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SPECIAL OPERATIONS TEAM

Das Special Operations Team, auch SPOT genannt, ist eine Einsatztruppe der amerikanischen Polizei, die es offiziell nicht gibt. Nur ein paar wenige Abteilungschefs wissen von ihnen.

Diese fünf Männer haben nicht nur mit SWAT-Teams trainiert, sondern auch mit Navy Seals und Army Rangern.

Sie gehören zu den Besten und werden gerufen, wenn die Polizei mit normalen Mitteln nicht mehr weiterkommt.

Sie agieren im Dunkeln und haben immer alles unter Kontrolle.

Aber diese Einsätze ändern alles für sie.

Dies sind die Geschichten dieser fünf Männer.

PROLOG

Seit fünf Jahren arbeitete Ariana nun für die Kanzlei Thompson & Armstrong als Rechtsanwaltsfachangestellte. Sie wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung in L.A. und fuhr einen Ford Mondeo. Regelmäßig traf sie sich mit ihrer Familie und ihren Freunden. Sie hatte bisher nicht einmal ein Knöllchen wegen falschem Parken bekommen.

Ariana konnte behaupten, dass sie wirklich glücklich mit ihrem Leben war.

Dieser Umstand änderte sich allerdings, als sie zur falschen Zeit an den falschen Ort gelangte. Von da an würde nichts mehr so sein wie bisher.

Mit ihren Schuhen in der Hand schlenderte Ariana die verlassene Straße im Stadtteil South Central entlang. Es war drei Uhr morgens, und sie war gerade auf dem Weg nach Hause. Die letzten Stunden hatte sie gemeinsam mit ihren Freundinnen verbracht. Sie waren in einem angesagten Club gewesen, und Ariana hatte sich die Füße in ihren High Heels wund getanzt, so sehr hatte ihr die Musik gefallen. Doch nun war sie einfach nur müde und wollte so schnell wie möglich nach Hause. Viel war nicht mehr in der düsteren Gegend los, in der ihre Freundin wohnte, sodass sie mehr oder weniger alleine auf der Straße unterwegs war.

Ariana war so in Gedanken vertieft, dass sie erschrocken zusammenzuckte, als sie ein leises, aber bedrohliches Geräusch vernahm. Es dauerte einen Augenblick, doch dann realisierte sie, was sie gerade gehört hatte.

Das musste ein Schuss gewesen sein, nur viel leiser, wie durch einen Schalldämpfer! Aber auch das änderte nichts daran, dass das Geräusch Ariana durch Mark und Bein ging. Sie war sich sicher, dass sie es niemals vergessen würde. Es hallte in ihren Ohren wider. Wie vom Donner gerührt blieb Ariana an Ort und Stelle stehen und ließ ihren Blick panisch die Straße auf und ab gleiten.

Doch um sie herum war alles still. Nirgendwo war jemand zu sehen oder zu hören. Es war fast so, als hätte es dieses furchteinflößende Geräusch nie gegeben.

Obwohl sich Panik in ihrem Körper breitmachte, konnte sie ihre Beine nicht dazu bekommen, sich zu bewegen, wenngleich ihr Gehirn immer wieder den Befehl dazu gab. Sie hatte keine Ahnung, was los war, aber sie spürte, sie war in Gefahr.

Plötzlich sah sie einen furchteinflößenden Mann um die nächstgelegene Hausecke kommen. Er war ganz in Schwarz gekleidet und mindestens drei Köpfe größer als Ariana. Finster blickte er die Straße hinunter. Zum Glück wandte er sich dabei nicht Ariana zu, sodass sie nur seine breiten Schultern von hinten erkennen konnte.

Während sie ihn dabei beobachtete, wie er langsam und mit sicheren Schritten weiterging, blieb ihr Herz stehen, denn in seiner Hand blitzte eine Waffe im Schein der Straßenlaterne auf. Er näherte sich einem schwarzen Geländewagen, der am Straßenrand in einiger Entfernung stand.

Verschwinde von hier, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf.

Sie zwang sich, den Blick abzuwenden, machte ein paar Schritte zur Seite und versteckte sich im Schatten einer Haustreppe. Verängstigt kauerte sie sich dort auf dem Boden zusammen.

In der nächsten Sekunde hielt Ariana gebannt die Luft an, als sie sah, dass der Mann sich zu allen Seiten hin umsah. Dabei blieb sein Blick genau an der Stelle hängen, an der sie sich versteckt hatte.

Aus einem Reflex heraus hatte sie die Luft angehalten, während sie weiter auf dem Boden kauerte und ihn beobachtete, bis er in den dunklen Geländewagen stieg.

Sie konnte allerdings das Gefühl nicht abschütteln, dass er sie gesehen hatte, und das änderte sich auch in den nächsten Tagen nicht mehr.

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»Der Mann wurde heute Morgen tot in einer Seitengasse aufgefunden. Noch wissen die Beamten nicht, um wen es sich handelt.«

Bei den Worten der Nachrichtensprecherin zuckte Ariana unbewusst zusammen und drehte sich abrupt zum Fernseher um. Dass sie dabei fast mit einem anderen Gast des Diners, in dem sie gerade einen Kaffee bestellt hatte, zusammenstieß, merkte Ariana überhaupt nicht. Sie nahm nichts mehr wahr, sondern richtete ihren Blick wie gebannt auf den Fernseher.

Und was sie dort sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Das Fernsehteam war genau in der gleichen dunklen Gasse in South Central, in der sie noch vor zwei Tagen gestanden und den Schuss gehört hatte.

Vor ihrem inneren Auge bildete sich das Bild des Mannes, den sie dort gesehen hatte. Bei der Erinnerung öffnete sich ihr Mund ein Stück, und ihr Herz raste. Wie gebannt starrte sie weiter auf den Bildschirm.

»Die Tatzeit wird auf ca. 3 Uhr morgens geschätzt. Obwohl diese Gegend zu der nächtlichen Zeit meist menschenleer ist, hofft die Polizei, dass sie auf diesem Weg einen Zeugen findet, der sachdienliche Hinweise zum Täter geben kann.«

»Scheiße«, murmelte Ariana, während ihr Kopf die Worte verarbeitete. Nur sehr langsam wurde ihr bewusst, was das bedeutete.

Ein Mann war erschossen worden, und sie hatte mit angehört, wie die tödliche Kugel abgefeuert wurde. Mehr noch: Sie hatte den Mörder gesehen.

Und er hatte sie auch gesehen!

Bei der Erinnerung an seinen eiskalten Blick lief ihr ein Schauer über den Rücken. Vom ersten Moment an war sie sich sicher gewesen, dass sie diesen Anblick niemals vergessen würde, und auch jetzt, Tage später, kam es ihr noch immer so vor, als wäre es erst vor wenigen Minuten geschehen.

Und die Tatsache, dass sie nun wusste, dass tatsächlich jemand umgebracht worden war, verschlimmerte alles.

»Verdammte Scheiße«, entwich es ihr lauter als gedacht, sodass ein paar der Gäste sich zu ihr umdrehten. Aus dem Augenwinkel sah sie die verwirrten Blicke, die die Leute ihr zuwarfen. »Sorry«, murmelte Ariana deswegen entschuldigend, hatte dabei ihren Blick aber weiterhin auf den Fernseher gerichtet.

In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass der ganze Mist, der ihr in den letzten Tagen passiert war, kein Zufall gewesen war. Jeden Nachmittag hatte sie eine tote Maus vor ihrer Tür gefunden, und der Lack ihres Autos war zerkratzt worden. Nachts hatte sie merkwürdige Anrufe bekommen, bei denen sich niemand gemeldet hatte. Es war immer nur ein schweres, bedrohliches Keuchen zu hören gewesen. Auch vor ihrer Wohnung hatte man nicht halt gemacht. Gestern war ihre Tür aufgebrochen und der Inhalt ihrer Schränke zerstört worden, als sie bei der Arbeit gewesen war. Aber das war noch gar nichts.

Fast noch schlimmer war es, dass sie seit zwei Tagen das Gefühl hatte, als würde man sie oberservieren, beobachten. Und nun kam es Ariana so vor, als wäre das nicht nur eine Vermutung, sondern Realität.

Kann es sein, dass mich der Mörder verfolgt?

Panisch wich ihr Blick von rechts nach links und wieder zurück. Aber so sehr sie es auch versuchte, Ariana konnte niemanden erkennen, der sie beobachtete. Trotzdem griff sie aus einem Reflex heraus nach ihrer Tasche, die neben ihr auf einem Barhocker lag, und hängte sie sich über die Schulter.

Ariana warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, auf dem nun die nächsten Nachrichten gezeigt wurden, ehe sie ihren Kaffee einfach stehen ließ und aus dem Diner rannte.

Ohne auf die Autos zu achten, lief sie panisch über die Straße auf ihren Wagen zu, der am Straßenrand parkte. Sie nahm sich erst ein paar Sekunden zum Verschnaufen, als sie die Tür ihres Ford Mondeos wieder hinter sich zugezogen und verriegelt hatte.

Doch auch währenddessen wanderte ihr Blick ständig hin und her. Menschen liefen an ihr vorbei, gingen einkaufen oder schlenderten an den Schaufenstern entlang.

Aber weit und breit konnte sie auch hier niemanden entdecken, der sie beobachtete.

Ein letztes Mal atmete Ariana tief durch, ehe sie den Schlüssel ins Schloss schob und den Motor startete. Mit zitternden Händen lenkte sie den Kombi vom Parkplatz und fuhr die Straße hinunter.

Die nächsten zwei Stunden fuhr Ariana planlos durch L.A., während sie irgendwie versuchte, zu verdauen, was sie erfahren hatte. Sie hatte kein Ziel, ja, nicht einmal eine Idee, wo sie hinfahren könnte. Es kam ihr vor, als würde sie neben sich selber sitzen und sich dabei zusehen, wie sie den Wagen durch den dichten Verkehr lenkte und dabei immer wieder in den Rückspiegel sah. Als sie nach einer Ewigkeit endlich bereit war, sich ihrer Situation zu stellen, wurde ihr bewusst, dass sie vor dem Gebäude des Los Angeles Police Department stand. Sie war so in Gedanken vertieft gewesen, dass sie gar nicht realisiert hatte, ihren Wagen direkt dorthin gesteuert zu haben.

Eine Weile blieb sie noch im Auto sitzen und überlegte, ob sie das wirklich tun konnte. Dabei beobachtete sie die Polizisten, die das Gebäude betraten und verließen. Doch welche Wahl hatte sie schon?

Eigentlich hätte Ariana noch in der Mordnacht zur Polizei gehen müssen, das war ihr klar, aber sie hatte es nicht gekonnt. Schließlich war das ja nicht die erste Schießerei in Los Angeles und würde mit Sicherheit auch nicht die letzte bleiben, hatte sie sich eingeredet. Es hätte ja auch einfach sein können, dass das Opfer auf der Flucht vor der Polizei gewesen war oder sich von selbst ein Schuss gelöst hatte – alles nur bescheuerte Ausreden, das wurde ihr spätestens jetzt klar, wenn sie an die Worte der Nachrichtensprecherin dachte.

»Du schaffst das«, flüsterte sie sich immer wieder zu, bis sie es selber glaubte.

Erst dann stieg sie aus dem Wagen und ging auf die große Treppe zu, die in das Gebäude führte. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Beine bei jedem Schritt zitterten.

Im Gebäude herrschte Trubel. Zahlreiche Menschen sprachen wild durcheinander, Polizisten in Uniform versuchten, weinende und sichtlich aufgelöste Zivilisten zu beruhigen.

Vielleicht ist ein Angehöriger des Mordopfers dabei, überlegte sie, schob diesen Gedanken aber schnell wieder zur Seite. Er trug nicht dazu bei, dass sie ruhiger wurde, sondern sorgte eher dafür, dass ihr schlecht wurde.

Also ging Ariana auf den großen Empfangstresen zu ihrer Linken zu, hinter dem zwei Polizisten standen, die sich gerade unterhielten.

»Entschuldigen Sie«, unterbrach sie die beiden und zog so ihre Aufmerksamkeit auf sich.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der ältere der beiden und schaute sie dabei an.

Ihr schlug das Herz bis zum Hals, und Ariana war sich sicher, dass jeder in ihrer Nähe es hören konnte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, so nervös war sie. Obwohl sie nun hier stand, war sie sich noch immer nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung gewesen war. Sie hatte keine Ahnung, um wen es sich bei dem Mörder handelte, oder ob die Polizisten mit ihrer Aussage überhaupt etwas anfangen konnten.

»Ich möchte eine Zeugenaussage machen«, erklärte sie etwas schüchtern und hoffte fast, dass dieser Satz in den lauten Hintergrundgeräuschen untergegangen war. Als sie einen kurzen Blick auf den Polizisten warf, sah sie allerdings, dass er sie genau verstanden hatte.

»Worum geht es denn? Haben Sie einen Termin?«

»Nein … ich«, stotterte Ariana und erkannte sich selbst kaum wieder. Bisher hatte sie immer über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügt. Normalerweise brachte sie so schnell nichts aus der Ruhe. Aber nun war genau dieses Selbstbewusstsein verschwunden, und Ariana hatte keine Ahnung, wie sie es wiederbekommen sollte.

Fragend sah der Polizist sie an.

Ariana atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. »Ich habe vorhin in den Nachrichten von einem Mord in South Central gehört. Ich glaube, dass ich den Täter gesehen habe.«

Kaum hatte sie ausgesprochen, wurden die Augen des Beamten immer größer, während sich auch sein Mund ein Stück öffnete. Allerdings hatte er sich schnell wieder im Griff, sodass sie sich kurz fragte, ob sie sich seine Reaktion nur eingebildet hatte.

Er warf einen kurzen Seitenblick zu seinem Kollegen, der sich jedoch gerade zu dem klingelnden Telefon umwandte.

»Kommen Sie«, forderte er Ariana auf, ging dabei um den Tresen herum und führte sie durch einen Metalldetektor hindurch. Dabei sah er sich einmal kurz nach allen Seiten um, ehe er vorausging.

Ariana folgte ihm durch mehrere Gänge hindurch, bis sie schließlich in einem Büro ankamen.

Mit einem stummen Nicken gab er ihr zu verstehen, dass sie sich setzen sollte. Ein wenig perplex über seine Reaktion kam sie der Aufforderung nach, während das Gefühl der Hilflosigkeit von ihr Besitz ergriff. In so einer Situation war Ariana noch nie gewesen, und ehrlich gesagt fühlte sie sich völlig unvorbereitet. Ihr Kopf war wie leer gefegt.

»Der Chief höchstpersönlich ist mit den Untersuchungen zu diesem Fall betraut. Er hat angeordnet, dass jeder Zeuge sofort zu ihm gebracht wird. Es wird noch ein paar Minuten dauern, dann wird er bei Ihnen sein«, erklärte der Polizist und lächelte Ariana freundlich an, als würde er genau wissen, wie es ihr in diesem Augenblick ging.

Aber wahrscheinlich ist das sogar der Fall. Es wird ja nicht das erste Mal sein, dass er es mit einer verstörten Zeugin zu tun hat, überlegte Ariana, als sie ihn dankbar ansah.

»Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht ein Wasser? Oder einen Kaffee?«, fragte er vorsichtig nach.

»Nein, danke«, antwortete Ariana und wich dabei seinem Blick aus. Eigentlich wollte sie gerade nur alleine sein, um ihre Gedanken zu sammeln und wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Ein letztes Mal sah er sie an, ehe er wieder hinaustrat und die Tür leise hinter sich schloss.

»Was mache ihr hier?«, fragte sie sich laut und sah sich dabei in dem Büro um. Sie war noch nie auf einem Polizeirevier gewesen und kannte es eigentlich nur aus Filmen und Serien. Ihr Chef war zwar Strafverteidiger, aber zu seinen Besprechungen mit den Ermittlern hatte sie ihn in den letzten Jahren nie begleitet.

Da sie nicht wusste, was sie erwartete, rutschte Ariana nervös auf dem Stuhl hin und her und starrte auf die Tastatur, die ihr gegenüber auf dem Schreibtisch lag.

Das Büro war geräumig. Zu ihrer Rechten befanden sich zwei große Fenster, die Licht hereinließen, und zu ihrer Linken standen Aktenschränke und eine Vitrine. Auf dem Tisch befanden sich ein paar Bilder. Um sich von dieser Umgebung abzulenken, betrachtete sie die gerahmten Fotos. Auf ihnen waren Kinder und eine Frau zu sehen, die glücklich in die Kamera lächelten.

Aber auch die freundlichen Familienbilder schafften es nicht, Ariana zu beruhigen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde sie sogar noch hibbeliger. Mit dem Absatz ihres Schuhs klopfte sie an das Stuhlbein, während sie ungeduldig auf den Chief wartete und eigentlich nur noch hoffte, dass sie hier schnell wieder herauskam.

Als sie das Warten nicht mehr aushielt, sprang sie auf und trat zu der Vitrine. In ihr wurden verschiedene Pokale, Auszeichnungen und Urkunden aufbewahrt, die ihr verdeutlichten, dass der Besitzer einiges draufhaben musste. Ariana war beeindruckt. Kurz machte sich die Hoffnung in ihr breit, dass sie doch die richtige Entscheidung getroffen hatte. Doch dann sah sie ihr Spiegelbild in der Glasscheibe, und das Hochgefühl verschwand wieder.

Ihre langen braunen Haare waren strähnig, und ihre hellen Augen wirkten in ihrem blassen Gesicht viel zu groß. Nach den Ereignissen der letzten Tage hatte sie nicht sehr auf ihr Aussehen geachtet. Ihre eh schon schlanke Figur kam ihr auf einmal geradezu dürr vor, als hätte sie seit Wochen kaum etwas gegessen.

Sie war so sehr auf ihr Erscheinungsbild konzentriert gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, dass jemand hinter sie getreten war.

»Ich habe gehört, Sie haben etwas gesehen, dass uns bei der Aufklärung helfen könnte, Ms. …?«

Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich auf dem Absatz herum. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte, sodass sie den Mann vor sich genauer betrachten konnte. Ariana schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Doch für sein Alter wirkte er gut trainiert. Er war groß und breit gebaut. Seine kurzen grauen Haare verschärften noch einmal die Züge seines Gesichts, die ihr verdeutlichten, dass er schon einiges erlebt haben musste. Das Hemd seiner Uniform spannte sich um seine Schultern. In seinen Augen konnte sie etwas Väterliches erkennen, was bestimmt dem einen oder anderen half, sich zu beruhigen. Aber bei ihr kam diese Wirkung nicht an.

»Ariana Jones«, antwortete sie schließlich, nachdem seine Worte bei ihr angekommen waren.

»Ich bin Chief Detective Brown und der Leiter dieser Abteilung«, erklärte er schnell, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Freundlich lächelte er sie an und reichte ihr zur Begrüßung die Hand.

»Hallo«, flüsterte Ariana mit brüchiger Stimme. Schnell räusperte sie sich, um sich nicht anmerken zu lassen, wie es ihr ging.

»Setzen Sie sich.« Mit diesen einfachen Worten zeigte er auf den Stuhl, von dem sie erst vor wenigen Minuten aufgestanden war, und ging um den Schreibtisch herum, um sich ebenfalls zu setzen. Ariana beobachtete jede seiner Regungen. Er bewegte sich selbstsicher und schien zu wissen, was er tat.

Langsam setzte sich Ariana wieder in Bewegung und folgte seinem Beispiel.

»Was führt Sie zu mir?«, fragte er mit sanfter Stimme, als würde er spüren, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand.

Fieberhaft suchte sie nach den richtigen Worten, um ihm den Grund für ihren Besuch zu nennen.

»Fangen Sie am besten von vorne an«, wurde sie von Chief Detective Brown aufgefordert, während er sie ermutigend anlächelte und kurz nickte.

Ein letztes Mal holte Ariana tief Luft, bevor sie ihre Geschichte von Anfang an erzählte. Dabei ließ sie nichts aus. Es fühlte sich befreiend an, aber gleichzeitig schämte sie sich auch, weil sie sich nicht schon viel eher gemeldet hatte.

»Können Sie mit beschreiben, wie der Mann mit der Waffe ausgesehen hat?«

»Er war groß, vielleicht ein Stückchen größer als Sie«, begann Ariana und stellte sich den Täter dabei wieder vor. Das war gar nicht so schwer, weil sie sein Bild in den letzten Tagen nicht ein einziges Mal aus ihren Gedanken hatte verdrängen können.

Während sie den Mörder beschrieb, registrierte sie, dass ihr Gegenüber etwas auf seiner Tastatur eingab. Schließlich drehte er den Bildschirm zu ihr, sodass sie sehen konnte, was sich darauf befand.

»War das der Mann?«, fragte er sie und zeigte auf ein Bild.

In der gleichen Sekunde, in der sie es erblickte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Mehr als ein Nicken brachte Ariana nicht zustande, da sich ein dicker Kloß in ihrem Hals gebildet hatte und ihr Mund trocken wurde.

»Stephen Torka«, seufzte der Chief Detective und wischte sich müde über das Gesicht.

Ariana blickte ihn verständnislos an. Sie hatte diesen Namen noch nie gehört.

»Da ich mich nicht zum ersten Mal mit ihm beschäftige, kann ich Ihnen sagen, dass ich diesen Mann gut kenne. In den letzten Jahren haben wir ein paar Mal versucht, ihn endlich zu schnappen, aber nie ist es uns gelungen. Wenn ich mich richtig erinnere, steht demnächst wieder ein Prozess gegen ihn an.«

Die Worte des Polizisten versetzten Ariana einen Stich und machten ihr mal wieder klar, dass sie sich das Gefühl der Bedrohung wirklich nicht eingebildet hatte. Man hatte sie in den letzten Tagen verfolgt, um sie einzuschüchtern.

»Meine Frage wäre normalerweise, wie er an Ihre Adresse gekommen ist. Aber da wir hier über Torka reden, spare ich sie mir.«

Chief Brown atmete tief durch und betrachtete sie einen Moment.

Ariana wurde von Sekunde zu Sekunde nur noch nervöser. Sie hatte keine Ahnung, was gerade in seinem Kopf vor sich ging, war sich aber auch nicht sicher, ob sie es überhaupt wissen wollte. Ihre Hoffnung, dass man ihr hier helfen könnte, schwand, je länger ihr Gegenüber stumm blieb. Wahrscheinlich würde der Beamte sie nach Hause schicken und ihr sagen, dass sie selber schuld an der Situation sei, was sie in gewisser Hinsicht ja auch war.

Wieso musste ich auch unbedingt um diese Uhrzeit noch unterwegs sein? Und dann auch noch alleine …

»Es wird Ihnen nicht gefallen, was ich Ihnen jetzt sage«, holte Brown sie aus ihren Gedanken. »Stephen Torka ist ein sehr bekannter Name in diesem Department. Er ist ein Mafiaboss, dem schon so ziemlich jedes Verbrechen angelastet wurde: Körperverletzung, Totschlag, Geldwäsche, Entführung, Mord. Doch nach jeder Verhaftung haben seine Anwälte ihn nach spätestens zwei Tagen wieder rausgehauen, und die Anklage wurde fallen gelassen. Dass dieser Mann gefährlich ist, können Sie sich wahrscheinlich denken«, sagte er in einem sehr ernsten Ton. »Allerdings haben Sie keine Ahnung, wie gefährlich er wirklich ist. Es war vernünftig, dass Sie mich aufgesucht haben. Ich werde Sie jetzt etwas fragen, und ich erwarte von Ihnen, dass Sie ehrlich darauf antworten.«

»Okay«, murmelte Ariana und ließ ihren Gegenüber dabei keine Sekunde aus den Augen.

Eine Weile blieb es ruhig zwischen ihnen. Ariana hatte das Gefühl, als würde der Polizist selbst nicht wissen, ob er diese Frage überhaupt stellen oder sie besser für sich behalten sollte.

»Wenn Sie die Gelegenheit hätten, würden Sie gegen Torka aussagen?«, wollte Brown schließlich wissen.

»Das ist eine schwere Entscheidung. Ich meine, ich weiß nichts über diesen Mann, aber so wie Sie ihn beschreiben …«, begann Ariana, hatte jedoch keine Ahnung, wie sie diesen Satz beenden sollte.

Ja, wie war dieser Torka? Kaltblütig? Rachsüchtig? Gefährlich?

Wenn sie daran dachte, dass er einen Menschen umgebracht hatte und die letzten Tage hinter ihr her gewesen war, schienen diese Einschätzungen schlüssig.

»Überlegen Sie es sich«, sprach Brown weiter, nachdem er ihre Hilflosigkeit bemerkt hatte. »Sie haben jetzt die Chance, den Arsch eines gefährlichen Mannes in den Knast zu befördern. Entscheiden Sie sich. Beachten Sie aber dabei, dass es um ihr Leben geht.« Die tiefe Stimme des Polizisten ließ keinen Zweifel daran, dass er überhaupt keine Bedenken an seinen Worten hatte.

»Das weiß ich«, seufzte sie. In den letzten Jahren hatte sie voller Selbstvertrauen jede Herausforderung angenommen, aber jetzt war sie vor Angst wie gelähmt. »Wird er wegen des Mordes angeklagt?«, fragte Ariana.

»In einer Woche wird es eh einen Prozess gegen ihn geben. Der Staatsanwalt wird ein paar Überstunden schieben müssen, aber mit Ihrer Hilfe könnte es sich lohnen.«

»Und was passiert, sobald dieser Torka erfährt, dass es eine Zeugin gibt? Ich würde doch wie auf dem Präsentierteller sitzen.«

»Wenn Sie sich dazu entscheiden, kann ich Ihnen bis zum Prozess ein Team an die Seite stellen, das sie beschützen wird«, schlug der Detective vor.

»Ich soll in den Zeugenschutz?« Alleine bei dem Gedanken daran, dass sie eine neue Identität bekommen würde und umziehen müsste, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Sie spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich, als sie nach Luft schnappte. »Ich kann mich doch nicht hinter einem U.S. Marshal verstecken.«

Angst und Skepsis schwangen in ihrer Stimme mit. Bis jetzt hatte sie noch nie mit den Beamten des United States Marshals Service zu tun gehabt. Diese Frauen und Männer übten einen sehr schwierigen Job aus, um Zeugen zu beschützen, so viel wusste sie. Aber sie hatte keine Ahnung, wie das genau ablief.

Doch bevor sie etwas erwidern konnte, sprach der Chief Detective weiter. »Nein. Wir reden hier nicht von Zeugenschutz, sondern von einer Art Polizeischutz.«

Sie verstand kein Wort und schaute ihren Gesprächspartner fragend und hilflos an. »Polizeischutz? Sie schicken mich also nach Hause und positionieren einen Streifenbeamten vor meiner Tür?«

»Sie werden an einem sicheren Ort versteckt und nicht von einem uniformierten Polizisten bewacht, sondern von einem fünfköpfigen Team, das extra für solche Aufgaben ausgebildet wurde.«

Mit großen Augen schaute sie ihn an. Ein ganzes Team? schoss es ihr durch den Kopf. Ist das sein Ernst?

»Wovon genau sprechen Sie?«, kam es ihr schließlich über die Lippen, als sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Sollten Sie sich dafür entscheiden, gegen Torka auszusagen, wird Ihnen alles erklärt. Ich kann Ihnen schon einmal verraten, dass jeder von den Männern ganz genau weiß, was er tut. Bei ihnen wären Sie in Sicherheit. Ich würde Kontakt zu dem Staatsanwalt aufnehmen und ihm berichten, dass Sie gegen Torka aussagen wollen. Er wird sich dann um alles andere kümmern.«

»Und was wäre danach?«, fragte sie ihn, nachdem seine Worte bei ihr angekommen waren. »Ich meine, nach der Aussage, wenn das alles vorbei ist?«

»Auch darüber werde ich mit dem Staatsanwalt sprechen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Torkas Handlanger darauf reagieren werden, aber ich weiß, dass jeder von ihnen selber genug zu tun haben wird, um seinen eigenen Arsch zu retten. Wie auch immer sich der Staatsanwalt entscheidet, man wird Sie nicht einfach im Regen stehen lassen.« Aufmunternd zwinkerte er ihr zu.

»Und was passiert, wenn der Staatsanwalt der Meinung ist, dass es danach zu gefährlich für mich ist? Bekomme ich dann eine neue Identität?«

»Das könnte passieren, aber zum jetzigen Zeitpunkt kann ich das noch nicht genau sagen.«

Sie ließ seine Worte auf sich wirken und seufzte leise. Am liebsten hätte sie gerade hemmungslos geweint. Die Aussicht darauf, ihre Familie, ihre Freunde und ihr gewohntes Umfeld womöglich nie wiederzusehen, bereitete ihr Magenschmerzen.

»Ich weiß nicht.« Sie fuhr sich mit zittrigen Fingern durch die langen braunen Haare. Was würde ihr Großvater sagen? Was würde der Rest ihrer Familie sagen? Was würden ihre Freunde von ihr halten? All das ließ sie zögern. In diesem Moment stand sogar ihre eigene Sicherheit, wegen der sie überhaupt zur Polizei gegangen war, an zweiter Stelle. Ariana wollte das Richtige tun, und die Aussage vor Gericht zu wiederholen, wäre das Richtige, aber der Preis, den sie zahlen musste, erschien ihr in diesem Moment zu hoch. Doch sie kam auch nicht drum herum zuzugeben, dass sie dem Chief vertraute. Er hörte sich so an, als würde er genau wissen, wovon er sprach. Dennoch konnte auch dieses Vertrauen ihre Angst nicht vertreiben. Sie machte sich Sorgen um ihr Leben, ihre Existenz.

Trotzdem wollte sie gewissenhaft handeln.

»Ich werde gegen Torka aussagen«, willigte sie nach einigen Minuten des Haderns ein. Ihr Bauch sagte ihr, dass sie das Richtige tat. Nur das zählte. Schon immer hatte sie sich auf ihr Gefühl verlassen können, und es wurde mal wieder Zeit, dass sie das auch zuließ. In den letzten Tagen hatte sie es schließlich mehr als genug vernachlässigt.

Detective Brown zwinkerte ihr zu, bevor er sein Telefon in die Hand nahm und eine Nummer wählte. »Brown hier. Code Red«, teilte er nur mit und legte auf, ohne auf eine Antwort seines Gesprächspartners zu warten. »Haben Sie noch etwas in Ihrem Wagen, das sie brauchen?«

Überrascht schaute sie ihn an. Seine Frage verschlug ihr für einen kurzen Moment die Sprache. »Was?«

»Ich werde Sie direkt zum Treffpunkt bringen.«

»Jetzt?«, fragte sie mit viel zu hoher Stimme. »Aber …?«, begann sie ihre Frage, brach jedoch ab, da sie die auf sie einstürzenden Gedanken nicht in Worte fassen konnte.

»Es wird Ihnen alles erklärt, was Sie wissen müssen, sobald wir da sind.«

Mit großen Augen starrte sie ihn ein paar Sekunden an. Als ihr klar wurde, dass sie wahrscheinlich ziemlich bescheuert aussah, schloss sie kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Dabei schlug ihr Herz so heftig gegen ihre Rippen, dass sie das Gefühl hatte, es würde gleich aus ihrer Brust springen.

»Das Wichtigste befindet sich in meiner Handtasche. Aber ich habe keine Kleidung dabei.« Ariana wusste gar nicht, wie ihr geschah.

»Wenn ich mich nicht irre, hat einer aus dem Team eine Schwester. Er kann ihnen ein paar Sachen von ihr mitbringen«, hielt Brown dagegen und wischte so auch ihre letzten Bedenken fort.

Damit hatte Ariana nicht gerechnet. Allerhöchstens hatte sie erwartet, dass mal eine Polizeistreife vor ihrem Haus entlang fahren würde, aber sicherlich nicht, dass sie aus ihrem Leben gerissen werden würde. Von einer Spezialeinheit bewacht zu werden war eine Sache, aber ihre Wohnung nicht mehr betreten zu dürfen, eine andere.

Chief Detective Brown stand auf und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie atmete noch mal tief durch, um die nötige Kraft dafür aufzubringen. Erst als sie sich sicher war, dass ihre Beine sie tragen konnten, löste sie sich vom Stuhl und folgte ihm durch die verwinkelten Gänge zum Hinterausgang des Polizeigebäudes. Auf dem Parkplatz hinter dem Präsidium schob er sie an einigen Streifenwagen vorbei und führte sie zu einem älteren Fahrzeug.

Ariana zitterte am ganzen Körper. Sie fühlte sich komplett überfordert. Sie kam sich wie eine Statistin in einem Actionfilm vor.

»Geben Sie mir die Schlüssel Ihres Autos«, verlangte Brown. »Ich werde dafür sorgen, dass es verschwindet.«

Der Polizist riss Ariana aus ihren Gedanken. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr Gehirn seine Worte verarbeitet hatte. Zögerlich griff sie in ihre Tasche und holte den Schlüssel heraus. Sie betrachtete den Anhänger, bevor sie den Autoschlüssel vom Bund löste, um ihn dann Brown zu überreichen. Dieser ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden.

Obwohl es ihr schwerfiel, hob sie ihren Kopf und suchte seinen Blick. Er verlieh ihr Zuversicht und ließ das mulmige Gefühl in ihrem Magen verschwinden.

»Sie tun das Richtige«, bekräftige Brown Ariana und öffnete die Beifahrertür für sie.

Ohne noch ein weiteres Wort von sich zu geben, stieg sie in den Wagen. Sie schnallte sich an und beobachtete den Chief, wie er um das Auto herumging und ebenfalls einstieg. Nachdem er sich hinter das Steuer gesetzt hatte, startete er den Wagen und fuhr rückwärts aus der Parklücke.

Er verließ relativ zügig Downtown Los Angeles, bog immer wieder links und rechts in kleine Seitenstraßen ab, bis Ariana selbst nicht mehr genau wusste, wo sie sich befanden, obwohl sie sich eigentlich gut in L.A. auskannte.

Als sie einen Blick aus dem Fenster warf, stellte sie fest, dass sie in eine ruhige Wohngegend gekommen waren. Nur mühsam gelang es ihr, ein Gähnen zu unterdrücken. Die letzten Tage, aber vor allem die letzten Stunden, hatten sie müde werden lassen.

Ariana wusste nicht, wohin genau sie gebracht werden sollte, aber sie war auch nicht in der Lage, Brown zu fragen. Ihr kam es fast so vor, als würde er ihr die Stadt zeigen wollen. Sie genoss diesen schönen Gedanken, er lenkte sie für einige Sekunden von dem wahren Grund für das ganze Szenario hier ab. Ariana entging auch nicht, dass Brown sie zwischendurch betrachtete. Aber auch das versuchte sie auszublenden. Vielleicht hatte er einfach nur Bedenken, sie könnte aus dem fahrenden Wagen springen.

Als Chief Detective Brown endlich vor einem großen Gebäude hielt, weiteten sich ihre Augen erschrocken. Ihr wurde klar, dass sie sich zum wiederholten Male an diesem Tag geirrt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass sie in ein Wohnhaus gebracht werden würde, hatte aber nicht damit gerechnet, dass sie die nächsten Tage in einem Hotel verbringen würde.

Bevor Ariana ausstieg, betrachtete sie das Haus einige Sekunden. Das moderne Gebäude hatte fast die Größe eines Kongresszentrums.

Ein letztes Mal atmete sie tief durch, ehe sie die Wagentür aufstieß und neben den Polizisten trat. Sie spürte seinen prüfenden Blick auf sich, ging aber nicht darauf ein. Stattdessen straffte Ariana die Schultern und richtete sich auf. Sie wusste, sie war stark genug, um diesen Schritt wirklich zu gehen, aber dennoch musste sie den Mut dazu aufbringen.

»Kommen Sie«, forderte Brown Ariana auf.

Mit langsamen Schritten näherte sie sich der Eingangstür. Sie spürte die Anwesenheit des Polizisten hinter sich, als sie durch die Glastür trat und sich neugierig umschaute.

Die Eingangshalle war nicht so groß, wie sie erwartet hatte, aber trotzdem gemütlich eingerichtet. Überall standen Sitzecken mit kleinen Tischen, auf denen sich Blumensträuße befanden. Große Fenster ließen das helle Tageslicht herein. Touristen wuselten herum, die in fremden Sprachen ihre Kinder riefen oder sich unterhielten. Die Hotelangestellten wirkten dazwischen schon etwas verloren.

»Hier entlang«, riss Chief Detective Brown sie von dem Anblick los. Diesmal ging er voraus. Mit energischen Schritten eilte er in Richtung Rezeption. Dort hielt er aber nicht an, sondern ging weiter zu den Aufzügen.

»Wo wollen wir hin?«, fragte Ariana neugierig, während sie Mühe hatte, ihm zu folgen. Sie gab es nicht gerne zu, aber die Ungewissheit machte ihr Angst. Noch hatte er ihr nicht gesagt, was genau sie erwarten würde. Kurz fragte sie sich, ob dies zu seiner Taktik gehörte. Es gab sicherlich Menschen, bei denen es besser war, wenn man ihnen nicht direkt alles erzählte. Ariana hingegen war es gewohnt, immer alles zu wissen und den Ton anzugeben. Diese Situation war neu für sie.

Sie betraten den Fahrstuhl. Ariana sah, wie Brown das Handy aus der Hosentasche zog und einen Blick darauf warf. Von Sekunde zu Sekunde wurde sie immer unruhiger.

»Sie werden gleich alles erfahren, versprochen«, antwortete er ihr und drückte den Knopf für die 6. Etage.

Darauf bin ich gespannt.

***

Als Ian die Nachricht bekommen hatte, dass ihnen ein Einsatz bevorstand, hatte er sofort alles stehen und liegen gelassen und war aufgebrochen. Er hatte sich nur seine schwarzen Klamotten angezogen, die jeder aus seinem Team trug, und seine Waffe überprüft, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte.

Nun parkte er seinen Ford Ranger hinter dem Hotel auf dem Angestelltenparkplatz und stieg aus. Gerade als er den Wagen abschließen wollte, hielt sein Freund und Kollege John neben ihm und verließ ebenfalls sein Auto.

»Weißt du schon, worum es geht?«, fragte John ihn, und kam damit direkt zur Sache, ohne Ian zu begrüßen. Dabei schaute er ihn fragend an, während er auf den Knopf an seinem Autoschlüssel drückte, um seinen Wagen abzuschließen.

»Ich habe nur die Nachricht bekommen, dass sich alle hier treffen sollen«, antwortete er und verriegelte ebenfalls sein Auto. Um seine Worte zu unterstreichen, zog er sein Handy aus der Hosentasche und hielt es hoch. »Wir treffen uns in Zimmer 601«, erklärte er John, nachdem er das Gerät entsperrt und eine Nachricht aufgerufen hatte. Ohne auf seinen Freund zu warten, schritt Ian eilig auf den Hintereingang zu und betrat das Hotel. Er war nie ein Mann der vielen Worte gewesen. Viel lieber ließ er seine Fäuste für sich sprechen.

»Bist du gar nicht neugierig, was diesmal passiert ist?«, stellte John die Frage aller Fragen, nachdem er Ian eingeholt hatte und neben ihm herlief.

»Nein.«

Als er mit diesem Job anfing, hatte er es gehasst, keine Ahnung zu haben, worum es bei einem Einsatz ging. Aber im Laufe der Jahre hatte er gemerkt, dass es ihm nichts brachte, sich deswegen verrückt zu machen. Sobald alle zusammen waren, würde er eh erfahren, was los war.

Stumm schritten sie durch die Flure, bis sie das Treppenhaus erreicht hatten.

»Was hast du die letzten Tage so getrieben?«, unterbrach John das Schweigen, als sie die Treppen hinaufstiegen.

»Trainiert«, antwortete Ian knapp.

»Typisch Boxer. Dabei bist du doch schon eine Kampfmaschine.«

»Um es zu bleiben, muss ich aber auch etwas tun.« Beide fingen an zu lachen. Ian war sich bewusst, dass ein paar seiner Freunde meinten, er würde es mit dem Training übertreiben, aber dies tat er nun mal am liebsten. Er war nicht außergewöhnlich breit gebaut, sodass man ihm seine Kraft nicht unbedingt auf den ersten Blick ansah. Aber unter seinen Klamotten bestand er nur aus Muskeln. Muskeln, die schon das eine oder andere Mal dafür gesorgt hatten, dass ein Kampf zu seinen Gunsten entschieden wurde.

Als sie das sechste Stockwerk erreicht hatten, hielt Ian die Tür des Treppenhauses zum Zimmerflur auf, als sich eine weitere öffnete und Ryder seinen Kopf aus einem Hotelzimmer streckte. Schon von Weitem konnte Ian den erleichterten Gesichtsausdruck seines Kollegen erkennen.

»Na endlich. Alle sind schon da, nur ihr fehlt noch, wie immer«, gab er in einem mehr oder weniger scharfen Ton von sich.

»Und trotzdem sind wir noch im Team.« Mit großen Schritten ging Ian den Flur entlang und klopfte Ryder auf die Schulter, während er das Zimmer betrat. Shane saß bereits auf einem großen schwarzen Ledersofa und schaute in seine Richtung. Mit einem kurzen Nicken begrüßte Ian ihn und ließ sich auf einen ebenfalls schwarzen Sessel sinken, der dem Sofa gegenüber stand.

Zwischen den beiden stand ein dunkler großer Couchtisch aus Holz, und an der hellen Wand gab es einen Schrank. In einer Ecke des Zimmers befand sich ein großer Esstisch mit sechs Stühlen drum herum. Vor den Fenstern waren weiße Vorhänge angebracht, die das Tageslicht durchschimmern ließen und von schweren dunkleren Gardinen eingerahmt wurden. An den Wänden hingen Landschaftsgemälde. Ian sah sich suchend um. Abgesehen von ihm und seinen Freunden befand sich sonst niemand im Raum.

»Wisst ihr auch warum? Weil es Jobs gibt, die können nur wir erledigen«, ertönte nun die Stimme von John, als dieser ebenfalls das Zimmer betrat. Ian schaute wieder in seine Richtung und erkannte das selbstsichere Grinsen in seinem Gesicht. Dann entschied er sich dafür, dass der Wohnzimmertisch der beste Ort für ihn war, um Platz zu nehmen. So wie es meistens der Fall war. Ian biss sich auf die Innenseite seiner Wange, um nicht zu lachen, als er den wütenden Blick von Shane bemerkte. Diesen machte es immer wahnsinnig, wenn man sich einfach auf einen Tisch oder eine Arbeitsplatte in der Küche setzte. Mehr als einmal hatten die beiden sich deswegen schon gestritten.

Doch mit seiner Aussage hatte John gar nicht mal so unrecht. Jeder im Team hatte sein Spezialgebiet. Darin konnte ihnen keiner etwas vormachen.

Ian war der beste Boxer weit und breit. Schon als Kind hatte er sich für Kampfsport interessiert und wurde so über die Jahre zu einem Nahkampfexperten. In seiner Kindheit und später während seiner Laufbahn auf der Polizeischule hatte er diverse Titel gewonnen. Es gab zwar immer jemanden, der es mit ihm aufnehmen wollte, aber bis jetzt hatte ihn noch keiner in die Knie zwingen können, und er hatte vor, das auch in den nächsten Jahren nicht zu ändern.

Shane war der Scharfschütze der Truppe. Sie machten schon Witze darüber, dass er selbst mit verbundenen Augen sein Ziel treffen würde, und sie hatten damit recht. Er war der Ruhigste der Truppe, weswegen er sich stundenlang unter einem Busch verkriechen konnte, um sein Zielobjekt ins Visier zu nehmen.

John war der Computerprofi. Es gab kein System, das sicher vor ihm war. Während seiner Ausbildung beim Geheimdienst hatte er sich in den Server einer Uni gehackt, um den Stundenplan eines Mädchens zu erfahren, auf das er scharf gewesen war. Sein Glück war es gewesen, dass man ihn nicht erwischt hatte, sonst wäre er geflogen.

Ryder war die Wasserratte. Er war der Einzige der Truppe, der keine Ausbildung bei der Polizei genossen hatte, sondern ein ehemaliger Seal war. Nur wegen der Kampfschwimmerausbildung war er dahin gegangen und so schnell er konnte auch wieder verschwunden. Es hatte ihm zwar Spaß gemacht, ein Seal zu sein, aber die Auslandseinsätze und die damit verbundenen Wechsel der Zeitzonen hatten ihm sehr zugesetzt.

Jace war der Kopf des Teams. Es gab kein Problem, für das er keine Lösung hatte. Ihm lagen alle Frauen zu Füßen, aber bis jetzt hatte er um jede einzelne einen großen Bogen gemacht. Ian wusste, dass es einen Grund für Jaces Verhalten geben musste, aber er hatte keine Ahnung welchen. Bis jetzt hatte Jace sein Schweigen darüber noch nicht gebrochen, und Ian hatte nicht vor, ihn danach zu fragen.

Sie waren alle für das Special Operations Team rekrutiert worden, weil sie nicht in ihre jeweiligen Bereiche passten. Ian, Shane und Jace waren einfache Streifenpolizisten gewesen, bei denen man schon früh gemerkt hatte, dass sie mehr drauf hatten. John hatte für einen Geheimdienst gearbeitet, aber keine Lust darauf gehabt, immer nur im Büro zu sitzen, er wollte auch beim Einsatz dabei sein. Ryder wurde dazu geholt, als man bemerkte, dass er bei den Seals unterfordert war.

Aber sie waren nicht nur ein Team, sie waren auch Freunde und eine Familie. Sie wussten alles, oder in Jaces Fall fast alles, übereinander und vertrauten einander. Jeder von ihnen wusste, dass er sich auf die anderen verlassen konnte, und deswegen arbeiteten sie auch so gut zusammen.

Seit drei Jahren waren sie ein Team, und es würden noch einige Jahre hinzukommen, denn sie wurden immer nur gerufen, wenn es gefährlich wurde. Und es gab einige gefährliche Aufträge. Sie erledigten die Arbeit, an die sich nicht einmal das SWAT-Team traute.

»Wisst ihr etwas?«, fragte Ian und schaute dabei kurz zu Shane. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern.

»Jace hält sich bedeckt. Aber wir werden es gleich erfahren.« Ryder setzte sich aufs Sofa und legte die Füße auf den Tisch. Dafür kassierte er von Shane einen genervten Blick, ging aber nicht darauf ein. Ian sah ihm an, dass er sich hier bereits wie zu Hause fühlte. Allerdings tat er das überall, und keiner von den Jungs wusste, ob sie das gut oder schlecht finden sollten.

»Was ist da drin?«, fragte Ian nun und zeigte dabei auf die Tasche, die neben der Zimmertür stand.

»Ein paar Klamotten von meiner Schwester. Ich weiß nicht wieso, aber Jace meinte, ich soll ein paar einpacken.« Shane drehte kurz seinen Kopf in die Richtung, ehe er Ian wieder ansah.

In diesem Moment ging die Tür auf und Jace betrat das Zimmer.

Hinter ihm erschien Detective Brown. Ian fiel sofort das grimmige Gesicht des Abteilungsleiters auf. Er hatte aber keine Zeit sich weiter damit zu befassen, da sein Blick bereits zu der nächsten Person gewandert war, die den Raum betreten hatte.

Heilige Scheiße, fuhr es ihm durch den Kopf, als er die brünette Schönheit sah, die neben Brown stand. Der Polizist und Jace sprachen noch eine Weile, was ihm die Chance gab, sie genauer zu betrachten.

Ihre Figur war der Hammer. Die enge Jeans und die Bluse überließen der Fantasie keinen Spielraum. Sie trug schwarze Pumps, die ihre ohnehin schon langen und grazilen Beine optisch noch verlängerten. Ihre seidigen braunen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, sodass ihr hübsches Gesicht besonders gut zur Geltung kam.

Sie schien unsicher zu sein, was dafür sorgte, dass Ian sich am liebsten neben sie gestellt und ihr gut zugeredet hätte. Immer wieder huschte ihr Blick über die Männer im Raum, die nun keinen Ton mehr von sich gaben.

Bei ihrem Anblick wurde etwas in ihm wach, was er nicht benennen konnte. Tief in ihm regte sich etwas, von dem er keine Ahnung hatte, was es war oder wie er damit umgehen sollte.

Wie ein scheues Reh sah sie sich um und betrachtete jeden seiner Freunde kurz. Ian durchfuhr es heiß, als sie ihren Blick ihm zuwandte. Trotzdem schaute er sie weiterhin unverwandt an. Keine Sekunde nahm er seinen Blick von ihr. Als sie es bemerkte, errötete sie. Wie gebannt verhakten sich ihre Blicke ineinander.

Ihm war bewusst, dass er eine große Wirkung auf Frauen hatte, doch normalerweise interessierte ihn das nicht so sehr. Meist drehte er sich weg, sobald er die gewünschte Reaktion sah. Bei ihr konnte er das nicht. Er wurde von ihrem Blick gefangen gehalten. Irgendetwas an ihr sorgte dafür, dass er sie am liebsten den ganzen Tag betrachtet hätte.

Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ihre Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie es sich wohl anfühlte, sie an seinen Körper zu ziehen und zu küssen.

»Meine Herren, darf ich vorstellen?«, setzte Brown an und führte Ian damit ins Hier und Jetzt zurück. »Das ist Ariana Jones. Sie ist eine wichtige Zeugin und untersteht in den nächsten Tagen eurem Schutz.« Brown zeigte auf die Frau und räusperte sich.

Ian erkannte, dass ihm noch etwas auf dem Herzen lag, er aber anscheinend nicht wusste, wie er es ausdrücken sollte.

»Sie wird gegen Stephen Torka aussagen. Ms. Jones kann ihn mit den Mord an dem Unbekannten in Verbindung bringen«, kam ihm schließlich über die Lippen.

Alle im Raum rissen überrascht die Augen auf. Obwohl Ian Stephen Torka noch nie persönlich gegenübergestanden hatte, hatte er genug von ihm gehört, um zu wissen, zu welchem Kaliber dieser Verbrecher gehörte.

»Haben Sie ihn dabei beobachtet?«, wandte sich Ryder an die junge Frau.

»Mehr oder weniger«, kam es ihr leise über die Lippen. Stockend erzählte sie ihre Geschichte und starrte dabei unsicher auf den Boden.

Ian hörte ihr aufmerksam zu. Sie berichtete von dem Gefühl, tagelang verfolgt worden zu sein. Sie hatte tote Tiere vor ihrer Haustür gefunden, in ihre Wohnung war eingebrochen worden.

All das gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Beschützerinstinkt meldete sich lautstark, viel drängender, als er es sonst von sich kannte. Am liebsten hätte er Ariana im Schlafzimmer eingesperrt und den Schlüssel weggeschmissen, nur damit Stephen Torka sie nicht fand.

Doch er bewunderte sie für die Ruhe, mit der sie ihre Geschichte erzählte. Als hätte sie schon viel Schlimmeres in ihrem Leben erfahren. Gott, bitte nicht!

»Weiß man, wo Torka sich aufhält?«, fragte John, der seinen Blick auf Brown gerichtet hielt.

»Wussten wir das jemals?«, stellte Brown die Gegenfrage. »Ihr müsst ihn also nicht nur finden, sondern auch dafür sorgen, dass er bis zum Beginn des Prozesses nichts mehr anstellen kann. Wenn ihr zwischendurch noch weitere Beweise für die Staatsanwaltschaft findet, wäre das perfekt.«

Ian sah wieder zu Ariana und erkannte, dass sie keine Ahnung von dem hatte, was hier besprochen wurde. Ihm war klar, derjenige, der bei ihr bleiben würde, müsste ihr eine Menge erklären.

»Ian bleibt bei Ms. Jones. Bei ihm ist sie am sichersten.« Jace zeigte auf ihn und riss ihn so aus seinen Gedanken.

Verblüfft schaute Ian zu seinem Teamleiter. Auch wenn Ian kein Freund von Diskussionen war, in diesem speziellen Fall hätte er gerne Einspruch erhoben. Okay, er war der beste Kämpfer im Team. Insofern war es wohl schon nachvollziehbar, dass er zu ihrem persönlichen Schutz abgestellt wurde. Allerdings konnte er sich auch noch ganz andere Dinge mit Ariana vorstellen, die ihn ziemlich sicher von seinem Einsatz ablenken würden.

Dinge, die er gerne mit ihr im Bett, aber auch auf jeder anderen Fläche veranstalten würde. Aber bevor sein Schwanz auch nur Anstalten machen konnte, seine Gedanken zu verraten, atmete er tief durch und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt.

»Sobald hier Ruhe eingekehrt ist, wird Ian Ihnen alles erklären, was Sie wissen müssen.« Er hörte, wie Brown die Worte an Ariana richtete, aber konnte sie nicht richtig zuordnen, da er zu sehr damit beschäftigt war, dem Blick von Jace auszuweichen.

»Haben Sie ihr ein paar Sachen mitgebracht?«, wandte sich Brown nun an Shane.

»Die Tasche steht da vorne.« Er zeigte hinter die beiden.

Also gut, du wirst in den nächsten Tagen auf sie aufpassen und ihr dabei auch so gut es geht aus dem Weg gehen. Wie schwer kann das schon werden?

»Danke«, murmelte Ariana mit leiser und rauer Stimme, die Ian einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass sein Einsatz schwerer werden würde, als er es sich vorgestellt hat.

2

Bevor sich Ariana ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte, hatte Chief Brown ihr noch ein letztes Mal versichert, dass diese Vorgehensweise nur ihrer Sicherheit diente.

»Sie tun das Richtige«, versicherte er ihr erneut und lächelte sie aufmunternd an.

Das wusste sie selber auch, aber es änderte nichts daran, dass sie in diesem Moment gerne woanders gewesen wäre. Zum Beispiel zu Hause in ihrem Bett, wo sie sich die Decke über den Kopf ziehen und die Welt ausschließen konnte. Aber hier ging das nicht.