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Magda Trott
 
LEBENSLAST

 

1

In der großen Zementfabrik draußen weit vor den Toren der Stadt polterten die riesigen Kugelmühlen, daß es weithin hörbar war. Ein ohrenbetäubendes Getöse. Obwohl man das große Gebäude, das die Kugelmühlen beherbergte, in ziemlicher Entfernung von der Schlämmerei und den Kontorräumen errichtet hatte, drang doch dieses ständige Dröhnen bis in das kleinste Winkelchen aller zum Zementwerk gehörenden Räumlichkeiten.

Die Menschen in ihren weißen Kitteln, die das Terrain durchschritten, schienen den Lärm nicht mehr zu vernehmen. Es waren ihnen gewohnte Laute, denn seit vielen Jahren arbeiteten die Kugelmühlen täglich ihre zwölf Stunden ab, ununterbrochen den Zement zerkleinernd, den die großen Öfen gebrannt hatten.

Auf dem riesigen Hofe herrschte reges Leben. Dort standen Hunderte von Holztonnen, die von fleißigen Händen zur Verladung fertig gemacht waren, dicht neben dem Schienenstrang. Leere Wagen harrten auf neue Last.

Jenseits lagen die bescheidenen Kontorräume. Nur das Zimmer des Besitzers wies eine etwas gediegenere Ausstattung auf. Die anderen Kontorräume waren übermäßig einfach gehalten; selbst das Zimmer von Dr. Ulrich Godowi, dem ältesten Sohne des Chefs, war nur ein niedriger Raum, der jeden Schmuckes entbehrte. Der Anmelderaum war fast kahl zu nennen. Die Besucher des Werkes wußten, daß der Inhaber der Fabrik auch in seiner Häuslichkeit jeden auffälligen Schmuck vermied und seine Kinder stets zur Einfachheit erzogen hatte.

Man schätzte Max Godowi sehr. Er hatte mit überraschender Tüchtigkeit aus dem kleinen Kalkbruch, den er von einem Onkel geerbt hatte, das große Unternehmen entstehen lassen. Auf seiner Hände Arbeit ruhte reicher Segen. Was er begann, schien ihm zu glücken.

Neider und Konkurrenten hatten noch vor Jahren behauptet, diese überraschend schnelle Entwicklung könne nur zu einem schlechten Ende führen. Heute, da sich die Fabrik einen guten, reellen Namen gemacht hatte, heute bestaunte man unumwunden den Mann, der es trotz der Ungunst der Zeiten möglich gemacht hatte, seine Fabrik zu einer der ersten und bedeutendsten der ganzen Provinz zu erheben.

Wer den Inhaber sah, vermochte es kaum zu glauben, daß er aus eigener Kraft all das geleistet hatte. Max Godowi war keine imponierende Persönlichkeit, er hatte auch nichts von jener ruhigen Würde, die unwillkürlich Eindruck hervorruft. Alle seine Bewegungen waren nur ein nervöses Hasten, seine schmalen, schlanken Hände verrieten einen ständigen inneren Aufruhr, für den man keine Erklärung fand. Er konnte stundenlang vor sich hinträumen, um sich dann energisch zusammenzureißen und vernachlässigte Arbeit wieder aufzunehmen. Saß er aber wieder im Kontor, so arbeitete er mit so intensivem Nachdruck, mit solch eiserner Zähigkeit, daß es keinem gelang, ihn davon abzubringen.

Seinen Geschäftsfreunden war er vielfach ein Rätsel. Sogar in seiner Familie kannte man ihn nicht völlig. Frau Henriette, eine wackere, tüchtige Hausfrau, die streng auf Ordnung und gute Sitten hielt, machte sich über das eigenartige Wesen des Gatten keine Gedanken mehr. Sie kannte ihren Max nicht anders. Sie liebte ihn mit all seiner Unrast und hielt ihm das Haus in guter Hut.

Das ganze Gegenteil des Vaters war sein ältester Sohn Ulrich. Schon als Jüngling hatte er keinen anderen Wunsch gekannt, als dereinst das schöne Unternehmen weiterzuführen. Er hatte studiert und war seit einigen Jahren in der väterlichen Fabrik als Ingenieur tätig. Von dem nervösen Temperament des Vaters war nichts auf ihn übergegangen. Freudig und ruhig erledigte er die täglichen Arbeiten, war aber auch den Genüssen der Jugend nicht abhold; überall schätzte man Dr. Godowi als einen netten und liebenswürdigen Gesellschafter.

Er war eben beim Anfertigen einer Zeichnung, als er aus dem anstoßenden Zimmer die erregte Stimme des Vaters vernahm. Er horchte auf.

»Wenn Werkmeister Peters Sie entlassen hat, wird er dafür seine Gründe haben. Ich verstehe Sie nicht, Kirchner. Sie ziehen sich Verweis über Verweis zu. Und nun, da Peters Sie entlassen hat, stehen Sie vor mir und bitten, ich möchte Sie behalten. Was haben Sie denn wieder angestellt?«

Eine weinerliche Stimme antwortete: »Im Kalk waren so viele Steine. Da ist beim Schlämmen solch ein Stein zwischen die Balken gekommen und hat das Räderwerk zerbrochen.«

»Immer dasselbe, Kirchner. Sie haben es doch wirklich nicht so eilig. Und es macht keine so große Mühe, den Kalk auf Steine hin zu untersuchen. Aber Sie tun mir leid, ich werde mit dem Werkmeister sprechen, daß er Sie noch einmal behält. Gehen Sie inzwischen wieder hinüber zur Schlämmerei.«

Mit einigen Dankesworten entfernte sich der Arbeiter. Ulrich hörte die Tür ins Schloß fallen. Da erhob er sich und ging hinüber.

Vor seinem Schreibtisch saß Max Godowi, die Augen noch sinnend nach der eben geschlossenen Tür gerichtet. Erst als Ulrich die ersten Worte an den Versunkenen richtete, fuhr er leicht zusammen.

»Wünschst du etwas Ulrich?«

»Ja, Vater. Ich hörte soeben im Nebenzimmer, daß du den Kirchner wieder behalten willst. Ich war gestern zugegen, als er mit lachendem Gesicht das Krachen und Brechen der Eisenflügel im Schlämmbottich beobachtete. Da war nichts von Schreck und Reue zu bemerken. Der Mann hat sich schon mehrfach schlecht aufgeführt, so daß es für uns das richtigste ist, wenn wir ihn entlassen. Der Werkmeister ist mit ihm sehr unzufrieden, weil er ihm ständig Ärger macht.«

»Ich will es noch ein letztes Mal mit ihm versuchen.«

»Das hast du schon mehrfach getan, Vater. Der Mann bessert sich nicht. Von der Heizung haben wir ihn wegnehmen müssen. Du warst selbst zugegen, als er damals vergessen hatte, das Wasser im Kessel zu ergänzen.«

»Laß nur gut sein, Ulrich. Man muß nicht immer gleich so streng ins Gericht gehen.«

Eine tiefe Falte stand auf der Stirn des Sohnes. »Ich verstehe nicht, was du gerade an diesem Menschen hast. Du bist sonst nicht so nachsichtig. Manch einer unserer Arbeiter hat wegen einer Unvorsichtigkeit gehen müssen. Nur bei Kirchner drückst du beide Augen zu. Der Mann ist wirklich nicht unersetzlich.«

Godowi erhob sich und strich mit der Hand über die Stirn. »Es kommt immer auf den Menschen an, Ulrich. Natürlich habe ich keine bestimmten Gründe, diesen Mann vorzuziehen. Nein, nein, die habe ich nicht.« Die dunklen Augen flackerten unruhig in dem hageren, blassen Gesicht, um die bartlosen Lippen legte sich ein Zug starken Eigenwillens.

»Ich werde die Angelegenheit mit Peters sofort erledigen. Sollte Kirchner sich nicht ändern, kann man ihn immer noch entlassen. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen, Ulrich?«

»Nein, Vater.«

Godowi griff hastig nach seinem Hut, nickte dem Sohn flüchtig zu und verließ das Zimmer. Es schien, als könne er sich nicht rasch genug entfernen. Kopfschüttelnd schaute ihm der Sohn nach. Er sah die hagere Gestalt des Vaters den Hof überschreiten, und ein Gefühl der Bangigkeit stieg in ihm auf. Wie anders waren sonst die Männer von fünfundfünfzig Jahren. Der Vater machte einen bedeutend älteren Eindruck. Daran war nicht nur das graue Haar schuld, das hatte er gehabt, solange Ulrich denken konnte, sondern auch der müde Gang, die vornüber geneigten Schultern, als läge schwere Last darauf.

Der Vater war ihm in vielen Dingen ein Rätsel. Der sonst so sparsame Mann kannte im Geben keine Grenzen, wenn es sich darum handelte, arme Künstler zu unterstützen. Das war natürlich nicht geheim geblieben. Allwöchentlich trafen bei Godowi Bittbriefe aller Art ein: bald wandte sich ein armer Komponist, ein engagementloser Sänger, ein Virtuose oder anderer Musiker um Unterstützung an ihn, dann kamen Dichter und Schriftsteller, Bildhauer und Maler. Allen wurde reichlich gegeben.

Henriette hatte den Gatten des öfteren gebeten, er möge die Wohltaten etwas einschränken. Sie hatte einen auflodernden Blick bemerkt. »Sollen die Leute verhungern? Hunger tut weh.«

Durch die Worte klang eine zitternde Erregung, so daß sie erschreckt dem rasch Davonschreitenden nachsah. Sie wagte keinen Einwand mehr, wenn Godowi Scheck auf Scheck ausfüllte, um den Künstlern zu helfen.

Auch Ulrich hatte schon eine heftige Szene miterlebt. Ein Geigenvirtuose hatte den Vater auf einer Postkarte um ein Almosen gebeten. Die Karte war durch ein Versehen Ulrichs zwei Tage lang im Ingenieurbureau liegen geblieben. Ulrich maß dieser Verzögerung keine Bedeutung bei. Als er aber das Schreiben eigenhändig dem Vater übergab und flüchtig bemerkte, daß es bereits vor zwei Tagen angekommen sei, war eine zuckende Erregung über das Gesicht Godowis gelaufen.

»Ich wünsche dringend, daß du in Zukunft die Post mir umgehend zustellst.«

»Aber Vater, es ist doch nur eine Bettelei.«

Noch niemals hatte Ulrich den Vater in solch flammender Aufregung gesehen.

»Meinst du, daß achtundvierzig Stunden nicht ausreichen, um einen Menschen, der hungert, ins Verderben zu stürzen? Weißt du denn, wie Hunger tut? Geh erst einmal hinaus in die Welt. – Es ist schon gut.«

Mit Gewalt zwang er sich zur Ruhe, griff zur Feder, um den Eilbrief zu schreiben, dem ein größerer Scheck beigefügt wurde. Besorgt und betroffen beobachtete Ulrich den Vater, dessen ganzes Wesen zitternde Erregung war.

»Fühlst du dich nicht wohl, Vater?«

»Laß nur«, wehrte Godowi ab und trank hastig ein Glas Wasser. »Es ist nichts weiter.«

Ulrich hatte lange darüber nachgedacht. Er begriff den Vater nicht. Forschend und tastend hatte er versucht, eine Lösung für dieses rätselhafte Betragen zu finden; es war ihm nicht gelungen. Nur soviel war ihm zur Gewißheit geworden, daß irgendeine Lebenssaite des Vaters einen schrillen Mißton gab, wenn solch ein Brief ins Haus geflogen kam. An solchen Tagen sah der Vater grau und verfallen aus, da beugten sich seine Schultern wie unter schwerer Last.

Er hatte die Mutter gefragt, ob sie des Vaters Jugend kenne. Sie verneinte. Sie hatte auch nie geforscht oder gefragt. Sie hatte dem achtundzwanzigjährigen Mann, der damals still und scheu in ihr Leben trat, die Hand zum Lebensbunde gereicht. Sie wußte nur, daß der Gatte allein im Leben stand, daß er besonders im Anfang der Ehe eifrig bemüht war, das kleine, neu errichtete Zementwerk zu vergrößern und rentabel zu gestalten.

Ein vor Jahren verstorbener Onkel hatte dem Neffen die Kalkgrube hinterlassen, aus der sich das Zementwerk entwickelte. Der Vater, so sagte Frau Henriette dem fragenden Sohn, habe es auch immer abgelehnt, über seine Jugend zu sprechen. Es gäbe nicht viel zu erzählen, habe er gemeint. Er hatte angefangen zu studieren, das aber wieder aufgegeben, weil seine Gedanken durch die Erbschaft in andere Bahnen gelenkt worden seien.

Nach den Großeltern hatten Ulrich und seine Schwester, die blonde Agathe, gefragt. Godowi erklärte ihnen, daß ihm der Vater schon mit fünf, die Mutter mit sieben Jahren gestorben wäre. Dann hatte er die Unterhaltung kurz abgebrochen.

Soviel stand fest: Irgendein Geheimnis warf dem Vater die dunklen Schatten auf den Weg seines Lebens. Das hatte auch Agathe, die Achtzehnjährige, erfahren. Sie bat die Eltern, man möge ihr gestatten, Geigenunterricht zu nehmen. Der Vater hatte energisch abgelehnt und mit harter Stimme verlangt, Agathe möge diesen Wunsch nicht wiederholen. Diese schroffe Art und Weise hatte die junge Frau verstört; trotzdem hoffte sie, daß der Vater, wenn er von ihrer Begabung erfuhr, nachgeben würde. In aller Heimlichkeit, ohne sein Wissen, nahm sie Unterricht. Sie übte mit größter Vorsicht, nur in Abwesenheit des Vaters. Frau Henriette, die zuerst der Tochter heftigste Vorwürfe über deren Ungehorsam machte, ließ sich bald umstimmen, als sie von dem Lehrer hörte, daß Agathe über ein ganz seltenes Talent verfüge und hervorragende Fortschritte mache.

Noch immer stand Dr. Ulrich im Zimmer des Vaters und schaute sinnend über den Hof. Er sah, wie Godowi mit dem Werkmeister sprach, wie jener mehrmals mit dem Kopfe schüttelte. Er sah auch den heißen Strahl des Unmutes aus den Augen des Vaters brechen und wußte dadurch, daß Werkmeister Peters vergeblich den Versuch machte, den Chef von der Unbrauchbarkeit Kirchners zu überzeugen. Aber Godowi blieb fest.

Mit einem leisen Seufzer wandte sich Ulrich ab. Sein sicherer, starker Vater war manchmal unberechenbar und ließ keinen noch so guten Ratschlag gelten.

Als Ulrich am Abend gemeinsam mit Godowi das Kontor verließ, vertrat ihnen an der Pforte ein etwa vierzigjähriger Mann den Weg. Er trug einfache Arbeiterkleidung und zog bescheiden den Hut. Godowi warf einen forschenden Blick auf den Mann und blieb stehen.

»Ich wollte um Arbeit bitten, ich wollte fragen, ob es für mich irgend etwas zu verdienen gäbe?«

»Wenden Sie sich an den Werkmeister«, rief Ulrich dazwischen. »Jetzt ist aber Fabrikschluß. Kommen Sie morgen wieder.«

»Vielleicht könnte ich morgen schon eintreten. Ich habe eine Familie daheim, die ernährt werden will.«

Ulrich wollte weiter gehen, aber Godowi blieb stehen.

»Gehen Sie zu Werkmeister Peters, er wird noch im Kontor sein. Sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt. Wie ist Ihr Name?«

»Fred Hasselmann.«

Ulrich fühlte, wie die zuckende Hand des Vaters unvermittelt nach seinem Arm tastete, wie die Finger krampfartig sein Fleisch umspannten. Er sah das aschfahle Gesicht des Vaters, hörte den keuchenden Laut, der sich über die Lippen stahl.

»Vater!«

Godowi bemühte sich, die Fassung zu bewahren.

Er richtete sich empor. »Es ist schon vorüber, ein kleiner Schwächeanfall. Ich bin wohl etwas überarbeitet. – Ja, also«, wandte er sich an den Arbeiter, »ich glaube, wir können noch einige Leute gebrauchen. Melden Sie sich morgen früh persönlich bei mir im Kontor. Für heute nehmen Sie das hier.«

Er zog seine Börse und drückte dem Manne ein Zweimarkstück in die Hand. Mit einem frohen Aufleuchten in den müden Augen blickte der Beschenkte auf den anscheinend kranken Inhaber.

»Der Herr soll vielmals bedankt sein. Ich bin morgen pünktlich zur Stelle. Kann ich irgendwie helfen?«

Ulrich wehrte ab. »Lassen Sie nur.«

Der Arbeiter ging davon, sah sich aber noch mehrfach nach seinem Wohltäter um, der noch immer an der Gartenpforte lehnte. Er versuchte zu lächeln.

»Ja, ja, mein Junge, wenn man alt wird, wollen die Kräfte nicht mehr halten. Aber nun ist mir schon wieder wohl. Laß uns gehen, damit die Mutter nicht wartet.«

»Du solltest dich wirklich einige Wochen schonen, Vater. Bleibe in den nächsten Wochen daheim, ruhe dich aus, oder suche außerhalb etwas Erholung.«

Godowis Blicke glitten tastend umher.

»Es hat uns doch keiner gesehen oder gehört?«

»Aber, Vater!«

»Schon gut, mein Junge. Schonen und ausruhen kann ich mich später, wenn ich im Grabe liege. Es ist auch wieder vorbei. Ich fühle mich wieder frisch.«

»So bleibe wenigstens morgen daheim.«

»Morgen?« Godowis Augen wurden starr. »Morgen kommt doch dieser Fred …« Wieder ging ein Schauern durch seinen Körper.

In immer gesteigerter Unruhe legte Ulrich den Arm um die Schulter des Vaters. »Der Werkmeister wird den Mann abfertigen. Das Engagieren der Leute ist nicht deine Sache.«

Müde schüttelte der Fabrikherr den Kopf. »Ich muß, Ulrich. Natürlich kann es auch der Werkmeister. Aber – es ist eben wegen dieses Mannes. Nein, nicht deswegen, es sind noch andere Dinge zu erledigen. Laß uns nicht mehr davon sprechen, sag auch der Mutter nicht, daß die alte Schwäche über mich kam. Ich bin wirklich ganz gesund.«

Beide schritten zunächst schweigend auf der schattigen Straße entlang, zu der etwa eine Viertelstunde entfernt liegenden Villa. Als das schmucke Gebäude in Sicht kam, blieb Godowi stehen und schaute seinen Sohn unsicher an.

»Nicht wahr, Ulrich, du erwähnst nichts von dem kleinen Zwischenfall? Die Mutter soll sich nicht ängstigen.«

»Wie du es wünschst, Vater.«

Das Gesicht des Ingenieurs war verschattet. Ein sorgenvoller Zug lag um die Lippen. Verstohlen beobachtete er den Vater, aus dessen Blick die Angst noch immer nicht gewichen war. Als man vor der Pforte stand, strich sich Godowi über die Stirn. »Findest du nicht, daß Fred ein seltener Name ist?«

»Nein Vater. Hier in der Gegend ist der Name ganz geläufig. Alle Friederiche heißen Fred. Hat dich der Name vielleicht erschreckt?«

»Erschreckt? Ein Name? Warum fragst du? Es fiel mir nur gerade so ein. Nein, der Name hat mich nicht erschreckt.«

Er seufzte ganz leise, dann riß er sich zusammen und schritt aufrecht dem Hause zu.

2

In einem der kleinen Salons der Godowischen Villa saßen Frau Henriette, ihre Tochter Agathe und ein junger, sehr lebhafter Mann, der von Zeit zu Zeit seine dunklen, feurigen Augen zu der Tochter des Hauses schweifen ließ. Dann war immer ein leises Erröten die Quittung für solch zärtlichen Blick, schüchtern senkte sich der blonde Kopf.

»Ich denke, mein Mann muß jeden Augenblick hier sein, Herr Valbert. Ich bin überzeugt, daß er die freundliche Einladung gern annimmt und zu dem Musikfeste mit uns erscheint.«

»Wir würden es lebhaft bedauern, gnädige Frau, wenn Ihr Herr Gemahl, den wir alle als unseren Gönner verehren, dem Feste fern bliebe. Ich kann versprechen, daß die gebotenen Leistungen durchaus erstklassig sind; Ihr Herr Gemahl wird an den Darbietungen sicherlich Genuß haben.«

Frau Henriette lächelte. »Ich fürchte, Sie überschätzen meinen Gatten, Herr Valbert. Von Musik will er sehr wenig wissen. Ich glaube, er hat sich in seinem Leben niemals dafür interessiert. Selbst bei den schönsten Opern versinkt mein Mann in eine Art von Schlummerzustand, und so haben wir es aufgegeben, ihn weiterhin in Opern oder Konzerte zu schleppen.«

»Das nimmt mich wunder, gnädige Frau. Ihr Herr Gemahl tat so unendlich viel an den Künstlern, er hat den Musikverein reichlich mit Zuwendungen unterstützt, nie hat einer unserer Professoren einen abschlägigen Bescheid erhalten, wenn es sich um pekuniäre Hilfe für einen Notleidenden handelte.«

»Da haben Sie allerdings recht«, mengte sich Agathe ein. »Aber trotzdem ist Papa kein Freund von musikalischen Genüssen. Ich erinnere mich noch genau, wie er sich wehrte, als ich ihn bat, er möge mit uns zu dem Konzert des berühmten Geigenvirtuosen Bachmann gehen. Er wurde beinahe zornig, als ich immer dringender bettelte.«

»Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, mein gnädiges Fräulein, Ihren Herrn Vater in der nächsten Woche bei unserem Musikfeste begrüßen zu können.«

»Ich sehe, Herr Valbert, Sie haben Ihre Geige hier. Darf ich Sie bitten, zum Abendessen unser Gast zu sein und uns dann noch etwas vorzuspielen?«

»Ich kam von meinem Freunde, gnädige Frau, bei dem wir musiziert haben. Die Geige hat sich nur ganz zufällig hierher verirrt.«

»Ach bitte, Herr Valbert, spielen Sie uns doch etwas vor«, schmeichelte Agathe. Dann wandte sie sich an die Mutter. »Ich kenne Herrn Valberts Spiel und weiß, daß es ein Genuß ist, ihm zuzuhören.«

»Aber mein gnädiges Fräulein, Sie überschätzen mich.«

Agathe hatte sich übermütig lachend erhoben, ging zu dem Geigenkasten und entnahm ihm behutsam das Instrument.

»Jetzt gibt es keine Widerrede mehr, Herr Valbert. Mama und ich bitten Sie gemeinsam, uns etwas vorzuspielen, und als höflicher Gast werden Sie sich nicht weigern.«

Er warf ihr einen zärtlichen Blick zu, nahm die Geige, überlegte ein kurzes Weilchen, dann ließ er mit Feuer und Leidenschaft einen der Brahmsschen Tänze erklingen.

Es war wirklich ein Genuß, dem Spiel des jungen Virtuosen zu lauschen. Mit angehender Meisterschaft beherrschte er sein kostbares Instrument und wußte seine Zuhörerinnen derart in seinen Bann zu ziehen, daß beide den Eintritt Godowis nicht wahrnahmen.

Der Fabrikbesitzer stand unbeweglich. Er lehnte am Türpfosten und starrte mit brennenden Augen auf den ganz in sein Spiel versunkenen Künstler. Er preßte die Hände auf die Brust, als wolle er den Schrei zurückhalten, der sich schon auf seine Lippen gedrängt hatte.

Henriettes Ohr war der qualvolle Laut nicht entgangen. Sie wandte sich betroffen um und sah den Gatten. Als sie dieses marmorblasse Antlitz bemerkte, sprang sie erschreckt auf. Das Geigenspiel brach ab.

»Max, wie siehst du aus? Was ist geschehen?«

Godowi vermochte nicht zu antworten. Seine Lippen bewegten sich, die Hände tasteten an dem Türrahmen hinauf und herab, die Farbe war aus dem verstörten Antlitz gewichen. Erst als er der Gattin Arm auf seiner Schulter fühlte, wandte er sich ihr zu und schaute sie, gleichsam erwachend, an.

»Max, was ist geschehen? Ein Unglück?«

»Nein, nein«, sagte er mühsam. »Eine plötzliche Schwäche, nichts weiter.«

Henriette geleitete den Gatten zu einem Sessel, in den er sich völlig erschöpft sinken ließ. Seine Augen hoben sich und blickten unsicher auf Valbert. Henriette bemerkte dieses Forschen.

»Ein junger Violinkünstler, lieber Max. Herr Valbert ist ein Bekannter von Agathe, der uns soeben das Vergnügen bereitete, etwas vorzuspielen.«

Valbert verneigte sich vor dem Hausherrn, der ihm mit sichtlicher Anstrengung die Hand entgegenstreckte.

»Warum spielen Sie gerade die Brahmsschen Tänze?« Die Stimme klang schwer, als würde jedes Wort der tobenden Brust abgerungen.

»Ich liebe diese leidenschaftliche Musik, Herr Godowi. Ich spiele die Tänze gern.«

Die hagere Gestalt Godowis erhob sich aus dem Sessel. Er schien die Schwäche überwunden zu haben. Agathe trat zu ihm.

»Fühlst du dich wieder wohler, Papa?«

Mit flackernden Augen schaute der Gefragte auf die Tochter. »Alles wieder in Ordnung. Ich weiß selbst nicht, warum es mich mit einem Male umriß. Laßt euch aber nicht stören, auch wenn ich mich zurückziehe.«

Frau Henriette und Agathe drangen schmeichelnd auf ihn ein, er möge noch ein wenig der herrlichen Musik lauschen. Godowi wehrte ab. Henriette wandte sich lächelnd an den Künstler. »Habe ich Ihnen zu viel gesagt, Herr Valbert? Mein Mann hat eine förmliche Furcht vor jedem Violinspiel.«

»Dann bitte ich um Verzeihung, Herr Godowi, daß ich mich hören ließ.«

Mit einem gütigen Blick schaute ihn der Fabrikherr an. »Ich möchte nicht, daß Sie sich verletzt fühlen, junger Meister. Ich höre gute Musik gewiß sehr gerne, und die wenigen Takte, die ich vernahm, zeigten mir, daß Sie Brahms außerordentlich gut verstehen.«

»Du setzt mich in Erstaunen, Max. Ich habe gar nicht gewußt, daß du Meister Brahms kennst?«

Die fliegende Röte, die über Godowis Wangen glitt, machte rasch der alten Blässe Platz.

»Wer sollte Brahms nicht kennen?«

Nun glaubte Agathe, den richtigen Augenblick gefunden zu haben, um dem Vater die Einladung Valberts zu wiederholen. Sie schilderte das Musikfest in den verlockendsten Farben. Valbert unterstützte sie.

»Gerade Sie, Herr Godowi, der Sie so unendlich viel für alle Künstler tun, dürfen nicht fehlen. Der Vorstand hat mich ausdrücklich mit dieser Einladung beauftragt, ich bitte Sie daher herzlich, mit Ihrer verehrten Familie am nächsten Sonnabend zu erscheinen.«

»Das wird leider nicht möglich sein, Herr Valbert. Es gibt gerade in dieser Woche draußen in der Fabrik überaus viel zu tun.«

»Den einen Abend wirst du dich frei machen können«, bat Henriette.

»Selbstverständlich sollt ihr das Fest besuchen. Alle drei in Vertretung des Hausherrn.«

»Nein, Max. Damit speist du uns nicht ab. Du bist in den letzten Jahren allen musikalischen Veranstaltungen fern geblieben, aber zu diesem Musikfest muß du mitkommen. Man könnte sonst denken, daß du in jeder derartigen Veranstaltung ein Schreckgespenst siehst, das die …« Sie verstummte erschrocken, als sie das Zusammenschauern des Gatten sah.

»Wie meinst du das, Henriette?«

»Du bist heute entsetzlich nervös, Max. Ich meine nur, daß es doch ganz eigentümlich ist, wenn du, als Gönner, dich immer fern hältst.«

Die scheuen Blicke Godowis glitten auf dem Teppich hin und her. Dann hob er mit energischem Ruck den Kopf.

»Nun gut, man soll nichts denken, gar nichts.

Ich werde also mit meiner Familie am Sonnabend erscheinen.«

Mit einem Ausruf der Freude umschlang Agathe den Vater. »Ach, Papa, ich finde es herrlich, daß du endlich, endlich einmal mit uns gehst.«

Valbert sprach dem Hausherrn seinen Dank aus. Godowi nickte unsicher und zerstreut und erklärte schließlich, er müsse sich leider zurückziehen, weil noch eine dringliche geschäftliche Angelegenheit der Erledigung harre. Freundlich reichte er Valbert die Hand.

»Sie müssen mir mein Fortgehen nicht verübeln, Herr Valbert. Aber wenn man einen so großen Betrieb sein eigen nennt, ist man nicht so frei, wie die Herren Künstler. Lassen Sie sich nicht stören. Meine Frau und meine Tochter werden es hoffentlich nicht an Unterhaltung fehlen lassen.«

»Herr Valbert macht uns die Freude, über Abend hier zu bleiben.«

»Das freut mich aufrichtig. Ich sehe Sie dann also noch zu Tisch.« Nochmals schüttelte Godowi dem jungen Virtuosen die Hand, dann verließ er mit langsamen Schritten das Zimmer. Henriette sah ihm besorgt nach. Der Gatte kam ihr heute so verändert vor. Und dann diese plötzliche Schwäche? Arbeitete er wohl zu viel? Sie wollte noch heute mit Ulrich reden, damit er den Vater nach Möglichkeit entlaste.

Eine Viertelstunde später fand sich auch Ulrich ein. Er begrüßte den Gast freundlich. Er hatte längst bemerkt, daß zwischen dem Virtuosen und seiner Schwester Agathe Fäden von Herzen zu Herzen gesponnen wurden. Da über Valbert nichts Ungünstiges berichtet werden konnte, war Ulrich mit der Wahl der Schwester durchaus einverstanden. Die Mutter winkte ihm verstohlen zu. Sie erzählte ihm von der eigentümlichen Schwächeanwandlung. Besorgt lauschte der Sohn den Worten der Mutter.

»Schon wieder?«

»Du erschreckst mich, Ulrich. Ist dir diese Schwäche schon des öfteren aufgefallen?«

»Der Vater will es zwar nicht, daß ich davon rede, aber die Sorge um ihn treibt mich dazu.« Er berichtete von dem Vorfall mit dem Arbeiter. »Ich hatte das Empfinden, Mutter, als sähe der Vater ein Gespenst vor sich. Vielleicht hat ihn der Mann an irgend etwas erinnert, das ihm einst Grauen und Entsetzen einflößte. Ob ihn wohl irgend etwas quält? Ob es in seinem Leben vielleicht doch eine dunkle Stunde gab, die ihn nicht zur Ruhe kommen läßt?«

»Was sollte ihn wohl quälen, Ulrich? Der Vater ist von jeher sehr nervös gewesen. Er ist leichter erregbar als andere Menschen. Er hatte immer Augenblicke, die ihn aus dem Gleichgewicht brachten, ohne daß ein besonderer Grund vorlag. Ich nehme an, daß er zu viel arbeitet, und daher wollte ich dich bitten, gib acht auf ihn. Mit fünfundfünfzig Jahren ist man zwar noch lange kein alter Mann, aber bei den nervösen Zuständen deines Vaters ist es doch besser, wir schonen ihn beizeiten.«

Während des Abendbrotes, dem der Vater beiwohnte, wurde er von Gattin und Sohn immer wieder aufmerksam beobachtet. Godowi schien sein seelisches Gleichgewicht wiedergefunden zu haben. Freundlich sprach er mit dem Gast und den Angehörigen, machte sogar auch hin und wieder einen kleinen Scherz. Das Mahl verlief angeregt. Als man sich aber erhoben hatte, als Henriette Valbert abermals bat, etwas zu spielen, bemerkte Ulrich im Antlitz des Vaters ein nervöses Zucken.

»Strengt es dich an, Vater, wenn gespielt wird?« fragte er leise.

»Nein, nein. Ich will euch auch um den Genuß nicht bringen. Ich ziehe mich zurück …«

Henriette, die die letzten Worte gehört hatte, trat zu ihm hin. »Auf keinen Fall, lieber Max. Wenn es dir lieber ist, so verplaudern wir den heutigen Abend, und Herr Valbert macht uns ein andermal die Freude.«

Der junge Künstler blieb nicht allzu lange. Er hatte das Empfinden, als stünde irgend etwas Unausgesprochenes zwischen dem Hausherrn und ihm, und das Gefühl bedrückte ihn ein wenig. Wäre nicht Agathe gewesen, er wäre noch rascher aufgebrochen, aber ihre Anmut bezauberte ihn immer wieder aufs neue.

Als er endlich gegangen war, legte Henriette den Arm um den Gatten. Mit herzlichen Worten bat sie ihn, sich etwas mehr zu schonen, einen Arzt aufzusuchen, damit sie über den Zustand beruhigt sei. Diese Anfälle bereiteten ihr die denkbar größte Unruhe.

Godowi lachte auf. »Was machst du dir für unnötige Sorgen. Ich glaube gern, daß ich euch alle heute beunruhigt habe. Aber das geht rasch vorüber. Einen Arzt brauche ich wirklich nicht.«

»Du mußt dich etwas mehr schonen. Ulrich ist umsichtig, er wird dich in den nächsten Tagen in der Fabrik vertreten. Du ruhst dich aus.«

Er klopfte ihr beruhigend die Wangen. »Du machst dir wirklich ganz unnötige Sorgen, Henriette. Und an ein Fernbleiben ist jetzt nicht zu denken. Es sind viele Aufträge vorhanden. Feiern kann ich später.«

»So tu mir die Liebe und bleibe wenigstens morgen zu Hause.«