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Mami
– 1968 –

Hoppla, jetzt kommen wir!

atharina und Moritz wollen selbst entscheiden

Eva-Maria Horn

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-550-2

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»Ich halte es einfach nicht mehr aus, Mama. Wenn ich noch länger hier bleibe, ersticke ich.«

Elisabeth drückte die Hände gegen ihre schmal gewordenen Wangen. Frau Reuther konnte nicht sprechen, ein abgrundtiefes Mitleid mit ihrer Tochter würgte sie.

»Hör auf, Theater zu spielen, Elisabeth Bergmann. Du hast schon als Kind gern eine Schau abgezogen, das kennen wir zur Genüge. Jeder weiß, daß du in den letzten Wochen einen Streifen mitgemacht hast, und Mama und ich haben dir geholfen, so gut wir konnten. Aber jetzt ist es vorbei. Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Mama.« Kampflustig gab Manuela, die beliebte Apothekerin der kleinen Stadt, den Blick zurück.

»Mama, Elisabeth badet in Selbstmitleid. Mitleid, Mama, hilft ihr gar nichts. Und du, Mama, machst dich noch krank, so sehr leidest du mit.«

»Du kannst doch überhaupt nicht mitreden«, klagte Elisabeth weinend. Elisabeth ließ sich in den formschönen Ledersessel fallen. Er, wie alles in diesem Zimmer, sah ein wenig schäbig aus, aber es war eine behagliche, abgenutzte Eleganz, wie die Aktentasche eines Mannes, von der er sich aus Anhänglichkeit nicht trennen mochte.

»Nur weil ich nicht verheiratet bin?« spöttelte Manuela. »Deine Meinung trifft nicht zu, meine Liebe. Ich beurteile auch Bilder und kann nicht malen.«

»Bitte, zankt euch nicht«, bat Frau Reuther erschöpft. »Es ist doch jetzt wirklich nicht der passende Augenblick.« Wie verschieden doch ihre beiden Töchter waren, nicht nur äußerlich.

Manuela hatte immer im Schatten ihrer schönen Schwester gestanden, dabei war sie keineswegs unattraktiv. Aber neben Elisabeths Schönheit verblaßte ihr Aussehen. Elisabeth mit ihren weichen, ein wenig gelockten blonden Haaren, den großen blauen Augen, den fein geschwungenen Wimpern zog alle Blicke auf sich. Immer waren Elisabeth alle Herzen zugeflogen, die Männer verspürten einen enormen Beschützerinstinkt und rissen sich darum, ihr gefällig zu sein. Elisabeth war immer, so lange Manuela denken konnte, der Mittelpunkt jeder Gesellschaft gewesen. Manuela hatte gelernt, damit zu leben. Heimlich spottete sie über die Männer, die sich nach ihrer Meinung lächerlich machten, um Elisabeths Gunst zu erringen.

Aber es gab etwas, das Manuela bis heute nicht verwunden hatte. Elisabeth war verreist gewesen, Manuela war mit der Mutter zu einem Ball gegangen, den sie nur unlustig besuchte.

Und da war ihr Rudolf begegnet. Rudolf Bergmann. Sie sahen sich und beide verliebten sich auf den ersten Blick ineinander. Den ganzen Abend tanzten sie zusammen, und Rudolf wich nicht von ihrer Seite. Sehr zum Ärger der Mütter heiratsfähiger Töchter, die alle ein Auge auf den reichen Junggesellen geworfen hatten, der neu war in der kleinen Stadt.

Alles war wunderbar gewesen, Manuela hatte das Gefühl, als schwebte sie auf Wolken.

Ja, bis Elisabeth zurück war. Nie, nie, würde Manuela den Augenblick vergessen. Sie bummelte mit Rudolf durch den Park der Stadt. Sie hielten Händchen, und wenn sie sich unbeobachtet fühlten, küßte Rudolf sie.

Und dann kam Elisabeth. Hoch zu Roß, in einem Reitanzug, den sie schon seit ewigen Zeiten trug. Das blonde Haar war achtlos zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden, er wippte auf ihrem Rücken, als sie achtlos vom Pferd sprang.

Und von diesem Augenblick an hatte Rudolf, trotz seines schlechten Gewissens, nur noch Augen für Elisabeth gehabt. Es dauerte nur drei Monate, und sie waren verheiratet.

Manuela schüttelte gewaltsam die Erinnerung ab, sie spürte die Augen der Mutter, als blickten sie in ihr Herz. Sie hatte nie mit der Mutter darüber gesprochen, sie wußte nicht einmal, was ihre Mutter bemerkt hatte…

Sie war mit diesem Kummer, der ihr beinahe das Herz gebrochen hatte, ganz allein fertig geworden. Sie wurde nach dem Studium die rechte Hand ihres Vaters; als er starb, war sie die Besitzerin der Apotheke, und jeder im Städtchen glaubte, sie sei vollkommen glücklich und wollte nicht heiraten.

Frau Reuther hustete die Enge aus der Kehle.

»Du möchtest verreisen, Elisabeth?« fragte sie mit einem Blick, der voll Mitleid für ihre beiden Töchter war.

»Ja, Mama. Das kann ich allerdings nur« – Elisabeth sah dabei auf ihre Schwester, die äußerlich völlig gelassen im Sessel saß, die Beine, die in eleganten Hosen steckten, nachlässig übereinander gelegt – »das kann ich nur, wenn die Zwillinge zu euch kommen dürfen. Ich weiß, daß das eine Zumutung ist. Moritz und Katharina leiden sehr unter der Scheidung. Allerdings kann ich das nicht so richtig begreifen. Rudolf hat sich kaum um sie gekümmert, er war ja selten zu Hause. Ich bin überzeugt«, sie schnupfte in ihr Taschentuch, »es waren nicht nur berufliche Gründe, die ihn von seiner Familie fern hielten. Ganz bestimmt steckte eine Frau dahinter.«

Manche Frauen sehen häßlich aus, wenn sie weinten und sich vor Kummer verzehren, dachte Manuela. Bei meiner schönen Schwester ist das anders.

»Hör auf, Elisabeth.« Manuela bemühte sich um einen neutralen Ton. »Wenn er zu Hause war, bist du nicht gerade die liebevolle Ehefrau gewesen. Ich habe es oft genug miterlebt. Ich gebe dem Richter recht. Schuld an dieser Krise habt ihr beide. Du hast dich schon immer sehr wichtig genommen und hast wenig Gespür für die Bedürfnisse des anderen. – Nein, laß mich ausreden.« Sie wirkte energisch ab, als Elisabeth empört etwas einwenden wollte. »Versuchen wir doch, ruhig zu sein. Du willst also euer schönes Haus für eine Weile schließen und erwartest, daß die Kinder zu uns kommen. Ich finde diese Lösung nicht gut. Ich finde, es war von Rudolf sehr anständig, daß er dir das Haus überließ. Du kannst mich ruhig so entrüstet ansehen, Elisabeth. Du hast immer nur vermutet, daß Rudolf eine Geliebte hat. Aber du warst es schließlich, die sich einen Geliebten zugelegt hat.«

»Aber doch nur, weil ich mich so hintergangen fühlte«, rief Elisabeth weinend. »Ich hatte das Gefühl, sogar die Richterin verstand es besser als du.«

»Bleiben wir doch bei dem Jetzt, Elisabeth.« Mit ihrer Ruhe trieb sie Elisabeth beinahe zur Hysterie. Frau Reuther bemerkte es voller Angst. »Ich finde, Mama hat in der letzten Zeit sehr viel Nerven gelassen. Die Zwillinge sind wirklich sehr lebhaft, und ich habe dir oft genug gesagt, daß du die Zügel strenger halten mußt.«

»Du willst also sagen, sie sind schlecht erzogen.« Bei der schrillen Stimme zuckte die alte Dame sichtlich zusammen.

»Ja, das kann man sagen«, nickte Manuela gleichmütig. Mit einer für sie typischen Bewegung strich sie sich das braune Haar an den Ohren zurück.

»Die beiden können sehr nervig sein, und das möchte ich Mama im Augenblick nicht zumuten. Sie waren sich einfach viel zu oft selbst überlassen, und das weißt du auch, Elisabeth. Ich mag sie, und darum mache ich dir den Vorschlag, der für die Kinder und besonders für Mama am besten ist.

Ich ziehe in die Villa. Dann sind die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung. Ich werde nur vormittags in der Apotheke arbeiten, dann ist ja eure tüchtige Frau Burger da. Die Zwillinge gehen doch noch in den Kindergarten?«

»Ja.« Elisabeths Stimme klang ausgesprochen kleinlaut. »Aber die Leiterin beschwert sich ständig über sie. Diese Frau versteht es einfach nicht, mit Kindern umzugehen.« Elisabeth war voller Entrüstung. »Dafür wird sie schließlich bezahlt, und studiert hat sie es. Ich hätte nicht übel Lust, mich über sie zu beschweren. Sie hat die Kinder überhaupt nicht im Griff, sie machen, was sie wollen.«

»Da sind deine Kinder ganz sicher mit von der Partie. Vermutlich sind sie es sogar, die für die Unruhe sorgen und Frau Behrend den Nerv rauben.«

»Ich wußte gar nicht, wie du über die Zwillinge denkst. Bis jetzt habe ich geglaubt, du liebst sie.« Elisabeths Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte schon als Kind auf Kommando weinen können.

»Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun«, erklärte Manuela und lachte sogar ein wenig dabei. »Natürlich mag ich sie. Und wenn ein anderer so von ihnen sprechen würde, würde ich ganz bestimmt aus der Haut fahren. Aber sie können wahre Teufel sein.«

»Sie können aber auch so brav sein, wie kleine Engel«, behauptete Frau Reuther, sie musterte ihre älteste Tochter ängstlich. Nur nicht noch eine Szene, das hielten ihre Nerven nicht aus. Um Elisabeth abzulenken, fragte sie: »Weißt du denn, wohin du fahren willst? Um diese Zeit wirst du überall ein Hotelzimmer bekommen.«

Elisabeth spielte mit den kostbaren Ringen, die sie trug. Völlig ohne Neid betrachtete Manuela sie. Es waren vier Ringe, und jeder hatte vermutlich ein Vermögen gekostet. Rudolf war immer sehr großzügig gewesen.

Das Leben ohne Rudolf würde für Elisabeth hart werden. Er hatte ihr alle Steine aus dem Weg geräumt, er hatte ihr nie Vorhaltungen gemacht, wenn sie das Geld mit vollen Händen ausgab. Als Vermögensberater verdiente Rudolf sehr gut. Aber über welche Mittel Elisabeth in Zukunft verfügte, wußte Manuela nicht.

Sie hatte auf das Gespräch der beiden nicht geachtet, so sehr war sie in Gedanken versunken.

Sie zuckte erst zusammen, als Elisabeth von dem Haus in Kampen sprach.

»Das Ehepaar Hinrichs wohnt ja noch immer in der Kellerwohnung, sie werden sich schon um mich kümmern können. Ich hätte sie längst entlassen und ein junges Paar eingestellt. Aber das war auch bezeichnend für Rudolfs Starrsinn. Er wollte es nicht, und so sind sie noch immer da. Dabei ist der alte Mann so klapprig, daß er kaum den Garten richten kann.«

»In meinen Augen spricht das für Rudolf«, erklärte Manuela heftiger, als sie wollte. »Im übrigen, Elisabeth, wenn du nach Kampen fährst, warum nimmst du die Kinder dann nicht mit? Sie haben sich in dem Haus immer sehr wohl gefühlt, und Seeluft würde ihnen guttun. Immerhin haben sie nicht weniger gelitten als du.«

»Manuela hat recht«, warf Frau Reuther zögernd ein. »Die Kinder sehen richtig krank aus. Vielleicht würde es ihnen wirklich gut tun, mit dir zusammen an der See zu sein. Kinder können ein solcher Trost sein, Elisabeth.«

»Eben wurde noch erklärt, daß sie kleine Teufel sind«, schluchzte Elisabeth.

Wie immer schmolz Frau Reuther, sie stand auf und legte ihre Arme um Elisabeths Schultern.

»Nun wein’ doch nicht. Es war doch nur eine Idee von uns. Natürlich soll es so gemacht werden, wie du es willst. Ich bin überzeugt, die Ruhe in Kampen wird dir guttun.«

Manuela musterte ihre Schwester skeptisch, aber sie sagte nichts.

Elisabeth fing den Blick der Schwester auf. Und einen winzigen Augenblick war es Manuela, als flackerten Elisabeths Augen unruhig.

Die Haustür wurde geöffnet und mit einem Knall ins Schloß geworfen. Frau Reuther strahlte.

»Das sind die Kinder.« Und besorgt setzte sie im gleichen Augenblick hinzu: »Sie werden doch den Weg nicht ohne Begleitung gemacht haben? Es ist immerhin eine Hauptstraße zu überqueren.«

Die Tür flog auf. Herein kamen die Zwillinge. Beide trugen Lederhosen, die aussahen, als wären sie mit Speck eingerieben worden, sie trugen die gleichen bunten Hemden und sogar das Haar war gleich geschnitten. Unmöglich konnte ein Fremder sehen, wer das Mädchen und wer der Junge war.