Michael Wolffsohn
Tacheles
Im Kampf um die Fakten
in Geschichte und Politik
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: Michael Wolffsohn
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN (E-Book): 978-3-451-81955-1
ISBN (Print): 978-3-451-38603-9
Wider die Fachidiotie – Einleitung
Abendländische Geschichte und deutsches Gedächtnis
Mehr Fiktion als Fakt: Das »Christliche Abendland«
Geist und Geister: (Fast) 1000 Jahre Hohenzollern
Friedrich II. – »Groß« und »modern«?
»Kunst« als Politik: Das Berliner Holocaust-Mahnmal
Mission erfüllt – Ein Nachruf auf die SPD
Deutsche Volkstrauer: Wer trauert hier und wozu?
6 x Deutschland. Zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert
Von Menschen und Übermenschen
50 Jahre Kanzler Willy Brandt – Was noch heute wirkt
Juda(s) – Juden: Ein Name als Fakt, Fluch und Segen
Der Messias-Ahne als Räuberhauptmann: König David
»Du sollst dir kein Bildnis machen«: Anne Frank und andere Juden
Zerrbilder, Realbilder – Über das Judentum
Auf der Suche nach »dem« Judenbild
Antisemitismus – Wider Phrasendrescherei. Oder: Die dümmsten Kälber
Israel, die Orthodoxie oder das Nichts – (Diaspora-)Juden heute
Ethik und Gewalt – Militär
Rabbiner in der Bundeswehr?
Bundeswehr – Ethik-Kodex statt Traditionserlass!
Widerstand und Bundeswehr
Von fundamentalen und letzten Dingen
Gewaltenteilung: Justiz und Demokratie
Über unsere Freiheit
Der Tod: Wirklich ein Tabu in unserer Gesellschaft?
Über den Autor
Quellenverzeichnis
Zusammenhänge denken, modisch: Vernetzt denken. Kommt es nicht zuerst und vor allem darauf an? Ja und nochmals ja. Zugleich müssen wir einsehen: Spezialwissen ist unverzichtbar. Wer aber kann zugleich Generalist und Spezialist sein? Wahrhaft streiten kann man darüber, wer, wo, wann Universalgenie war. Dass ich keines bin, erkannte ich, dank abwechselnd freundlicher und unfreundlicher Nachhilfe, erfreulich früh. So wurde auch ich ein Fachidiot unter vielen und eignete mir engeres Fachwissen an.
Juli 1967. Auf dem Weg zum Fachidioten traf ich, genauer: hörte ich fasziniert im überfüllten Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin die (heutige) Ikone der (heute so genannten) 68er, Herbert Marcuse.
Ein Diskussionspartner Marcuses war Rudi Dutschke. In manchen Milieus inzwischen seinerseits eine Ikone. Viel war die Rede von Revolution. Dutschke träumte dabei und dafür vom Schulterschluss mit der Arbeiterschaft und hielt Kultur eher für eine Bremse. Den Glauben an die revolutionäre Rolle des Proletariats versuchte der junge Rudi dem alten und trotzdem Dynamik ausstrahlenden Herbert einzuhämmern. Vergeblich. Gerade durch den Kontrast zur Wirklichkeit sei Kultur ein, nein, der revolutionäre Faktor, konterte der weise Marcuse.
Der Gegensatz war offenkundig. Hörbar, sichtbar, fühlbar: Hier der eindimensionale, vermeintlich internationalistische und durch seine Stakkato-Rhetorik auf mich geradezu Goebbels-braun-deutsch wirkende Dutschke, dort der vieldimensionale, hochgebildete und hochkultivierte weißhaarige Weltbürger Marcuse. Über ihn und von ihm wollte ich mehr wissen. Dabei stieß ich schnellstens auf seinen »Eindimensionalen Menschen«. Kaum eine West-Berliner Buchhandlung hatte es damals nicht in ihr Schaufenster gelegt.
Ich mache es kurz, vereinfache »Faust« plus »Herbert« und bekenne: Die Vergeblichkeit einer Synthese aus Allgemein- und Fachwissen erkennend, hat mich der Gedanke nicht losgelassen, dass man trotzdem versuchen müsse, über den Schrebergarten des eigenen Fachwissens hinaus verwandte, vernetzte, zusammenhängende, weiterführende, sich selbst und die eigenen Studienergebnisse infrage stellende »Dimensionen« zu entdecken. So kam es, dass ich nicht nur auf meinem Hauptweg, der europäisch-deutsch-jüdisch-israelischen Geschichte (in ihren Vielfältigkeiten), voranschritt. Zusammenhänge, Neben-, auch Ab- und Umwege von dieser Geschichte – diesen Geschichten – von und zu anderen Geschichten wollte ich erkunden. Jenseits der Blätter und einzelnen Bäume wollte ich wenigstens die Umrisse des Waldes sichten, also Spezialgeschichte in universalhistorischer Absicht betreiben.
Klingt überzeugend, erinnerte man nicht unweigerlich an Tom Wolfes so oft zutreffenden, boshaften Spruch über echte und Möchtegern-Intellektuelle, die sich auf einem bestimmten Gebiet bestens auskennen, aber sich »nur zu anderen äußern«. Roman Bucheli hat mich diesbezüglich beruhigt. »Die wahre Herausforderung beginnt doch erst im unsicheren Terrain, wo der Zweifel als das eigentliche Werkzeug des kritischen Verstands am eigenen Gedanken zu nagen beginnt.«1
Auch andere Rechtfertigungen beziehungsweise Beruhigungen sind für diesen Ansatz denkbar. Anders als etwa der lateinische Begriff »historia« oder seine sprachlichen Nachfahren im Englischen und Französischen signalisiert das deutsche Wort »Geschichte« die Mehrschichtigkeit der Vergangenheit. Geschichte, Ge-schicht-e, besteht eben aus vielen Schichten. Die Mehrschichtigkeit zu erkennen und zu benennen, ist sowohl sprachgedanklich als auch methodisch die Ur-Aufgabe der Historiker. Es sollte ihr Fach-Ethos sein. Ist es das?
Wenn Mehrschichtigkeit für die Vergangenheit gilt, dann gilt sie auch bezüglich der Gegenwart, denn die Gegenwart von heute ist die Vergangenheit von morgen. Wenn das Grundmuster der Vergangenheit beziehungsweise der Geschichte dem Grundmuster der Gegenwart gleicht, dann ist die Darstellung und Bewertung der Geschichte nicht nur, aber nicht zuletzt auch Darstellung und Bewertung der Gegenwart. Wer das bestreitet, täuscht sich oder auch andere wissentlich oder auch nicht wissentlich.
Von Goethe über Marcuse, Wolfe und der vielschichtigen Gegenwärtigkeit und Vergangenheit zur »Berliner Schnauze«: Ich weiß natürlich nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält. Selbst wenn ich nicht eindimensional bin, gibt es jenseits der vielen Dimensionen, die ich zu erkunden versuchte, unzählig viele andere. »Ick weeeß Schillern, ick weeeß Joethen, ick weeß Brockhaus, ick weeeß allet« – damit kann ich also nicht dienen. Trotzdem oder gerade deshalb ist dieses Buch nichts für Fachidioten oder eindimensionale Menschen.
*
Wie kommen die einzelnen »Dimensionen«, die Themen dieses Buches, zueinander? Wie und warum hängen sie zusammen? Was verbindet sie, was verbindet mich und meine Arbeit mit ihnen, was, am wichtigsten, könnte außenstehende Leser interessieren?
Eine Gemeinsamkeit: der Ansatz. Ich rede nicht gern »um den heißen Brei herum«. Erst denken, erkennen. Dann das Gedachte benennen und sich dazu auch bekennen. Somit Tacheles reden und schreiben. Auch wenn es nicht allen gefällt. Mut zum Denken und Mut zum Aussprechen. Nicht taktisch denken, sondern faktisch.
Wer sich in universalhistorischer Absicht mit europäisch-deutsch-jüdisch-israelischer Geschichte beschäftigt, stößt eher über kurz als lang auf das Stichwort »Abendland«. Wer, wie ich, fast ein Methusalem ist, erinnert sich, dass jenem Begriff in der eigenen Jungsteinzeit das Adjektiv »christlich« vorangestellt wurde. Der geschichtspolitisch-ideologischen Wiedergutmachungssteuerung entsprechend gehörte später das Doppeladjektiv »christlich-jüdisch« zum Abendland. Noch wird es nicht »christlich-jüdisch-muslimisch« genannt. Einstweilen wird darüber gestritten, ob »der Islam zu Deutschland gehört«. Eine gesamteuropäische Debatte hierüber ist nur noch eine Frage der Zeit, denn jenseits der Migrationsproblematik haben die Vorfahren diverser Ost- und Südosteuropäer historische Erfahrungen mit dem Islam. »Die« Polen haben Wien 1683 von »den« Türken befreit, »die« Ungarn, »die« Serben oder »die« Bulgaren wurden seit 1526 lange von »den« Türken beherrscht und so weiter und so weiter.
Allgemein deutsche, auch deutsch-jüdische und Weltgeschichte kann die Hohenzollern nicht außer Acht lassen. Schon gar nicht ihren vermeintlich oder tatsächlich Größten, Friedrich Zwei.
Auch unter Historikern gibt es seit jeher Geisterfahrer. Zu denen zählen inzwischen diejenigen, die wider die Empirie eine direkte Linie von »der« deutschen Geschichte (und natürlich den Hohenzollern) zu Hitler und Holocaust ziehen. »Wie hältst du’s mit Holocaust und Holocaust-Mahnmal?« An wen wurde diese neudeutsche Gretchenfrage nicht gerichtet? Doch wer weiß Genaueres über Motivation und Entscheidungsvorgang, die zu dessen Errichtung führten? Hier werden einige der Allgemeinheit eher unbekannte Basisinformationen vorgelegt.
Der Holocaust, das sechsmillionenfache Judenmorden, ist sozusagen »die« deutsche Urschuld. Dieser Ausdruck ist nicht mit Kollektivschuld gleichzusetzen. Oder doch? Grund genug, über Schuld, Sühne, Versöhnung, Frieden, »Deutsche Volkstrauer heute« sowie über die sechs verschiedenen »Deutschlands« im 20. Jahrhundert und bis in unsere Gegenwart nachzudenken. Vom Allgemeinen zum Besonderen, zur Sozialdemokratie Deutschlands. »Die« SPD gilt als geschichtsethischer Leuchtturm der deutschen Parteiengeschichte. War sie das, ist sie das wirklich? Gerade angesichts ihres jetzigen Überlebenskampfes ist eine historisch-politische Bilanz nicht unangebracht. Abzuwarten bleibt, ob es eine des Anfangs der Schlussbilanz ist.
Nicht nur »Männer machen Geschichte«. Selbstverständlich auch Frauen. Geschichte ist Menschenwerk. Überall und immer gibt es solche und solche, meist positiv oder negativ erwähnte. David und Anne Frank zählen zu den Lichtgestalten. Schauen wir näher hin. Auch auf den allgemein als Dunkelgestalt wahrgenommenen Judas, der, wie es heißt, Jesus verriet. Allein von seinem individuellen Namen ausgehend, wurde (und wird gelegentlich immer noch oder wieder) von dem Judas auf »die« Juden als »Gottesmörder« oder als Kollektiv-Kategorie von Finstermenschen geschlossen. Wer und was steckt hinter dieser Person und diesem Namen?
Apropos Namen, genauer: Vornamen. Sie sind ein höchst brauchbarer Indikator für öffentliche Meinung in vordemoskopischer Zeit, für die historischen Epochen, in denen Umfragen gänzlich unbekannt waren, also für den Großteil der Menschheitsgeschichte. Erst in den 1930er Jahren begann der Siegeszug der Demoskopie. Wer Vornamen vergibt, sendet der Außenwelt ein Signal aus der eigenen Innen- beziehungsweise Geistes- und Gefühlswelt. Mit dem geeigneten wissenschaftlichen Instrumentarium kann man jenseits des Individuellen auf der Mikroebene von Vornamen aufs Allgemeine, auf Gesellschaftsgruppen und Nationen, sprich: auf die Makroebene schließen und eben öffentliche Meinung nachzeichnen.
Jüdische Themen haben in der Berliner Republik weder quantitativ noch qualitativ das gleiche Gewicht wie in der Bonner Republik. Nicht, dass hierzu alles gesagt sei, »nur nicht von jedem«, aber man übersehe nicht, dass der den meisten im Vergleich zum Judentum noch unbekanntere Islam, allein mengendemografisch, gewichtiger als »die« Juden ist. Den dennoch jüdisch Unersättlichen seien hier einige eher heiße jüdische Eisen geboten. Sie sind teils religionsbezogen, teils historisch, teils allgemein- und nicht zuletzt militärpolitisch.
Stichwort »Militär«: Aus den Konflikten in und um Nahost, freilich auch aus der Deutschen und Weltgeschichte ist dieses Thema nicht wegzudenken, auch wenn unsere »post«- und antiheroische Gesellschaft es gerne wegdächte. Der Konjunktiv »dächte« ist falsch gewählt. Der Indikativ muss gebraucht werden, denn »die« (meisten) Deutschen denken Militärisches oft und gerne weg. Das ist sehr sympathisch, doch leider nicht realistisch.
In intakten demokratischen Staaten entscheidet »die« Politik über Krieg und Frieden, also den Einsatz des Militärs. Grund genug, um grundsätzlich über Gewaltenteilung nachzudenken. Meine These hierzu lautet: Anders als allgemein und gebetsmühlenartig behauptet, herrscht in den meisten Demokratien kein Gleichgewicht zwischen den drei Gewalten, also der Legislative (Parlament), der Exekutive (Regierung) und der Judikative (Justiz). Empirisch besteht kein Gleichgewicht zwischen diesen drei Gewalten, sondern ein Übergewicht der Justiz. Die meisten Juristen gehen verbal gegen diese These auf die Barrikaden. Ich verrate den Lesern zwar keine Namen, aber ein Geheimnis, wenn ich erwähne, dass mir Topjuristen, auch ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht ebenso wie ausländisches Recht sprechende Spitzenrichter, Recht geben. Ist die von mir vorgeschlagene Alternative gangbar? Ich weiß es nicht. Sehr wohl weiß ich, dass über jenes Ungleichgewicht nachgedacht werden muss, wenn man Volkssouveränität auch im Bereich der Justiz ernst nimmt, ohne das »gesunde« (also meist krankhafte) Volksempfinden anzurufen.
Von der Gewaltenteilung ist der gedankliche Weg zur Freiheit an sich naheliegend. Auch dazu wurde bereits »alles gesagt, doch nicht von jedem«. Doch über die Freiheit kann man gar nicht genug nachdenken, reden und schreiben. Sie ist wie die Gesundheit. Nur Kranke wissen den Wert der Gesundheit wirklich zu schätzen.
Gesundheit, Krankheit, »Militär«, leben, sterben – der Tod ist ein Thema, »das« Thema unseres Lebens. Um uns aufs ewige Schweigen vorzubereiten, sollten wir über den Tod reden. Doch was ist Reden ohne Denken und Wissen, selbst bezogen auf das Thema, über das wir so wenig wie über Gott wirklich wissen und wissen werden?
1 Neue Zürcher Zeitung vom 20. August 2019.