ›Nächtliches Café‹.

Ich packe das Aufnahmegerät aus, schlage den Ringblock auf, schraube die Kappe vom Füller, schreibe »Bertram« und ziehe darunter einen Strich.

»Um ehrlich zu sein«, sagt er, »ich habe es noch niemandem erzählt.« Er kaut schneller und schluckt. »Ich will Sie auch erst fragen, ob Sie wollen, daß ich davon berichte. Es ist ziemlich schrecklich. Sie sind die erste, überhaupt der erste Mensch, der es erfährt.« Über dem Teller streicht er sich die Krümel von den Handflächen und lehnt sich zurück.

Ich frage ihn, ob ich das Aufnahmegerät einschalten darf.

»Natürlich, selbstverständlich«, sagt Bertram. Sein rechter Arm hängt am Sessel herab. »Es geschah am Donnerstag vor vierzehn Tagen. Donnerstags besucht meine Frau regelmäßig eine ehemalige Arbeitskollegin. Sie machen einander die Haare und auch Pediküre. Das kostet nichts, und ihnen bleibt genug Zeit, um all das zu bereden, was Frauen wohl nur Frauen anvertrauen, da sind wir Männer draußen, ob wir wollen oder nicht. Was gäbe Daniela darum, Ihre Haare zu haben!«

Es klopft mehrmals hintereinander. Ich merke nicht gleich, daß es Bertram ist, der gegen den Sessel schlägt.

»Wie immer verließ Daniela gegen 19.30 Uhr unsere Wohnung«, sagt er. »Ich hatte unserem Sohn Eric erlaubt – Eric ist zwölf, wirkt aber älter –, daß er bis neun fernsehen darf oder am Computer spielen. Ich genoß die Ruhe und arbeitete hier im Wohnzimmer – dazu vielleicht später noch ausführlicher, ich will Ihre Zeit nicht verschwenden –, so weit, so gut. Als es neun war, rief ich Eric zu, daß er seinen Freund verabschieden und ins Bett gehen soll. Und Eric rief: ›Mach ich, Paps, mach ich sofort.‹ Ich arbeitete weiter und hörte nach zehn Minuten, wie unsere Wohnungstür geschlossen wurde. Ich war froh, Eric nicht noch einmal ermahnen zu müssen. Ich feilte gerade an einer ziemlich kniffligen Stelle.«

»Woran feilten Sie?«

»Ich schreibe«, sagt er. »Da ist mir die geringste Störung, das kleinste Geräusch zuviel. Und hier, das wissen Sie ja, hört man eine heulende Frau durch drei Etagen. Trotzdem wartete ich nolens volens, daß Eric zu mir käme. Ich hörte die Klospülung und wie er im Bad hantierte. Als es ruhig blieb, glaubte ich, Eric wäre einfach ins Bett gegangen. In letzter Zeit hat er viele solcher Marotten – Pubertät eben. Ich überlegte noch, ob es ihm überhaupt recht wäre, daß ich zu ihm gehe, um gute Nacht zu sagen. Ich bin dann doch hin. Und da … Ich machte also die Tür auf …« Bertram verstummt. Als ich den Kopf hebe, begegne ich seinem Blick. Obwohl er entspannt wirkt, bleibt die senkrechte Falte auf seiner Stirn.

»Stellen Sie sich vor: Da sitzen drei Kerle.« Seine rechte Hand vollführt eine Geste, als risse sie etwas aus der Luft. »Stellen Sie sich das einmal vor. Drei Kerle, alle in Erics Alter, höchstens dreizehn, vierzehn, höchstens. Sitzen da und tuscheln miteinander, ohne weiter von mir Notiz zu nehmen. Ich weiß natürlich nicht, was sie tuscheln. Ich weiß nur, daß da drei wildfremde Kerle abends halb zehn in meiner Wohnung sitzen. Sie stehen auf, geben mir nacheinander die Hand, sagen irgendwelche Vor- und Nachnamen und – setzen sich wieder. ›Wo ist Eric?‹ frage ich, und da sie nicht antworten, frage ich noch mal und sehe plötzlich, daß Eric unter seiner glattgestrichenen Decke liegt, wie eine Leiche – nur die Haare sind ein bißchen zu sehen. ›Eric‹, rufe ich. ›Eric, was soll denn das?‹ Da legen die drei Jungs mahnend einen Finger auf die Lippen. ›Psch‹, zischen sie.«

Bertram macht es mir vor und wiederholt: »Psch, psch.« Ich male lange Kringel von links nach rechts über die Seite. Bertrams Kopf ist rot vor Erregung.