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Für alle Freundinnen

Snowboarder aus der Hölle

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»Vielen lieben Dank, Lina.«

Die Urlauberin nahm die Rechnung entgegen und steckte sie in ihre Tasche. Danach sah sie sich noch einmal um, als müsste sie die Atmosphäre und den würzigen Holzgeruch des Hotels ein letztes Mal tief in sich aufsaugen.

So ging es vielen Touristen, die das Hotel Tiefenbacher verließen, denn die Einrichtung lud zum Entspannen und Wohlfühlen ein. Die Hotellobby hatte das Flair eines charmanten Cafés. Deshalb saßen zu jeder Tages- und Nachtzeit Urlauber dort, manche alleine mit einem Buch in der Hand, andere spielten in kleinen Gruppen Brettspiele, die man sich aus Holzkommoden nehmen durfte. Auf den rustikalen Holzbänken lagen zahlreiche bunte Sitzkissen und an den Wänden hingen Holzkisten, in denen grüne Zimmerpflanzen wuchsen. Man fand hier keine wuchtigen Gemälde mit Kunstdrucken, sondern hinter Glas gerahmte Panoramabilder von Österreichs wunderschöner Landschaft.

Ich konnte verstehen, warum die Frau die Abreise noch einige Sekunden hinauszögerte, doch schlussendlich wandte die Urlauberin sich zum Gehen um.

»Nochmals vielen lieben Dank für Ihren Aufenthalt im Hotel Tiefenbacher. Es würde mich freuen, wenn wir uns im nächsten Jahr wiedersehen.«

Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht leierte ich meine Standartfloskel herunter und das so, als würde ich die Worte tatsächlich ernst meinen. Wenn man bedachte, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als nächstes Jahr eben nicht mehr hier zu stehen, konnte ich tatsächlich stolz auf meine schauspielerischen Fähigkeiten sein. Zu diesem Zeitpunkt war ich oft davor, mich auf den Boden zu schmeißen, das Knie eines Gastes zu umklammern und laut »Nimm mich bitte mit« zu jammern. Was ein ziemlich lächerlicher, aber auch sehr verlockender Gedanke war.

Nachdem meine letzten Gäste die Hotellobby verlassen hatten, drehte ich mich kurz weg, um einen Schluck aus dem bereitstehenden Wasserglas zu nehmen. Obwohl meine Kollegin Susa ebenfalls im Rekordtempo Neuankömmlinge begrüßt und Abreisende verabschiedet hatte, war die Lobby bis vor wenigen Minuten beinahe überfüllt gewesen. Doch wie jeden Tag wurde es kurz vor mittags etwas ruhiger und wir konnten durchatmen. Oder in meinem Fall: Bald verschwinden. Jeden Vormittag freute ich mich auf den Moment, in dem ich endlich meine Skibekleidung anziehen und zu meinem Zweitjob aufbrechen konnte. Ich liebte den Winter, den Schnee und mein Snowboard mehr als alles andere, deshalb war mein Job in der Skischule meines Schwagers Joschi und meiner älteren Schwester Hannah mehr bezahlte Freizeit als Arbeit. Die Zeit mit den Schülern draußen zu verbringen war tausendmal besser, als hinter der Rezeption zu stehen – daran konnte auch die einladende Atmosphäre des Hotels nichts ändern.

Schnaubend schüttelte ich den Kopf. Es klang oft so, als würde ich das Hotel hassen, was definitiv nicht so war. Als ich klein war, hätte ich mir keinen schöneren Ort zum Großwerden vorstellen können. Seit meiner Geburt verbrachte ich so ziemlich jeden Tag meines Lebens im Hotel Tiefenbacher. Natürlich waren meine Eltern keine Dauerurlauber, die ihre Tochter für diesen Luxus an der Hotelrezeption arbeiten ließen. Ich war einfach nur das Kind der Eigentümer und sollte einmal dieses traditionsbewusste Urlauberdomizil leiten. Leider …

Ich trank einen weiteren Schluck Wasser, während ich darauf wartete, dass meine Kollegin die nächsten Urlauber abfertigte. Sie strich sich eine dunkelbraune Locke aus dem Gesicht, da sie ihre Haare wie immer offen trug. Ihr bronzefarbener Hautton passte perfekt zu dem blassblauen Dirndl, das sie trug.

Automatisch wanderte mein Blick auf meine blasse Haut. Im Gegensatz zu Susa bekam ich nicht einmal im Sommer eine richtige Bräune, denn selbst dann war ich weiß wie Schnee.

Grinsend warf Susa mir einen kurzen Blick zu. Ihr war bestimmt klar, dass ich mich von ihr verabschieden wollte, es aber wegen der Gäste nicht konnte. Ihre lockere und lustige Art machte die Arbeit hinter der Rezeption für mich etwas erträglicher und ich war immer froh, wenn wir gemeinsam für eine Schicht eingeteilt waren.

Aus Langeweile nahm ich mein Smartphone in die Hand, um zu sehen, ob meine Freundinnen etwas in unseren Gruppenchat gepostet hatten, kam aber nicht dazu. Denn meine Mutter – die Hotelchefin – rauschte hinter die Rezeption. Manchmal summte ich zu meinem Vergnügen den Star Wars Imperial March im Kopf, denn sie zeigte leichte Tendenzen, sich wie ein Oberfeldwebel zu verhalten. Da da da dadada dadada. Allerdings wie ein liebenswerter Feldwebel.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen blieb sie vor mir stehen, ließ den Blick aber noch kurz durch den Eingangsbereich schweifen. Unser Hotel war kein aufgestyltes Designhotel, sondern ein Traditionsunternehmen, das seit mehr als hundert Jahren im Besitz meiner Familie war. Doch das hieß natürlich nicht, dass wir keinen Wert auf Erneuerungen legten. Nur versuchten meine Eltern so gut es ging das Ursprüngliche, Rustikale zu erhalten, ohne dabei altbacken zu wirken. Ein schmaler Grat, doch sie schafften es, darauf zu balancieren und das Hotel zu einem der beliebtesten im ganzen Ort zu machen. Wir waren bereits vor dem Sommer für die komplette Wintersaison ausgebucht und es gab auch jetzt schon erste Anfragen für den kommenden Winter. Wir hatten vor zehn Jahren einen großen Wellnessbereich mit Indoorpool angebaut, damit die Skifahrer sich nach einem anstrengenden Tag auf der Piste entspannen konnten. Unsere Familie arbeitete hart für die vier Sterne und wir hatten nicht vor, sie jemals wieder herzugeben. Und das sah man an dem stolzen Lächeln, das sowohl meine Mutter als auch mein Vater zur Schau trugen. Sie liebten ihre Arbeit und waren nicht nur die Chefs, sondern das Herz des Hotels.

»Na, habt ihr den ersten Ansturm hinter euch gebracht?«

Das war eher eine rhetorische Frage. Sie wusste genau, dass ich gleich auf die Piste gehen würde. Susa musste sich ab mittags allein um alles kümmern. Was ihr bestimmt lieber war, als wenn die Juniorchefin den ganzen Tag über ihre Schulter schaute. Würde ich natürlich nicht machen, denn ich war nicht meine Mutter, die alles mit ihren Argusaugen überwachte. Auch mich.

Sie ließ eine meiner blonden Haarsträhnen durch ihre Finger gleiten und rümpfte die Nase. »Wir sollten mal wieder einen Termin beim Frisör für uns ausmachen, denkst du nicht auch?«

Nein, eher nicht. »Wie kommst du darauf?«

Vertraulich lehnte sie sich weiter zu mir und sah mich mit ihren veilchenblauen Augen fest an, die genau dieselbe Farbe hatten wie meine. »Spliss«, flüsterte sie und ließ meine Haare los, als könnte sie sich jede Sekunde damit anstecken.

»Ach, Spliss«, sagte ich nickend. »Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Sicher von der kalten, rauen Luft draußen. Du stehst den halben Tag auf deinem Snowboard. Ich bekomme dich kaum zu sehen.«

Belustigt schnaubte ich. Endlich verstand ich, was meine Mutter mir auf ihre verrückt-verdrehte Art sagen wollte. Ein einfaches »Lass uns mal wieder Zeit miteinander verbringen« hätte es meiner Meinung nach auch getan, aber ich würde mich nicht darüber beschweren, dass sie mir den nächsten Frisörbesuch zahlen wollte.

Damit sie nicht auf die Idee kam, ein weiteres Mal an meinen Haaren herumzufummeln, machte ich einen Schritt zurück. Mit schiefgelegtem Kopf betrachtete ich sie. »Was hältst du davon, wenn wir nach den Weihnachtsferien einen richtigen Wellnesstag machen? Frisör, Nägel und vielleicht noch eine Gesichtsmaske.« Ich runzelte die Stirn und tat so, als würde ich mir Mamas Gesicht näher ansehen. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Krähenfüße mehr geworden sind«, fügte ich völlig ungerührt hinzu.

Sofort tasteten ihre Hände das beinahe faltenfreie Gesicht ab. Meine Mutter legte großen Wert auf ihr Aussehen, deshalb fummelte sie völlig selbstvergessen an ihrem Gesicht herum. »Meine Krähen-« Mitten im Satz brach sie ab, als sie mein diabolisches Grinsen bemerkte. »War das die Retourkutsche für den Spliss?«

»Was denkst du denn?« Mein Lächeln wurde weicher. »Du siehst gut aus.«

Das Kompliment meinte ich ernst. Für ihre fünfundfünfzig Jahre hatte sie sich verdammt gut gehalten. Ihre Haare erstrahlten immer noch in einem hübschen Blondton, der aussah, als wäre er absolut natürlich und nicht gefärbt. Womöglich hielt sie bei jedem Frisörbesuch ein Foto von mir in den Händen und murmelte: »Bleiben Sie so nah wie möglich am Original.« Aber es waren nicht nur die blonden Haare, die sie nicht älter als vierzig aussehen ließen. Ihr schlanker Körper und ihre Ausstrahlung taten ihr Übriges.

Eigentlich müsste ich dankbar für die Gene sein, die sie mir vererbt hatte. Die Frauen in unserer Familie sahen ein wenig wie Barbie aus. Mama war wohl eher Barbies Mutter. Meine Schwester wäre demnach Punk-Rock-Barbie, mit bunten Haaren, Tattoos und Piercings im Gesicht. Also blieb für mich nur noch Skipper. Natürlich die blonde 90er Jahre Skipper und nicht die braunhaarige von heute.

Ob mir braune Haare auch stehen würden?

Meine Mutter hatte die Krähenfuß-Bemerkung wohl ziemlich mitgenommen. Gedankenverloren hypnotisierte sie eine große grüne Topfpflanze. Vermutlich überlegte sie, ob sie wegen der nicht vorhandenen Krähenfüße eine Schönheitsoperation in Betracht ziehen sollte. Eine WhatsApp-Nachricht an meinen Vater mit dem Inhalt, dass er seiner Frau unbedingt Komplimente zu ihrer jugendlichen Ausstrahlung machen sollte, stand plötzlich auf Platz 1 meiner Prioritätenliste für den heutigen Tag.

Meine Mutter zuckte leicht zusammen, als ich wieder das Wort an sie richtete und sie damit aus ihren Gedanken riss. »Du siehst wirklich gut aus, Mama«, wiederholte ich das Gesagte eindringlich. Ich deutete auf ihren engen schwarzen Rock und die weiße Bluse. »Du würdest aber auch in Jogginghosen gut aussehen.«

Sofort winkte sie ab. »Bitte, komm mir nicht wieder damit. Du kannst in deiner Freizeit gerne mit diesen schrecklichen Dingern herumlaufen. Verlang das nicht von mir.« Nachdenklich tippte sie mit ihrem Zeigefinger auf ihr Kinn. »Aber ich hatte uns doch einmal so eine großartige pinke Yogahose im Partnerlook gekauft. Die sollten wir an unserem Wellnesstag tragen.«

Nur über meine Leiche. »Mutter, ich liebe dich, aber ich werde ganz bestimmt kein Kleidungsstück im Partnerlook tragen, bei dem auf unseren beiden Ärschen Juicy steht.«

Meine Mama wurde tatsächlich etwas rot um die Nase. »Das muss ich übersehen haben, als ich die Hosen mitgenommen habe.«

Das will ich hoffen.

Sie räusperte sich und sah mich traurig an. »Hannahs Yogahose liegt immer noch eingepackt in meinem Schlafzimmer. Sie wollte ihre nicht haben.«

Mit dem Kinn nickte ich zu dem kleinen Büro hinter der Rezeption. Meine Mutter ging vor und ich folgte ihr. »Hannah mag kein Pink. Schwarz ist ihre Lieblingsfarbe.«

Zu Weihnachten würde ich ihr ein Longshirt mit dem Aufdruck Black is my happy colour schenken. Und ich war mir ziemlich sicher: Damit hatte ich voll ins Schwarze getroffen.

Ein Schmunzeln stahl sich auf mein Gesicht. Vielleicht sollte ich den flachen Witz morgen Abend ebenfalls bringen.

»Und zweitens habt ihr Hannah ein paar Tage zuvor gesagt, dass sie nicht mehr im Hotel erwünscht ist, wenn sie nicht mit Joschi Schluss macht.«

Nur weil er rein äußerlich betrachtet mit seinen vielen Tattoos und seinem lässigen Kleidungsstil nicht in das Bild meiner Eltern vom Traumschwiegersohn passte, hieß das nicht, dass er deshalb ein schlechter Mensch war. Ganz im Gegenteil. Joschi war einer der hilfsbereitesten und offensten Menschen, die ich kannte. Deshalb passte er nicht nur vom Aussehen her perfekt zu Hannah. Die beiden ergänzten sich wirklich gut und ich kannte kein Pärchen, das sich inniger liebte als die beiden.

»Sie hat umgehend ihre Sachen gepackt und ist zu ihm gezogen. Wer hätte das ahnen sollen?«

Genervt seufzte ich. »Joschi ist ihr Mann und sie ist seit der Schulzeit mit ihm zusammen. Wenn ihr nicht so verbohrt wärt, hättet ihr an ihrer Hochzeitsfeier teilnehmen können.«

Nachdem sie einige Papiere zur Seite geschoben hatte, setzte meine Mutter sich auf den Schreibtisch – das einzige Möbelstück in diesem kleinen Hinterzimmer, außer einem Stuhl und einigen Schränken. »Aber die Trauung war im Rathaus. Und die Feier hat in einer Pizzeria stattgefunden«, jammerte sie.

Ich verdrehte die Augen. In dieser Angelegenheit verstand ich meine Mutter einfach nicht. »Ja, aber Joschi und Hannah hätten es nicht anders gewollt. Es war eine Feier im kleinen Kreis, da die Liebe zwischen den beiden nur Hannah und Joschi etwas angeht.«

»Wir hätten die Hochzeitsfeier ausrichten können«, murrte sie.

»Dazu müsstet ihr euch erst einmal wieder im selben Raum aufhalten können, ohne euch anzubrüllen oder mit Vorhaltungen zu kommen.«

Zum ersten Mal in meinem Leben erlebte ich meine Mutter sprachlos.

»Damit hast du wohl recht«, gab sie nach einiger Zeit zu und ich verbuchte es als kleinen Etappensieg. Mit traurigem Gesichtsausdruck rappelte sich meine Mutter auf. »Ich liebe Hannah. Aber sie hat nie verstanden, was ich ihr sagen will.« Kurz zog sie die Schultern hoch, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Du verstehst immer, was ich dir sagen will, Lina.«

Jahrelange Übung.

»Das liegt daran, dass ich keine meterlange Zündschnur hinter mir herziehe wie Hannah, die jederzeit Feuer fangen kann. Du kennst sie. Sie explodiert eben zuerst und denkt später nach. Und wenn du zu ihr gesagt hättest, dass sie Spliss hat, wäre sie aus der Haut gefahren«, erklärte ich ihr.

Manchmal fühlte ich mich wie ein – ziemlich mieser – Vermittler zwischen meinen Eltern und meiner Schwester. Seit drei Jahren, die Hannah nun keinen Fuß mehr über die Türschwelle gesetzt hatte, probierte ich so oft es ging meine Familie zu versöhnen. Zwecklos. Hannah war stur wie ein Esel, meine Mutter verbohrt und mein Vater wartete darauf, dass sich alles wieder von selbst einrenken würde. Vergebens.

»Aber du bist anders«, kam es von meiner Mutter.

»Hotelkind«, sagte ich schulterzuckend, als würde es alles erklären. »Ich hatte viel Zeit, die Menschen, die hier täglich ein und aus gehen, zu beobachten. Apropos. Braucht ihr mich noch oder kann ich eine Kleinigkeit essen, bevor ich zu Hannah gehe?«

»Wenn Susa Hilfe braucht, springe ich ein. Du kannst gerne gehen«, bot sie an.

Eigentlich hatte ich feste Arbeitszeiten und stand beinahe jeden Tag von sechs Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags an der Rezeption. Mit dem Glockenschlag verschwand ich dann wie Aschenputtel, legte das Dirndl ab und verwandelte mich zurück in das normale Mädchen, das lieber auf dem Snowboard stand, als schnöselige Prinzen einzuchecken.

Ich machte einen Schritt nach vorne, umarmte meine Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke. Wir sehen uns später.«

»Du siehst heute übrigens besonders hübsch mit dem Dirndl aus«, ließ meine Mutter mich wissen, bevor sie aus dem Raum verschwand.

Ich blieb noch eine Sekunde im Hinterzimmer und übersetzte ihre Worte. Danke für das Gespräch. Ich bin stolz auf dich und hab dich lieb. Manchmal bräuchte ich wirklich ein Wörterbuch. Deutsch – Mutter, Mutter – Deutsch.

Ich liebte sie, aber es war nicht leicht, mit ihr zu reden. Leider hatte ich nicht nur das gute Aussehen von ihr geerbt, sondern auch das Talent, den ganzen Tag ständig den Mund offen zu haben, jedoch Dinge, die mich beschäftigten, erst auszusprechen, bevor ich kurz vorm Platzen war. Ähnlich wie ein Kugelfisch, der sich immer mehr aufblies, bis alle Luft mit einem Schlag aus ihm entwich.

Bevor ich durch den Durchgang trat, atmete ich tief durch. Erst danach fühlte ich mich bereit wieder hinter die Rezeption zu treten. Susa verabschiedete gerade ihre Gäste und ich wartete, bis sie Zeit für mich hatte.

»Ich bin dann weg«, verkündete ich.

»Ja, lass mich nur alleine«, antwortete sie mit gespielt theatralischem Tonfall und warf sich ihr lockiges Haar über die Schulter, was mich zum Schmunzeln brachte. Ich liebte Susas Art. Sie war nicht nur eine unserer besten Mitarbeiterinnen, sondern sorgte mit ihrem stetigen Grinsen dafür, dass es mir leichter fiel, meinen Pflichten nachzugehen. Dass wir uns bereits sehr lange kannten, da sie mit meiner Schwester Hannah in die Schule gegangen war, war ebenfalls ein Bonuspunkt und Susa war mehr eine Freundin als eine Kollegin.

Mit in die Hüften gestemmten Händen maulte ich: »Hey, hör auf mich mit deinen Welpenaugen so treuherzig anzusehen. Meine Schicht ist vorbei.«

Rezeptionsdienst war in Ordnung, aber Zeit auf meinem Snowboard gab mir das Gefühl, frei atmen zu können.

»Jaja, ich weiß. Und nichts und niemand wird sich je im Leben zwischen dein Snowboard und dich stellen. Also verschwinde endlich, du Verrückte.«

Was ich auch tat, nachdem ich Susa kurz umarmt hatte. Mit einem jokerähnlichen Grinsen aus purer Vorfreude im Gesicht steuerte ich auf den Fahrstuhl zu, damit er mich auf die Etage brachte, die ich gemeinsam mit meinen Eltern bewohnte. Aus dem Augenwinkel sah ich einen Gast durch den Eingang kommen. Ich drehte ihm meinen Kopf zu und stolperte fast über meine eigenen Beine, als ich den jungen Mann erkannte.

Was zur Hölle …?

Gerade so konnte ich verhindern, dass ich ausgestreckt auf den Boden knallte, aber vielleicht wäre das gar nicht so übel gewesen. Ich hätte mit dem Teppich verschmelzen und in Richtung der Zimmerpflanze robben können, damit er mich nicht sah. So stolperte ich wenig elegant in Richtung des Aufzugs und drückte panisch auf den Rufknopf. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich wollte nur eines: Weg von hier. Leider dürfte ich den Aufzug in der Vergangenheit beleidigt haben, da sich die Türen, hinter die ich mich retten wollte, einfach nicht öffneten.

Durch meine hektischen Bewegungen und das Herumzappeln vor dem Fahrstuhl schaffte ich es, den unliebsamen Gast auf mich aufmerksam zu machen.

»Lina, bist du das?«, hörte ich die vertraute Stimme hinter mir.

In meinem Kopf spielte ich kurz das Szenario durch, eine Zwillingsschwester namens Ina zu erfinden, doch leider war der Typ hinter mir kein gewöhnlicher Urlauber. Nein, es war Philipp Pirkner. Wenn ich behaupten würde, dass er mal ein guter Freund gewesen war, müsste ich lügen. Aber vermutlich waren wir schon irgendwie befreundet. Auf eine ziemlich abgedrehte und vielleicht teilweise sehr bedenkliche Art. Okay, das klang auf eine Fifty Shades of Grey-Art falsch.

Phil und ich waren keine Liebenden, sondern Konkurrenten. Wir hatten eine lange Zeit großen Spaß gehabt, aus so ziemlich jeder Tätigkeit einen Wettkampf zu machen. Bis es irgendwann nicht mehr lustig gewesen war.

Langsam drehte ich mich zu Phil um. Das erste Mal seit zwei Jahren stand ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Nein, er sah plötzlich gar nicht mehr wie Satan höchstpersönlich aus. Die Hörner auf seinem Kopf musste mein Gehirn dorthin projiziert haben und auch der verschlagene Gesichtsausdruck fehlte. Vermutlich trug der Teufel auch keinen grauen Burton-Hoodie oder schwarze Jeans mit Löchern an den Knien. Die Surferhaare sahen so aus, als hätten sie ihr ganzes Leben lang keine Bürste kennengelernt. Zudem waren sie noch genauso blond wie früher, wirkten immer noch wie von der Sonne geküsst. Phils Haut hatte einen goldenen Farbton, als würde er jeden Tag mit einem Surfbrett am Strand herumlaufen. Vielleicht tat er das auch, wenn er nicht gerade meinen Traum lebte.

Wie konnte jemand, der aussah wie ein Engel, das personifizierte Böse sein? Denn zu allem Überfluss zierte kein diabolisches Lächeln wie beim Höllenfürsten persönlich sein Gesicht, sondern eher ein … erleichtertes, bei dem sogar ein Grübchen die Frechheit besaß, sich auf seine Wange zu stehlen. Vielleicht freute er sich aber einfach, dass meine Hände noch nicht um seinen Hals lagen und ich nicht versuchte ihn zu erwürgen. Was durchaus im Bereich des Möglichen lag.

Unfassbar! Phil tauchte einfach in meinem Zuhause auf – und das war dieses Hotel definitiv – und sah so … so … so im Einklang mit sich selbst und zufrieden aus. Das warf mich ziemlich aus der Bahn, da ich im Gegensatz zu ihm gar nicht so glücklich mit meinem Leben war.

Statt ihn verbal zur Sau zu machen, hob ich die Hand und grüßte ihn: »Hey.«

Wow. Da sah ich Phil das erste Mal seit zwei Jahren und dann das. Ein Hey.

»Schön dich zu sehen«, sagte er. Zum Glück hatte er mir damit eine Vorlage geboten, denn mein Gehirn, das wegen des Wiedersehensschocks kurzzeitig gelähmt war, holte zum Gegenschlag aus.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Tatsächlich? Es ist schön, mich wiederzusehen? Leider kann ich das nicht erwidern. Sogar ein Zahnarztbesuch würde mir mehr Freude bereiten, als dir hier gegenüberzustehen. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass auch eine Darmspiegelung noch vor einem Gespräch mit dir in meiner persönlichen Hitliste stehen würde.«

»Wow. Du bist immer noch so wie früher.«

Ja, besonders viele Entwicklungsmöglichkeiten gab es für mich nicht, da ich weiterhin im alten Trott festhing. Ich jagte Träumen hinterher, die sich doch niemals erfüllen würden.

Fest knirschte ich mit meinen Zähnen. »Und wer ist schuld daran?« Bevor er antworten konnte, fügte ich zischend hinzu: »Du. Also, was machst du hier?«

Etwas irritiert sagte er: »Meine Eltern über die Feiertage besuchen.«

»Ich weiß nicht, ob du es vergessen hast, aber die wohnen ein paar Kilometer die Straße runter.«

Phil zog eine Augenbraue hoch. »Danke für die freundliche Erinnerung. Eigentlich wollte ich bei Vincent vorbeischauen, doch der hat mir vor ein paar Minuten via WhatsApp verboten seine Küche zu betreten. Also wollte ich nur höflich sein und wenigstens kurz dir Hallo sagen, bevor ich mich auf die Suche nach meinem Vater mache.«

»Deinem Vater?«, fragte ich dummerweise, obwohl ich genau wusste, warum er ihn ausgerechnet hier suchte.

»Keine Ahnung, ob du in der Zwischenzeit an Alzheimer erkrankt bist, aber er arbeitet bereits seit zwanzig Jahren für deine Eltern. Du weißt schon, ich meine den Typ mit dem Werkzeugkasten, den ihr Hausmeister nennt.«

»Eigentlich sage ich Leo zu ihm, aber danke für die Gedächtnisstütze. Ruf ihn am besten auf dem Handy an, das mache ich auch immer, wenn ich ihn suche.«

Ich schob Phil, der wie eine Wand vor mir aufragte, zur Seite, weil ich so schnell wie möglich von ihm wegkommen wollte. Dann hielt ich inne, zog mein Smartphone aus der Tasche meiner Dirndlschürze und richtete es auf Phil. Nachdem ich das Foto geschossen hatte, fragte der unfreiwillig Fotografierte: »Was war das? Brauchst du eine Erinnerung an mich, die du dir nachts ansehen kannst?«

Ganz bestimmt nicht. »Nein, aber der Kopfgeldjäger, den ich gleich anheuere, braucht ein gutes Bild von dir, damit er seine Arbeit ordnungsgemäß machen kann.«

Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »Subtile Morddrohungen am Morgen. Das ist meine Lina.«

Darauf würde ich nun wirklich nicht antworten. Ich warf Phil noch einen bösen Blick zu und marschierte davon. Allerdings drehte ich mich dann doch noch einmal um. Über meine Schulter hinweg rief ich: »Ich würde ja jetzt behaupten, dass ich mich freuen würde, wenn du das Hotel Tiefenbacher mal wieder besuchst, aber ich will dir nicht ins Gesicht lügen. Tschüs, Phil.«

Ohne ihn noch einmal zu Wort kommen zu lassen, flitzte ich in Richtung der Hotelküche, wo ich mir gleich unseren Koch Vincent zur Brust nehmen würde. Eine kleine Warnung, dass Phil in St. Aurel war, wäre nett gewesen.

Mister Ich-würde-den-Mund-nicht-einmal-aufbekommen-wenn-ich-um-mein-Leben-schreien-müsste

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»Vinnie«, machte ich unseren gerade einmal vierundzwanzigjährigen Koch auf mich aufmerksam, der in seiner langärmeligen Kochjacke auf mich zukam, nachdem ich die Küche – sein heiliges Reich – betreten hatte.

Mein Blick hing an dem roten Bandana auf seinem Kopf fest. Er hatte die Dinger in allen möglichen Farben. Bad Boy Küchenchef deluxe.

Er deutete mit dem Finger zur Tür, durch die ich gekommen war. »Raus.«

Mir war klar, dass er es nicht leiden konnte, wenn ich die auf Hochglanz polierte Edelstahlküche während des Mittagsgeschäfts betrat, aber das war mir egal. Dank unseres perfekt eingespielten Küchenpersonals sah die Küche auch zu Stoßzeiten immer sauber aus. Natürlich hatte ich Vincent einige Male gefragt, wie das Team das zustande brachte. Wenn ich mal kochte, sah es danach so aus, als wäre die gesamte Küche explodiert.

Ich würde bestimmt nicht verschwinden. Bockig verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Wir haben Redebedarf.«

Mit finsterem Gesichtsausdruck positionierte ich mich neben dem Koch, der gerade ein ziemlich lecker aussehendes Steak gemeinsam mit Gemüse und einer Folienkartoffel auf einem Teller drapierte. Yummie.

Ohne zu antworten, ging Vincent an mir vorbei und ließ, ohne hinzusehen, seine flache Hand auf die Klingel krachen, mit der er den Kellnerinnen zu verstehen gab, dass das Essen fertig war. Natürlich erschien keine fünfzehn Sekunden später eines unserer Mädchen und nahm die Teller mit.

Vincent war bereits dabei, die nächste Bestellung durchzugehen und rief den Beiköchen einige Befehle zu, ehe er sich an die Zubereitung der nächsten Speise machte.

Ich schnaubte. »Vinnie, hast du mich gehört?«

»Ja.«

»Hast du Zeit?«, fragte ich ihn.

Seine Augenbrauen wanderten in die Höhe, als wollte er fragen: Dein Ernst? Was er natürlich nicht tat. Vincent, der es hasste, wenn ich ihn Vinnie nannte, hatte natürlich keine Zeit für ein ruhiges Gespräch unter vier Augen. Wobei er sich generell wohl lieber die Zunge abbeißen würde, als ein Gespräch zu führen. Zur Mittagszeit ging es in der Küche hektisch zu. Eigentlich. Wenn Vincent hier war, wirkte es immer ganz leicht, hundert Gäste innerhalb von zwei Stunden zu verköstigen.

Ich streckte meine Hände vor mir in die Luft und tat so, als würde ich mich ergeben. »Schon gut«, murmelte ich. »Du kochst, ich rede.«

Was Vincent auch tat. Unbeirrt rührte er in Töpfen, wendete Fleisch, nahm zwischendurch den Braten aus dem Ofen und richtete im Minutentakt neue Gerichte an. Und das alles, ohne dabei hektisch zu werden.

Unseren Koch kannte ich ebenso wie Phil von früher. Es sollte mich nicht wundern, dass er seiner Arbeit besonnen nachging, denn er war schon immer ein sehr gelassener Typ gewesen. Zu meinem Leidwesen jedoch auch einer von der schweigsamen Sorte. Ich würde nie verstehen, wie sich meine Freundin Annabell in so eine Miesmuschel verlieben konnte. Wobei … eigentlich verstand ich es ganz gut. Vincent sah gut aus und ihn umgab dieser typische Bad-Boy-Charme, der Mädchenherzen höherschlagen ließ. Mit seiner beinahe düsteren Ausstrahlung brauchte er sich beim Ausgehen nur an den Tresen zu lehnen und gelangweilt in die Runde zu schauen und schon scharten sich die Frauen um ihn wie die Fliegen um eine Schale Obst. Wenn er noch seinen Mund aufbekommen würde, wäre er ein absoluter Volltreffer. Das schien seine Groupies nicht zu stören, mich schon, denn unsere eher einseitigen Gespräche waren teilweise ziemlich anstrengend.

Vermutlich dachte Vinnie, ich stand tierisch auf ihn. Ich rückte ihm so oft auf die Pelle und quälte ihn regelmäßig mit meiner Anwesenheit. Die Wahrheit war jedoch: Vince war die letzte Verbindung zu meinem alten Leben. Dem Leben, bevor irgendwie alles den Bach runtergegangen war.

Nachdem Vincent vor vier Jahren ohne ein Wort St. Aurel den Rücken gekehrt hatte, waren immer mehr meiner Freunde aus meinem Heimatort verschwunden. Zuerst Phil, der zwar nicht wirklich mein Freund war, aber trotzdem irgendwie dazugehörte. Und dann meine besten Freundinnen: Annabell, Elli und Julia. Das absolut Schlimmste war jedoch, dass ich es ihnen nicht einmal übel nehmen konnte, da ich am liebsten ebenfalls sofort meine Sachen gepackt hätte.

Doch Vincent war nun wieder da und vielleicht merkten auch die anderen, dass es in St. Aurel gar nicht so schlecht war, und würden zurückkommen.

Okay, dieser Wunsch war ziemlich unrealistisch.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war Zeit, endlich in die Gänge zu kommen, denn ich sollte mich beeilen, wenn ich rechtzeitig zu der Skistunde kommen wollte, für die ich heute gebucht war. Als Vincent gerade Karotten schälte, schnappte ich mir eine und lehnte mich gegen die Küchenzeile. Mich draufzusetzen traute ich mich wegen der Hygienevorschriften nicht. Außerdem würde Vincent mich sofort rausschmeißen. Er war nicht unbedingt der umgängliche Typ Mensch und mir war klar, dass ich ihn die meiste Zeit ziemlich nervte, aber trotzdem war er so etwas wie ein Freund. Armselig, das wusste ich, trotzdem versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen, wie es in mir aussah. Deshalb bekam Vince eine meiner besten Vorstellungen zu sehen. Langsam wurde ich ein Meister darin, mich fröhlich zu geben, obwohl die meiste Zeit eine imaginäre Regenwolke über meinem Kopf schwebte.

Ich biss von meinem Gemüse ab und zeigte dann damit auf den Koch. »Also Vinnie«, säuselte ich, »wann wolltest du mir sagen, dass unser gemeinsamer Freund Phil vorhat, Weihnachten hier zu verbringen?« Zur Verdeutlichung meiner Worte hielt ich mein Smartphone hoch und präsentierte ihm das verwackelte Bild, das ich von Phil gemacht hatte.

»Nie«, sagte er völlig ungerührt.

Leider konnte ich ihn besser verstehen, als er vermutlich dachte. Auch ich hatte es monatelang nicht übers Herz gebracht, Annabell zu gestehen, dass Vincent zurück in St. Aurel war und zu allem Überfluss bei uns im Hotel arbeitete. Ich konnte mich noch zu gut an die Zeit nach der Trennung erinnern, in der Annabell wegen jeder Kleinigkeit in Tränen ausgebrochen war. Und ich wollte meine Freundin nie wieder so traurig sehen, deshalb hatte ich Vince’ Rückkehr bis heute von ihr verheimlicht. Leider hatte ich den Zeitpunkt längst überschritten, an dem ich meiner Freundin die Nachricht schonungslos überbringen konnte, denn spätestens morgen würde Annabell hier auftauchen. Keine Ahnung, wie Vincent auf Annabell reagieren würde, denn er sprach ja nicht mit mir über sie. Oder über irgendetwas, das ihn beschäftigte, deshalb würde ihr Kurzurlaub in der Heimat auch für ihn eine Überraschung werden.

Ich war das wandelnde Chaos. Manchmal wunderte es mich, dass sich überhaupt noch jemand mit mir abgab.

»Okaaaay«, gab ich lang gezogen von mir.

Meine Gründe waren edler Natur, denn ich wollte Annabell vor Herzschmerz schützen. Aber was für eine Ausrede hatte Vince? Er gab mir immer das Gefühl, dass er mich nicht einmal ansatzweise leiden konnte.

»Du hättest ja mal in einem Nebensatz erwähnen können, dass Phil nach Hause kommt.« Innerhalb eines Wimpernschlags bemerkte ich meinen Fehler. »Schon gut«, winkte ich sofort ab, »ich weiß ja, wie das mit uns läuft. Ich rede, du tust so, als würde dich das alles gar nicht interessieren, hörst mir aber doch irgendwie ganz gerne zu, obwohl du dir lieber die Zunge abbeißen würdest, als das zuzugeben. Aber weißt du was, Vincent, irgendwann wirst auch du Redebedarf haben und dann werde ich nur Hmpf antworten.«

Vermutlich würde dieser Tag nie kommen, denn er war der Typ dafür, Sachen mit sich selbst auszumachen.

Ich lehnte mich etwas näher zu Vincent. Versuchte er gerade tatsächlich ein Schmunzeln zu unterdrücken? Bestimmt ging so ein Satz wie Du könntest niemals deine Klappe halten durch seinen Kopf.

»Also«, quasselte ich unbeirrt weiter. »Phil ist da und du wusstest bestimmt, dass er hierherkommt. Liege ich damit richtig?«

Eine Antwort bekam ich nicht, dafür ein widerwilliges Nicken. Gut, damit konnte ich arbeiten.

»Und du hast es mir nicht gesagt, weil ich mich nicht aufregen soll?«, bohrte ich weiter.

Ein Schnauben. Das war wohl ein Nein.

»Warum hast du es mir dann nicht gesagt? Und ich brauche jetzt wirklich mal eine Antwort, die nicht nur aus einem Grunzen besteht, denn ganz ehrlich: Es hat mich ziemlich aus dem Konzept gebracht, dass Phil wieder da ist. Ich dachte, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Wir sind ja auch nicht unbedingt im Guten auseinandergegangen, da unser Kleinkrieg sich auf epische Ausmaße ausgedehnt hat.«

Meine Stimme wurde von Wort zu Wort lauter und ich war mir ziemlich sicher, dass die anderen Mitarbeiter in der Küche lauschten. Doch das war mir egal.

Zu meiner Verwunderung legte Vincent das Küchenmesser beiseite und sah mich direkt an. »Er hat dich in eine Abstellkammer gesperrt. Und er hat sogar das Licht angelassen. Es gab einen Eimer, in den du pinkeln konntest, und ich glaube, dass er dir auch ein Twix dort gelassen hat. Außerdem war das nur die Retourkutsche dafür, dass du seine komplette Kleidung hast verschwinden lassen, nachdem ihr nachts im Hotelpool ein Wettschwimmen gemacht habt. Phil musste im Winter nach Hause laufen. Nackt. Und nass. Du hattest es verdammt noch mal verdient, in diese Abstellkammer gesperrt zu werden.«

Mein Mund stand sperrangelweit offen. Mein ganzes Leben lang hatte ich Vincent noch nie so viele Sätze an einem Stück sagen hören. Was vermutlich ganz gut war, denn der Inhalt seiner Worte war absoluter Bullshit.

Ich atmete tief durch und piekte ihm mit der Karotte in die Brust. »Ach so, ich habe es also verdient, dass ich den Wettbewerb, auf den ich mein ganzes Leben lang hingearbeitet habe, verpasse? Es gibt nicht jeden Tag die Chance auf einen Platz für ein Snowboardcamp und das war meine verfluchte Eintrittskarte dafür. Wenn ich gewonnen hätte – und glaub mir, ich hätte Phil in Grund und Boden gefahren –, wäre ich statt ihm in dieses Camp gefahren. Und dann hätte ich die Chance gehabt, diese verdammte Stadt zu verlassen und das Leben zu führen, das Phil mir gestohlen hat.«

»Laber keinen Scheiß, Lina. Niemand wusste im Vorhinein, dass der Gewinner die Chance auf dieses dämliche Camp hat. Weder Phil noch du. Shit happens.«

Da hatte er leider recht. Und trotzdem konnte ich nicht anders, als jeden Tag daran zu denken, dass ich zumindest die Chance verdient gehabt hätte, mir den Sieg zu holen, anstatt ohne Handy in einer Besenkammer zu sitzen.

Wütend funkelte ich Vincent an. »Weißt du was? Wir beschränken uns jetzt wieder auf einsilbige Antworten. Es gefällt mir nämlich nicht, was du zu sagen hast.«

»Gerne.«

Wie erwartet kamen keine Proteste von Vincent. Er hatte nur die einmalige Chance genutzt, mir ordentlich die Meinung zu geigen. Irgendwie imponierte es mir sogar. Vermutlich hätte mir kein anderer Mitarbeiter im Hotel ins Gesicht gesagt, was er wirklich dachte.

»Super«, sagte ich deshalb euphorischer als angemessen. »Und um noch einmal auf Phil zurückzukommen. Meinst du, ich schaffe es, ihm aus dem Weg zu gehen, bis er wieder abreist?«

»Hmpf.«

Vincent war einfach der Beste.

»Wenn ich eine Challenge daraus mache, könnte es möglicherweise funktionieren. Phil liebt es, wenn ich ihn herausfordere. Er würde mich meiden, als hätte ich die Pest.«

»Bestimmt.«

»Aber dann wüsste ich nicht, was ihn hierhertreibt. Vielleicht hatte er eine schwere Verletzung und muss jetzt seine Karriere als Snowboardprofi an den Nagel hängen. Nicht dass ich ihm einen gebrochenen Brustwirbel oder so etwas gönnen würde, aber möglicherweise hätte er damit eine angemessene Bestrafung dafür erhalten, dass er mein Leben zerstört hat. Andererseits hätte ich das bestimmt auf seinem Instagram-Account gesehen. Vielleicht will er wirklich einfach nur ein paar Tage bei seinen Eltern ausspannen.«

Vincent, der unbeirrt Gemüse schnippelte, sagte kein Wort, lief allerdings auch nicht von mir davon. Es war ziemlich offensichtlich, dass sein Team ihm den Rücken freihielt und seine Aufgaben übernahm, damit er sich in Ruhe mit mir unterhalten konnte.

»Nicht dass ich mir seine Bilder regelmäßig ansehen würde. Oder die grandiosen Videos. Ganz bestimmt nicht die Videos. Oder die Storys«, fügte ich rasch hinzu, als mir klar wurde, dass ich wie ein verdammter Stalker klang. Ich rieb mir mit beiden Händen über das Gesicht, um mich davon abzuhalten, mich weiter in die Scheiße zu reden. »Aber nur damit das klar ist: Ich folge ihm nicht auf Insta. Und das weiß er ganz bestimmt, obwohl er ungefähr siebzigtausend Follower hat. Da komme ich mir mit meinen zweitausend ziemlich mies vor. Der Punkt geht an Phil, auch wenn ich es nur ungern zugebe«, quatschte ich unbeirrt weiter.

Vincent mischte inzwischen die Karottenstifte mit ein paar Salatblättern, fügte noch einige andere Zutaten hinzu, ehe er zum Plattengrill ging und nach ein paar Hühnerbruststreifen griff. Mir war nicht ganz klar, wie er und sein Küchenteam kommunizierten, aber ich tippte auf Gedankenübertragung.

Vincent streckte mir den Teller entgegen. »Iss. Dann hältst du endlich mal deine Klappe.«

Oh. Mein. Gott. Wie süß war das denn? Vince hatte mir etwas gekocht. Er war also gar keine fiese, schlecht gelaunte Miesmuschel.

Ich stellte den Teller ab und zwang Vincent eine Umarmung auf. »Du bist der beste Koch der Welt. Magst du dir nicht noch einmal überlegen, ob du nicht auch mein bester Freund sein willst? Wir könnten unsere Gespräche in deiner kleinen Abstellkammer führen, die du deine Dienstwohnung nennst. Ich gebe zu, ich mag nicht wirklich, was du sagst, aber daran könnten wir arbeiten. Wenn du deine Fixierung auf Phil vergisst, den dunklen Pfad eurer Freundschaft verlässt und stattdessen ins Team Lina wechselt, könnten wir echt gute Kumpels werden. Du weißt, ich kann gut snowboarden. Und bestimmt auch gut Playstation spielen oder was ihr Jungs so in eurer Freizeit macht.«

Keine Ahnung woher, aber Vincent zauberte eine Gabel hervor, spießte ein Hühnerstück auf und hielt es mir entgegen. Es wunderte mich, dass er es mir nicht in den Mund stopfte, damit ich endlich die Klappe hielt. »Verschwinde.« Danach deutete er auf die Uhr.

Ach du kacke.

Ich nahm Vincent die Gabel ab und kostete sein Essen. Wie immer perfekt. Nachdem ich geschluckt hatte, sagte ich: »Aber nur damit du es weißt: Wenn ich nicht zu spät kommen würde, hätten wir dieses Gespräch noch eine Weile weiterführen können.«

»Klar.«

Ich schnappte mir meinen Teller. »Wir sehen uns bald wieder. Und keine Sorge: Ich werde dich über Phil auf dem Laufenden halten.«

Vincent murmelte etwas, das klang wie: »Bloß nicht.«

Auch egal. Ich musste wirklich los.

Traummänner und Disneyprinzessinnen

Vignette

Bei strahlendem Sonnenschein, aber Temperaturen um die null Grad hetzte ich wie dieser verrückte Hase aus Alice im Wunderland über das Kopfsteinpflaster, das sich durch die gesamte Innenstadt von St. Aurel zog. Zum Glück lag unser Hotel so, dass die Touristen innerhalb kurzer Zeit sowohl bei der kleinen Einkaufsmeile waren – wo die Urlauber unter anderem Krimskrams, Ski- und Trachtenmode oder Süßigkeiten zu überteuerten Preisen kaufen konnten – als auch beim Skilift. Dort befand sich auch die Skischule von Hannah und Joschi, zu der ich gerade lief, während Haus um Haus an mir vorbeizog. Ich verkniff es mir, »O seht, o seht! Ich komme viel zu spät!« zu schreien, obwohl das bestimmt den einen oder anderen Urlauber – genauso wie die Einheimischen –, die meinen Weg kreuzten, amüsiert hätte.

Als ich um die nächste Ecke bog, knallte ich in den Rücken eines Typen, an dem offensichtlich das wichtige Memo, sich nicht zu dicht an Häusern herumzudrücken und kopflos durch die Gegend laufenden Frauen im Weg zu stehen, vorbeigegangen war. »Aus dem Weg, Hutmacher«, zischte ich der Rückseite des Mannes in den schwarzen Skiklamotten zu, da mein Kopf immer noch dem Alice im Wunderland-Gedanken nachhing.

Das schlechte Gewissen überkam mich schneller als gedacht, denn im Normalfall pöbelte ich keine Passanten an, in die ich einfach hineinlief, aber meine Laune war nach dem unerwarteten Auftauchen von Phil nicht die beste. Zudem hingen mir Vincents Worte immer noch nach …

Gerade als ich mich entschuldigen wollte, drehte sich der Mann um. Am liebsten hätte ich theatralisch meine Hände in die Luft geworfen, denn das Universum musste etwas gegen mich haben. Jede andere Frau wäre in ihren absoluten Traummann hineingelaufen. In meinem Fall wäre es wohl ein Skiliftbesitzer. Oder Oliver Sykes, mein Lieblingsmusiker. Vielleich auch Travis Rise, einer der weltbesten Snowboarder.

Vor mir stand jedoch Philipp Pirkner. Ebenfalls Profisnowboarder, allerdings das genaue Gegenteil meines Traummanns.

»Du schon wieder«, brachte ich statt einer Entschuldigung hervor. Um etwas zu tun zu haben, griff ich nach meinen Handschuhen, die in den Taschen meiner Skijacke steckten, und zog sie mir über die Finger. Möglicherweise um mich davon abzuhalten, Phil an die Gurgel zu gehen.

Im Normalfall war ich eine überaus friedliche und ausgeglichene Person, aber Phil kitzelte das Schlimmste aus mir heraus, einfach nur dadurch, wie er dastand und mich ansah. Dass er dabei so wirkte, als wäre seine Traumfrau in ihn hineingelaufen, machte die Sache nicht wirklich besser.

»Lina«, begrüßte er mich mit einem Lächeln, das zwei strahlend weiße Zahnreihen entblößte. Besaß dieser Mann gar keinen Makel? »Zweimal an einem Tag. Man könnte meinen, du verfolgst mich.«

Ich schnaubte. »Nur in deinen Träumen.«

Anzüglich wackelte Phil mit den Augenbrauen. »Glaub mir, die Nächte, in denen du darin auftauchst, sind einfach unvergesslich.«

Was sollte das jetzt heißen? Jedoch hätte ich mir eher die Zunge abgebissen, als nachzufragen.

»Leider habe ich überhaupt keine Zeit, um festzustellen, ob die reale Lina mit der Lina aus deinem verdrehten Kopf zusammenpasst, da ich etwas vorhabe.«

»Okay.« Phil zuckte mit den Schultern, drehte sich dann in die Richtung, in die ich ebenfalls musste, und ging ohne Verabschiedung los.

Etwas perplex sah ich ihm hinterher, bevor mir wieder einfiel, dass meine Beine dazu da waren, um mich zu meinem Ziel zu bringen. Los jetzt, ihr Verräter.

Umgehend schloss ich zu Phil auf, der lahm durch die Gegend schlich. Und so ein antriebsloses Individuum nannte sich Profisnowboarder. Als ich ihn überholte, beschleunigte auch er seine Schritte. War ja klar. Fest biss ich die Zähne aufeinander und erhöhte meinerseits das Tempo. Phil neben mir begann langsam zu joggen, was ihn natürlich schneller als mich machte.

So war es immer mit uns. Er tat etwas und ich reagierte völlig überzogen darauf. Wie in dem Moment, als ich lossprintete und schrie: »Versuch gar nicht mir zu folgen, ich bin die bessere Läuferin von uns beiden!«

Zumindest war ich das einmal gewesen, denn ob man es glaubte oder nicht: Vor vier oder fünf Jahren hatten wir einen ganzen Nachmittag auf einer hundert Meter langen Laufbahn verbracht, um zu testen, wer der schnellste Sprinter war, nur um am nächsten Tag unser Spielchen zu erweitern, um herauszufinden, wer den Sieg im Langstreckenlauf davontragen konnte. Damals war es Phil gewesen, doch ich konnte mit Niederlagen schlecht umgehen, deshalb hatte ich mir in den letzten Jahren mindestens dreimal pro Woche die Laufschuhe angezogen und meine Runden durch St. Aurel gedreht. Und genau aus diesem Grund gab ich jetzt alles.

Leider überholte Phil mich ziemlich schnell, aber es war nicht mehr weit bis zur Skischule, die mein Konkurrent wohl still und heimlich ebenfalls zum Ziel unserer kleinen Challenge gemacht hatte. Auf den letzten Metern gab ich noch einmal richtig Gas, was meinen Herzschlag auf eine ungesunde Frequenz hochjagen ließ. Das lag jedoch nicht an meiner mangelnden Kondition, sondern war auf die Skibekleidung zurückzuführen. Auch die falsche Atmung spielte eine Rolle, aber ich war so wütend, dass ich mich in eine schnaubende Dampflok verwandelte.

In Momenten wie diesen fragte ich mich oft, wann ich wohl die Abzweigung in Richtung Erwachsensein verpasst hatte. Doch als ich zu Phil sah, verpuffte dieser Gedanke innerhalb eines Wimpernschlags, denn ganz ehrlich: Der um zwei Jahre ältere Snowboarder benahm sich nicht unbedingt reifer als ich.

Schwer atmend kam ich bei Hannahs und Joschis Skiverleih an. Phils Hand berührte womöglich eine Millisekunde früher den Türgriff, was er mir natürlich sofort unter die Nase rieb: »Ich« – lautes Keuchen – »war« – er fächelte sich Luft zu – »schneller.« Da ich immer noch hektisch Sauerstoff in meine Lungen sog, kommentierte ich seinen Triumph nur mit einem Augenrollen.

Erst jetzt fiel mir auf, dass Joschi keinen halben Meter von uns entfernt an der Hausmauer des kleinen, einstöckigen Gebäudes lehnte und uns mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete.

Natürlich könnte ich durch unser kindisches Verhalten beschämt sein. Aber Dinge waren nur peinlich, wenn man es zuließ. Ich hatte früh gelernt, dass alles in Ordnung war und niemand über mich lachte, solange ich den Kopf hochhielt und mit einem Lächeln aus dem Fettnäpfchen stieg, in das ich mit vollem Karacho eine Arschbombe gemacht hatte. Also zog ich mir die Mütze vom Kopf und kämmte mir durch meine langen blonden Haare, als hätte es eben gar kein Wettrennen gegeben. Mit einem Zwinkern begrüßte ich Joschi. »Hey, bester Schwager der Welt.«

Joschi hob seine Hand, in der er eine dampfende Tasse Kaffee hielt und prostete uns damit zu. Im Gegensatz zu Phil und mir, die in Skihose, Jacke, samt Kopfbedeckung und Handschuhen dastanden, trug Joschi nur ein Thermoshirt, das er an den Armen hochgekrempelt hatte, damit man seine tätowierten Unterarme gut sehen konnte. Dafür zierte sein Kopf eine Fellmütze im Fliegerstyle, die ihn wie einen russischen Piloten aussehen ließ. Fehlte nur noch, dass meine Schwester mit dem passenden Muff aus dem Skiverleih kam und sich neben ihren Gatten an die Wand lehnte.

Kurz bevor ich einen Witz darüber reißen konnte, ob ein Tier auf Joschis Kopf verendet war, wandte er sich Phil zu: »Was machst du hier? Hast du Sehnsucht nach deinem alten Job?«

Phil legt seinen Kopf schief und schien tatsächlich über die Frage nachzudenken.

Natürlich beteiligte ich mich sofort am Gespräch: »Phil vermisst es sicher nicht, kleinen Kindern das Skifahren beizubringen. Als Snowboardprofi hat er Besseres zu tun.«

Ich wusste nicht, ob Phil den Kopf schüttelte, nur um nicht einer Meinung mit mir zu sein oder weil er es tatsächlich vermisste, anderen sein Wissen weiterzugeben.

»Ehrlich gesagt, habe ich den Job immer geliebt.«

Genauso wie ich. Trotzdem machte ich einen Schritt auf Phil zu und schubste ihn gegen die Brust. »Na dann können wir ja gern unsere Leben tauschen und du lässt dich ab jetzt jeden Tag hier blicken, während ich statt dir an Wettkämpfen teilnehme.«

Phil fing meine behandschuhten Hände ein und hielt mich an beiden Handgelenken fest. Wir standen plötzlich ganz dicht voreinander. Beinahe zu dicht für meinen Geschmack.

»Du nimmst auch jetzt noch hin und wieder an lokalen Wettkämpfen teil«, knurrte er beinahe.

Im Nachhinein betrachtet war das wohl der Moment, in dem ich vergaß, dass Joschi neben uns lehnte und jedes unserer Worte hören konnte. Wobei er Streitigkeiten zwischen Phil und mir gewohnt war. Immerhin war er nicht nur mein Schwager, sondern auch mein Arbeitgeber. Und für eine Weile auch Phils.

Ich entriss Phil meine Hände. »Aha, und woher willst du das wissen, du Stalker?«

»Instagram. Du führst ein ziemlich öffentliches Leben, Lina Unterstrich Snowboardqueen.«

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. »Du müsstest mir ja nicht folgen«, zischte ich.

»Vielleicht will ich das aber. Ganz im Gegensatz zu dir.«

»Was?«, fragte ich irritiert nach. Konnte es sein, dass Phil mit seinen gefühlten zwanzig Milliarden Followern ganz genau wusste, dass ich ihm nicht folgte? Das setzte doch voraus, dass er regelmäßig auf mein Profil ging und nachschaute, ob ich es tat.

Ich schüttelte den Kopf. Egal, ich würde ihm ganz bestimmt nicht verraten, dass ich sehr wohl über sein Leben abseits von St. Aurel im Bilde war. Ich war darüber informiert, welches Snowboard er fuhr – Burton –, welches Rennen er als letztes gewonnen hatte – eine Silbermedaille im Slopestyle in Sierra Nevada – und welches Mädchen – Ashley – er zuletzt gedatet hatte. Wobei ich bestimmt schon mehr als ein halbes Jahr kein gemeinsames Bild von den beiden gesehen hatte.

Phil betrachtete den Schnee unter seinen Füßen. »Ach nichts. Vergiss, was ich gesagt habe.«

Ein breites Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. »Nur damit ich dich richtig verstehe: Du hast richtig viele Follower und lässt hier gerade die Diva raushängen, weil ich dir nicht folge und du keine Herzen von mir hinterhergeschmissen bekommst?«

Phils Miene verfinsterte sich zunehmend. »Und was, wenn es so wäre?«

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern. »Dann habe ich Instagram gewonnen.«

Das brachte Joschi zum Schnauben und ich landete wieder in der Realität. Ich hatte ganz vergessen, dass Phil und ich uns nicht in einer Blase aufhielten, in der es nur uns beide gab.

»Lina«, tadelte Joschi mich auf diese Großer-Bruder-Art, was ihm als mein Schwager auch zustand, »Instagram ist kein Wettbewerb. Du bist nicht der Sieger, nur weil Phil dir folgt, du ihm aber nicht.«

Sofort winkte ich ab. »Redet euch das nur ein.«

Phil murrte: »Wenn überhaupt, hätte ich gewonnen, weil ich viel mehr Follower habe als du.«

Darauf antwortete ich nichts, stattdessen ging ich zur Tür, um meiner Schwester Hallo zu sagen. Außerdem konnte ich mir dann gleich meinen nächsten Schüler schnappen und mit der Skistunde beginnen. Phil lenkte mich so ab, dass ich völlig vergessen hatte, dass die Urlauber bereits auf mich warteten.