MICHAEL HUDSON
DER SEKTOR
WARUM DIE
GLOBALE FINANZWIRTSCHAFT
UNS ZERSTÖRT
Aus dem Amerikanischen
von Stephan Gebauer,
Dorothee Merkel
und Thorsten Schmidt
Klett-Cotta
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:
»Killing the Host. How Financial Parasites and Debt Destroy the Global Economy« im ISLET-Verlag, Glashütte 2015
© 2015 by Michael Hudson
© 2015 ISLET-Verlag, Glashütte
Für die deutsche Ausgabe
© 2016, 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Redaktion: Ulf Müller, Köln
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung einer Abbildung von © Volker Möhrke/Corbis
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94748-9
E-Book: ISBN 978-3-608-10582-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Vor einhundert Jahren schien Deutschland(1) Europa(1) in die Zukunft zu führen. Obwohl Großbritannien(1) das Heimatland der Industriellen Revolution war, spielten deutsche Großbanken eine führende Rolle bei der Finanzierung von Industrieunternehmen. Gemeinsam mit Behörden und der Schwerindustrie förderten sie langfristige Projekte, statt auf kurzfristige Erträge zu drängen. Britische Banken dagegen konzentrierten sich auf Handelsfinanzierung und Spekulation, hauptsächlich mit Staatsanleihen(1). Auch die britischen Aktienmärkte zeigten wenig Interesse, industrielle Investitionen zu finanzieren, da es dabei überwiegend um windige Eisenbahn- und Kanalbauprojekte ging, die anfällig für Betrug und Insidergeschäfte waren. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs(1) im Jahr 1914 riefen diese Unterschiede bei britischen Ökonomen die Sorge hervor, das deutsche Bankensystem könne dem Feind einen militärischen Vorteil verschaffen.
Fast alle Ökonomen glaubten, der Krieg werde nur ein paar Monate dauern. Aber sämtliche Seiten entdeckten schon bald das Grundprinzip der öffentlichen Finanzwirtschaft: Staaten können ihr eigenes Geld drucken, wie es die Vereinigten Staaten in ihrem Bürgerkrieg fünfzig Jahre zuvor getan hatten, und wie es Georg Friedrich Knapp in seiner Staatlichen Theorie des Geldes (1905) beschrieb.
Die Wende brachte allerdings weder das Bankwesen noch die Geldschöpfung(1), sondern der Kriegseintritt der USA im Jahr 1917. Nach dem militärischen Sieg über die Achsenmächte strebten die Vereinigten Staaten die finanzielle Vorherrschaft über ihre Alliierten an, indem sie die Bezahlung jener Rüstungsgüter verlangten, die diese vor dem Kriegseintritt der USA gekauft hatten.
In Versailles forderten die Alliierten von Deutschland(2), ihre Schulden gegenüber den Vereinigten Staaten zu übernehmen. Deutschland wurden im Versailler Vertrag Fremdwährungsschulden auferlegt, die seine Zahlungsfähigkeit weit überstiegen. Anders als die Kosten der inländischen Kriegsanstrengungen konnten Reparationsforderungen in Fremdwährungen nicht durch staatliches Gelddrucken beglichen werden. Auslandsschulden konnten nur mithilfe eines Exportüberschusses, durch den sich Pfund Sterling, französische Francs und andere Devisen erwirtschaften ließen, zurückgezahlt werden.
Deutschland(3) wurde seiner wichtigsten Exportgüter beraubt, dennoch vertraten der französische Monetarist Jacques Rueff und andere gläubigerfreundliche Ökonomen die Auffassung, Staaten könnten Auslandsschulden in beliebiger Höhe dadurch zurückzahlen, dass sie ihre inländischen Arbeitskräfte und ihre Industrie besteuerten. Das Problem bestand jedoch darin, dass die deutschen Steuern in inländischen Mark, nicht in Devisen gezahlt wurden. Wie sollte Deutschland inländische Steuereinnahmen in die Fremdwährungen konvertieren, mit denen die Reparationsforderungen beglichen werden mussten? In dem verzweifelten Versuch, Devisen zu kaufen, um die Ansprüche der Alliierten zu erfüllen, warf die Reichsbank Mark auf Devisenmärkte. Dadurch brach der Wechselkurs(1) der Mark zusammen, was die inländischen Kosten für Einfuhren und damit die Preise in die Höhe trieb.
Wir haben diese tragische Epoche der deutschen Geschichte jedoch in falscher Erinnerung behalten. Obwohl Deutschland(4) zur Begleichung ausländischer Reparationsforderungen riesige Mengen an Mark druckte, kam es zu einer fiskalischen und finanziellen Deflation. Geld wurde nicht geschöpft, um inländische Ausgaben zu finanzieren und so die brutale Sparpolitik abzumildern, die zu schweren sozialen Verwerfungen führte.
Der Erste Weltkrieg(2) und seine Nachwirkungen zeigen, wie kurzsichtig die Vorstellung ist, eine strenge Sparpolitik könne Output für den Export »freisetzen«. John Maynard Keynes(1) war derjenige, der die gängige Vermengung des fiskalischen Problems (wie viel inländische Währung kann ein Staat besteuern?) mit dem Transfer-Problem am verständlichsten erklärte: Wie viel Fremdwährung kann bezahlt werden?
Alle Hyperinflationen (außer in Simbabwe) sind eine Folge des Bestrebens, eine höhere Summe an Auslandsschulden zurückzuzahlen, als die entsprechende Volkswirtschaft an Devisen zu erwirtschaften vermag. Ein strenger Sparkurs der öffentlichen Hand kann dieses Transferproblem nicht lösen, weil Austerität(1) und Schuldendeflation(1) Produktionskapazitäten zerstören und Arbeitnehmer dazu bewegen, auf der Suche nach Arbeit ins Ausland abzuwandern. Die Umlenkung von Einkommen weg von der inländischen Produktion hin zur Befriedigung von Gläubigern gleicht dem »therapeutischen« Vorgehen eines mittelalterlichen Quacksalbers, der seine Patienten umso häufiger zu Ader lässt, je kränker sie werden.
Der IWF hat diese zerstörerische Dynamik über fünfzig Jahre lang Schuldnerländern der Dritten Welt(1) auferlegt, und die Europäische Zentralbank und die Europäische Union(1) wenden sie seit 2012 in Griechenland(1) an. Wenn an einer verfehlten wirtschaftspolitischen Strategie von solcher Tragweite festgehalten wird, obwohl sie ganz offensichtlich nicht den versprochenen Erfolg zeitigt, stehen dahinter immer mächtige Sonderinteressen. Eine rigorose Sparpolitik führt zwangsläufig zu Wirtschaftskrisen und stellt somit eine Art »Kriegserklärung« an Arbeitnehmer und Industrie dar. Sie erhöht zudem den Druck auf Regierungen, öffentliche Vermögenswerte(1) und Staatsbetriebe zu privatisieren. Diese Vermögenswerte bieten Anleiheinhabern, Investoren und Spekulanten dadurch Gelegenheiten zur Abschöpfung ökonomischer Renten, die größtenteils mit zinstragenden Krediten finanziert werden.
Die Tatsache, dass diese Ideologie der Austerität(2) vor allem in Deutschland(5) auf so fruchtbaren Boden fiel, zeigt, dass hier kaum etwas von den finanzpolitischen Kontroversen der 1920er-Jahre in Erinnerung geblieben ist. Deutsche Banken und Banken anderer Länder behandeln Volkswirtschaften der Eurozone(1) genau so, wie die Gläubiger damals Deutschland behandelten.
Verschlimmert werden die Auswirkungen der Austeritätspolitik dadurch, dass es gemäß den Statuten der Europäische Zentralbank den Mitgliedstaaten der Eurozone(2) untersagt ist, eigenes Geld zu drucken, um Haushaltsdefizite(1) zu finanzieren. Dies zwingt Staaten in die Abhängigkeit von Anleihegläubigern. Der Schuldendienst(1) bekommt dadurch den Charakter der Bedienung von Auslandsschulden. Außerdem beanspruchen die Zinszahlungen auf diese Schulden den gesamten Zuwachs des Volkseinkommens(1) für einen Staat wie Griechenland(2) – und bald wohl auch für Italien(1), Spanien(1) und Portugal(1).
Durch das geldpolitische Instrument der quantitativen Lockerung hat die Europäische Zentralbank (»so viel wie notwendig ist«, sagte Mario Draghi(1)) Geld geschöpft, um die Forderungen von Banken und Anleihegläubigern aus notleidenden Krediten und Investitionen zu erfüllen. Aber sie schöpft kein Geld zur Ankurbelung der Konjunktur in Europa(2). Im Gegenteil: Die Regierungen der Eurozone(4) verfolgen eine strenge Sparpolitik und opfern die Wirtschaft auf dem Altar der Gläubigerforderungen, denen sie Vorrang einräumen.
Anders als eine staatliche Defizitfinanzierung(1), die das Wachstum der Wirtschaft und der Märkte ankurbelt, schöpfen Banken Kredit in Form zinstragender Darlehen für ihre Kunden – hauptsächlich Käufer von Immobilien(1), Aktien(1) und Anleihen(1) sowie Finanzinvestoren. Diese Kreditvergabe durch die Banken treibt zwar Preise für diese Vermögenswerte(2) in die Höhe, dient aber nicht zur Finanzierung von Sachanlageinvestitionen und Arbeitsplätzen, Löhnen oder Verbraucherpreisen. Aus diesem Grund hat die quantitative Lockerung(1) der US-Notenbank (Fed(1)) und der Europäischen Zentralbank – das Ausreichen von Krediten an US-amerikanische und europäische Banken, nicht an Firmen oder Verbraucher – die Güterpreise nicht erhöht. Auf diese Weise wächst die Überschuldung(1) der Wirtschaft, die in zunehmendem Maße unter einer Schuldendeflation(2) leidet. Dieser Gegensatz zwischen einer Vermögenspreisinflation(1) und Schuldendeflation ist ein zentrales Thema dieses Buches.
Die Frage, vor der Europa(3) heute steht, ist die gleiche, vor der die Vereinigten Staaten im Jahr 2008 standen: Soll der Finanzsektor oder soll die Wirtschaft gerettet werden?
Die Regierung Obama(1) entschied sich, die Banken zu retten. Sie setzte die Macht zur Geldschöpfung(2), über die das Finanzministerium und die Fed(2) verfügen, nur dazu ein, Banken und Anleihegläubigern Verluste zu ersparen, während Eigenheimbesitzer und andere Schuldner die Last ihrer Hypothekenverbindlichkeiten allein stemmen mussten. Zentralbanken(1) überall auf der Welt retten den Finanzsektor und dessen gigantischen Bestand an Forderungen – das heißt, sie sichern die finanziellen und Eigentumsansprüche des Einen Prozents gegen die verschuldeten 99 Prozent ab.
Dies wird zwangsläufig mit einem Zusammenbruch des Finanzsystems enden, während die Wirtschaft unter der Schuldenlast begraben wird. Die Erkenntnis dieser mathematischen Gewissheit sollte der Ausgangspunkt jeder wirtschaftspolitischen Diskussion unserer Zeit sein. Wenn die Summe der Schulden von Unternehmen, privaten Haushalten und der öffentlichen Hand so groß ist wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – ein Normalfall in der heutigen Welt – und wenn die Zinsen auf diese Schulden, zum Beispiel, 5 Prozent betragen, dann muss die Wirtschaft jedes Jahr um 5 Prozent wachsen, um die Zinskosten überhaupt bezahlen zu können.
Aber Volkswirtschaften wachsen nicht mit dieser Rate. Dies bedeutet, dass ihre wachsenden Schulden gegenüber Banken und Anleihegläubigern nach und nach die Substanz der Volkswirtschaften aufzehren, so dass weniger Einkommen für Produktion und Konsum zur Verfügung steht. Im Fall Griechenlands(3) beläuft sich die Verschuldung(1) auf 180 Prozent des BIP. Um Schuldzinsen in Höhe von 5 Prozent zahlen zu können, müsste Griechenland jährlich 9 Prozent seines BIP aufwenden. Ein finanzieller Aderlass in dieser Größenordnung führt zur Schrumpfung der Binnenmärkte und damit der Beschäftigung sowie neuer produktiver Investitionen. Das ist die Dynamik der Schuldendeflation(3). Volkswirtschaften verarmen und zerfallen, wenn Einkommen und Vermögen an Gläubiger übergehen.
In hochverschuldeten Volkswirtschaften kommt es zu einer politischen Polarisierung, für gewöhnlich einem Erstarken nationalistischer Kräfte, wenn sozialistische Politiker keine Alternative anbieten. Dies geschah in Deutschland(6) im Jahr 1931, als verspätet ein Moratorium auf die deutschen Reparationszahlungen erklärt wurde. Ein ähnlicher nationalistischer Widerstand gegen die deflatorische Sparpolitik der Eurozone(5) wiederholt sich heute. So, wie die Deutschen in dem Maße, wie die Bezahlung ihrer Reparationsschulden nach dem Ersten Weltkrieg(3) ihre Volkswirtschaft zerstörte, immer ausländerfeindlicher wurden, so entwickeln heute Griechen und andere Südeuropäer eine wachsende Animosität gegen Deutschland und die französische und niederländische Regierung, die ebenfalls eine strenge Sparpolitik befürworten.
Kurzfristig lautet die vordringlichste Frage: Wie lässt sich die heutige Abwärtsspirale der Schuldendeflation(4) aufhalten? Die Weigerung der Eurozone(6), dem Wirtschaftswachstum Vorrang zu geben, droht diese auseinanderbrechen zu lassen, da die hochverschuldeten Mitgliedstaaten versuchen, sich deren deflatorischen, arbeitnehmerfeindlichen Ideologie der »inneren Abwertung«(1), die nichts anderes als Lohn- und Rentenkürzungen bedeutet, zu entziehen.
Diese Sparpolitik und das Schrumpfen der Wirtschaftsleistung(1) sind kontraproduktiv. Wenn Staaten Geld schöpfen können, um Kriege zu finanzieren oder den Finanzsektor zu retten, dann können sie auch Geld schöpfen, um es in die Wirtschaft zu pumpen und die Investitionstätigkeit und die Beschäftigung anzukurbeln. Das ist die zentrale Einsicht der Modernen Monetären Theorie (MMT), die die Geldschöpfung(3) als eine grundlegende öffentliche Dienstleistung behandelt.
Das politische Problem besteht darin, dass die Schuldendeflation(5) nicht ohne Erlass jener Schulden überwunden werden kann, die die Zahlungsfähigkeit von Volkswirtschaften übersteigen – das heißt, ihre Fähigkeit, ihre Schulden zurückzuzahlen, ohne in eine tiefe Depression zu geraten. Die Reparationsforderungen und die interalliierten Schulden im Gefolge des Ersten Weltkriegs(4) verdeutlichten die Grenzen des Schuldendienstes, der geleistet werden konnte, ohne Volkswirtschaften zu zerstören, und folglich ihrer Fähigkeit, einen Überschuss zur Bedienung der Schulden zu erwirtschaften. Wenn man Länder dazu zwingt, »ihren Verhältnissen entsprechend zu leben«, indem sie die Forderungen von Banken und Anleihegläubigern vollumfänglich befriedigen – und es zulässt, dass Banken gegen verschuldete Firmen und Privatpersonen Zwangsvollstreckungen(1) betreiben –, führt dies unweigerlich zu Instabilität und wirtschaftlicher Polarisierung zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern sowie zwischen Gläubigern und Schuldnern innerhalb jedes Landes.
Ein Schuldenerlass(1) zur Konjunkturbelebung ist das wichtigste wirtschaftspolitische Gebot der Stunde für die Vereinigten Staaten und Europa(4) – dennoch behaupten Banken und Anleihegläubiger, dies werde die Realwirtschaft in eine Krise stürzen. Dabei blenden sie die Erfahrungen Deutschlands(7) im Gefolge des Zweiten Weltkriegs(1) aus. Die von den Alliierten durchgeführte Währungsreform von 1948 strich alle inländischen Schulden, außer für Mindestgeschäftsguthaben von Banken und für Lohnschulden von Arbeitgebern. Das machte die deutsche Wirtschaft schuldenfrei. Das Ergebnis war das deutsche Wirtschaftswunder.
Es war leicht, Schulden in einer Situation zu streichen, wo der größte Teil dieser Verbindlichkeiten ehemaligen Nazis oder deren Unternehmen geschuldet wurde. Aber in den Kopf der Europäer wurde eine falsche Erinnerung eingepflanzt: Die Vorstellung, dass es sich um »marktwirtschaftliche« Reformen handele, zu denen gläubigerfreundliche Regeln und die Unantastbarkeit von Schulden gehören sollen. Das ist das Gegenteil des deutschen Modells des Schuldenerlasses(2) von 1948.
Lobbyisten jener Interessengruppen, die es auf die Abschöpfung ökonomischer Renten abgesehen haben, sowie deren Banken haben die ökonomischen und steuerlichen Reformen, auf die die französischen Physiokraten(1), Adam Smith(1), John Stuart Mill(1) und ihre Anhänger im Namen freier Märkte drängten, bewusst falsch dargestellt. Diese klassischen Ökonomen forderten die Gesellschaft auf, Märkte von »unverdientem« (nicht durch eigene Arbeit erworbenem) Einkommen und der Rentier(1)-Schuldenlast zu befreien. Die heutige steuerliche Begünstigung des Finanzsektors verkehrt diese Doktrin ins Gegenteil; sie fördert das Abschöpfen ökonomischer Renten (Rent-Seeking(1)) durch Banken, Anleiheinhaber und ihre Kunden im Immobilien(2)- und Rohstoffsektor sowie die Entstehung von Monopolen und Finanzkonzernen.
Die klassische Arbeitstheorie der Wertschöpfung(1) definierte die ökonomische Rente(1) als der Betrag, um den der Preis die technologisch notwendigen Produktionskosten übersteigt. Der Begriff umfasst Bodenrenten, Monopolrenten und Zinsen, die von Grundeigentümern und anderen Eigentümern natürlicher Ressourcen, von Monopolisten und Banken abgeschöpft werden. Diese Rente verdankte sich nicht der Produktion »realen« Outputs, sie war vielmehr »leistungsloses« Einkommen. Das meiste davon war ein Überbleibsel steuerähnlicher Privilegien, die ihren Ursprung in den mittelalterlichen Eroberungskriegen Europas(5), den Kreuzzügen und christlicher Bankdynastien haben.
Deutsche Ökonomen wie Wilhelm Roscher(1), Karl Heinrich Rau und Karl Marx(1), die sich auf die politische Ökonomie von Adam Smith(2), David Ricardo(1) und der Ricardianischen Sozialisten(1) im Gefolge von John Stuart Mill(2) stützten, wollten die Wertschöpfung(2) in Einklang mit dem Preis bringen, um Volkswirtschaften auf diese Weise von »unverdientem« Rentier(2)-Einkommen zu befreien.
Auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands(8) (SPD) schloss sich diesem Reformziel von sozialdemokratischen und Arbeiterparteien in ganz Europa(6) an: Volkswirtschaften von dem Vermächtnis des Feudalismus – seiner Bodenrente, der Monopolrente(1) und dem ausbeuterischen Kreditgewerbe – zu befreien und elementare Infrastrukturdienstleistungen kostenlos oder zumindest zu subventionierten Preisen als öffentliches Gut zur Verfügung zu stellen. Straßen und andere Verkehrswege, Post, Telekommunikation, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, das Gesundheits- und Schulwesen sollten öffentliche Versorgungseinrichtungen sein und nicht an Monopolisten verkauft werden, die durch Preiserhöhungen ihre Erträge maximieren. Wo Land, Bodenschätze und Infrastrukturmonopole in privaten Händen blieben, sollte ihre ökonomische Rente(2) besteuert werden.
Industrielle Arbeitgeber und Lohnempfänger sowie Verbraucher wären die Nutznießer, weil die Besteuerung von Renten und die Subventionierung öffentlicher Dienstleistungen die betreffenden Volkswirtschaften wettbewerbsfähiger machen würden. Niedrige Preise für den Zugang zu Grund und Boden sowie anderen grundlegenden Dienstleistungen würden die Lebenshaltungskosten und damit auch die Kosten unternehmerischer Tätigkeit senken. Grundeigentum wäre kein Gemeinkostenfaktor mehr, der die Wirtschaft insgesamt belastete.
Die angestrebte staatliche Abschöpfung ökonomischer Renten blieb aus. Bankenlobbyisten, die einen hundertjährigen Kampf gegen die Besteuerung ökonomischer Renten führten, haben eine »Gegenrevolution« unterstützt, die sozialdemokratische Parteien in ganz Europa(7) dazu veranlasste, ihre ursprünglichen Reformvorhaben aufzugeben. Sie sind auf den Privatisierungszug aufgesprungen und unterstützen sogar eine harte Sparpolitik, die darauf abzielt, die Anleihegläubiger auszuzahlen. In Großbritannien(2) hat (1)Tony Blair eine »thatcheristischere« Politik betrieben als die Konservativen, und auf ihn folgte Gordon Brown(1) mit seiner »legeren Regulierungspolitik«. Französische, spanische und andere Sozialisten(2) schlossen sich dem Rechtsschwenk zu einer Austeritätspolitik an. In Griechenland(4) verfolgte die sozialistische Partei (Pasok) eine strenge Sparpolitik und erklärte sich zur Rückzahlung von Schulden bereit, was die griechische Wirtschaft seit 2010 in einem permanenten Krisenzustand hält. Der Pasok-Vorsitzende Giorgos Papandreou(1) wurde just zu dem Zeitpunkt zum Vorsitzenden der Sozialistischen Internationalen gewählt, als seine Partei ihren Rückhalt in der eigenen Bevölkerung verlor.
Nachdem die Demokratische Partei im Jahr 2008 im US-Kongress für Bankenrettungspakete kämpfte, berief Präsident Obama(2) das Wall-Street-Faktotum Tim Geithner(1) (der durchweg eine Schurkenrolle in diesem Buch spielt) als Finanzminister in sein Kabinett. Das Justizministerium wurde den Wall-Street-Anwälten Eric Holder(1) und Lanny Breuer(1) anvertraut, die darauf verzichteten, auch nur einen einzigen korrupten Banker vor Gericht zu bringen.
Im Jahr 2008 wäre eine Anpassung der Schuldenlast an die Zahlungsfähigkeit der Schuldner angezeigt gewesen, und dies hätte bedeutet, dass faule Kredite hätten abgeschrieben werden müssen. Stattdessen wurden Citigroup(1) und andere Großbanken, die im Zentrum des Betrugs mit Ramschhypotheken standen, gerettet und subventioniert, sodass sie heute noch viel größer sind als im Jahr 2008, obwohl sie damals insolvent waren. Die Fed(3) hat im Rahmen der quantitativen Lockerung über 4 Billionen Dollar gedruckt, um die Vermögenspreise erneut künstlich aufzublähen und die Überschuldung(2) der Wirtschaft aufrechtzuerhalten. In ähnlicher Weise rettet auch die Europäische Zentralbank die Privatbanken und nicht etwa die Wirtschaft, die Arbeitnehmer und deren Lebensstandard.
Dieses Buch beschreibt, wie sich die heutigen Bankensysteme und Aktienmärkte von der Finanzierung von Investitionen in Sachanlagen(1) abgekoppelt haben und sogar die Entwicklung des industriellen Sektors regelrecht hemmen. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Banken und Anleihe-Inhaber Corporate Raiders(1) mit hochverzinslichen Ramschanleihen(1) finanzieren, die durch Veräußerung einzelner, wertvoller Unternehmensteile zurückgezahlt werden. Aber das Problem liegt tiefer. Banken haben entdeckt, dass ihr ertragsstärkstes Geschäftsfeld Kredite für Immobilienkäufer, monopolistische Rohstoffkonzerne und natürliche Monopole sind. Die sind die Sektoren, die hohe ökonomische Rente(3)n generieren und die nach Ansicht der klassischen marktliberalen Ökonomen die natürliche Basis der Besteuerung werden sollten. Stattdessen sind sie zur Hauptquelle der Zinseinnahmen von Banken und Anleihegläubigern geworden. Da sie erkennen, dass das, worauf der Fiskus verzichtet, von den Banken als Zinsen vereinnahmt werden kann, drängen Bankenlobbyisten und die ihnen ergebenen Wirtschaftswissenschaftler darauf, Rentier(3)-Einkommen steuerfrei zu lassen und die Steuerlast auf Arbeitnehmer und Konsumentenkäufe abzuwälzen. Aus diesem Grund sind finanzialisierte Volkswirtschaften in der heutigen Welt so kostenintensiv und nicht wettbewerbsfähig.
Während Rentenabschöpfung und eine Verschiebung der Steuerlast von Rentier(4)-Einkommen auf Löhne und Verbraucherausgaben Volkswirtschaften kostenintensiv machen, zehrt die Schuldendeflation(6) an der Substanz von Volkswirtschaften und ruft eine soziale Polarisierung hervor; sie führt zu Konkursen und letztlich zur Unfähigkeit, faule Kredite einzutreiben. Das macht die heutige monetaristische Austerität(3) so kontraproduktiv. Der Weg für diese zerstörerische Politik wurde dadurch geebnet, dass die klassische Volkswirtschaftslehre ihres Kerns beraubt wurde: ihrer Definition freier Märkte als Märkte, die frei sind von unverdientem Einkommen, frei von Immobilienspekulation, unregulierten Monopolen und ausbeuterischen Finanzpraktiken.
Die Aufklärung, die klassische Volkswirtschaftslehre Europas(8) und sozialdemokratische Reformen wollten etwas anderes erreichen. Bankensysteme und Aktienmärkte sollten restrukturiert werden, um industrielles Wachstum zu finanzieren, wie es die Reichsbank und andere mitteleuropäische Banken seit dem Ende des 19. Jahrhunderts getan hatten. Besteuert werden sollten Rentier(5)-Einkommen aus Eigentum an Grund und Bodenschätzen, von Banken und Monopolen, nicht dagegen Löhne und Gewinne von Industrieunternehmen. Wenn man die heutigen Störungen des Wirtschaftsgeschehens in diesen historischen Kontext stellt, erkennt man, vor welcher grundlegenden wirtschaftspolitischen Frage Europa heute steht: Wird es der Kontinent zulassen, durch eine neoliberale Steuerverlagerung von Renteneinkommen auf den Faktor Arbeit, die weitere Privatisierung(1) der öffentlichen Infrastruktur, Rentenextraktion(1), Schuldendeflation(7) und Sparpolitik zerstört zu werden? Oder wird er seine Unabhängigkeit von den Rentier-Lobbyisten zurückerlangen, die es darauf anlegen, finanzielle Forderungen exponentiell zu vermehren und Volkswirtschaften in eine immer tiefere Schuldendeflation zu treiben?
Eigentlich hatte ich gar nicht vor, Ökonom zu werden. An der Universität von Chicago, an der ich studierte, belegte ich keinen einzigen Kurs in Wirtschaftswissenschaften und machte auch um die Gebäude dieser Fakultät immer einen weiten Bogen. Mein Interesse galt vielmehr der Musik und der Kulturgeschichte. 1961 zog ich nach New York und wollte in diesem Bereich im Verlagswesen tätig werden. Ich hatte bereits als Assistent für Jerry Kaplan bei der Free Press Chicago gearbeitet und dachte gerade darüber nach, einen eigenen Verlag zu gründen, als mir der ungarische Literaturkritiker Georg Lukács(1) die englischsprachigen Rechte an seinen Schriften übertrug. Und als 1962 Leo Trotzkis(1) Witwe Natalja Sedowa starb, überließ mir Max Shachtman(1), der als ihr Nachlassverwalter fungierte, die Rechte an Trotzkis Schriften und Archiv. Es gelang mir jedoch nicht, einen Verlag für die Veröffentlichung dieser Werke zu gewinnen. Wie sich herausstellen sollte, sah meine Zukunft anders aus. Die Werke fremder Leute zu veröffentlichen, gehörte nicht dazu.
Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Leben bereits eine sehr plötzliche Wende genommen, und zwar an einem einzigen Abend. Mein bester Freund aus Chicago hatte mich gedrängt, Terence McCarthy(1) aufzusuchen, den Vater eines seiner Schulkameraden. Terence hatte früher als Ökonom für General Electric(1) gearbeitet und den sogenannten »Forgash(1) Plan« verfasst. Dieser Plan war nach dem Senator von Florida, Morris Forgash, benannt und enthielt den Vorschlag, eine »Weltbank(1) für den wirtschaftlichen Aufschwung« zu gründen, als politische Alternative zu der bereits bestehenden Weltbank. Teil dieses Plans war, die Kreditvergabe in der jeweiligen Landeswährung abzuwickeln, um so die Landwirtschaft zu reformieren und eine stärkere Unabhängigkeit in der Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten, statt hauptsächlich für den Export zu produzieren.
Schon am ersten Abend, an dem ich Terence McCarthy(2) besuchte, wurde ich mit zwei Ideen oder Leitgedanken konfrontiert, die mich so sehr fesselten, dass sie zu meinem Lebenswerk wurden. An erster Stelle stand seine fast poetische Beschreibung des Weges, den der Geldstrom(1) durch das Wirtschaftssystem nimmt. Er erklärte mir, warum im Verlauf der amerikanischen Geschichte die meisten Finanzkrisen im Herbst stattfanden – also zu der Zeit, in der die Ernte eingefahren wird. Wenn im Mittleren Westen oder anderswo in den USA Schwankungen im Grundwasserspiegel oder Klimaturbulenzen auftraten, kam es regelmäßig zu Dürren, die wiederum zu Ernteausfällen führten. Dies belastete den Bankensektor derart, dass die Institute sich gezwungen sahen, ihre ausstehenden Kredite zurückzufordern. Finanzen, natürliche Ressourcen und Industrie waren eng miteinander vernetzt, ganz ähnlich wie Sonnensysteme in der Astronomie – ein Phänomen, dessen Schönheit mich schon immer faszinierte. Doch anders als in der Astronomie führen die mathematischen Regeln von Zins und Zinseszins(1) in der Wirtschaft unweigerlich in eine Schuldenkrise(1), weil auf mathematischen Kalkuationen basierende finanzielle Forderungen schneller wachsen als die Volkswirtschaft selber. Somit verschärft die Schuldenlast die Krise weiter. Wenn die Kette der Verbindlichkeiten an irgendeiner Stelle wegen Zahlungsunfähigkeit bricht, kann das dazu führen, dass die gesamte Wirtschaft kollabiert.
An diesem Abend beschloss ich, Ökonom zu werden. Ich schrieb mich an der Universität ein und suchte mir einen Job an der Wall Street(1), denn das war die einzige Möglichkeit, die Funktionsweisen einer Volkswirtschaft praktisch zu erfahren. Während der nächsten zwanzig Jahre unterhielten Terence und ich uns jeden Tag etwa eine Stunde lang über die aktuelle Wirtschaftslage. Er hatte die Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen ins Englische übersetzt – eine von Karl Kautsky(1) zusammengestellte Ausgabe einiger Schriften von Karl Marx(2). In diesem Band war auch die erste englische Version der Theorien über den Mehrwert enthalten, ein Werk, das man mit Fug und Recht als die erste nennenswerte Geschichte des ökonomischen Denkens bezeichnen kann. Terence empfahl mir, zunächst sämtliche Bücher zu lesen, die in der Bibliographie dieses Bandes aufgelistet waren – die Physiokraten(2), John Locke(1), Adam Smith(3), David Ricardo(2), Thomas Malthus(1), John Stuart Mill(3) und so weiter.
Die Themen, die mich am meisten interessierten – und die im vorliegenden Buch im Mittelpunkt stehen –, wurden an der New York University, an der ich mein Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte, nicht unterrichtet. Genau genommen werden sie an keiner einzigen Universität unterrichtet. Diese Themen waren: die Schuldendynamik, die Frage, wie die Kreditvergabepraxis der Banken die Immobilienpreise aufbläht, die Prinzipien der Volkswirtschaftsstatistik sowie der steigende Anteil an Kapitalerträgen im Finanz-, Versicherungs- und Immobilien(3)- (FVI-)Sektor(1)(2). Es gab nur einen Weg, diese Themen eingehend zu untersuchen: Ich musste in einer Bank arbeiten. Damals, in den sechziger Jahren, fanden sich kaum Anzeichen, dass die erwähnten Tendenzen zu einer gigantischen Finanzblase führen würden. Aber die grundlegende Dynamik war auch zu dieser Zeit schon vorhanden, und ich hatte das Glück, eine Anstellung zu bekommen, in der es eine meiner Aufgaben war, eben diese Dynamik statistisch zu erfassen.
Mein erster Job war absolut banal: Ich wurde als Wirtschaftsexperte bei der Savings Banks Trust Company eingestellt, einer Treuhandgesellschaft, die es heute nicht mehr gibt. Sie war von den 127 Sparkassen gegründet worden, die damals in New York existierten (und die es heute ebenfalls nicht mehr gibt, weil sie von Geschäftsbanken geschluckt, privatisiert und zerschlagen wurden). Meine Aufgabe dort sah folgendermaßen aus: Ich sollte untersuchen, wie viel Zinsen die Spareinlagen einbrachten und in welchem Umfang dieses Geld in die Vergabe neuer Hypothekendarlehen floss. Das Diagramm, das ich zur Entwicklung dieser Spareinlagen erstellte, sah aus wie Hokusais »Große Welle von Kanagawa«, mit dem Unterschied, dass sich der Höchststand alle drei Monate wiederholte – wie der Herzschlag in einem Kardiogramm –, nämlich immer dann, wenn die vierteljährlichen Dividenden den Anlegern gutgeschrieben wurden.
Der Zuwachs an Sparguthaben wurde in Form von Krediten an die Eigenheimkäufer weitergereicht und trug so erheblich zu dem Preisanstieg im Immobiliensektor nach Ende des Zweiten Weltkriegs(2) bei. Damals hielt man das noch für einen endlos funktionierenden Wohlstandsmotor, der das Reinvermögen der Mittelklasse unablässig steigern würde. Je mehr Kredite die Banken vergaben, desto höher kletterten die Preise für die Immobilien(4), die auf Hypothekenbasis erworben wurden. Und je höher diese Preise kletterten, desto mehr Kredite waren die Banken bereit zu vergeben – es mussten sich nur genügend Leute finden, die an dieser wie ein Perpetuum Mobile anmutenden Wohlstandsmaschine teilhaben wollten.
Aber dieser Prozess funktioniert nur so lange, wie auch die Einkommen wachsen. Selbst dann machen sich die wenigsten Menschen klar, dass sie den überwiegenden Teil ihres Einkommenszuwachses für ihre Wohn- und Lebenshaltungskosten aufwenden müssen. Sie haben stattdessen das Gefühl reicher zu werden, etwas auf die hohe Kante zu legen, indem sie Geld in etwas investieren, dessen Wert immer weiter wachsen wird. Zumindest hat das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs(3) sechzig Jahre lang genau so funktioniert.
Aber jede Blase platzt irgendwann, weil Blasen immer durch Schulden finanziert werden, die sich gesamtwirtschaftlich gesehen nach dem Schneeballprinzip vermehren. Die Hypothekenschulden(1)(1)« kam. Doch obwohl Immobilien der größte Vermögenswert einer Volkswirtschaft sind – und ebenso der wichtigste Vermögenswert und Schuldgrund für die meisten Familien –, war die Analyse von Boden- oder Grundrente und Grundstücksbewertung in keinem einzigen der Kurse, die ich abends im Rahmen meines wirtschaftswissenschaftlichen Promotionsstudiums besuchte, überhaupt ein Thema.